Wir laufen nun schon zügig in den Herbst rein, die Tage und vor allem die Nächte werden wieder kälter – und wenn erst der Winter vor der Tür steht, dann wird es wieder Berichte über die Not obdachloser Menschen geben.
Die waren und sind aber auch an den anderen Tagen ohne Wohnung oder irgendwo untergekommen. Und darunter sind auch Menschen, die viele sicher nicht mit Obdachlosigkeit, von dem man ein bestimmtes (Stadt)Bild im Kopf hat, verbinden werden. Menschen, die einen Job haben. Zur Arbeit gehen. Und dann eben nicht „nach Hause“, wie das bei Millionen anderen der Fall ist.
Immer mehr Erwerbstätige in den Städten können sich kein eigenes Zuhause leisten. Gibt es in Deutschland eine neue Form der „Working Poor“? Das fragt sich Antje Lang-Lendorff in ihrem Artikel Feierabend in der Notunterkunft. Sie illustriert das Thema – trotz Arbeit keine Wohnung – an einem Beispielfall.
»Um 7.30 Uhr macht Christian Schulz das erste Mal Feierabend. Zwei Stunden hat er an diesem Montagmorgen im Licht der Neonröhren die Parkgarage eines Einkaufszentrums gesäubert. Mit Laubbläsern hat er Zigarettenstummel, Plastikverpackungen und alles, was die Menschen hier in einer Woche fallen ließen, zu einem Haufen zusammengepustet. Er hat den Dreck in einen Sack gefüllt und in die große Mülltonne geleert. Jetzt parken die ersten Autos auf den grau gemusterten Steinen. Draußen steigt die Sonne über die Plattenbauten, es wird ein schöner Augusttag.
„Heute war wenig Schmutz“, sagt Schulz. In der schwarzen Arbeitsjacke der Reinigungsfirma und Turnschuhen steht er vor dem Einkaufszentrum in Berlin-Hohenschönhausen. Ein drahtiger 31-Jähriger mit Dreitagebart und auffallend grünen Augen. Er sieht etwas müde aus. Früher fertig werden ist gut. Und gleichzeitig schlecht. Denn weniger Arbeitszeit bedeutet weniger Geld. Schulz verdient 16,50 Euro die Stunde, für einfache Tätigkeiten wie die auf dem Parkplatz bekommt er 14,45 Euro. Bei zwei Stunden Arbeit lohnt es sich kaum, dafür um vier Uhr morgens aufzustehen.
Schulz geht über die Straße zur Haltestelle der Tram. Seine zweite Schicht beginnt erst um 15 Uhr, dann muss er sieben Stunden lang Glasscheiben und Fußböden putzen. Für die Zeit dazwischen fährt er nach Hause.
Wobei das mit dem Zuhause so eine Sache ist. Schulz ist seit September 2019 wohnungslos. Übergangsweise lebt er in einer Einraumwohnung der Caritas. Er arbeitet Vollzeit als Glas- und Gebäudereiniger, er verdient nicht schlecht. Doch eine eigene Bleibe findet er nicht.«
Impulsgeber für den Beitrag von Lang-Lendorff sind trocken daherkommende Zahlen aus dem neuen Statistikbericht der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W), der regelmäßig veröffentlicht wird und der in diesem Jahr den Schwerpunkt „Working Poor – Wohnungslos trotz Arbeit“ hat:
➔ BAG Wohnungslosenhilfe (2021): Statistikbericht. Zu Lebenslagen wohnungsloser und von Wohnungslosigkeit bedrohter Menschen in Deutschland – Lebenslagenbericht. Berichtsjahr 2019, Berlin 2021
Jährlich werden seit 1990 für den Bericht Klientendaten aus freiverbandlichen Diensten und Einrichtungen der Hilfen in Wohnungsnotfällen im BAG W-eigenen Dokumentationssystem zur Wohnungslosigkeit (DzW) ausgewertet. Für das Berichtsjahr 2019 übermittelten 223 Mitgliedseinrichtungen mehr als 45.600 anonymisierte Falldaten und damit so viele Daten wie noch nie zuvor. 74,4 Prozent aller erfassten Hilfesuchenden sind akut wohnungslos.
Unter der Überschrift Working Poor in Deutschland: Mit Job, aber ohne eigene Wohnung berichtet die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe:
Den Schwerpunkt des Berichtes für das Jahr 2019 bildet die Lebenslage von Menschen, die sich in Wohnungsnotfallsituationen befinden, obwohl sie erwerbstätig sind (Working Poor). Ihr Anteil hat sich innerhalb der letzten zehn Jahre verdoppelt. Rund 15 Prozent aller erfassten Klienten befinden sich in einem Beschäftigungsverhältnis. Der Großteil der erwerbstätigen Klienten – über alle soziodemografischen Merkmale wie Alter, Geschlecht oder Bildung hinweg – ist im ersten Arbeitsmarkt tätig und hat dennoch keine eigene Wohnung.
Was weiß man über diese Gruppe?
Unter den erwerbstätigen Klienten sind Frauen etwas öfter (rund 17 Prozent) von Wohnungsnot betroffen als Männer (rund 14 Prozent). Besonders stark trifft es die jüngere Generation. Bei den unter 30-Jährigen erwerbstätigen Klienten sind rund 80 Prozent ohne eigene Wohnung.
Erwerbstätige mit Migrationshintergrund und/oder nicht-deutscher Staatsangehörigkeit sind deutlich öfter von Wohnungslosigkeit betroffen als Erwerbstätige insgesamt.
Der Anstieg des Anteils erwerbstätiger Wohnungsloser geht vor allem auf einen starken Anstieg von Menschen zurück, die im ersten Arbeitsmarkt beschäftigt sind.
Über alle Arbeitsverhältnisse und Beschäftigungsformen hinweg (inklusive Selbstständiger) sind knapp zwei Drittel der erwerbstätigen Klienten akut wohnungslos. Dahinter verbirgt sich einerseits, dass der sich vielerorts verengende Wohnungsmarkt und die damit steigenden Wohnkostenbelastungen auch erwerbstätige Menschen in Wohnungsnot drängen und andererseits, dass die Gehälter für Menschen, die mit niedrigeren Qualifikation und/oder Problemlagen zumeist in Branchen des Niedriglohnsektors tätig sind, kaum genügen, um der Wohnungslosigkeit bzw. der Wohnungsnot zu entkommen. Bereits stärker in das Sozialhilfesystem eingebundene Menschen, die im zweiten und dritten Arbeitsmarkt tätig sind, sind seltener von Wohnungslosigkeit betroffen.
Nach Auffassung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe »zeigt die Auswertung der Daten …, dass die Anteile erwerbstätiger Menschen in Wohnungsnot insgesamt deutlich zunehmen. Besonders alarmierend ist, dass – über alle soziodemographischen Merkmale wie Geschlecht, Alter und Staatsangehörigkeit hinweg – die Mehrheit … im ersten Arbeitsmarkt Anstellung finden und dennoch in akute Wohnungslosigkeit geraten. Hauptsächlich sind darin zwei Ursachen zu sehen: Zum einen die massive Ausweitung des Niedriglohnsektors im ersten Arbeitsmarkt, zum anderen das Fehlen von bezahlbarem Wohnraum bzw. steigende Mietbelastungsquoten. Dies hat zur Folge, dass es somit auch erwerbstätigen Menschen, die einmal in Wohnungsnot geraten, erschwert wird, an neuen Wohnraum zu gelangen. Vor allem junge Männer nicht-deutscher Staatsangehörigkeit haben ein erhöhtes Risiko, dass sie trotz Lohnarbeit wohnungslos sind.«
Und noch einige Aspekte aus dem Hilfesystem
Die Einrichtungen und Dienste der Wohnungslosenhilfe berichtet nicht nur Zahlen. Si tun auch auf der Angebotsseite was bei den Hilfen. Dazu Antje Lang-Lendorff in ihrem Artikel mit diesen Beispielen:
»Auch wenn die Zahlen nur einen Teil aller Einrichtungen erfassen, so zeigen sie doch eine Entwicklung auf, die für viele Städte zutrifft. Ein Sprecher des Katholischen Männerfürsorgevereins München berichtet, dass der Träger bereits seit den fünfziger Jahren eine Unterkunft anbietet für Menschen, die arbeiten, aber keine Wohnung haben. Weil die Nachfrage so gestiegen sei, hätten sie in diesem Frühjahr eine zweite Unterkunft für erwerbstätige Wohnungslose eingerichtet, mit mehr als 80 Apartments.
Dariusz Sasin vom Berliner Unionhilfswerk leitet seit 2008 ein Wohnheim für Wohnungslose in Berlin-Wedding. Er sagt: „Als ich anfing, lebten hier vor allem alleinstehende ältere Männer mit einer Neigung zum Alkohol. Von denen hatte keiner einen regulären Job.“ Nach und nach seien auch Paare und Familien bei ihm untergekommen, EU-AusländerInnen, die so lange hier arbeiteten, dass sie Anspruch auf Sozialleistungen hatten. Heute haben etwa ein Zehntel der rund 100 Menschen im Wohnheim einen Job, schätzt Sasin. „Viele arbeiten im Reinigungsgewerbe oder als Bauarbeiter.“
Sasin erzählt von einer türkischstämmigen Alleinerziehenden, die beim Bäcker jobbt, wenn das Kind in der Schule ist. Von einem Mann mit Minijob in der Altenpflege. Sasin sagt: „Die meisten sind Hilfskräfte. Keiner von denen, die gerade hier wohnen, arbeitet voll.“ Das würde sich auch nicht lohnen: Je mehr sie verdienen, desto mehr müssen sie sich an den Wohnheimkosten beteiligen.«
Gestern war diese Meldung aus der Zentrale der Bundesagentur für Arbeit (BA) in Nürnberg das Thema:
„Der Arbeitsmarkt hat sich weiter erholt. Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung sind weiter kräftig gesunken, obwohl noch Sommerpause ist. Das Beschäftigungswachstum gewinnt an Schwung“, sagte der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA), Detlef Scheele, heute anlässlich der monatlichen Pressekonferenz in Nürnberg.
Das hört sich gut an und ist angesichts der negativen Folgend er Corona-Pandemie sicher auch eine gute Nachricht für viele Betroffene. Zugleich sollten uns die Ausführungen in diesem Beitrag immer wieder dafür sensibilisieren, genauer hinzuschauen, vor allem in die abgelegenen Randbereiche, wenn über „Beschäftigungswachstum“ gesprochen wird.