Ein „Kuckuckskind“ inmitten der „historischen Reform“ der Leiharbeit? Eine handfeste Rosstäuscherei? Auf alle Fälle eine Verschlechterung und ein „toller Trick“

Es ist schon ein Kreuz mit der Sozialpolitik und ihren Baustellen in diesen Tagen. Da wird jahrelang über Möglichkeiten des dringend erforderlichen Bürokratieabbaus für die Jobcenter diskutiert, zahlreiche Vorschläge gemacht und am Ende kommt nach langem Fingerhakeln in der Großen Koalition der Entwurf eines „Rechtsvereinfachungsgesetzes“ heraus, das nicht nur so gut wir keinerlei substanzielle Vereinfachungen enthält, sondern ganz im Gegenteil wurden an zahlreichen Stellen faktische Rechtsverschärfungen zuungunsten der Hartz IV-Empfänger eingebaut, die noch für manchen Ärger sorgen werden. Und man muss es an dieser Stelle deutlich sagen – dieser Entwurf stammt aus einem sozialdemokratisch geführten Ministerium und die SPD befindet sich derzeit ganz offensichtlich auf dem Sinkflug. Zum einen sicherlich von einem Teil der Medien herbeiberichtet, zum anderen aber eben auch, weil sozialdemokratisches Kernkapital erneut vernichtet wird mit dieser doch oft sehr einseitig und zuungunsten der Arbeitnehmer und der Hilfeempfänger daherkommenden, zudem kleinteilig angelegten und nicht selten nur noch als krämerhaft zu bezeichnenden sozialpolitischen Gesetzgebung. Das merken die Menschen.

In so einer Gemengelage ist es für die Verantwortlichen immer besonders wichtig, etwas, was man als Erfolg verkaufen will und muss und meint zu können, zu feiern und das nicht durch irgendwelche Kritik verunreinigen zu lassen. Man braucht was für die Bilanz. Und diese Tage waren wir Zeugen einer solchen Inszenierung, deren Gelingen immer auch voraussetzt, dass die Kritik oder die Hinweise darauf, dass es eigentlich gar nicht so ist wie behauptet, nicht zu schnell kommt, denn nach einiger Zeit haben die Menschen die Sache abgespeichert und vergessen und übrig bleibt das Bild im Kopf, dass da eine ordentliche Regelung auf den Weg gebracht wurde. Gemeint ist hier der gefeierte Durchbruch bei der Regulierung der Leiharbeit.

Dass man das, was da abgefeiert wurde, durchaus kritisch sehen kann, wurde bereits am 13. Mai 2016 in diesem Beitrag angedeutet: Ein „historischer Schritt“ oder doch eher nur Reformsimulationsergebnisse? Auf alle Fälle hat die Bundesregierung das ungeliebte Thema Leiharbeit und Werkverträge (vorerst) vom Tisch. Und Arbeitgeber und Gewerkschaften geben sich gemeinsam erleichtert. Und zwischenzeitlich zeichnen sich immer deutlicher die Konturen der Folgen einer Umsetzung dessen ab, was in den bisherigen Referentenentwürfen (vgl. dazu den letzten Referentenentwurf vom 14.04.2016) unter Berücksichtigung der noch einzuarbeitenden Kompromisspunkte aus dem Koalitionsausschuss vom 10.05.2016.

Während auch die Presse weitgehend unkritisch die Jubelbotschaft von der gelungenen Verbesserung der Lage der Leiharbeiter unters Volks getragen hat, kommen Fachleute zu teilweise völlig anderen Bewertungen als beispielsweise die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), die es als großen Fortschritt feiert, das Leiharbeiter endlich „verbriefte Rechte“ bekommen werden.

Als Beispiel sei hier der renommierte Arbeitsrechtler Peter Schüren in den Zeugenstand gerufen, seines Zeichens Direktor des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht an der Universität Münster. Schüren hat der Sendung „Arbeitsplatz“ (SWR 1) am 14.05. 2016 ein Interview gegeben: Konzept gegen den Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen – Großer Wurf oder fauler Kompromiss?, so die Fragestellung des Gesprächs (» Audio-Datei). Auf die Frage, ob sich nun die Situation für die Leiharbeiter verbessern wird, antwortet er mit nein, er sieht sogar eher eine Verschlechterung gegenüber dem Status Quo. Das lässt aufhorchen. Er macht die angesprochene Verschlechterung beispielsweise daran deutlich, dass seit 2011 eine Überlassung von Arbeitnehmern nur vorübergehend folgen darf. Genau diese Begrenzung wird jetzt aufgehoben, was Schüren kritisiert. Aber wird nicht überall herausgestellt, dass ein Punkt im neuen Gesetz die Begrenzung auf 18 Monate ist als Normalfall, für die längstens ein Arbeitnehmer verliehen werden darf?
Hier nun gilt zum einen, dass vorgesehen ist, dass diese maximale Überlassungsdauer durch tarifvertragliche Regelungen in der – wohlgemerkt – Entleihbranche, also beispielsweise der Metallindustrie, sogar ohne gesetzgeberische Begrenzung nach oben verlängert werden kann. Das ist schon heftig, wenn man normalerweise das Bild vor Augen hat, dass mit Tarifverträgen die Situation der Arbeitnehmer verbessert werden soll. Aber ein zweiter Punkt ist noch entscheidender: Die maximale Einsatzdauer von 18 Monaten bezieht sich nämlich auf den einzelnen Leiharbeitnehmer und nicht auf den Arbeitsplatz im Einsatzbetrieb. Das ist eben kein trivialer Unterschied.

Auf das Grundproblem habe ich bereits 2013, als es um die Vereinbarung im Koalitionsvertrag ging, in einem Interview mit Spiegel Online hingewiesen (vgl. „Karussell für Leiharbeiter“ vom 28.11.2013): »Schon jetzt sieht das Karussell für viele Leiharbeiter doch so aus: Sie werden von einer Leiharbeitsfirma angestellt, die verleiht sie an einen Betrieb. Nach der vorgeschriebenen Frist müssen sie dort gehen, werden vom Arbeitnehmerüberlasser gekündigt. Dann sind sie arbeitslos, bis das Spiel von vorne anfängt.«

Der jetzt im Jahr 2016 vorliegende Referentenentwurf lässt genau das zu: Ein Dauerbedarf beim Entleiher kann mit einer endlosen Kette von Leiharbeitern befriedigt werden. Das wird nunmehr ganz legal gestellt.

Dazu passt dann auch, dass ein Ergebnis des im Koalitionsausschusses vom 10. Mai 2016 gefundenen „Durchbruchs“ lautet: »Bei der Errichtung der Überlassungszeit eines Arbeitnehmers werden die sog. „Unterbrechungszeiten“ verkürzt von sechs auf drei Monate.« Wie praktisch. Wenn jemand 18 Monate auf einem Arbeitsplatz im Entleihunternehmen gearbeitet hat, muss er oder sie nur drei Monate woanders eingesetzt werden oder arbeitslos gewesen sein, um auf dem gleichen Arbeitsplatz wieder entliehen zu werden und er oder sie fängt dann wieder bei Null an.

Man könnte mit Blick auf die faktischen Verschlechterungen im Kontext des von den Protagonisten derzeit bejubelten“Fortschritts“, dass nach 9 Monaten im Grunde „equal pay“ erreicht werden muss (es sei denn, es bestehen – wieder – tarifvertragliche Sonderregelungen, konkret: Branchenzuschläge, die einen längeren Übergang ermöglichen) auch darauf hinweisen, dass bislang die Rechtslage so war, dass eigentlich ab dem 1. Tag „equal pay“ vorgeschrieben ist. Es sei denn, es gibt eine davon abweichende tarifvertragliche Regelung in der Verleihbranche mit den Gewerkschaften. Genau die gibt es bekanntlich zwischen den Leiharbeitarbeitgebern und der DGB-Tarifgemeinschaft Zeitarbeit. Und die normieren eigene Tarife für die Leiharbeiter und heben damit das „equal pay“-Gebot aus. Diese Tarifverträge laufen derzeit noch bis 31.12.2016. Wenn die Gewerkschaften dieses Tarifverträge auslaufen lassen würden und zugleich erklären würden, dass sie keine Folgeverträge aushandeln würden, dann wäre ein tarifloser Zustand gegeben und mithin „equal pay“ ab dem ersten Tag vorgeschrieben, also ab dem 1.1.2017, weil auch eine Nachwirkung verhindert wird durch die Erklärung, keinen neuen Tarifvertrag abzuschließen zu wollen. Nur mal so als Anmerkung, was man durchaus machen könnte, wenn man sich denn vorstellen könnte, zu wollen.

In diesem Beitrag soll es aber vor allem um einen weiteren Punkt in der Liste der Verschlechterungen gehen: Es geht um das leidige Thema der illegalen Arbeitnehmerüberlassung und der damit – eigentlich – verbundenen Rechtsfolgen. Das habe ich bereits in dieser 2013 publizierten Veröffentlichung angesprochen:

Sell, Stefan: Lohndumping durch Werk- und Dienstverträge? Problemanalyse und Lösungsansätze. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 13-2013, Remagen 2013

Dort findet man auf den Seiten 6-7 folgende Hinweise:

»Eigentlich ist die Sache relativ einfach: Wenn unter dem Deckmantel eines Werk- oder Dienstvertrags faktisch eine Arbeitnehmerüberlassung betrieben wird, dann sind die Konsequenzen, die bereits heute im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz geregelt sind, hart und einfach: Der Schein-Vertrag ist nichtig, der Arbeitsvertrag zwischen dem faktischen Verleiher und den überlassenen Arbeitnehmern ebenfalls und der überlassene Arbeitnehmer wird zum Arbeitnehmer des Entleihers mit allem daraus resultierenden Ansprüchen. Besonders bedrohlich für den Entleiher ist die Strafbarkeit wegen Beitragshinterziehung gemäß § 266a StGB. Besonders aus diesem Bedrohungsszenario könnte eine wirkungsvolle Abschreckung funktionieren, so dass viele Unternehmen, die in Inhouse-Outsourcing praktizieren, darauf achten müssen, die Grenzen zu Arbeitnehmerüberlassung nicht zu überschreiten. Was aber soll an dieser Stelle das „könnte“ im letzten Satz? Es soll überleiten zu dem bereits erwähnten Schlupfloch, mit dem man den dadurch erreichen Abschreckungseffekt wieder neutralisieren kann. Denn „erfreulicherweise“ für den Auftraggeber funktioniert die skizzierte Abschreckungswirkung heute nicht richtig – und zwar dann nicht, wenn der Scheinwerkunternehmer oder Scheindienstleister über eine Überlassungserlaubnis verfügt. Wenn das der Fall ist, dann tritt die beschriebene Rechtsfolge eines Arbeitsverhältnisses zum Entleiher nicht ein. Die Ansprüche des eigentlich überlassenden Arbeitnehmers richten sich in diesem Fall nicht gegen das Entleih-Unternehmen, sondern gegen das Verleih-Unternehmen. Und genau diese Konstruktion ist in der Praxis weit verbreitet: Die Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis fungiert demnach als „Reservefallschirm“ bei verdeckter Überlassung. Im Ergebnis bedeutet das, dass der faktische Entleiher bei einem Scheinwerk- oder Scheindienstvertrag praktisch kein Risiko eingeht, aber die Kostenvorteile, die sich realisieren lassen, mitnehmen kann.«

Und bereits damals habe ich mit Bezug auf den Arbeitsrechtler Peter Schüren darauf hingewiesen, dass man das relativ einfach heilen kann, wenn man denn gesetzgeberisch will:

»Aus der Logik einer anzustrebenden Abschreckungswirkung liegt der Lösungsansatz für dieses Problem auf der Hand: Man muss durch eine gesetzgeberische Änderung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz den Durchgriff der Sanktionen auf den Auftraggeber sicherstellen.
Der Arbeitsrechtler Peter Schüren hat hierzu einem handhabbaren – und gesetzgeberischen Willen vorausgesetzt auch schnell umsetzbaren – Vorschlag entwickelt: Um zu verhindern, das Schein-Werk- bzw. Schein-Dienstverträge unter dem „Schirm“ einer vorhandenen Überlassungserlaubnis gelangen, sollte der bestehende Gesetzeswortlaut im § 9 Nr. 1 AÜG geändert werden. Vorgeschlagen wird die folgende Ergänzung des § 9 Nr. 1 AÜG (die Ergänzung ist hier kursiv hervorgehoben):
„Unwirksam sind:
1. Verträge zwischen Verleihern und Entleihern sowie zwischen Verleihern und Leiharbeitnehmern, wenn der Verleiher nicht die nach § 1 erforderliche Erlaubnis hat oder bei vorhandener Erlaubnis die Überlassung des Leiharbeitnehmers nicht eindeutig als Arbeitnehmerüberlassung kenntlich macht,“ (Schüren 2013: 178) … Durch diese überaus scharf wirkende Ergänzung innerhalb des AÜG würde der faktische Entleiher erhebliche Sanktionen fürchten müssen, bis hin zur Strafbarkeit seines Verhaltens, was eine erhebliche Abschreckungswirkung entfalten würde.« (Sell 2013: 11).

Nun sind drei Jahre ins Land gezogen – und endlich scheint sich dieser auf Schüren zurückgehende Vorschlag in die Wirklichkeit zu begeben. Selbst die IG Metall jubelt, folgt man dem Artikel Große Koalition beendet Gesetzes-Blockade auf der Seite www.faire-werkvertraege.de. Dort findet man unter der Überschrift „Scheinwerkverträge erschwert“ folgenden Passus:

»Bei Werkverträgen macht der Gesetzesentwurf Schluss mit dem verbreiteten Etikettenschwindel: Werden Arbeitgeber bei einem illegalen Scheinwerkvertrag erwischt, drohen ihnen künftig rechtliche Konsequenzen. Eine Verleiherlaubnis „auf Vorrat“ hilft nicht mehr weiter. Vielmehr muss laut dem Gesetzesentwurf von Anfang an vertraglich klargestellt werden, ob es sich um Arbeitnehmerüberlassung oder um einen Werkvertrag handelt. Ein Umdeklarieren während der Vertragslaufzeit soll nicht mehr möglich sein. Auch die Informationsrechte von Betriebsräten werden gestärkt. Zudem sieht Gesetzesentwurf ein Beratungsrecht im Rahmen der Personalplanung bei Fremdvergabe vor.«

Also alles gut? Mitnichten.

Wem auch immer ist es gelungen, in den Referentenentwurf, der nunmehr in das Gesetzgebungsverfahren eingespeist wird, einen folgenschweren Passus einzubauen, der die Hoffnung der IG Metall, die man dem Zitat entnehmen kann, ein grausiges Ende bereiten wird. Peter Schüren hat das in einem Beitrag unter der Überschrift „Widerspruchsrecht gem. § 9 Nr. 1 AÜG 2017 – Ein Kuckuckskind im Koalitionsvertragsnest?“ (Schüren, jurisPR-ArbR 19/2016 Anm. 1) so auf den Punkt gebracht:

»Das fingierte Arbeitsverhältnis zum Entleiher ist seit 1972 die Rechtsfolge bei der Überlassung eines Arbeitnehmers ohne Erlaubnis. Die Folgen sind bekannt, furchterregend und folglich abschreckend. Ein Unternehmen, das Scheinwerkverträge zur Kostensenkung nutzt, geht ein großes Risiko ein.
Der BMAS-Entwurf (3. Versuch, Fassung vom April 2016) sieht für die illegale Überlassung ein Widerspruchsrecht des einzelnen Arbeitnehmers gegen das fingierte Arbeitsverhältnis vor …
Auf den Punkt gebracht: Das Widerspruchsrecht bei illegaler Überlassung schützt nur den illegalen Entleiher – den schützt es freilich sehr wirksam.«

Das geplante Widerspruchsrecht konterkariert vollständig die seit langem geforderte und an sich folgenschwere sowie konsequente Inhaftnahme des faktischen Entleihers bei Scheinwerkverträgen.
»Die Regelung wäre für einige ein Segen: Unternehmen, die sich illegal Personal ausleihen, könnten damit viele Millionen sparen. Und die beteiligten Führungskräfte würden besser schlafen, weil sie sich nicht mehr vor dem Staatsanwalt fürchten müssen«, so Peter Schüren.

Der hat gemeinsam mit Sabrina Fasholz bereits 2015 auf das Scheunentor hingewiesen, das nunmehr offensichtlich geöffnet werden soll: In dem Artikel „Inhouse-Outsourcing und Diskussionsentwurf zum AÜG – Ein Diskussionsbeitrag“, erschienen in der Neuen Zeitschrift für Arbeitsrecht (Heft 24/2015, S. 1473 ff.), führen die beiden mit Blick auf die vorgesehene „schriftliche Erklärung“, beim Verleiher bleiben zu wollen, aus:

»Indessen legt die Regelung ist dem vorausschauenden Verleiher und dem vorsichtigen Entleiher nahe, alle Arbeitnehmer, die im Rahmen eines dubiosen Werk- oder Dienstvertrags überlassen werden, eine solche Erklärung vor Arbeitsantritt beim Kunden vorsorglich unterschreiben zu lassen. Dann könnte die neue Regelung tatsächlich ein „Riesenproblem“ lösen: Die fingierten Arbeitsverhältnisses zum Endlager mit der anknüpfenden Beitragspflicht in den Zweigen der Sozialversicherung wären weg.
Will das BMAS den großen „Reservefallschirm“ Überlassungserlaubnis beseitigen – und dann durch viele kleine Reservefallschirme ersetzen? So wie der Vorschlag jetzt ist, gleicht die schriftliche Erklärung der möglicherweise illegal überlassenen Arbeitnehmer, sie wollten beim Verleiher bleiben, in ihrer Wirkung den teils dubiosen Entsendebescheinigungen (A1), die bei ausländischen Scheinwerkunternehmen „zur Sicherheit“ für die Mitarbeiter aus der Heimat mitgebracht werden und die so ein fingiertes Arbeitsverhältnis bei illegaler Überlassung seit 2006 verhindern.« (Schüren/Fasholz 2015: 1475).

Auch Wolfgang Hamann von der Universität Duisburg-Essen hat in einem Beitrag in der Zeitschrift „Arbeit und Recht“ (Heft 4/2016) darauf hingewiesen:  »Ob die geplante Neuregelung geeignet ist, das Ende der „Vorratserlaubnis“ einzuläuten, muss bezweifelt werden. Eher werden zukünftig die im Rahmen grenzwertiger Werkverträge zum Einsatz kommenden Arbeitnehmer selbst für das „Auffangnetz“ sorgen. Sie werden vor oder spätestens bei Aufnahme der Arbeit im Fremdbetrieb in einem ihnen von ihrem Arbeitgeber oder dessen Auftraggeber vorgelegten Formular erklären, dass sie an den Arbeitsvertrag mit ihrem Vertragsarbeitgeber festhalten. Derartige Erklärungen sind der Entwurfsfassung zufolge nicht ausgeschlossen.« (S. 136).

Diesen problematischen Punkt behandeln auch Klaus Ernst und Jutta Kielmann in ihrer Kommentierung: Die Bundesregierung plant Verschlechterungen bei Leiharbeit und Werkverträgen – Kritik am Referentenentwurf des BMAS (April 2016), Berlin, 12.05.2016. Sie schreiben:

»Wenn das neue Widerspruchsrecht eingeführt ist, wird das Unternehmen, das solches Fremdpersonal einsetzt, schon bei Arbeitsaufnahme von jedem Fremdmitarbeiter verlangen, dass er einen solchen Widerspruch abgibt. Dann ist der illegale Entleiher in Sicherheit: Es gibt kein Arbeitsverhältnis zum Entleiher, keine Lohnzahlungspflicht und zwangsläufig keine Strafbarkeit wegen Beitragshinterziehung mehr. Der illegale Entleiher stünde nach dieser „Reform“ sogar besser da als ein legaler Entleiher, denn er haftet nicht einmal als Bürge für die Sozialversicherungsbeiträge – diese Haftung gibt es bei legaler Überlassung.«

Möglicherweise fragt sich an dieser Stelle der eine oder die andere, warum überhaupt bzw. mit welcher Begründung die Bundesregierung diese Regelung aufgenommen hat in den Gesetzestext für den Entwurf: Man will den Arbeitnehmer davor „schützen“,  dass er vom Entleiher in ein festes Arbeitsverhältnis übernommen werden müsste. Das nun wiederum ist ein wirklich putziges Argument angesichts der empirischen Realität. Dazu wieder Peter Schüren:

»Aus der Praxis ist kein einziger Fall bekannt, in dem ein Arbeitnehmer erfolgreich gezwungen wurde, nach einer illegalen Überlassung beim Entleiher zu bleiben. Normalerweise muss sich ein Arbeitnehmer gegen harten Widerstand einklagen, wenn er tatsächlich im fingierten Arbeitsverhältnis bleiben will. Auch das BMAS hat keinen solchen Fall gefunden, in dem ein Arbeitnehmer über das fingierte Arbeitsverhältnis seinen Arbeitsplatz beim illegal tätigen Verleiher gegen seinen Willen wegen der Fiktion verloren hat.
Aber es gäbe in Zukunft mit Sicherheit tausende von Fällen der illegalen Überlassung, in denen das Widerspruchsrecht die Führungskräfte der illegalen Entleiher vor der Strafbarkeit wegen Beitragshinterziehung schützen könnte.«

Vor diesem Hintergrund hat Schüren die vorgesehene Widerspruchsregelung in seinem SWR-Interview auch als einen „tollen Trick“ bezeichnet – aber nicht für die betroffenen Leiharbeiter, sondern für die illegalen Arbeitnehmerüberlasser.

Fazit: Wir sind hier mit einem echten Schildbürgerstreich konfrontiert, wenn es denn einen um die Begrenzung der missbräuchlichen Inanspruchnahme von Leiharbeit geht. Oder steckt da mehr hinter als nur ein Versehen, eine gesetzgeberische Tollpatschigkeit? Das wäre ein starkes Stück, aber nicht wirklich überraschend.

Man kann folglich nur hoffen, dass im Gesetzgebungsverfahren diese Verschlechterung noch gekippt wird. Die Gewerkschaften müssten – eigentlich – ein großes Interesse daran haben, das zu erreichen. Wenn nicht, dann müsste man über deren wahren Interessen nochmals nachdenken. Aber vielleicht ist es ja auch so, dass das mit dem „tollen Trick“ für die anderen einfach noch nicht wirklich angekommen ist. Das wäre zu hoffen.

Die Leiharbeitsbranche selbst versucht derzeit, von diesen wirklichen Problemen abzulenken. So berichtet die FAZ unter der Überschrift: Zeitarbeit sorgt sich um Tausende Arbeitsplätze:  »In einer aktuellen Umfrage durch die Marktforschungsgesellschaft Lünendonk rechnen die 25 größten Anbieter für Leiharbeit im laufenden Jahr nur noch mit einem Marktwachstum von 2,9 Prozent. Im vergangenen Jahr legte die Branche noch um 6,4 Prozent auf knapp 30 Milliarden Euro zu. Die Zahl der Leiharbeiter stieg um 3,5 Prozent auf rund 930.000, wie aus der Studie hervorgeht«, berichtet Sven Astheimer in seinem Artikel:

»Die Unsicherheit der Unternehmen entspringt vor allem Nahles’ Vorgabe, dass Zeitarbeiter und Stammkräfte des Einsatzunternehmens nach neun Monaten gleich bezahlt werden müssen. Aber bis heute sieht das Gesetz keine Definition vor, welche Bestandteile das umfasst: nur das Grundgehalt oder ist die komplette Vergütung gemeint? Dann müsste das Zeitarbeitsunternehmen bei der Bezahlung seiner Mitarbeiter vielleicht auch den Kantinen-, Dienstwagen- oder Kitazuschuss der vergleichbaren Stammbelegschaft des Kunden abbilden. Geklärt würde die Frage dann wohl vor Gericht, eine Prozesslawine droht.«

Und weiter: »Denn wenn die Rechtsunsicherheit so hoch bleibe, würden viele Zeitarbeitskonzerne und Kunden auf Nummer Sicher gehen und ihre Mitarbeiter vor Ablauf der neun Monate abziehen.« Klar, das werden sie sowieso in vielen Fällen machen, das sieht man doch schon heute als Normalfall. Und darüber hinaus gibt es ja auch noch eine andere Option:

»Wenn das Gesetz in den kommenden Wochen ausgearbeitet wird, will die Branche bei Nahles deshalb darauf dringen, dass den Tarifpartnern die Möglichkeit für eine Pauschalierung der Gleichbezahlung gegeben wird. Die IG Metall habe schon angedeutet, dass sie sich auf die Lösung „Stundenentgelt plus Zulagen“ einlassen würde, das sei akzeptabel. Damit wäre die hohe Rechtsunsicherheit ausgeräumt.«

Man könnte auf die Idee kommen, dass die Gewerkschaften ein Interesse haben (müssen), auch diesen Punkt abzuräumen – so jedenfalls die Interpretation, die sich aufdrängt, wenn man dem Artikel folgt. Sollte es wirklich so sein, dass die mächtigen Betriebsräte der großen Unternehmen wie Daimler und andere sich durchgesetzt haben dergestalt, dass man die Leiharbeiter als Flexibilitätsreserve für die Absicherung der Stammbelegschaften braucht? Das wäre keine ehrenrührige Debatte, sie müsste nur mal endlich mit offenen Visier geführt werden.

Auf der anderen Seite – so schlecht scheint es der Branche nicht zu gehen, wenn man solche Zahlen zur Kenntnis nehmen muss:

»An der Spitze stand auch im vergangenen Jahr der niederländische Randstad-Konzern, der auf einen Umsatz von knapp 2 Milliarden Euro in Deutschland kam. Wenn sich die gute Entwicklung des ersten Quartals fortsetzt, könnte die Marke von 2 Milliarden Euro im Jahresverlauf geknackt werden. Der weltgrößte Personaldienstleister Adecco aus der Schweiz hat mit 1,65 Milliarden Euro den zweiten Platz souverän behauptet. Auf Rang drei der Liste kehrte Manpower mit 775 Millionen Euro Jahresumsatz zurück.«

Aber auch hier darf die Tränenvase für die „arme Branche“ nicht fehlen:

»Eine weitere Entwicklung, die das Wachstum der Branche bremst, sind zunehmende Engpässe an Personal. Gerade in Süddeutschland, wo vielerorts Vollbeschäftigung herrscht, sei es kaum noch möglich, qualifiziertes Personal zu finden, heißt es. Selbst Helfer seien mancherorts rar. Deshalb rekrutieren die Unternehmen verstärkt im Ausland, etwa in Polen oder Tschechien.«

Wundert es uns an dieser Stelle, dass die betroffenen Unternehmen sogleich Forderungen an den Staat richten? Nicht wirklich: „Die Anerkennung von Qualifikationen ist aber weiterhin ein großes Problem“, wird Reiner Dilba, Geschäftsführer der Leiharbeitsfirma Orion, zitiert. Da bekommt das BMAS doch gleich neue Hausaufgaben.

Während die Verleiher munter weiter vor sich hinfordern, sollte man die wirklich enttäuschende Regelungsfolgen, die in diesem Beitrag angesprochen worden sind, nicht vergessen. Wenn das so bleibt, dann ist die „Reform“ des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes ein trojanisches Pferd im Arbeitnehmerlager. Das kann doch nicht gewollt sein. Oder?

Ein „historischer Schritt“ oder doch eher nur Reformsimulationsergebnisse? Auf alle Fälle hat die Bundesregierung das ungeliebte Thema Leiharbeit und Werkverträge (vorerst) vom Tisch. Und Arbeitgeber und Gewerkschaften geben sich gemeinsam erleichtert

Starke Worte auf allen Kanälen: »Bundesarbeitsministerin
Andrea Nahles zeigte sich als gute Verkäuferin. Die Einigung zur Regulierung
der Arbeitsverhältnisse von mehr als 900.000 Zeitarbeitern am Dienstagabend sei
ein historischer Schritt, sagte die Sozialdemokratin: „Wir haben zum ersten Mal
in der Geschichte überhaupt eine gesetzliche Regelung, die ganz eindeutig die
Rechte der Leiharbeitnehmer stärkt“,« berichtet Sven Astheimer in seinem
Artikel Nahles hat die Zeitarbeit vom Tisch, wobei die Überschrift eher darauf
hindeutet, dass man hier irgendwas endlich abgearbeitet hat, weniger nach einem
historischen Ereignis. Die sich hier abzeichnende Ambivalenz wird auch in
diesem Beitrag von Max Haerder erkennbar: »Andrea Nahles (SPD) spazierte am Dienstagabend
sichtlich gelöst aus dem Kanzleramt und vor die TV-Kameras. Sie wollte
offenkundig die erste Botschaft senden und den von ihr gewünschten Ton
vorgeben: Sie, die Arbeitsministerin, habe sich durchgesetzt. Das lange von der
CSU erbittert blockierte Gesetz zu Zeitarbeit und Werkverträgen werde nun
endlich auf den Weg gebracht, der Knoten sei geplatzt. Nahles schaute in die
milde Dämmerung und freute sich.« So beginnt ein Artikel, dessen Überschrift
allerdings nicht so ganz passen will zu der frohen Botschaft: AndreaNahles dreht bei. Auf der einen Seite der Medaille »kann Nahles alle
SPD-Versprechen des Koalitionsvertrages – Beschränkung der Zeitarbeit auf 18
Monate, gleicher Lohn für Zeitarbeiter nach 9 Monaten, bessere Definition gegen
den Missbrauch von Werkverträgen – halten.« Der Eindruck, alles wurde
erfolgreich abgearbeitet, wurde bereits in dem Blog-Beitrag Die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hält Wort beim Thema Leiharbeit undWerkverträge vom 16. November 2015 in die Überschrift gepackt. Und damals
ging es um den ersten Referentenentwurf,
der zwischenzeitlich noch verändert worden ist. Also doch alles gut?


Beschränken wir uns mal auf das Thema Leiharbeit, denn daran
kann man aufzeigen, was die – auslegungsfähige – Formulierung, sie habe Wort
gehalten, meint: Im Koalitionsvertrag
zwischen Union und SPD findet man unter der Überschrift
„Arbeitnehmerüberlassung weiterentwickeln“ die folgende Vereinbarung:

»Wir präzisieren im AÜG die Maßgabe, dass die Überlassung
von Arbeitnehmern an einen Entleiher vorübergehend erfolgt, indem wir eine
Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten gesetzlich festlegen. Durch einen
Tarifvertrag der Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche oder aufgrund eines
solchen Tarifvertrags in einer Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung können unter
Berücksichtigung der berechtigten Interessen der Stammbelegschaften abweichende
Lösungen vereinbart werden.
Die Koalition will die Leiharbeit auf ihre Kernfunktionen
hin orientieren. Das AÜG wird daher an die aktuelle Entwicklung angepasst und
novelliert:
Die Koalitionspartner sind sich darüber einig, dass
Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer künftig spätestens nach neun Monaten
hinsichtlich des Arbeitsentgelts mit den Stammarbeitnehmern gleichgestellt
werden.
Kein Einsatz von Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern
als Streikbrecher.
Zur Erleichterung der Arbeit der Betriebsräte wird
gesetzlich klargestellt, dass Leiharbeitnehmer bei den
betriebsverfassungsrechtlichen Schwellenwerten grundsätzlich zu berücksichtigen
sind, sofern dies der Zielrichtung der jeweiligen Norm nicht widerspricht.«

Und was ist rausgekommen? Dazu aus dem Übersichtsbeitrag Koalitionseinigung zur Leiharbeit – Die Eckpunkte von Philip
Wiesenecker:

»Die Überlassungshöchstdauer
wird auf 18 Monate begrenzt, und kann in Einzelfällen auf bis zu 24 Monate
ausgeweitet werden; dabei wird auch klargestellt, dass die Überlassungsgrenze
pro Arbeitnehmer, nicht pro Arbeitsplatz zählt, und dass Unterbrechungen von
weniger als sechs Monaten nicht zählen (§ 1 Abs. 1b AÜG). Neu seit gestern:
Auch im nicht tarifgebundenen Unternehmen soll von einer festen Obergrenze
abgewichen werden können, also ein Einsatz auch länger als 24 Monate möglich
bleiben – wenn im Tarifvertrag eine abweichende Obergrenze durch
Betriebsvereinbarung vorgesehen ist.

Der Anspruch des Leiharbeitnehmers auf Equal Pay nach 9, im Ausnahmefall spätestens nach 15 Monaten wird
gesetzlich kodifiziert. Neu: Zuvor waren maximal 12 Monate Ausdehnung möglich.
Letzte Klarstellung gestern: Es zählen erst Überlassungszeiten seit
Inkrafttreten des Gesetztes.

Eine rechtlich schwierige und von Anfang an kritisierte
Regelung behält der Entwurf bei, und verbietet
den Einsatz von Leiharbeitnehmern
als Streikbrecher
. Letzte Änderung gestern: Es wird klargestellt, dass eine
Beschäftigung im Streik nicht generell untersagt ist, sondern Leiharbeitnehmer
weiter eingesetzt werden können, wenn sie keine Aufgaben Streikender erledigen.«

Wie bereits erwähnt, begrüßen sowohl die Arbeitgeber wie
auch die Gewerkschaften die nun gefundene Einigung. So erfährtman beispielsweise von der IG Metall:
Der DGB und die IG Metall bewerten den Gesetzentwurf
insgesamt positiv – und als längst überfällig .Bei der Leiharbeit sieht der
Erste Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann, die Tarifvertragsparteien
gestärkt. „Die bisher erreichten tariflichen Regelungen können
weitergeführt und auf Grundlage des Gesetzes noch verbessert werden.“
Aber es gibt auch kritische Stimmen. Als ein Beispiel dafür sei
hier der Kommentar Völlig wirkungslos von Pascal Beucker zitiert: »Der Entwurf von Arbeitsministerin
Andrea Nahles ist ein halbgarer Kompromiss. Die meisten Leiharbeiter haben von den
Regelungen überhaupt nichts,« so seine zentrale These. Er argumentiert, »nicht
nur die jeweils möglichen tarifvertraglichen Ausnahmen sind problematisch. Der
noch größere Haken: Die meisten Leiharbeiter haben von beiden Regelungen
überhaupt nichts. Denn mehr als die Hälfte ihrer Beschäftigungsverhältnisse
endet bereits nach drei Monaten. Eigentlich war die Leiharbeit dazu gedacht,
kurzfristige Arbeitsspitzen möglichst einfach auffangen zu können. Tatsächlich
wurde sie jedoch in großem Umfang zum Lohndumping missbraucht.«
Zu dem Aspekt der für viele Leiharbeiter sehr kurzen
Beschäftigungsdauern schreibt die Bundesagentur für Arbeit in ihrem Bericht „Der
Arbeitsmarkt in Deutschland –  Zeitarbeit
– Aktuelle Entwicklungen“ aus dem Jahr 2015:

»Von den 605.000 im zweiten Halbjahr 2014 beendeten Arbeitsverhältnissen
in der Zeitarbeit dauerte knapp die Hälfte (46 Prozent) drei Monate oder
länger. Im Vorjahreszeitraum lag dieser Anteil bei 44 Prozent, vor zehn Jahren
bei 39 Prozent … Nach wie vor scheinen Verleiher ihren Personalbestand somit
möglichst elastisch ihrer Auftragslage anzupassen.« (S. 17)

Aber selbst für die länger beschäftigten Leiharbeiter wird
sich kaum etwas verändern, worauf auch Sven Astheimer hingewiesen
hat:

»Ein Kernbestandteil ist die gleiche Bezahlung von
Leiharbeitern und Stammmitarbeitern des Einsatzunternehmens bei annähernd
gleicher Tätigkeit, auch „equal pay“ genannt. Das ist jedoch bisher schon im
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vorgeschrieben, sofern  nicht ein Tarifvertrag andere Regelungen
festlegt. Künftig muss die Gleichbezahlung nach neun Monaten erfolgen,
allerdings sind die bestehenden Tarifverträge über stufenweise
Branchenzuschläge weiterhin gültig. Da diese für nahezu alle relevanten
Branchen mit größeren Lohnlücken bestehen, dürfte sich in der Praxis wenig
ändern.«

Die Einschätzung von Markus Krüsemann aus dem Februar 2016 zu dem damals vom BAMS veröffentlichten Referentenentwurf, der jetzt noch in einigen Punkten weiter abgeschwächt werden wird nach der Einigung im Koalitionsausschuss, in seinem Beitrag Der Versuch, Leiharbeit zu begrenzen und Werkvertragsarbeit einzuhegen, ist gescheitert
kann vor diesem Hintergrund mit einiger Berechtigung heute wieder aufgerufen werden:

»Die Wirtschafts- und Unternehmensverbände können sich jetzt
schon zufrieden zurücklehnen. Es bleibt mehr oder weniger alles beim Alten. In
den Betrieben wird es weiterhin ein Drei-Klassen-System geben von relativ gut
gesicherten Stammbelegschaften, schlechter entlohnten und prekär beschäftigten
Leiharbeitern und noch schlechter entlohntem Fremdpersonal auf
Werkvertragsbasis. Schlechte Arbeit, Missbrauch und Lohndumping bleiben auf
absehbare Zeit also an der Tagesordnung.«

Und auf die Tagesordnung gesetzt werden dann weitere Fragen, die sich aus dem Umsetzung der gesetzlichen Formulierungen ergeben werden. Beispielsweise die eben nur scheinbar eindeutige Forderung, nach einer bestimmten Frist „equal pay“ zu gewährleisten. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit – das ist nicht nur eine alte gewerkschaftliche Forderung, sondern auch die Bundesregierung behauptet, dass das mit der Neuregelung erreicht werden kann (wie wir gesehen haben, wird sich das aber in vielen Fällen als Illusion herausstellen). Aber selbst wenn – was ist denn „equal pay“ nun genau? Das muss operationalisiert werden, und hier stellen sich sofort Konkretisierungsfragen, die sicher alle vor Gericht aufschlagen werden, worauf auch hier hingewiesen wird: »… unter vielen Arbeitsrechtlern stößt der unbestimmte Begriff auf Kritik. Es sei unklar, ob darunter nur das Grundgehalt, oder auch die Zuschläge oder sogar Zuschüsse für die Stammmitarbeiter etwa zur Kantine oder zur Betriebskita zu verstehen sind. Dies alles für einen kurzen Einsatz eines Zeitarbeiters abzubilden, könnte enormen bürokratischen Aufwand verursachen.«

Wenn der starke Arm immer kürzer wird. Theorie und Praxis eines tarifpolitischen Umgangs mit der problematischen Instrumentalisierung von Werkverträgen am Beispiel der IG Metall

Schon seit längerem wird immer wieder darüber berichtet, dass zahlreiche Unternehmen Werkverträge nutzen, um weit mehr oder anderes zu tun, als was normalerweise der Sinn der Inanspruchnahme von Werkverträgen ist. Also nicht nur die Nutzung von externen Unternehmen mit deren Beschäftigten, um in einem abgrenzbaren „Betrieb im Betrieb“ bestimmte Aufgaben zu erledigen, die nichts mit den Kernprozessen des Unternehmens zu tun haben. Klassische Beispiele wäre der Betrieb der Betriebskantine durch ein Catering-Unternehmen oder die Beauftragung eines Handwerksunternehmens mit der Durchführung bestimmter Reparaturen. Das ist gängig und ein ganz normales Geschäftsgebaren in der heutigen hoch arbeitsteiligen Welt. Und insofern kein Problem.

Problematisch wird die Sache mit den Werk- und Dienstverträgen dann, wenn sie instrumentalisiert werden für ganz andere Zwecke, beispielsweise für Bypass-Strategien der Arbeitgeber, die in den vergangenen Jahren beispielsweise mit einer Re-Regulierung der Leiharbeit konfrontiert wurden, die diese verteuert hat, was bei denen, die Leiharbeit für Lohndumping verwendet haben, zur Suche nach Alternativen geführt hat. Und die wurden dann oftmals bei Werkvertragsunternehmen fündig. Gegen die offensichtlich missbräuchlichen Ausgestaltungen hier und da hat sich in den vergangenen Jahren ein enormer Druck aufgebaut, verstärkt durch zahlreiche Medienberichte, mit der Folge, dass die große Koalition – eigentlich – vereinbart hatte, auch den Bereich der Werkverträge, vor allem die Schnittstelle zur unerlaubten Arbeitnehmerüberlassung, gesetzgeberisch zu regeln. Das Bundesarbeitsministerium hat zwischenzeitlich auch geliefert, erst einen Entwurf, der auf heftigsten Widerstand gestoßen ist, dann einen weichgespülten Entwurf, der – eigentlich – von Arbeitgebern und Gewerkschaften mitgetragen wurde (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen zähneknirschend), um dann an der CSU in der Koalition abzuprallen, die aus welchen niederen taktischen Motiven auch immer die Reißleine gezogen hat, so dass das alles derzeit auf Eis liegt in Berlin.

Die Gewerkschaften müssen erkennen, dass es ihnen wahrscheinlich nicht gelingen wird, analog zum Prozess der Re-Regulierung der Leiharbeit eine vergleichbare politische Einhegung der zudem wesentlich komplexer ausgestalteten Werkverträge zu erreichen. Das liegt nicht nur an den Widerständen im politischen Raum, sondern auch und gerade an der Vielgestaltigkeit von Werkverträgen und vor allem an den hier relevanten Schnittstellen zur Definition von Arbeitnehmern und Selbständigen – und gerade dieser Definitionsversuch hat ja massive Widerstände mobilisiert, man schaue sich beispielsweise die Kampagne des Verbandes der Gründer und Selbständigen Deutschland (VGSD) gegen die Scheinselbständigkeitsdefinition. Aus gewerkschaftlicher Perspektive relevant für eine eher frustrierte Bewertung des gesetzgeberischen Prozesses, selbst wenn er aus der derzeitigen Blockade befreit werden ist die Tatsache, dass die von ihnen geforderten Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte beim Einsatz von Werkverträgen nicht kommen werden.

Mittlerweile werden in der betrieblichen Praxis immer weitere Fakten geschaffen – die Werkvertragsfirmen dringen von den Rändern immer stärker in die Kernprozesse der Industrieunternehmen vor und setzen damit natürlich die Stammbelegschaften auch immer stärker unter Druck. Gerade für die in diesem Bereich gut organisierte IG Metall wird das zu einer existenziellen Herausforderung, denn entweder sind die Beschäftigten der Werkvertragsunternehmen gar nicht gewerkschaftlich organisiert und haben noch nicht einmal betriebliche Mitbestimmungsstrukturen, oder sie arbeiten zu deutlich schlechteren Tarifbedingungen, da sie formal als „Kontraktlogistiker“ geführt werden , für die dann die Dienstleistungsgewerkschaft  ver.di zuständig ist.

Wobei der Begriff „Kontraktlogistik“ aus Sicht der Metall-Gewerkschaft zunehmend problematisch bis irreführend wird: Vor allem dann, wenn es bei einem „Logistikunternehmen“ eben nicht nur darum geht, Ware an die Pforten irgendeines Lagers zu fahren, sondern Tätigkeiten innerhalb des beauftragenden Unternehmens auszuüben. Und genau so sieht es in der Automobilindustrie mittlerweile aus, wenn man der Argumentation der Gewerkschaften folgt:

»Kontraktlogistik ist dabei ein ziemlich irreführender Begriff. Denn in dieser Branche wird weniger transportiert als vielmehr montiert. Im BMW-Beispiel werden angelieferte Teile auf dem Werksgelände zusammengeschraubt und dann an Autos montiert. Vorgesehen sind Werkverträge aber aus Sicht der IG Metall für Tätigkeiten wie das Streichen einer Werkshalle oder allenfalls noch deren Säuberung, nicht aber für die Kernarbeiten eines Unternehmens.«

Auf diese grundsätzliche Herausforderung durch das sukzessive Vordringen der Fremdfirmen in Kernprozesse der Unternehmen hat die IG Metall strategisch geantwortet, was sich abbilden lässt in der Beschreibung einer „doppelten Tariffrage“ (vgl. dazu bereits meinen Beitrag Werkverträge als echtes Problem für Betriebsräte und Gewerkschaft. Und eine „doppelte Tariffrage“ für die IG Metall vom 24. September 2015):

Wenn der Druck auf die Stammbelegschaften durch die immer stärkere Ausbreitung der Werkverträge in den Kernbereich hinein steigt, dann muss man eben die eigene Tarifpolitik auf diese vor- und nachgelagerten Bereiche ausdehnen, um das tarifpolitisch wieder in Griff zu bekommen.
Genau hier aber tut sich eine zweite Tariffrage auf. Gemeint ist die Tatsache, dass viele der Werkvertragsunternehmen der Logistik-Branche zugeordnet sind und hier gilt die Zuständigkeit einer anderen Gewerkschaft – von Verdi. Und da gibt es zunehmend Konflikte, denn die IG Metall muss immer stärker diese Zuständigkeitsgrenze überschreiten, um die ganze Wertschöpfungskette wieder unter ihr Dach zu bekommen. Das führt zu handfesten Konflikten – vgl. dazu schon den Beitrag Wenn unterschiedlich starke Arme eigentlich das Gleiche wollen und sich in die Haare kriegen: „Tarifeinheit“ aus einer anderen Perspektive vom 3. September 2014.

Erschwerend und vor allem mit Blick auf die Zukunft kommt eine Art „dritte Tariffrage“ hinzu, denn man kann durchaus plausibel annehmen, dass auch die Gewerkschaften einen Preis werden zahlen müssen, wenn es ihnen gelingt, immer stärker in die der eigentlichen Kernproduktion vor- und nachgelagerten und an Drittfirmen ausgelagerten Bereiche vorzustoßen und die dort tätigen Arbeitnehmer zu organisieren. Man wird sie unter das Tarifdach der IG Metall bekommen, aber es muss damit gerechnet werden, dass es zugleich eine Tarifauffächerung unter dem großen Dach der Gewerkschaft geben wird, dass also die „Neuen“ nicht die gleichen „alten“ Tarife bekommen werden wie beispielsweise die Stammbelegschaften in den Autowerken.

Diese Aspekt wurde auch angesprochen in einer neuen Studie, die sich mit den Werkverträgen im Bereich der IG Metall beschäftigt:

Tim Obermeier und Stefan Sell: Werkverträge entlang der Wertschöpfungskette. Zwischen unproblematischer Normalität und problematischer Instrumentalisierung, Düsseldorf: Hans Böckler Stiftung, 2016

Dort findet man den folgenden Passus:

»Hinsichtlich der tarifpolitischen Konsequenzen kann man heute schon beobachten, dass die Bemühungen seitens der Gewerkschaften in Richtung eines Drei-Stufen-Modells gehen, mit dem man versucht, der Fragmentierung der Belegschaften (und der Prozesse) Paroli bieten zu können. Auf einer ersten Ebene geht es um strategische Organizing-Prozesse in den betroffenen Werkvertragsunternehmen in Verbindung mit der Installierung von Betriebsräten. Auf einer zweiten Ebene steht dann die tarifvertragliche Landnahme, wobei aber bisher in aller Regel Tarifwerke zur Anwendung kommen, die nach unten abweichen von dem, was für die Insider gilt, die dem „klassischen“ Tarif im engeren Sinne unterliegen. Die dritte Ebene wird derzeit, wenn überhaupt, als Zielgröße ausgewiesen: Die Angleichung der Tarifbedingungen an die des Flächentarifvertrags. Ob dieser Schritt gelingen kann, ist aus systemischen Gründen mit einem Fragezeichen zu versehen. Möglicherweise wird die tarifliche „Rückgewinnung“ der ausgelagerten Bereiche einen Preis haben, der so aussieht, dass man mit unterschiedlich dimensionierten Tarifen unter einem Dach operieren muss, um das von der Arbeitgeberseite geforderte Kostendifferenzial teilweise realisieren zu können, aber auch, um als Gewerkschaft seine Handlungsfähigkeit in der gesamten Wertschöpfungskette zu erhalten bzw. zu festigen … Mit dem Abschluss von Tarifverträgen hätten die Gewerkschaften dann die Hand im Spiel und könnten dafür sorgen, Korridore nach oben zu ermöglichen, stehen jedoch vor der Herausforderung, diese neue Pluralität im Sinne der Beschäftigten zu managen.« (Obermeier/Sell 2016: 46)

Und derzeit sind wir in mittendrin in der Phase, die man ohne Übertreibung als „Häuserkampf“ der IG Metall um die Belegschaften in den Werkvertragsfirmen bezeichnen kann und muss. Das ist weitaus mehr Arbeit und Kampf, als es trocken geschriebene Zeilen auch nur andeuten können. Aber es kommt ganz praktisch dabei was raus, vor allem für Beschäftigten. Dazu ein aktuelles Beispiel, über das die IG Metall unter der Überschrift Kontraktlogistiker setzen Tarifvertrag durch berichtet. Die Kurzfassung geht so:

»Die Beschäftigten von Rhenus Contract Logistics in Stuttgart traten in die IG Metall ein, drohten mit Warnstreik – und gewannen. Jetzt haben sie rund 400 Euro mehr im Geldbeutel und ein Recht auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld.«

Das Unternehmen ist eine Werkvertragsfirma bei Daimler in Stuttgart. Die Rhenus-Beschäftigten versorgen die Montagebänder im Daimler-Getriebewerk Stuttgart-Hedelfingen mit Teilen, Seite an Seite mit Daimler-Beschäftigten.  Alles fing damit an, dass Betriebsräte von Daimler mit dem Betriebsrat der Werkvertragsfirma ins Gespräch kamen und sie an einen Tisch mit der IG Metall brachten. Innerhalb weniger Monate sind 270 der 430 Rhenus-Beschäftigten und viele der 160 Leiharbeiter in die IG Metall eingetreten – das war die Voraussetzung, eine neue tarifvertragliche Regulierung unter dem Dach der IG Metall durchzusetzen.

Man hat dann im vergangenen Jahr mit dem Unternehmen verhandelt. »Den Tarifabschluss erzielte die Verhandlungskommission Mitte Dezember. Die Vorbereitung für einen Warnstreik lief schon. Der Warnstreik hätte die Bänder bei Daimler nach einer halben Stunde zum Stehen gebracht.« Geholfen haben neben der Verbindung zu den Stammbeschäftigten bei Daimler über deren Betriebsrat auch die Tatsache: „… dass es in der Vergangenheit bereits kritische Medienberichte über schlecht bezahlte Werkvertragsarbeit bei Daimler gab“, wird Uwe Meinhardt, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Stuttgart, zitiert.

»Unter dem Druck lenkte die Arbeitgeberseite schließlich ein. Die Rhenus-Beschäftigten haben nun tariflich gesichert 400 bis 500 Euro mehr als früher, als sie noch als „Logistiker“ bezahlt wurden. Und ihr Beispiel macht Schule: Die Belegschaften weiterer Kontraktlogistiker bei Daimler wenden sich nun ebenfalls an die IG Metall Stuttgart.«

Wenn Theorie und Praxis Hand in Hand gehen, dann kommt für die Beschäftigten auch was raus. Und für die IG Metall wird sich diese Strategie mittel- und langfristig mehr auszahlen als das (vergebliche) Hoffen auf die Berliner Politik- und Gesetzgebungsmaschinerie.

Am Tag danach. Einige kritische Gedanken zum Tag der Arbeit und der (Nicht-)Zukunft der Gewerkschaften

Zeit für mehr Solidarität! So war der Aufruf des DGB zum diesjährigen Tag der Arbeit überschrieben. Die Gewerkschaftsmitglieder waren aufgerufen, »für mehr Solidarität – zwischen den arbeitenden Menschen, den Generationen, Einheimischen und Flüchtlingen, Schwachen und Starken« zu demonstrieren. Das ist ganz offensichtlich nicht nur eine Menge Stoff, sondern „Solidarität“ ist ein starkes Wort, das man mit Leben füllen muss, sonst degeneriert das zu einer folkloristische Worthülse für Festveranstaltungen und Sonntagsreden.

Nun könnte man eine Beschäftigung mit diesem Thema abblocken durch den zynisch daherkommenden Verweis darauf, dass die Gewerkschaften mit ihren Mai-Feierlichkeiten einer tradierten Liturgie anhängen, die tendenziell immer weniger Menschen erreicht bzw. von diesen durch „moderne“ Freizeitaktivitäten substituiert werden – mithin die gleiche Problematik, die auch die Kirchen mit ihren Gottesdiensten haben. Den überwiegend Älteren aus dem traditionsbewussten Kernklientel würde man vor den Kopf stoßen, wenn man die Kundgebungen verändern oder gar einstellen würde, die anderen hingegen beklagen das Nicht-Zeitgemäße des Formats, ohne dass man sich wirklich sicher sein kann, dass sie andere Formate dann auch annehmen würden.

In diese Kerbe schlägt Franz Schande mit seinem Beitrag Wenn man nichts mehr ist, der in der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ veröffentlicht worden ist: »Die traditionelle Arbeiterbewegung rinnt aus, löst sich auf in disparate Segmente, deren Interessen immer schwieriger auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Das alte Instrumentarium taugt nicht, ein neues steht nicht zur Verfügung.«

Er argumentiert mit punktueller Referenz auf Marx und Engels durchaus depressiv: In dem er die neuerdings verschiedentlich aufkeimenden Ansätze einer „Reindustrialisierung“ (als wirtschaftspolitische Strategie) in Zeiten einer umfassenden Deindustrialisierung kritisch analysiert hinsichtlich ihrer Realisierungswahrscheinlichkeit, versucht er die Hoffnung mancher Gewerkschafter, über diesen Weg doch noch zu alten Ufern zurückkehren zu können, zu atomisieren. In dieser Logik dürfen solche Sätze nicht fehlen:

»Die Produktionsstätten werden zwar nicht leer, aber sie werden sukzessive entleert. Die Unterschiede zwischen einer Fabrik in den Siebzigerjahren des vorangehenden Jahrhunderts und heute sind auch ganz augenscheinlich. Während der Raum und in ihm die Zahl der Maschinen und ihre Komplexität wächst, sinkt das Personal, das zur ihrer Bedienung nötig ist. Zunehmende Maschinendichte und abnehmende Menschendichte gehören zusammen. Die ständige Entwertung der Arbeitsprodukte durch das jeweilige Einzelkapital konnte bis zum Ende des Fordismus in den Siebzigerjahren durch Ausweitung der Gesamtproduktion relativiert werden. Heute scheint das nicht mehr möglich zu sein, da die Produktion an ihre äußeren (ökologischen) und inneren (ökonomischen) Schranken stößt. Immer mehr Waren können in immer weniger Arbeitseinheiten und somit auch mit weniger Arbeitskräften hergestellt werden. Diese Tendenz ist nicht aufhaltbar und umkehrbar.«

Es geht an dieser Stelle gar nicht um die Frage, ob diese auch in anderen Kreisen weit verbreitete Diagnose vom „Ende der (Industrie-)Arbeit“ und den dadurch nicht mehr beschäftigbaren Menschen wirklich stimmt. Diese These wurde ja auch schon früher, beispielsweise mit besonderer Verve in den 1980er Jahren, diskutiert und behauptet. Dass man vorsichtig sein sollte mit solchen Vorhersagen bzw. Vermutungen, zeigt nicht nur ein Blick auf die Beschäftigungsentwicklung in den zurückliegenden Jahrzehnten oder auch die aktuellen Perspektiven, die sich in der eben nicht-menschenleeren Fabrik der Industrie 4.0 am Horizont abzeichnen. Dem einen oder anderen mag schon der Verweis genügen, dass die alarmistische Debatte, die wir heute wieder haben, irgendwie als Neuauflage längst vergangener Schlachten daherkommt. Vgl. dazu nur als ein Beispiel und überaus instruktiv die Titelgeschichte „Uns steht eine Katastrophe bevor“ aus dem SPIEGEL, Heft 16/1978! »In den Arbeitskämpfen der Metallindustrie und des Druckgewerbes spielten sie die Hauptrolle: Winzige elektronische Bausteine bedrohen Millionen von Arbeitsplätzen in Industrie und Dienstleistungsgewerbe. Weder Regierung noch Gewerkschaften wissen, wie sie die Folgen des Fortschritts unter Kontrolle bringen können«, musste man damals schon lesen.

Auch heute wird diese Perspektive erneut aufgerufen, aus ganz unterschiedlichen Ecken, so auch von den Befürwortern eines bedingungslosen Grundeinkommens. Vgl. dazu beispielsweise nur den Radio-Beitrag von Philip Kovce: Macht Geld faul? Das bedingungslose Grundeinkommen vom 1. Mai 2016. Oder diesen Beitrag aus der Schweiz, in der am 5. Juni 2016 über eine Volksinitiative zur Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens abgestimmt wird: Ein Grundeinkommen könnte die Lösung für die USA sein: »Die Produktivität steigt, aber die Löhne sinken, und mit der Digitalisierung könnten in den USA bald viele Jobs verschwinden. Eigentlich gute Voraussetzungen für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Technologie-Gurus im Silicon Valley sprechen sich dafür aus.« Wie gesagt, ein ganz eigenes Thema.

Wieder zurück zu dem Beitrag von Franz Schandl. Denn vor dem Hintergrund seines Szenarios holt er aus zur grundsätzlichen Infragestellung der Gewerkschaften:

»Eine Reindustrialisierung der Welt ist eine Mischung aus falschem Wunsch, gefährlicher Drohung und hilflosem Gerede. An sich wäre die Deindustrialisierung überhaupt nicht das Problem, sondern vielmehr deren Folgen für die von ihr Abhängigen (=Lohnabhängigen) unter dem Zeichen der kapitalistischen Verwertungspflicht. Das ist allerdings für traditionelle Interessenvertretungen schwer zu rezipieren und noch schwerer zu akzeptieren, stellt es doch deren gesamtes Selbstverständnis in Frage.
Beharren diese jedoch auf den eingefahrenen Mustern, werden sie von einer sozialen Reformkraft zu einem konservativen Faktor des Standorts, dem dann alles zu unterwerfen ist, soll er am Markt erfolgreich sein. Tatsächlich erscheinen sie heute so.«

Da ist es wieder, das Bild von dem Auslaufmodell Gewerkschaft. Letztendlich abgemagerte Dinosaurier von gestern, deren Zeit abgelaufen ist. Und auch er nähert sich dem bereits angedeuteten Gedanken, dass wir es mit einem letztendlich vor diesem Hintergrund unauflösbaren Dilemma zu tun haben:

»Betriebsrat, Gewerkschaft, Partei (Sozialdemokratie) verlieren allesamt an Einfluss, da es ihnen nicht gelingt oder auch gar nicht gelingen kann, den Mangel an objektiver Klassifizierung durch subjektive Identifizierung zu überbrücken. Die traditionelle Arbeiterbewegung rinnt aus, nicht vorrangig aus politischem Unvermögen, sondern in erster Linie aufgrund der Entwicklungen oder besser: Abwicklungen und Fragmentierungen auf dem Industriesektor. Das zu vertretende Kollektiv verschwindet, löst sich auf in disparate Segmente oder gar personelle Atome, deren Interessen immer schwieriger auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Das alte Instrumentarium taugt nicht, doch ein neues steht nicht zur Verfügung.«

Das an sich ist schon starker Tobak. Aber er treibt seine Argumentation weiter und spricht von einer Deklassifizierung: »Die Einzelnen verstehen sich nicht mehr als Glieder einer Gruppe oder gar Kampfgemeinschaft. Der Mangel an Identität lässt an keine Autoritäten mehr glauben, vor allem auch deswegen, weil sie kaum noch Protektion (was jetzt nicht nur negativ gemeint ist) bieten können. Die Klasse bietet keine Geborgenheit mehr, weil sie an allen Ecken und Enden porös geworden ist.«
Das hat Folgen (sollte es denn stimmen): »Deklassifizierung bedeutet, dass die Ware Arbeitskraft von ihrem Besitzer nicht (mehr) verkauft werden kann oder, besser, dass kollektivvertraglich vereinbarte Lohnarbeitsverhältnisse immer seltener werden. Auf jeden Fall geht dabei der traditionelle Klassenzusammenhalt in die Brüche, auch weil der gemeinsame soziale Raum (die Fabrik oder das Büro) nicht mehr vorhanden ist oder nicht mehr diese Kontinuität in den Erwerbsbiografien der Menschen aufweist.«

An dieser Stelle gibt es interessante Anknüpfungspunkte an andere Arbeiten, beispielsweise die des Philosophen Byung-Chul Han:

»Das neoliberale Subjekt als Unternehmer seiner selbst ist nicht fähig zu Beziehungen zu anderen, die frei vom Zweck wären. Zwischen Unternehmern entsteht auch keine zweckfreie Freundschaft. Frei-sein bedeutet aber ursprünglich bei Freunden sein. Freiheit und Freund haben im Indogermanischen dieselbe Wurzel. Die Freiheit ist im Grunde ein Beziehungswort. Man fühlt sich wirklich frei erst in einer gelingenden Beziehung, in einem beglückenden Zusammensein mit anderen. Die totale Vereinzelung, zu der das neoliberale Regime führt, macht uns nicht wirklich frei. So stellt sich heute die Frage, ob wir die Freiheit nicht neu definieren, neu erfinden müssen, um der verhängnisvollen Dialektik der Freiheit, die diese in Zwang umschlagen lässt, zu entkommen.« (Byung-Chul Han: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt am Main 2014, S. 11).

Nach dieser Aufgabenbestimmung würde man den Gewerkschaften wohl eher nicht das Potenzial zusprechen, die sich heute stellenden Aufgaben bewältigen zu können.

Aber nochmals zurück zu Franz Schandl, denn der spricht nicht nur von Deklassifizierung, sondern auch von der Etage darunter, denn: »Deklassifizierung bedeutet noch nicht soziale Degradierung durch Deklassierung. Letztere folgt nicht automatisch.« Aber wenn sie folgt, dann sieht sie so aus:

»Deklassierung geht … noch einen Schritt weiter, sie ist der Vollzug einer Kapitulation. Man fällt nicht nur aus der Klasse, man fällt zusehends aus der Gesellschaft, vor allem aus einem nicht nur gerade noch tolerierten, sondern akzeptierten Leben.«

Das ist sicher eine Erfahrung, die nicht wenige Menschen machen mussten und müssen, die im Hartz IV-System nicht nur temporär, sondern seit langem und auf Dauer einzementiert sind.

Natürlich stellt sich hier die Frage: Wie soll man Solidarität herstellen – zwischen den Arbeitsplatzbesitzern, die zugleich in permanenten Abwehr- und hin und wieder auch in Offensivkämpfen gegen die eigenen Arbeitgeber verstrickt sind und den Erwerbslosen, die gar keinen Zugang (mehr) finden zu einem Arbeitsmarkt, der sie schlichtweg auf Dauer exkludiert hat?

Die engagierten Gewerkschafter leiden unter diesem Spannungsverhältnis. Aber es ist da und kann nicht wegdiskutiert werden. Auch nicht die Tatsache, dass sich die „Arbeitnehmer“, auch die gewerkschaftlich organisierten, zuweilen anders verhalten, als man erwarten würde oder sich Funktionäre erhoffen. Dazu sehr aufschlussreich der Beitrag von Bernd Riexinger, einem der Vorsitzenden der Partei Die Linke im Umfeld der diesjährigen Mai-Feierlichkeiten: Schluss mit dem Stillhalteabkommen. Für die Neuorientierung gewerkschaftlicher Politik gegen Deregulierung der Arbeit, so pflichtbewusst-ambitioniert hat er seinen Artikel überschrieben. Darin enthalten sind viele richtige Analysen zur abnehmenden Tarifbindung und den Erosionsprozessen in der Vergangenheit, mit denen die Gewerkschaften konfrontiert waren (und sind).

In diesem Zusammenhang nur einige wenige Zahlen: Die Reichweite der Tarifverträge ist dramatisch zurückgegangen. Lediglich 51% der Beschäftigten im Westen und sogar nur noch 37% im Osten fallen noch unter das Regelungsdach von Tarifverträgen. Nur noch ein Viertel der Betriebe besteht eine Tarifbindung. Und das sollte uns zu denken geben: 1996 hatten in Westdeutschland 41% der Beschäftigten einen Betriebsrat und gleichzeitig einen Branchentarifvertrag, 2014 waren es nur noch 28%. Ohne einen Betriebsrat und ohne irgendeinen Tarif müssen mittlerweile im Westen 34% und im Osten sogar 50% der Beschäftigten arbeiten. An dieser Stelle kann und muss man die Frage aufwerfen: Wie soll man unter diesen Bedingungen überhaupt noch solidarisch handeln können?
Riexinger legt seinen Finger auf eine Wunde der Gewerkschaften (aber natürlich, wenn er das auch nicht offen anspricht, auf eine seiner eigenen Partei), wenn er feststellt:

»Die Partei Alternative für Deutschland ist bei den Landtagswahlen im März in Sachsen-Anhalt und in Baden-Württemberg stärkste Partei unter Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Erwerbslosen geworden. Auch den Gewerkschaften wird das zu denken geben: Im März haben über 15 Prozent ihrer Mitglieder in Baden-Württemberg und 24 Prozent von ihnen in Sachsen-Anhalt die rechtspopulistische AfD gewählt.«

Es ist schon ein Kreuz mit diesen Arbeitnehmern. Da wählen nicht wenige von ihnen die AfD. Selbst Erwerbslose. Der Vorsitzende der Linken müssten sich natürlich und eigentlich an dieser Stelle fragen, warum seine Partei diese Wahlerfolge nicht (mehr) einheimsen kann bei den genannten Gruppen, aber das tut er nicht oder er kann es nicht.

Also alles schlecht bei den Gewerkschaften?

Ganz und gar nicht, innerhalb des bestehenden Systems erfüllen die Gewerkschaften nicht nur weiterhin wichtige Funktionen beispielsweise in der Tarifpolitik, was man aktuell besichtigen kann im öffentlichen Dienst für Kommunen und Bund, wo es schon eine Einigung gegeben hat (vgl. dazu beispielsweise den Beitrag von Markus Sievers: Zügiger Durchbruch im öffentlichen Dienst). Nun läuft die Warnstreik- (und möglicherweise auch mehr)-Welle im Bereich der IG Metall.
Gerade am Beispiel der IG Metall kann man sich anschaulich vor Augen führen, was praktische Solidarität in der gegebenen Arbeitswelt bedeuten kann.

Denn die IG Metall, konfrontiert mit massiven Bypass-Strategien der Arbeitgeber über Leiharbeit zuungunsten der Stammbelegschaften in der Vergangenheit, hat Branchenzuschläge für die Leiharbeiter  heuausgehandelt. Und das obwohl der Organisationsgrad der  Leiharbeiter mehr als bescheiden ist, um das nett zu formulieren. Und als die Arbeitgeber nach der mit der Re-Regulierung der Leiharbeit verbundenen Verteuerung zunehmend auf Werkverträge ausgewichen sind, hat die IG Metall das zum Thema gemacht und versucht, über die politische Schiene eine Regulierung der aus dem Ruder laufenden Werkverträge auf den Weg zu bringen. Mittlerweile aber hat man erkannt, dass die politischen Blockaden enorm sind und infolgedessen einen Strategiewechsel vollzogen nach dem Motto: Wenn die Werkvertragsunternehmen immer mehr in unsere Betriebe kommen, dann kommen wir zu ihnen in die Betriebe und versuchen, sie in einem ersten Schritt mitbestimmungsrechtlich über einen Betriebsrat und in einem zweiten über die Integration unter der Tarifdach der IG Metall wieder einzufangen (vgl. dazu auch die Studie von Tim Obermeier und Stefan Sell: Werkverträge entlang der Wertschöpfungskette. Zwischen unproblematischer Normalität und problematischer Instrumentalisierung, Düsseldorf: Hans Böckler Stiftung, 2016).

Das sind wichtige Ansätze in der gegebenen Praxis. Die an sich schon schwer genug sind. Vor allem, wenn wir dann auch noch in Bereiche gehen würden, die weitaus schwieriger zu organisieren sind, also vor allem im Bereich der Dienstleistungen. Es handelt sich im wahrsten Sinne des Wortes um einen „Häuserkampf“ auf der betrieblichen Ebene. Dass die Gewerkschaften dabei nicht ganz so erfolglos sind, verdeutlicht auch dieser Beitrag: Schluss mit der Bescheidenheit, so ist eine Hintergrundsendung des Deutschlandfunks passend zum 1. Mai 2016 überschrieben.  Darin ist sogar an einer Stelle von einer „Renaissance der Gewerkschaften“ die Rede. Zu hoffen wäre das. Die Abbildung verdeutlicht nämlich aus einer übergeordneten volkswirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Perspektive die Bedeutung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades hinsichtlich der Debatte über eine zunehmende Ungleichheit. „Länder mit geringerem Organisationsgrad tendieren zu höherer Ungleichheit“, so die Feststellung des Wirtschaftswissenschaftlers Direkt Herzer in einer Studie. »Im Durchschnitt aller Länder zeigen sich während des 25-jährigen Untersuchungszeitraums eine klare Zunahme der Ungleichheit und ein Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrades …  In den meisten Ländern gehen rückläufige Mitgliederzahlen der Arbeitnehmerorganisationen und die Zunahme der Ungleichheit Hand in Hand. Dabei ist die Wirkungsrichtung nach der Analyse des Forschers nicht eindeutig: Sind die Gewerkschaften einmal geschwächt, wachsen die Einkommensunterschiede, gleichzeitig gilt aber: Höhere Ungleichheit führt zu einem geringeren Organisationsgrad.«

Missbrauch von Werkverträgen gibt’s nicht. Sagen die einen. Wie wäre es mit einem Blick auf ein „nahezu unüberschaubares Geflecht an Tochter- und Enkelfirmen“?

Derzeit geht es in Berlin um eine der letzten noch offenen arbeitsmarktpolitischen Baustellen, die man mit dem Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD vom Dezember 2013 aufgemacht hat – also um die Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen. Ausgangspunkt für die Aufnahme eines Regelungsbedarfs in den Koalitionsvertrag war u.a. das Ziel, rechtswidrige Vertragskonstruktionen bei Werkverträgen zu bekämpfen. Hierzu hat das Bundesarbeitsministerium einen Entwurf vorgelegt, der aber auf erhebliche Widerstände stößt, nicht nur seitens der Wirtschaftsverbände, sondern auch in der Union. Schützenhilfe bekommt diese Seite von den eigenen Wissenschaftstruppen, beispielsweise aus dem von den Arbeitgebern finanzierten Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Von dort kommt die entlastende Botschaft: Empirie signalisiert: Kein gesetzlicher Handlungsbedarf: Auf die Frage, ob es überhaupt einen Handlungsbedarf aufgrund möglicher Missbrauchsfälle im Bereich der Werkverträge gibt, kommt das Arbeitgeber-Institut zu einem Nein, »weil auch die Befunde von Unternehmensbefragungen im Grunde keinen Handlungsbedarf signalisieren.« Nun mag der eine oder andere möglicherweise zu dem Ergebnis kommen, dass das ein putziges Argument ist, denn es ist nicht wirklich überraschend, wenn in Unternehmensbefragungen herauskommt, dass Unternehmen nicht zugeben, dass sie Missbrauch betreiben.

Vielleicht ist es an dieser Stelle wieder einmal hilfreich, ein Blick in die betriebliche Realität zu werfen und den nicht nur möglichen, sondern offensichtlich naheliegenden Missbrauch konkret zu beschreiben – wobei hier gleich angemerkt sei, dass das, was für die einen „Missbrauch“ ist, für die andere Seite ein betriebswirtschaftlich rationales, weil gewinnbringendes Vorgehen darstellt, das man natürlich nicht gerne reguliert, also eingeschränkt sehen möchte. Das konkrete Unternehmens-Beispiel stammt zudem aus einer Branche, die von größter sozialpolitischer Bedeutung ist und in der das Thema Arbeitsbedingungen des Personals seit langem ganz oben auf der Tagesordnung steht. Schauen wir uns also die Entwicklungen im Bereich der Krankenhäuser an.

In einem Artikel über die Kritik an einem Teil der Werkverträge, den Thomas Öchsner unter der Überschrift Entfremdete Belegschaft im Januar 2016 veröffentlicht hat, steht der Bereich der Krankenhäuser nicht ohne Grund am Anfang:

»Patienten, die heute in ein Krankenhaus müssen, merken oft nicht, dass sie sich in die Obhut verschiedenster Firmen und Honorarkräfte begeben. Für den Empfang kann eine eigene GmbH zuständig sein, genauso wie fürs Reinigen des Operationsbestecks, die Versorgung mit Essen oder Hin- und Herbringen von Patienten zum Röntgen oder zur OP. „Private Klinikkonzerne zerstückeln die Krankenhausbelegschaften zur Gewinnmaximierung“, beklagte kürzlich die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi auf ihrer Krankenhaustagung in Leipzig.
Bereits heute seien im Durchschnitt 20 Prozent der Belegschaft ausgelagert, oft zu deutlich schlechteren Konditionen als das Stammpersonal. Häufig handele es sich dabei um Beschäftigte mit Werkverträgen, die in den Krankenhausablauf nicht eingebunden sein dürfen. Die Folgen spürten auch die Patienten.«

Es geht bei dem konkreten Unternehmen um einen der größten privatwirtschaftlichen Klinikbetreiber in Deutschland, die Helios Kliniken GmbH als Teil der Helios-Kliniken Gruppe, die wiederum eine Tochter des „Gesundheitskonzerns“ Fresenius sind. Wir sprechen hier von einem Unternehmen, das jährlich 1,2 Millionen Patienten stationäre versorgt und etwa 68.000 Mitarbeiter beschäftigt. Im Jahr 2014 erwirtschaftete dieses Unternehmen einen Umsatz in Höhe von 5,244 Mrd. Euro und konnte daraus eine Menge Gewinn ziehen – der EBITDA wird mit 732 Mio. Euro und der EBIT mit 553 Mio. Euro ausgewiesen. Die EBIT-Marge liegt also bei beeindruckenden 10,5 Prozent. Davon können viele andere Unternehmen nur träumen.

Der eine oder andere wird mit Helios und Krankenhäuser sofort aktuelle Assoziationen herstellen, die nicht positiv besetzt sind. Dieser Krankenhauskonzern tauchte vor kurzem in einem „Team Wallraff“-Beitrag auf. Es handelt sich um die am 11. Januar 2016 bei RTL ausgestrahlte Reportage „Profit statt Gesundheit – wenn Krankenhäuser für Patienten gefährlich werden“, in der u.a. auch über Rechercheergebnisse aus einer von Helios betriebene Klinik in Wiesbaden berichtet wurde. Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Krankenhäuser: Bei vielen liegen die Nerven blank und die Systemfragen bleiben weiter unter der Decke vom 31.01.2016.

Nun hat vor einigen Tagen der Konzernbetriebsrat der Helios Kliniken GmbH einen Brief an den Bundesgesundheitsminister und an alle Fraktionen der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien geschrieben, dem man überaus aufschlussreiche Hinweise zur Realität der missbräuchlichen Werkvertragswelt entnehmen kann.

Der Konzernbetriebsrat der Helios Kliniken GmbH berichtet in dem Schreiben, dass es für den größten Teil der Beschäftigten Tarifverträge gibt, die in ihrem Inhalt, wenn auch nicht flächendeckend, in weiten Teilen den Regelungen der öffentlichen Kliniken entsprechen. Aber wir nähern uns dem Kern des Problems, denn etwa »ein Fünftel der Beschäftigten werden jedoch nicht von den geltenden Tarifverträgen in den Kliniken erfasst. Sie wurden in konzerneigene, sogenannte Servicegesellschaften ausgegliedert.«

Für die Beschäftigten hat sich in der Ausübung ihrer Tätigkeit grundsätzlich nichts verändert, ansonsten aber eine Menge. Dazu der Konzernbetriebsrat:

»Sie arbeiten nicht in einem Unternehmen, welches am Markt tätig ist, sondern es werden Tochterfirmen gegründet, gespalten und wieder zusammengelegt, wie es gerade der gegenwärtigen Geschäftsführung genehm ist. Es ist ein nahezu unüberschaubares Geflecht an Tochter- und Enkelfirmen entstanden. Vermutlich ist es das einzige Ziel, dem Tarifvertrag zu entkommen. Die Kolleginnen und Kollegen werden bis zu 40 % schlechter bezahlt. Versuche der Gewerkschaft ver.di für diese Kolleginnen und Kollegen Tarifverträge zu erstreiten sind in der Vergangenheit mit Auflösung der Unternehmen beantwortet worden. Für die Verhandlungen ist dann kein Gegenüber mehr vorhanden.«

Als eine (Neben- oder geplante?-)Wirkung wird beklagt, dass die Klinikbetriebsräte diese ausgegliederten Arbeitnehmer nicht mehr vertreten können. Und da vor allem in den kleinen und mittelgroßen Kliniken keine betriebsratsfähigen Einheiten entstehen, gibt es für die Betroffenen auch keine Betriebsräte mehr, die deren Interessen vertreten können.

Angefangen hat diese Auslagerungsstrategie in den ehemaligen Arbeiterbereichen. Aber das wuchert jetzt weiter, denn »zunehmend werden … Fachkräfte wie z. B. Therapeuten ausgegliedert. Vielfach werden auch Arbeitsplätze z. B. von examinierten Pflegekräften in „Servicebereiche“ verlagert, damit die Arbeiten billiger erbracht werden.«

Und das hat Folgen nicht nur für die betroffenen Beschäftigten, sondern auch für die Patienten.
Um das folgende Beispiel zu verstehen, muss man wissen, dass der Einsatz von Werkverträgen immer ein Risiko birgt, wenn sich nämlich herausstellt, dass es sich gar nicht um einen „echten“ Werkvertrag handelt, sondern um den Tatbestand der „unerlaubten Arbeitnehmerüberlassung“. Genau um die hier relevanten Abgrenzungsfragen geht es ja auch in dem aktuell strittigen Entwurf des Bundesarbeitsministeriums. Eine Folge hinsichtlich der betrieblichen Praxis ist, dass man bei einem Werkvertrag darauf achten muss, dass man eben nicht das machen darf, was bei der Leiharbeit kein Problem ist, nämlich das Direktionsrecht als Arbeitgeber auszuüben, denn bei einem „echten“ Werkvertrag handelt es sich nicht nur bildlich gesprochen um einen „Betrieb im Betrieb“. Die daraus resultierenden Abgrenzungskapriolen werden auch vom Konzernbetriebsrat erfahren und geschildert:

»Die Mitarbeiter z. B. des Pflegedienstes und des ärztlichen Dienstes erhalten Informationen, dass sie den Kolleginnen und Kollegen keine Weisungen erteilen dürfen. Das wird in vielen Fällen nicht beachtet, da es für die Patienten auch gar keinen Sinn macht oder gar nachteilig ist. Wenn es beachtet wird, führt das zu Situationen, in denen Patienten von einem Transporteur nicht mitgenommen werden und warten müssen, weil die Anweisung des Vorgesetzten des Transportdienstes fehlt. Die Beseitigung einer Verschmutzung durch den Reinigungsdienst kann nicht erfolgen, weil die Anweisung durch deren Leiter erfolgen soll.«

Der Konzernbetriebsrat schlussfolgert völlig zu Recht, dass wir hier mit einer missbräuchlichen Inanspruchnahme des Instruments der Werkverträge konfrontiert werden, denn es handelt sich bei den zahlreichen Servicegesellschaften »nicht um Firmen, die am Markt tätig sind, sondern um eigene Tochtergesellschaften, die wegen der damit verbundenen Tarifflucht und der Ver- bzw. Behinderung von Betriebsräten gegründet werden. Fremdfirmen werden gemieden, weil dann Umsatzsteuer fällig wird.«

„Natürlich“ sieht das betroffene Unternehmen das alles ganz anders – angesichts der Kostensenkungspotenziale in einem von Personalkosten dominierten Bereich wie den Krankenhäusern, die sich durch diese Strategie erschließen lassen, ist das auch kein Wunder. Für die ist das kein „Missbrauch“, sondern unabdingbare Voraussetzung, in den Finanzberichten eine EBIT-Marge von 10,5% ausweisen zu können.

Man kann es auch so ausdrücken: Wenn der eine Gewinn macht, dann muss es andere geben, die Opfer bringen.