USA: Gefängnisse als lukrative Profitquelle, Reformimpulse des Bundes und das Aufbegehren einiger Insassen. Und bei uns?

Die USA sind ein in jeder Hinsicht großes Land. Groß, sehr groß, ist auch die Zahl der Menschen, die sich hinter Gittern befinden. Insgesamt sitzen mit 2,2 Millionen Menschen in den USA mehr Bürger im Gefängnis als in Russland und China zusammen. Verglichen mit Deutschland liegt die Quote neunmal höher pro Kopf der Bevölkerung.  Die USA stellen fünf Prozent der Weltbevölkerung, aber 25 Prozent der Gefängnisinsassen. Seit 1980 hat sich die Zahl der Einsitzenden von 500.000 auf 2,2 Millionen mehr als vervierfacht. Und die meisten wird es auch nicht überraschen, dass es vor allem Schwarze und Latinos sind, die einsitzen. Beide Gruppen stellen 30 Prozent der Bevölkerung, aber mehr als 60 Prozent der Gefängnisinsassen. Einer von 35 männlichen Schwarzen und einer von 88 Latinos sitzt derzeit im Gefängnis. Dagegen sitzt nur einer von 214 weißen Männern in einer Haftanstalt. Das Thema Knast fasziniert und polarisiert in den Vereinigten Staaten. Auf der einen Seite: Die Netflix-Serie „Orange is the New Black“ ist Kult, sie spielt hinter Gittern. Davor gab es andere Serien wie „Prison Break“. Auf der anderen Seite war Barack Obama der erste Präsident überhaupt, der ein Gefängnis besucht hat. Dazu der Beitrag Obama verlangt Reform des US-Strafrechts von Marcus Pindur aus dem Juli 2015: »Die Visite in der Bundeshaftanstalt El Reno ist Teil seiner Bemühungen, eine Strafrechtsreform zu erreichen. Amerikas Gefängnisse sind nach Ansicht vieler Demokraten und Republikaner zu voll, die harten Strafen treffen Angehörige ethnischer Minderheiten überproportional. Das El-Reno-Gefängnis in Oklahoma ist in vieler Hinsicht durchschnittlich. 1.300 Gefangene, mittlere Sicherheitsstufe, zu fast 50 Prozent überbelegt. Die meisten Insassen sitzen wegen kleinerer Drogenvergehen ein, müssen aber teilweise drakonische Strafen verbüßen.«

„Hier sind junge Leute, die Fehler gemacht haben. Fehler, die sich nicht viel von denen unterscheiden, die ich gemacht habe, und die viele von Ihnen gemacht haben“, so Barack Obama beim Besuch des Gefängnisses.

Man muss sich das mal vorstellen: »In den 90er-Jahren, während der Crack-Kokain-Epidemie, führten viele Bundesstaaten drakonische Strafen selbst für kleinere Drogenvergehen ein. Wer in Kalifornien beispielsweise dreimal bei einem Drogendelikt erwischt wird, und seien es nur wenige Gramm Marihuana, den muss der Richter qua Gesetz lebenslang ins Gefängnis schicken.«

Selbst auf der republikanischen Seite gibt es Unterstützung für Obamas Anliegen einer Strafrechtsreform, beispielsweise vom Gouverneur Chris Christie, der so zitiert wird:

„Wenn wir schon Leute ins Gefängnis stecken, dann müssen wir ihnen etwas Sinnvolles zu tun geben, sie sollten nicht nur den ganzen Tag fernsehen. Wir sollten zum Beispiel darauf dringen, dass sie einen Highschool-Abschluss nachholen, damit ihre Chancen nach der Freilassung besser sind.“

Das war vor einem Jahr. Wie sieht es aktuell aus? Warum hat sich bislang so wenig getan? Man liegt nicht falsch mit der Annahme, dass es Interessen, mächtige Interessen geben muss, die einer solchen Reform entgegenstehen. Darüber berichtet Frank Wiebe in seinem Artikel Das lukrative Geschäft mit dem Knast.  Er weist darauf hin, dass viele Gefangene in privaten Haftanstalten einsitzen, und die bringen das große Geld. Die Politik will das ändern – zum Ärger der Aktienbesitzer.

»Sally Yates, stellvertretende Generalstaatsanwältin des Landes, möchte auf Bundesebene den Strafvollzug verbessern und sich von privaten Gefängnisbetreibern verabschieden.«
In einem Memorandum hat die Staatsanwältin ausgeführt:

»„Private Gefängnisse spielten eine wichtige Rolle in einer schwierigen Periode, aber im Lauf der Zeit hat sich gezeigt, dass sie im Vergleich zu den staatlichen Einrichtungen schlechter abschneiden. Sie bieten im Strafvollzug einfach nicht dasselbe Niveau an Service, Programmen und Ressourcen; sie bringen auch keine deutliche Kostenersparnis.“
Noch wichtiger aber ist: „Sie bieten nicht dasselbe Maß an Sicherheit.“ Es habe sich als schwierig erwiesen, Erziehungsprogramme in private Einrichtungen auszulagern – diese Programme seien aber wichtig, um Rückfälle von entlassenen Häftlingen zu vermeiden … Yates will daher bestehende Verträge auslaufen lassen und letztlich die privaten Gefängnisse ganz loswerden.«

Dieses von der Presse veröffentlichte interne Memorandum hat ganz handfeste Auswirkungen gehabt:

»Als Folge dieser Ankündigung brachen die Aktienkurse der privaten Gefängnisbetreiber dramatisch ein. Die Papiere von Corrections Corporation of America etwa rutschten um 35 Prozent ab. Das Unternehmen wurde 1983 gegründet und ist der größte private Gefängnisbetreiber der USA mit über 60 Einrichtungen und 90.000 Betten. Im ersten Halbjahr 2015 erzielte das Unternehmen 911 Millionen Dollar Umsatz und 104 Millionen Gewinn nach Steuern.«

Und das, obwohl die Ankündigung nur einen kleineren Teil der Gefängnisse betrifft, denn: »Die Bundesregierung kann … nur über die Bundesgefängnisse entscheiden. Die weitaus größere Zahl der Insassen befindet sich im Gewahrsam der 50 Bundesstaaten, die in großem Umfang über eigene Gefängnisse verfügen. Ebenfalls unberührt von der neuen Regelung bleiben offenbar auch Verträge der Einwanderungsbehörde mit privaten Anbietern.«

Nicht nur, aber auch vor dem Hintergrund der kommerziellen, profitgetriebenen Interessen wird es nicht einfach werden, die verfehlte Strafvollzugspolitik in den USA zu verändern (vgl. dazu bereits auch meinen Blog-Beitrag Ein sehr spezielles Billiglohnmodell in den USA: Warum man in Kalifornien Gefangene nicht vorzeitig aus dem Knast lassen möchte und was das mit den Waldbränden und ihrer Bekämpfung zu tun hat vom 18. November 2014), obgleich es gute Gründe dafür gibt:

»Bereits seit einigen Jahren gibt es Versuche, die Zahl der Gefangenen zu senken – zum Teil aus humanitären Gründen, zum Teil aber auch, weil die Gefängnisse teuer sind. Zudem setzt sich die Erkenntnis durch, dass gerade in problematischen Stadtteilen häufig Jugendliche schon früh wegen kleiner Delikte hinter Gittern landen und dort erst zu richtigen Verbrechern werden.
Außerdem führen lange Gefängnisstrafen für Väter dazu, dass die Mütter mit allen Finanz- und Erziehungsproblemen alleine klar kommen müssen, was zur Benachteiligung der Kinder und damit oft gleich wieder zum Abrutschen in die Kriminalität führt«, so Frank Wiebe in seinem Artikel.

Auch Andreas Ross beschäftigt sich in seinem Beitrag Wie Amerika seine Gefangenen besser behandeln will mit dem Thema. Er berichtet von einer Gefangenenrevolte im Mai 2012 in einer Justizvollzugsanstalt des Bundes in Mississippi, die von dem privaten Gefängniskonzern Corrections Corporation of America betrieben wird. Die Forderungen der Gefangenen werden so zitiert: „Wir wollen besseres Essen, ärztliche Versorgung, Aktivitäten, Kleidung. Und wir wollen etwas Respekt!“

Aber auch Ross weist darauf hin, dass der Vorstoß für eine Justizreform seitens des Bundes nur eine sehr kleine Minderheit der Gefangenen insgesamt betrifft: Insgesamt haben wir 2,2 Million Gefangene in den USA. Von den knapp 200.000 Häftlingen des Bundes wurde noch nicht einmal jeder Achte in eine von dreizehn privaten Einrichtungen eingewiesen. Und von dem angekündigten Abschied von den privaten Betreibern ist auch nicht die Einwanderungspolizei betroffen, die kaum eigene Gefängnisse besitzt und die Inhaftierung zu deportierender Ausländer fast vollständig externen Dienstleistern überlässt.

»Die großen Gefängniskonzerne dürften weiterhin das Ohr maßgeblicher Politiker haben. Vor allem ihre Personalkosten fallen niedriger aus, weil Bundesstaaten als Arbeitgeber oft großzügigere Löhne und Sozialleistungen bieten müssen. Doch nach Ansicht der Kritiker führt gerade das zu einem Mangel an qualifizierten Wärtern und Betreuern, wodurch wiederum Sicherheits- und Gesundheitsrisiken entstünden.« Damit legt Ross den Finger auf eine klaffende Wunde. Er selbst formuliert das so: » In der Lobbymacht des in den vergangenen drei Jahrzehnten geradezu explodierten Wirtschaftszweigs liegt vielleicht das grundlegendste Problem, das die Privatisierung verursacht hat. Mit Wahlkampfspenden, Lobbying und „Formulierungshilfen“ für ehrenamtliche Volksvertreter versuchen sie, ihre Interessen durchzusetzen. Und das ist leicht zu ergründen: Wenn immer mehr Personen immer länger weggesperrt werden, dann locken umso saftigere Profite.«
Und gleichsam als Ausblick, der mehr als nachdenklich stimmen sollte:

»Den gegenläufigen Trend haben die Gefängniskonzerne natürlich nicht erst jetzt erkannt. Längst bieten sie den Staaten ihre Dienste auch auf den Gebieten des Drogenentzugs und der Betreuung geistig Kranker an. Immer mehr Politiker mögen in Rehabilitationsprogrammen die Lösung für ein gesellschaftliches Großproblem sehen. Für manche Unternehmen sind sie die nächste Wachstumsbranche.«

Und was ist mit den Betroffenen selbst? Über eine Entwicklungslinie berichtet Jürgen Heiser in diesem Artikel: Wider das Sklavensystem: US-Gefangene planen am 9. September landesweiten Streik in den Gefängnissen.

»Ab dem 9. September werden sich die Insassen zahlreicher US-Gefängnisse mit Arbeitsstreiks gegen ihre sich dramatisch verschlechternde Lage zur Wehr setzen. Das gab ein Aktionsbündnis bekannt, in dem sich Gruppen zusammengeschlossen haben, die Gefangene in ihrem Kampf um ihre Rechte und gegen den institutionellen Rassismus im Land unterstützen. Nach monatelangen Vorbereitungen gehen die Organisatoren derzeit von einer Beteiligung in wenigstens 20 US-Bundesstaaten aus.«

Der 9. September wurde nicht ohne Grund für die geplante Aktion ausgewählt: Der Tag »markiert den 45. Jahrestag eines Aufstands in der Haftanstalt von Attica im Norden des US-Bundesstaats New York. 1.500 Insassen, vorwiegend Schwarze und Latinos, erhoben sich 1971 gegen die unhaltbaren Zustände in dem berüchtigten Hochsicherheitsgefängnis … Dabei starben 30 Gefangene und neun Wärter.«

Wogegen richten sich die geplanten Proteste?

»Die Kritik richtet sich hauptsächlich gegen den seit Jahren wachsenden Druck auf die Insassen, weil die Haftanstalten überfüllt sind, die medizinische Versorgung miserabel ist und Resozialisierungs- oder Wiedereingliederungsprogramme kaum noch existieren. Den zunehmend höheren Strafurteilen steht die immer seltenere Aussetzung der Strafen zur Bewährung gegenüber. So wächst das Heer rechtloser Zwangsarbeiter in der lukrativen Gefängnisindustrie staatlicher und privater Vollzugsanstalten. Wer dort keinen Willen zu arbeiten zeigt und sich nicht absolut der Anstaltsdisziplin unterwirft, verliert jeden Anspruch auf Hafterleichterungen oder vorzeitige Entlassung, wird statt dessen isoliert oder mit Besuchsverboten und ähnlichem schikaniert.«

Maßgeblicher Akteur ist die „Formerly Incarcerated, Convicted People and Families Movement“ (FICPFM), eine von Exgefangenen und ihren Familien gegründete Bürgerrechtsorganisa­tion im kalifornischen Oakland. Für den 9. und 10. September hat die FICPFM ihre erste nationale Konferenz nach Oakland einberufen.

Es tut sich also einiges, aber so bitter das klingen mag: Wirklich tiefgreifende Reformen sind erst dann zu erwarten, wenn die Kosten des irrsinnigen Strafvollzugssystems entsprechende Maßnahmen auslösen und gleichzeitig sollte man sich darüber bewusst sein, dass es in den USA zahlreiche Widerstände gegen eine Lockerung des Strafvollzugs gibt, die neben den ökonomischen Interessen der Gefängnisindustrie in Rechnung zu stellen sind.

Und bei uns?

Schauen wir zuerst auf die europäische Ebene. Hierzu hat Frieder Dünkel, Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Universität Greifswald und Präsident der European Society of Criminology, einen aktuellen Beitrag verfasst unter der Überschrift The rise and fall of prison population rates in Europe:

»Europe in the early 2000s was rather clearly divided in the “good” and the “bad” countries on this basis. On the one hand we had the “good” Scandinavian countries, with very low prison population rates, and on the other hand Eastern European countries of the old Soviet empire, in particular Russia, the Ukraine and the Baltic states. These Eastern “bad guys” were competing with the US, the nation boasting the highest incarceration rates in the world, with more than 700 prisoners per 100.000 of the population.«

Bis in die frühen 2000er Jahre kann man in den Daten einen Anstieg der Zahl der Inhaftieren in Europa erkennen, was als Ausdruck des „punitive turn“ interpretiert wurde. England und Wales standen als Prototypen für das “neo-correctional model”.

Doch das hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Beispiel Niederlande: »Data for some Western European countries … indicate astonishing changes in prison population rates. The Netherlands, with traditionally low levels in the 1980s experienced a quadruplicating prison population by 2006, and then a decrease in the following 10 years by 46% (from 128 to 69).« In Deutschland hat die Zahl der Gefangenen seit 2003 um 22 Prozent abgenommen. Aber dieser Trend einer Abnahme der Gefangenenzahlen wird als nicht gesichert angesehen, denn »there is a great deal of uncertainty about future developments: The refugee problem could lead to a new wave of incarceration and the moderate crime policy development in some countries, such as Germany, could be reversed by terrorist acts and influence the penal climate … New right wing populist parties, although not yet part of the government, demanded tough crime policies, not only for extraditing foreigners and migrants more easily, but also for sentencing “ordinary” offenders.«

Auf der Ebene der Inhaftierten selbst kann berichtet werden, dass im Mai 2014 von mehreren Inhaftierten der JVA Tegel in Berlin die Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) gegründet worden ist. Das Anliegen und die Forderungen verweisen auf sozialpolitische Kernfragen. So kann man dem Selbstporträt der Organisation entnehmen:

»Die GG/BO stellt die soziale Frage hinter Gittern: kein Mindestlohn, keine Rentenversicherung, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, kein Kündigungsschutz, kein „Hartz IV“ für Beschäftigungslose in der Haft – das ist die Realität des bundesdeutschen Strafvollzugs für Inhaftierte.
Die GG/BO, die vor und hinter den Gefängnismauern existiert, leitet aus dieser sozial- und arbeitsrechtlichen Diskriminierung Kernforderungen ab: Einbeziehung der inhaftierten Beschäftigten in den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn und in die komplette Sozialversicherungspflicht, Abschaffung der Arbeitspflicht, Aufstockung des Taschengeldsatzes und vor allem volle Gewerkschaftsfreiheit hinter Gittern.«

Zuweilen wird darüber auch in den Medien berichtet (vgl. z.B. Rente und Mindestlohn – auch hinter Gitter), sowie beispielsweise in dem Artikel Mindestlohn hinter Gittern von Janina Brühl aus dem Januar 2015. Zu dem Zeitpunkt ging es vor allem um den gesetzlichen Mindestlohn, der zum 1. Januar 2015 eingeführt worden ist, aber von dem die arbeitenden Gefangenen nicht profitieren:

»Sie kleben Tüten, polstern Sessel oder bauen Faltkartons zusammen. Zehntausende Häftlinge müssen in deutschen Gefängnissen arbeiten. Für die Bundesländer lohnt sich das, 150 Millionen Euro haben sie 2013 so eingenommen, die Häftlinge profitieren weniger: Sie verdienen zwischen sieben und 16 Euro – am Tag. Viele Insassen wollen sich das nicht mehr gefallen lassen, immer mehr schließen sich zu einer Art Knast-Gewerkschaft zusammen. Es begann vergangenen Sommer in Berlin, nun breitet sich die Idee in Nordrhein-Westfalen aus: Von der Justizvollzugsanstalt (JVA) Willich aus koordiniert der Gefangene André Schmitz, der wegen Drogenbesitzes einsitzt, die Arbeit im Westen. 100 Mitglieder hat er in kurzer Zeit gewonnen, bundesweit sind es bereits gut 400 aus 30 Gefängnissen. „Wir kämpfen gegen Ausbeutung“, sagt Schmitz. Zwei Ziele hat die Gruppe: Der neue Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde soll auch für arbeitende Häftlinge gelten. Und der Staat soll für sie in die Rentenversicherung einzahlen. Denn für die Zeit der Knastarbeit fehlt den Gefangenen im Alter die Rente.«

Und schon sind wir mittendrin in den Tiefen und Untiefen des deutschen Sozialrechts. In dem Artikel wird der Strafrechtsexperte Bernd Maelicke zitiert: »Häftlinge seien bereits in der Arbeitslosenversicherung, warum also nicht auch in der Rentenversicherung? „Bei lebenslang sind das schnell mal 15 Jahre, in denen ein Gefangener arbeitet, aber nichts für seine Rentenkasse zusammenkommt. Da ist Altersarmut zwangsläufige Folge“, sagt Maelicke. Das empfänden viele Häftlinge als doppelte Bestrafung.«

Matthias Birkwald, der Rentenexperte der Linken-Fraktion im Bundestag, verweist darauf, dass laut Gesetz nur derjenige einen Rentenanspruch erwirbt, der freiwillig arbeitet. Doch in 13 der 16 Bundesländer herrscht hinter Gittern Arbeitspflicht. Deshalb müssten alle Länder die Arbeitspflicht abschaffen, fordert Birkwald.

Und erneut werden wir Zeugen unterlassenen Tuns in der Vergangenheit und den Folgen einer Föderalisierung in Verbindung mit Bundesländern, die Haushaltsprobleme haben, denn:

»Eigentlich sollte das Problem seit 37 Jahren gelöst sein: Das Strafvollzugsgesetz von 1978 sieht eine Sozialversicherung für Gefangene vor – der Bund hat das nur nie umgesetzt. Seit der Föderalismusreform kümmern sich die Länder um die Gefangenen. Sie müssten den Arbeitgeberanteil zahlen, die meisten wollen das aber nicht.«

An dieser Stelle setzt ein neuer Vorstoß an: Der Deutsche Verein für öffentlich und private Fürsorge hat im Juni 2016 Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Einbeziehung von Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung verabschiedet und veröffentlicht, die sich genau auf diesen vor über dreißig Jahren im Gesetz verankerten Punkt der Einbeziehung in die Rentenversicherung (§§ 190, 198 Abs. 3 StVollzG) beziehen.

Der Deutsche Verein empfiehlt dem Gesetzgeber

  • Strafgefangene in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen und hierzu ein entsprechendes Bundesgesetz zu verabschieden,
  • in diesem Gesetz niederzulegen, dass der Anknüpfungspunkt für die Leis- tung von Beiträgen jede im Vollzugsplan festgelegte und gegen Arbeitsentgelt geleistete Arbeit, arbeitstherapeutische oder sonstige Beschäftigung sowie gegen Ausbildungsbeihilfe geleistete Teilnahme an einer Berufsausbildung, beruflichen Weiterbildung oder anderen ausbildenden oder weiterbildenden Maßnahmen ist,
  • mit diesem Gesetz sicherzustellen, dass im Strafvollzug geleistete Arbeit in Anbetracht der zur Bemessung ungeeigneten geringen Verdienste der Gefangenen vollständig – d.h. sowohl der Arbeitgeber- als auch der Arbeitnehmerbeitrag – in einer angemessenen Höhe der Bezugsgröße getragen wird.

»Aufgrund der landesrechtlichen Kompetenz im Strafvollzug bedarf ein solches Gesetz der Zustimmung der Länder. Der Deutsche Verein appelliert an die Länder, einem Bundesgesetz zur Einbeziehung von Strafgefangenen in die gesetzliche Rentenversicherung zuzustimmen.«

Wir werden sehen, dass die damit verbundenen Kosten nicht erwarten lassen, dass der Vorstoß demnächst bzw. überhaupt umgesetzt wird.

Abbildung 1: Dünkel, Frieder (2016): The rise ans fall of prison population rates in Europe 

Der Mindestlohn auf dem Schlachtfeld der gesellschaftspolitischen Debatte. Nein, nicht in Deutschland. Der Blick richtet sich auf die USA. Und auf eine Zahl: 15

100 Tage – und schon wird nach dieser kurzen Zeit überall versucht, eine Bilanz zu ziehen. Über den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland. Man kann es sich einfach machen und darauf abstellen, was in den vergangenen drei Monaten passiert ist auf dem Arbeitsmarkt. Jedenfalls nicht das, was viele Kritiker im Vorfeld vorhergesagt haben. Der Arbeitsmarkt ist nicht zusammen gebrochen und auf den Fluren der Arbeitsagenturen und Jobcenter stapeln sich nicht die Mindestlohnopfer aus dem Niedriglohnsektor. Man kann sogar einen großen Schritt weiter gehen und die Einführung dieser Lohnuntergrenze als „Großtat“ bezeichnen, wie es Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung in einem Video-Interview bereits Anfang März dieses Jahres gemacht hat (vgl. „Der Mindestlohn ist eine Großtat“ vom 03.03.2015). Man könnte natürlich auch den wissenschaftlich korrekten Hinweis geben, dass wir hinterher immer schlauer sein werden und dass man schlichtweg noch einige Zeit warten und beobachten muss, ob und wo es möglicherweise negative Arbeitsmarkteffekte geben wird. Aber auch, ob und wo und wie es möglicherweise positive ökonomische Auswirkungen zu beobachten gilt, ein Aspekt, der in der aktuellen Diskussion viel zu kurz kommt.

Das soll hier gar nicht Thema sein. Denn auch an anderer Stelle und in anderen Ländern wird intensiv und naturgemäß höchst kontrovers über den Mindestlohn diskutiert – und teilweise auch an ihm herumgefummelt. Hin und wieder auch aus niederen politischen Beweggründen, wenn auch zum (potenziellen) Vorteil für die Betroffenen. Dazu gehört aktuell beispielsweise Großbritannien und dann kommt so eine Meldung dabei heraus: Britische Regierung kündigt kurz vor Wahlen Mindestlohn-Erhöhung an. Wie immer lohnt es sich, genauer hinzuschauen: »Zwei Monate vor der Parlamentswahl in Großbritannien hat die konservative Regierung eine Anhebung des Mindestlohns um drei Prozent angekündigt. Allerdings soll die Anhebung erst im Oktober, und damit nach der Wahl Anfang Mai erfolgen … Demnach soll der Mindestlohn auf 6,70 Pfund (9,40 Euro) von derzeit 6,50 Pfund steigen. Rund 1,4 Millionen Arbeitnehmer dürften davon profitieren. Es ist die größte reale Anhebung des Mindestlohns seit sieben Jahren.« Man muss wissen: In Großbritannien betrifft der Mindestlohn etwa fünf Prozent der Erwerbstätigen, was erst einmal nicht viele sind, doch beeinflusst seine Entwicklung die Lohnverhandlungen für etwa jeden dritten Beschäftigten.

Aber jetzt soll der Blick in die USA gerichtet werden, denn da kann man interessante Entwicklungen zum Thema Mindestlohn beobachten, die durchaus relevant sind für die deutsche Diskussion.

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Ein sehr spezielles Billiglohnmodell in den USA: Warum man in Kalifornien Gefangene nicht vorzeitig aus dem Knast lassen möchte und was das mit den Waldbränden und ihrer Bekämpfung zu tun hat

Derzeit sitzen mehr als 2,2 Millionen Menschen in US-Gefängnissen, das ist fast ein Viertel der weltweit Inhaftierten. Fast die Hälfte der US-Häftlinge sitzt wegen Drogendelikten ein. Seit Jahren schon wird der Bundesstaat Kalifornien immer wieder von Bundesgerichten aufgefordert, die Zahl der in den Gefängnissen inhaftierten Menschen zu reduzieren, in dem diese vorzeitig, also auf Bewährung entlassen werden. Hintergrund ist eine grundlegende Entscheidung des U.S. Supreme Court aus dem Jahr 2010, nach der die massive Überbelegung der Gefängnisse als Verstoß gegen die Verfassung gewertet wurde. Jetzt ist ein sehr interessantes neues „Hindernis“ öffentlich geworden, auf das der Bundesstaat Kalifornien bzw. die ihn in den Verfahren vor den Gerichten vertretenen Anwälte hinweisen: Gegen die von den Gerichten geforderte deutliche Ausweitung von Bewährungsprogrammen mit einer vorzeitigen Entlassung werden nicht etwa Sicherheitsbedenken ins Feld geführt, sondern der dann geringer ausfallende Nutzen des Staates aus der billigen Arbeit der Gefangenen. Und darunter nicht irgendein allgemeiner ökonomischer Nutzen aus der Beschäftigung der Strafgefangenen, sondern ein ganz spezieller, der was mit den Waldbränden in diesem Bundesstaat zu tun hat.

Auf diese Zusammenhänge weist der Artikel California Tells Court It Can’t Release Inmates Early Because It Would Lose Cheap Prison Labor von Nicole Flatow hin, der auf der Plattform ThinkProgress veröffentlicht wurde. Die Auseinandersetzung zwischen Kalifornien und den Bundesgerichten spitzt sich gerade zu angesichts der Auflage eines Gerichts, dass der Bundesstaat ein ganz bestimmtes Bewährungsprogramm (2-for-1 credits) deutlich auszuweiten hat, über das bestimmte Gefangene die Möglichkeit bekommen würden, vorzeitig aus der Haft freizukommen, und der weiterhin offensichtlich anhaltenden Verweigerungshaltung des Bundesstaates (dazu z.B. schon aus dem letzten Jahre den Artikel California Governor: We Don’t Need To Comply With Supreme Court Prison Overcrowding Order). Nicole Flatow formuliert den hier besonders interessierenden Punkt: »California’s objections raise troubling questions about whether prison labor creates perverse incentives to keep inmates in prison even when they don’t need to be there.«
Ein wichtiger Hintergrund für diese Haltung des Bundesstaates ist die Tatsache, dass Kalifornien eines von mehreren Bundesstaaten ist, in denen Strafgefangene zur Waldbrandbekämpfung herangezogen werden können. Und in Kalifornien gibt es das größte dieser Programme, was natürlich auch im Zusammenhang mit der deutlich steigenden Fahl an Waldbränden aufgrund der Dürre und des Klimawandels zu sehen ist.

In harten Zahlen ausgedrückt: Durch den Einsatz von Strafgefangenen, die weniger als $ 2 pro Tag bekommen, bei der Waldbrandbekämpfung spart der Bundesstaat nach neuesten Schätzungen etwa eine Milliarde Dollar (vgl. hierzu den Artikel The Prisoners Fighting California’s Wildfires). Kalifornien hängt mittlerweile in diesem Bereich von diesen Arbeitskräften ab – und das Potenzial an solchen Arbeitskräften wird dadurch begrenzt, dass nur Strafgefangene dafür eingesetzt werden dürfen, die nicht wegen einer Gewalttat  und die zu relativ kurzen Haftstrafen verurteilt worden sind. Außerdem müssen die dann natürlich auch körperlich zu einem solchen speziellen Arbeitseinsatz in der Lage sein. Und gerade Personen aus dieser Gruppen würden deutlich profitieren können von den geforderten Bewährungsprogrammen im Sinne einer Haftzeitverkürzung. Dies wird noch weiter potenziert durch die Tatsache, dass die Gefangenen, die sich an der Waldbrandbekämpfung beteiligen, schon heute mehr credits bekommen als die anderen. Dann wären sie noch schneller wieder draußen und damit nicht mehr verfügbar.

Die Amerikaner gelten zu Recht als Pragmatiker und die Bundesrichter haben an dieser Stelle ein Einsehen: »… the federal judges … were nonetheless sensitive to the state’s need for inmate firefighters. That’s why they ordered the state to offer 2-for-1 credits only to those many inmates who weren’t eligible for the wildfire program.« Dadurch setzt man natürlich gleichzeitig Anreize für die Gefangenen, die grundsätzlich geeignet wären für die Feuerbekämpfung, denn wenn die das machen, bekommen sie wenigstens die bisherigen Anrechnungspunkte.
Das kalifornische Justizministerium ist selbst gegen diese Regelung, schlichtweg aufgrund der möglichen bzw. wahrscheinlichen Verknappung an billigsten Brandbekämpfungskräften, denn: »… they didn’t want to have to hire full-time employees to perform any of the work that inmates are now performing.« Hier nun zeigt sich ein echter Verdrängungseffekt durch die staatlich erzwungene Billigarbeit.

Foto: © Stefan Sell

Burger-Brater auf der Straße. Streikaktionen von Fastfood-Beschäftigten in mehr als 150 Städten in den USA

Jeder, der schon mal in den USA gewesen ist, weiß um die enorme Alltagsbedeutung der zahlreichen Fastfood-Läden. Insofern gibt es nicht nur viele Verkaufsstellen, sondern auch sehr viele Menschen, die in diesem Bereich arbeiten (müssen). Und die Bezahlung in diesem Bereich ist hundsmiserabel. Nicht einmal acht Euro verdienen sie in den Burger-Läden zurzeit nach Angaben der Gewerkschaft Service Employees International Union.

Unter dem Motto „Fight for 15″ haben Angestellte von Unternehmen wie McDonald’s oder Wendy’s ihre Arbeit niedergelegt. Der Kampagnen-Name „Fight for 15“ ist eine Ableitung aus der Forderung nach einem Stundenlohn von mindestens 15 Dollar (rund 11,40 Euro). Wer die Streikaktionen und die Medienberichterstattung in den USA verfolgen möchte, der wird auf der Seite www.strikefastfood.org fündig. Auch auf Twitter kann man den Aktionen unter @fightfor15 folgen.

Wer sich für die Hintergründe interessiert, dem seien zwei aktuelle wissenschaftliche Bestandsaufnahmen empfohlen:

Zum einen hat das Economic Policy Institute im August dieses Jahres die Studie Low Wages and Few Benefits Mean Many Restaurant Workers Can’t Make Ends Meet von Heidi Shierholz veröffentlicht. Sie verdeutlicht die Bedeutung hinsichtlich der Beschäftigung: »The restaurant industry is a large and fast-growing sector of the U.S. economy. It currently employs 5.5 million women … and 5.1 million men«. Wenn es sich auch um eine durchaus heterogene Branche handelt, muss doch gesehen werden, dass viele Beschäftigte an oder unter der (sehr niedrig angesetzten) Armutsgrenze leben müssen:

»The restaurant industry includes a wide range of establishments, from fast-food to full-service restaurants, from food trucks to caterers, from coffee shops to bars. While there are certainly employers in the restaurant industry who provide high-quality jobs, by and large the industry consists of very low-wage jobs with few benefits, and many restaurant workers live in poverty or near-poverty.«

Shierholz arbeitet in ihrer Studie heraus, dass der Median-Stundenlohn der in der Restaurant-Branche arbeitenden Menschen einschließlich der Trinkgelder bei $ 10 liegt und damit deutlich niedriger als die $ 18 Dollar außerhalb dieser Branche. Nun kann man argumentieren, dass die soziodemografische Struktur der Beschäftigten hier eine andere sein wird als in anderen Branchen. Auch das hat sie berücksichtigt bzw. bereinigt und kommt zu folgendem Befund:

»After accounting for demographic differences between restaurant workers and other workers, restaurant workers have hourly wages that are 17.2 percent lower than those of similar workers outside the restaurant industry. This is the “wage penalty” of restaurant work.«

Bei den aktuellen Streikaktionen geht es nicht nur um die bereits erwähnte Forderung nach mehr Geld, sondern auch nach Anerkennung gewerkschaftlicher Aktivitäten. In den USA herrscht bekanntlich ein sehr gewerkschaftsfeindliches Klima, insofern überrascht es nicht, wenn wir erfahren, dass der Organisationsgrad der Gewerkschaften in diesem Bereich extrem niedrig ist (das sieht in Deutschland auch nicht anders aus), dass sich aber gewerkschaftliches Engagement durchaus auszahlen kann, zeigt die Studie ebenfalls: »Unionization rates are extremely low in the restaurant industry, but unionized restaurant workers receive wages that are substantially higher than those of non-union restaurant workers.«

Jeder sechste Beschäftigte in dieser Branche lebt unterhalb der offiziellen Armutsgrenze – 16.7 Prozent der Beschäftigten, während es in den anderen Branchen nur 6.3 Prozent sind. Die tatsächliche materielle Notlage vieler Beschäftigter wird an dieser Zahl deutlich:

»Twice the official poverty threshold is commonly used by researchers as a measure of what it takes for a family to make ends meet. More than two in five restaurant workers, or 43.1 percent, live below twice the poverty line.«

Eine weitere sozialpolitisch hoch brisante Erkenntnis kann man der Studie entnehmen – wissend, dass in den USA Millionen Menschen keinen Krankenversicherungsschutz haben, weil im Regelfall ein solcher von den Arbeitgebern organisiert werden muss oder eben von diesen nicht zur Verfügung gestellt wird:

»Just 14.4 percent of restaurant workers receive health insurance from their employer, compared with roughly half (48.7 percent) of other workers. Of unionized restaurant workers, 41.9 percent receive health insurance at work, substantially higher than the share among nonunionized restaurant workers.«

Lediglich 8.4 Prozent der Beschäftigten kommen in den Genuss einer betrieblichen Altersvorsorge, in den anderen Branchen sind es hingegen 41.8 Prozent.
Die Studie gibt dann im weiteren noch einige Empfehlungen, was man politisch machen könnte, um die Qualität der Jobs in dieser Branche zu verbessern.

Die angesprochene Armut vieler Beschäftigter spiegelt sich in einer weiteren auffälligen Besonderheit, auf die in einer anderen, im April dieses Jahres publizierte Studie hingewiesen wird: Fast Food Failure. How CEO-to-Worker. Pay Disparity Undermines the Industry and the Overall Economy von Catherine Ruetschlin. In dieser Studie geht es um die Vergütungsschere zwischen den Führungskräften der Unternehmen und den normalen Beschäftigten. Eine Schere, die generell in den vergangenen Jahren immer weiter auseinandergegangen ist. Und dabei erweist sich die Fastfood-Branche als der große Treiber, so Ruetschlin in der Zusammenfassung ihrer Studie:

»New analysis of the CEO-to-worker compensation ratio across industries shows that Accommodation and Food Services is the most unequal sector in the economy, and that this extreme pay disparity is primarily driven by one of the sector’s component industries: fast food.«

Es sind traurige Spitzenwerte, die hier erreicht werden:

»Accommodation and Food Services had a CEO-to-worker pay ratio of 543-to-1 in 2012 … In 2012, the compensation of fast food CEOs was more than 1,200 times the earnings of the average fast food worker.«

Es sind zwei Faktoren, die in der Studie als Ursache für diese Entwicklung identifiziert werden:

»Pay disparity in the fast food industry is a result of two factors: escalating payments to corporate CEOs and stagnant poverty-level wages received by typical workers in the industry … Fast food CEOs are some of the highest paid workers in America. The average CEO at fast food companies earned $23.8 million in 2013 … Fast food workers are the lowest paid in the economy. The average hourly wage of fast food employees is $9.09, or less than $19,000 per year for a full-time worker, though most fast food workers do not get full-time hours. Their wages have increased just 0.3 percent in real dollars since 2000.«

Kinder und Jugendliche als Flüchtlinge an der texanischen Grenze und in Freiburg im Breisgau. Gemeinsamkeiten und Unterschiede eines globalen Phänomens, das vor Ort aufschlägt

Manchmal gibt es thematische Überschneidungen mit gewissen Gemeinsamkeiten, aber auch sehr vielen Unterschieden zwischen hier und dort. Nehmen wir für das „hier“ die Stadt Freiburg im Breisgau und für das „dort“ die USA, konkreter gesagt die texanische Grenze zu Mexiko. Das Thema, um das es „hier“ und „dort“ geht, sind minderjährige Flüchtlinge ohne Begleitung von Erwachsenen.
Starten wir in den USA. Eine mehr als irritierende Botschaft kann man diesem Artikel entnehmen: Texas schickt 1000 Nationalgardisten an mexikanische Grenze. Was ist passiert? Versuchen die Salafisten in die USA einzudringen? Sollen die mexikanischen Drogenkartelle angegriffen werden? Nein: »Seit Monaten sammeln sich Zehntausende unbegleitete Kinder aus Lateinamerika an der mexikanischen Grenze zu den USA. Nun sollen 1.000 Nationalgardisten den Abschnitt in Texas sichern. Der Bundesstaat fühlt sich von Washington alleingelassen.«

Zuvor und ohne Erfolg hatte der Bundesstaat um die Entsendung von Nationalgardisten des Bundes zur Grenzsicherung gebeten. Und warum genau?

»Die Polizei an der mexikanisch-amerikanischen Grenze ist vom Strom illegaler Kindermigranten hoffnungslos überfordert. Seit Oktober erreichten die Grenze allein aus Zentralamerika mehr als 57.000 unbegleitete Kinder. Die meisten kommen aus Guatemala, Honduras und El Salvador und flüchten vor Gewalt, organisierter Kriminalität oder schlechten wirtschaftlichen Aussichten in ihren Heimatländern.«

Weitere Informationen kann man dem Artikel Der tragische Exodus aus Mittelamerika von Klaus Ehringfeld und Marc Pitzke entnehmen.

»Silvia, 16, aus El Salvador, floh vor Bandengewalt und Todesdrohungen. Gilberto, 15, aus Guatemala, wurde von seinen Eltern auf die Reise nach Norden geschickt. Er sollte Geld verdienen, damit die Familie daheim die Medikamente der kranken Mutter bezahlen kann … Silvia ist an ihrem Ziel angekommen. Gilberto ist auf dem Weg durch die Wüste verdurstet.«

Die beiden Autoren sprechen von einem »Drama, das sich seit einigen Monaten zehntausendfach wiederholt: Kinder aus Honduras, Guatemala und El Salvador kämpfen sich allein 2.000, manchmal 3.000 Kilometer durch Zentralamerika und Mexiko. Die jüngsten sind kaum acht Jahre alt, manche schon 17. Zu Fuß, per Bus und als blinde Passagiere auf dem Güterzug sind sie Wochen, manchmal Monate unterwegs, voller Angst vor der „Migra“, der mexikanischen Ausländerpolizei, und den Häschern des organisierten Verbrechens und davor, vom Güterzug zu fallen, den sie angstvoll „die Bestie“ nennen.«

Es sind gewaltige Zahlen, mit denen die USA konfrontiert sind:

»Seit vergangenen Oktober kamen fast 60.000 unbegleitete Kinder und Jugendliche aus Zentralamerika über die US-mexikanische Grenze, mehr als doppelt so viele wie im US-Haushaltsjahr 2013 (24.668). Bis zum Herbst – das Haushaltsjahr 2014 endet im September – könnte sich diese Zahl sogar auf 90.000 erhöhen.«

Und wie geht man mit denen um, die es in die USA schaffen?
Das Katastrophenschutzamt Fema versorgt die Kinder mit Medikamenten und Lebensmitteln. Und dann gibt es da noch ein Missverständnis für viele der Kinder und Jugendlichen:

»Wenn die minderjährigen Migranten nicht vom US-Grenzschutz aufgegriffen werden, begeben sie sich oft freiwillig in die Obhut der Polizei. Denn in ihren Heimatländern kursiert das Gerücht, dass sie als Minderjährige vor Abschiebung sicher seien. Aber ihnen wird lediglich eine begrenzte Aufenthaltserlaubnis zugestanden, solange ein Gericht über das Bleiberecht entscheidet.«

Der Ansturm der minderjährigen Flüchtlinge auf die USA speist sich aus zwei Quellen: Zum einen die Flucht vor der ausufernden Gewalt in den zentralamerikanischen Staaten und zum anderen wirtschaftliche Hoffnungslosigkeit: »In Zentralamerika wird es für junge Menschen immer schwerer, einen Job zu finden, von dem sie leben können. Die Lohnveredelungsbetriebe, in denen für die USA Fernseher gelötet und Jeans genäht werden, zahlen Ausbeuterlöhne. Und ein Job als Parkhauswächter oder DVD-Verkäufer bringt vielleicht 150 Euro im Monat. Sehr viel mehr kann man mit ehrlicher Arbeit kaum verdienen.«

Diese Zuspitzung der illegalen Einwanderung trifft in den USA auf ein – weiteres – Scheitern des Präsidenten: Ziel war die große Reform, eine Perspektive für elf Millionen illegale Immigranten, die sich schon in den USA befinden. Aber Obama ist hier faktisch gescheitert.
Dabei waren die Pläne des Präsidenten schon ein Kompromiss, um überhaupt in die Nähe der Stimmen moderater Republikaner zu kommen, wie Sebastian Fischer in seinem Artikel Obamas Grenz-Erfahrung ausführt:

  1. Die elf Millionen illegalen Einwanderer sollen eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung unter der Bedingung bekommen, dass sie sich bei den Behörden registrieren, eine Strafzahlung akzeptieren sowie Steuern nachzahlen.
  2. Nach zehn Jahren ist eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung möglich, wenn sie Sprachkenntnisse und Arbeit nachweisen. Der nächste Schritt dann: Antrag auf Staatsbürgerschaft.
  3. Die US-Grenztruppen sollen auf 40.000 verdoppelt, zusätzliche 1100 Kilometer Zaun an der Grenze zu Mexiko gebaut werden.

Doch die Führung der Republikaner fürchtet offensichtlich einen Aufstand am rechten Rand der eigenen Partei und hat diesen Kompromiss verworfen. Damit steht eine der größten gesellschaftspolitischen Aufgaben in den USA weiterhin ungelöst im Raum. Und allein die Zahl von elf Millionen derzeit illegal in den USA lebenden Einwanderern zeigt nicht nur die Größenordnung, sondern man kann sich vorstellen, was für ein sozialer und sozialpolitischer Sprengsatz hier zu finden ist. Abschließend ein Blick auf die hier im Mittelpunkt stehenden Kinder und Jugendlichen, denn der Konflikt um sie spitzt sich zu: Obama droht mit Abschiebung von Kindern – so sind die aktuellsten Berichte aus den Vereinigten Staaten überschrieben. „Ich habe betont, dass die amerikanische Bevölkerung und meine Regierung großes Mitgefühl mit diesen Kindern haben“, so wird der Präsident zitiert. Zugleich müssten aber die Gesetze der USA eingehalten und Minderjährige davon abgebracht werden, sich mit der Reise nach Norden „großen Gefahren“ auszusetzen. Anfang Juli bat Obama den Kongress um eine Sonderfinanzierung von 3,7 Milliarden Dollar, um mit der „dringenden humanitären Situation“ an der Grenze zu Mexiko umzugehen. Mit dem Geld soll die Unterbringung der Kindermigranten sichergestellt werden, aber es sollen auch zusätzliche Asylbeamte und Richter finanziert werden, um den Abschiebeprozess zu erleichtern – aber die Republikaner verweigern im bislang diese Summe, sie wollen nur eine Milliarde Dollar zur Verfügung stellen. Beide Lager streiten sich auch darüber, wie stark ein Gesetz aus dem Jahr 2008 eingeschränkt werden soll, das minderjährigen Migranten weitreichende Schutzrechte gewährt. Die Republikaner fordern darüber hinaus die Rücknahme einer umstrittenen Anordnung Obamas aus dem Jahr 2012, bestimmte junge Einwanderer ohne gültige Papiere nicht mehr abzuschieben. Dadurch sei ein Anreiz für die Kinder und Jugendlichen gesetzt worden, zu versuchen, in die USA zu gelangen. Eine rundum verfahrene Situation also.

Und was hat das jetzt mit Freiburg im Breisgau zu tun, dieser Universitätsstadt mit ihren 229.000 Einwohnern im prosperierenden Südwesten der Republik? In der Print-Ausgabe der FAZ erschien am 23.07.2014 der Artikel „Karawane der Hoffnung“ von Rüdiger Soldt: »Im Südwesten kommen immer mehr minderjährige Flüchtlinge alleine an – das stellt die Kommunen vor große Herausforderungen.« Er beschreibt die Ausgangssituation so:

»Sie kommen aus Algerien und steigen in Freiburg aus dem ICE. Sie kommen ohne Rucksack und ohne Pässe. Nur ein Smartphone haben sie immer dabei. Das brauchen sie, um Kontakt zu halten. Zur Familie in Afghanistan oder Eritrea. Vielleicht auch, weil sie manchmal Anweisungen von den Schleppern bekommen, denen ihre Familien mehrere tausend Euro bezahlt haben. Irgendwo in Sizilien sind sie an Land gegangen. Dann haben sie sich in einen Fernzug gesetzt. Die italienischen Carabinieri und die Schweizer Zollbeamten wollen keinen Ärger. Deshalb schauen sie häufig weg, wenn sie im Zug die minderjährigen Flüchtlinge aus dem Maghreb, aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan, die jungen Männer mit schmutzigen T-Shirts und ängstlichem Blick sehen. Die Beamten der deutschen Bundespolizei schauen nicht weg, sie machen ihre Arbeit … Für die Flüchtlinge aus dem Süden ist Freiburg der erste ICE-Halt mit Bundespolizei-Station.«

Bis vor vier Jahren, so Soldt, waren minderjährige Flüchtlinge eher eine Rarität. Aber das hat sich geändert. Waren es für Freiburg im Jahr 2010 nur 30 jugendliche Flüchtlinge, ist seitdem die Zahl deutlich angestiegen. Allein im ersten Halbjahr 2014 wurden hier insgesamt 80 „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“, im Bürokratendeutsch „UMF“ genannt, in Obhut genommen. In „Obhut“ genommen verweist schon den Eingeweihten auf das deutsche Kinder- und Jugendhilfesystem. Und das – bei allen immer erkennbaren Unzulänglichkeiten – funktioniert:

»Die Aufnahme der Flüchtlinge ist eine Pflichtaufgabe der Kommunen, innerhalb von wenigen Tagen muss für sie ein Betreuungsangebot organisiert werden: ärztliche Untersuchungen, häufig Operationen, Bestellung eines Vormunds durch das Familiengericht, manchmal die Überprüfung des Alters, Unterbringung in einer Wohngruppe, psychiatrische Betreuung, erste Sprachkurse.«

Da gibt es dann beispielsweise das katholische Christophorus-Werk, das eine „vollstationäre UMF-Wohngruppe“ mit dem passenden Namen „WG Sankt Martin“ betreibt. Der Heilige Martin ist der Schutzheilige der Flüchtlinge. Jüngere minderjährige Flüchtlinge werden von den Jugendämtern zumeist auf die Vorbereitungsklassen an den öffentlichen Schulen geschickt. Viele minderjährige Flüchtlinge sind aber 16, 17 oder 18 Jahre alt, für sie fehlt ein passendes Schulangebot, denn die Berufsschulen sind mit ihnen überfordert und zudem überbelegt, berichtet Soldt. Das Christophorus-Werk betreibt eine eigene Schule, in die die älteren Flüchtlinge gehen. Sie können auch Praktika in den Werkstätten machen, was wieder einmal zeigt, wie wichtig in solchen Konstellationen größere und professionelle Träger sind. Norbert Scheiwe, der Leiter des Christophorus-Werks, hat eine sehr weltliche Vorstellung von dem Tun des Trägers: „Wenn wir Delinquenz verhindern und Steuerzahler aus ihnen werden, ist das ein ungeheurer Erfolg“, so wird er zitiert.

Wenn die Kinder und Jugendlichen nicht in Freiburg aus den Zügen gefischt werden, dann werden sie spätestens im badischen Offenburg entdeckt. Auch hier: „Im Jahr 2002 hatten wir vier minderjährige Flüchtlinge, 2011 waren es dann 57, jetzt sind es allein in den ersten sieben Monaten schon 146“, so wird Andreas Linse vom Jugendamt des Landratsamts in dem FAZ-Artikel zitiert. Man muss diese Zahlen vor dem Hintergrund sehen, dass der Landkreis nur sechs Plätze für die vorübergehende Inobhutnahme und zehn Wohngruppenplätze hat. Und die Kommunen, die tätig werden müssen, sind mit erheblichen Kosten in diesem Segment der Jugendhilfe konfrontiert: »Für stationär betreute Jugendliche fallen Jugendhilfe-Tagessätze zwischen 140 und 220 Euro an«, kann man dem Artikel entnehmen.

Und der Beitrag endet mit diesen Ausführungen, die einen nachdenklich stimmen:

„Denen wird erzählt, in Deutschland regnet es Geld. Die fragen schon am zweiten Tag nach Inlinern, Geld, Tablet-Computern, Handys, Kleidung, dann wollen sie auch noch Fußball spielen“, sagt Monika Delfosse vom Jugendamt des Ortenaukreises, die die Amtsvormundschaften verwaltet. Es fällt den jungen Einwanderern nicht leicht, das deutsche Jugendhilfesystem zu verstehen, das wahrscheinlich zu den besten der Welt gehört. Sie können auch nicht begreifen, warum sie für jede Reise eine Genehmigung brauchen. „Manchmal verstehen die erst, wie gut es ihnen geht“, sagt Delfosse, „wenn sie hier aus dem Jugenddorf Ausgang hatten und gesehen haben, wie die erwachsenen Flüchtlinge im Asylbewerberheim untergebracht sind.“

Das ist alles nicht nur ein lokales Problem irgendwo in einer Grenzstadt, sondern die Abbildung mit den neuesten Daten des Statistischen Bundesamtes verdeutlicht die erhebliche Zunahme der Inobhutnahmen von Kindern und Jugendlichen, die unbegleitet nach Deutschland gekommen sind.
Hinter diesen trockenen Zahlen stehen teilweise schwer bis gar nicht vorstellbare Schicksale:
»Die gestiegene Zahl der minderjährigen Flüchtlinge sei unter anderem Folge des Bürgerkriegs in Syrien und im Irak, wie Sindy Hoppe vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sagt. Häufig drohten den Kindern auch Zwangsheiraten oder eine Rekrutierung als Kindersoldat. Die meisten unbegleiteten Flüchtlinge kommen aus Afghanistan, Somalia, Syrien, Eritrea und Ägypten«, kann man dem Artikel Zahl der minderjährigen Flüchtlinge steigt entnehmen.

Und man kann, nein: man muss zu dem Ergebnis kommen, dass der Umgang mit dieser Entwicklung keine Aufgabe sein kann, die man einer einzelnen Kommunen oder einem Landkreis überlassen sollte. Hier geht es um eine nationale Aufgabe und will man die hohen Standards des deutschen Jugendhilfesystems sicherstellen – wofür es viele gute Argumente gibt -, dann sollten die besonders betroffenen Kommunen solidarische Hilfe bekommen. Denn es ist absehbar, dass die Zahlen in diesem Bereich weiter ansteigen werden und damit auch die Ausgaben für diese Hilfe.