Die gesetzliche Rente könnte sicher sein, wenn man sie stärken würde. Arbeitnehmerkammer Bremen plädiert für eine „zukunftsorientierte Rolle rückwärts“

»Die Große Koalition hat eine umfassende Reform der Alterssicherung vorerst vertagt. Dabei gäbe es einiges zu tun«, kommentierte Cordula Eubel Ende November 2016 unter der Überschrift Der Rentenwahlkampf ist eröffnet! zu den damals präsentierten Reformvorschlägen der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Das genau wollen andere möglichst vermeiden: Roßbach warnt vor Renten-Wahlkampf: »Rentenversicherungs-Chefin empfiehlt Rentenpolitik im Konsens der großen Parteien.« Vgl. dazu auch das ausführliche Interview mit Roßbach. Wie dem auch sei – die Alterssicherung und damit deren größte und wichtigste Säule wird Thema im anlaufenden Bundestagswahlkampf werden (müssen). Zu groß ist der offensichtliche Reform-, wenn nicht Systemwechselbedarf. Einiges ist hier schon in Bewegung – man denke nur an die aktuelle Rentenkampagne des DGB, die vor allem auf das (derzeit im Sinkflug befindliche) Rentenniveau abzielt (vgl. zum gar nicht so einfachen Thema „Rentenniveau“ auch den Beitrag Das große Durcheinander um Rentenniveau, Niveau der Renten, Rente als Wahlkampfthema. Und eine rechnerische Gewissheit mit fatalen Folgen vom 8. Oktober 2016). An dieser Stelle setzt auch die Arbeitnehmerkammer Bremen an: „Um auskömmliche Renten für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erreichen, muss das Ziel der Lebensstandardsicherung wieder in den Mittelpunkt der Rentenpolitik rücken. Dafür ist die Stabilisierung und mittelfristige Anhebung des Rentenniveaus auf mindestens 50 Prozent notwendig“, fordert Ingo Schierenbeck, Hauptgeschäftsführer der Arbeitnehmerkammer Bremen.

Durch die grundlegenden Rentenreformen und die kontinuierliche Absenkung des Rentenniveaus seit 2001 ist die gesetzliche Rentenversicherung immer weniger in der Lage, eine verlässliche Lebensstandardsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu gewährleisten, was lange Zeit ihre Funktion war. Zentrales Ziel der Reformen war die Begrenzung der Sozialversicherungsbeiträge, um die Lohnnebenkosten auch im demografischen Wandel zu stabilisieren. Das Rentenniveau beträgt heute nur noch 48 Prozent und könnte bis 2045 auf knapp 42 Prozent sinken. Das heißt, die Rente koppelt sich weiter von der Lohnentwicklung ab.

Das heißt, die Rente koppelt sich weiter von der Lohnentwicklung ab. Die Abbildung am Anfang des Beitrags verdeutlicht das exemplarisch – während im Land Bremen seit dem Jahr 2000 die Löhne um ein Drittel und die Verbraucherpreise um ein Viertel gestiegen sind, haben die Renten im gleichen Zeitraum nur um ein Sechstel zugelegt.

Die Rentenlücke soll durch private und betriebliche Altersvorsorge geschlossen werden. „Dieser Drei-Säulen-Ansatz hat sich nicht bewährt, da viele Beschäftigte nur über geringe und fast 30 Prozent sogar über gar keine zusätzlichen Vorsorgeansprüche verfügen“, wird Ingo Schierenbeck zitiert.

Was tun? Zu dieser Frage hat sich die Kammer mit einem Positionspapier an die Öffentlichkeit gewandt:

Magnus Brosig (2017): Alterssicherung – Für eine starke gesetzliche Rente, Bremen: Arbeitnehmerkammer Bremen, April 2017

Darin findet man diese Forderungen:

  • Grundsätzliche Stärkung der GRV statt Ausweitung der Förderung alternativer Vorsorge auf Kosten der Sozialversicherung
  • Anhebung des Nettorentenniveaus vor Steuern auf mindestens 50 %, anschließend dauerhafte Stabilisierung durch Änderung der Rentenanpassungsformel
  • Verbesserungen bei Erwerbsminderungsrenten: Ausweitung von Zurechnungszeiten bis zur Regelaltersgrenze und Abschaffung von Abschlägen
  • Dauerhafte Fortführung der Rente nach Mindestentgeltpunkten
  • Bessere Rentenanwartschaften auch bei Arbeitslosigkeit
  • Anrechnungsfreibeträge in der Grundsicherung im Alter, insbesondere auch für gesetzliche Renten – Vorsorge muss sich immer lohnen
  • Erwerbstätigenversicherung durch umfangreiche Einbeziehung von Selbstständigen
  • Schaffung sozialer Altersübergänge
  • Abschaffung der „Zwangsverrentung“ bei ALG II-Bezug
  • Verlässliche Leistungen auch bei betrieblichen und privaten Renten 

Im Fazit des Positionspapiers bilanziert Brosig (2017: 19) die Notwendigkeit einer nur vermeintlich paradoxen „zukunftsorientierten Rolle rückwärts“:

»Eine mit ihrem Katalog und Niveau leistungsstarke gesetzliche Rentenversicherung hat sich historisch bewährt und ist – das zeigen Erfahrungen und Modellrechnungen für die kommenden Jahrzehnte – auch in Zeiten eines keinesfalls neuen demografischen „Umbruchs“ nachhaltig finanzierbar. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine überfällige Reform der GRV hin zur Erwerbstätigenversicherung vorgenommen wird. Notwendig ist nun eine nur vermeintlich paradoxe Ausrichtung der Reformpolitik – nämlich eine „zukunftsorientierte Rolle rückwärts“: Einerseits gilt es, zurückzukehren zu einer umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung mit hohem Niveau, breitem Risikoschutz und verlässlichen Anpassungen, sodass Rentenbezieher nicht vom Rest der Gesellschaft abgekoppelt werden. Andererseits bedarf es einer umfassenden Reaktion auf strukturelle Veränderungen des Arbeitsmarktes: Erforderlich sind eine Ausweitung des Versichertenkreises und solidarische Ausgleichsmechanismen, ohne dass diese das Äquivalenzprinzip und damit den Statuserhalt gefährden. Als Beispiel für eine solcherart progressive Reformorientierung in einem „althergebrachten“, aber nur vermeintlich „überholten“ Sozialversicherungssystem kann Österreich dienen, wo eine zur Erwerbstätigenversicherung erweiterte allgemeine Rentenversicherung (dort: Pensionsversicherung) zu einem etwas höheren Beitragssatz und trotz einer vergleichbaren demografischen Entwicklung anhaltend erheblich höhere, tatsächlich noch lebensstandardsichernde Leistungen erbringen kann. Die Entscheidung für ein solches, im Vergleich zum Mehrsäulenmodell gerechteres, leistungsfähigeres, günstigeres und flexibleres Gesamtsystem kann selbstverständlich politisch getroffen werden und verbietet sich eben nicht aufgrund vermeintlicher finanzieller Hindernisse, die letztlich nur als Vorwand für einen Systemumbau zulasten der Arbeitnehmer herangezogen werden.«

Rein in den Normalbetrieb? Wie für alle anderen auch – plus Sprachkurse. Der Sachverständigenrat für Integration und Migration zur Flüchtlingspolitik 2017

Der Sachverständigenrat für Integration und Migration veröffentlicht jeweils im Frühjahr sein jährliches Gutachten. Das Jahresgutachten 2017 steht unter der Überschrift Chancen in der Krise: Zur Zukunft der Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa. Mit dem neuen Gutachten unterbreitet das Gremium »Vorschläge zur Weiterentwicklung der EU-Flüchtlingspolitik, die auf eine neue Verantwortungsteilung innerhalb der EU zielen. Ein Kernelement für die faire Verteilung von Flüchtlingen sind EU-weite Freizügigkeitsrechte, die anerkannte Flüchtlinge unter bestimmten Voraussetzungen erhalten könnten. Zudem geht es um Möglichkeiten und Grenzen bei der Zusammenarbeit mit Transit- und Erstaufnahmestaaten, u. a. dem ‚EU-Türkei-Deal‘. In einem zweiten Teil analysiert der SVR die Neuregelungen zur Integration von Flüchtlingen in Deutschland, vor allem in den Bereichen Unterbringung, Bildungs- und Arbeitsmarktintegration sowie Wertevermittlung.«

Angesichts der Tatsache, dass anders als noch vor einigen Monaten in den Medien kaum und nur noch sehr punktuell über das Thema Flüchtlinge berichtet wird, lohnt ein Blick in das Gutachten des Sachverständigenrats, der von deutschen Stiftungen ins Leben gerufen wurde.

Andrea Dernbach hat ihre Wahrnehmung der Ausführungen des Sachverständigenrats unter die knackig daherkommende Überschrift Für ein Ende der Flüchtlingsprogramme gestellt: »Experten empfehlen, Arbeit und Bildung für Geflüchtete zu fördern wie für alle anderen – plus Sprachkurse.«

»Raus aus dem Krisenmodus, hinein in den Normalbetrieb: Das empfiehlt der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) in seinem am Dienstag veröffentlichten Jahresgutachten nach zwei Jahren „Flüchtlingskrise“. Insbesondere auf dem Arbeitsmarkt und in den Schulen sollten Sonderprogramme für Geflüchtete vermieden oder heruntergefahren und stattdessen die Mittel klassischer Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik genutzt werden, die für alle da sind.«

Für die minderjährigen Flüchtlinge, die in den vergangenen beiden Jahren nach Deutschland gekommen sind, sei die Schule „die zentrale Integrationsinstanz“. Gerade in den Schulen müsse ethnische und soziale Trennung vermieden werden, was bedeutet, die Kinder so rasch wie möglich in den Regelunterricht zu nehmen. Denn auch wenn sogenannte Willkommensklassen „einen Schutzraum“ böten, dürften sie geflüchtete Kinder nicht nachhaltig isolieren.
Auch was den Arbeitsmarkt angehe, sehe man „Sondermaßnahmen für Flüchtlinge eher skeptisch“, heißt es im Gutachten.

Schauen wir im Original nach – und der Sachverständigenrat hat als Kurzfassung des Jahresgutachtens Neun Kernbotschaften veröffentlicht.

1.) „Die Krise der europäischen Flüchtlings- und Asylpolitik als Anlass für Reformen nutzen: beim Verfahrensvollzug ‚mehr Europa‘ wagen“ – so ist der erste, auf die europäische Ebene zielende Punkt benannt. Der Rat sieht bei allen Umbrüchen und offensichtlichen Widerständen die »Chance, dass wichtige politische Akteure in Europa und zumindest einigen Mitgliedstaaten ihre Anstrengungen (wieder) bündeln, um das Gemeinsame Europäische Asylsystem weiterzuentwickeln.« Und der Rat »begrüßt grundsätzlich die Europäisierung, die die Europäische Kommission derzeit im Bereich des Verfahrensvollzugs vorantreibt: Die Grenzschutzagentur Frontex und das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) werden aufgewertet, und Richtlinien werden durch Verordnungen ersetzt, um die Verfahren stärker zu vereinheitlichen. Dennoch ist hier eine gewisse Skepsis angezeigt. Denn nicht zuletzt die Erfahrungen mit der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise haben gezeigt, dass auch ein ausgefeiltes europäisches Regelwerk ins Leere läuft, wenn gemeinsam beschlossene Regeln nicht in allen Mitgliedsländern umgesetzt werden.« Wohl wahr.

Der Rat legt den Finger auf eine offensichtliche Wunde: Die bisherige Praxis, den Ländern an den EU-Außengrenzen die alleinige Verantwortung für die Durchführung der Verfahren, die Rückführung abgelehnter und die Integration anerkannter Asylbewerber zuzuweisen, kann als ursächlich für den kalten Boykott des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems seitens der Erstaufnahmestaaten angesehen werden. So wurden bei der Aufnahme und den Asylverfahren die festgelegten Standards nicht erfüllt, und die Flüchtlinge konnten zum Teil unkontrolliert weiterziehen.

Was sollte man also tun?

2.) „Verantwortung innerhalb Europas verteilen, flexible Solidarität ermöglichen, konditionierte Freizügigkeit gewähren“. In Brüssel wird das Problem gesehen und diese Variante ins Spiel gebracht: Die Kommission schlägt eine zentralistisch ausgerichtete und staatlich verwaltete ‚Umverteilungshydraulik‘ vor: Sobald die Aufnahme von Flüchtlingen in einem Land einen bestimmten Grenzwert überschreitet, werden automatisch Flüchtlinge aus diesem Land in solche mit einem niedrigeren Grenzwert umverteilt. Nun wird selbst der EU-geneigte Leser an dieser Stelle angesichts der erfahrenen Widerstände in einigen Mitgliedsstaaten der EU gegen die Aufnahme auch nur eines Flüchtlings mit großer Skepsis dem Plan aus Brüssel lauschen. Auch der Rat sieht natürlich das flüchtlingspolitische Gefälle innerhalb der EU und vor allem die relative Machtlosigkeit der Staatengemeinschaft gegenüber einzelnen Mitgliedsstaaten. Der vom Rat präsentierte Ansatz geht so:

»Der SVR schlägt dagegen vor, Weiterwanderungsabsichten von Flüchtlingen als Beitrag zu deren Verteilung innerhalb Europas zu nutzen. Dafür sollen Personen, die als schutzberechtigt anerkannt wurden, unter bestimmten Bedingungen gewisse Freizügigkeitsrechte erhalten. Dabei sind unterschiedliche Varianten einer Konditionalisierung solcher Rechte denkbar, beispielsweise über eine enge Rückkopplung an den Arbeitsmarkt des Ziellands oder durch die Einführung sozialrechtlicher Karenzzeiten. Denkbar wäre auch, solche konditionalisierten Freizügigkeitsrechte für anerkannte Flüchtlinge mit einem (solidarischen) EU-weiten Mechanismus des finanziellen Aus- gleichs zu verbinden: Sowohl den Erstaufnahmeländern als auch den Ländern, in die viele anerkannte Flüchtlinge weiterwandern, würde darüber zumindest ein Teil der Integrationskosten erstattet, die ihnen aus der Zuwanderung entstehen.«

Aber auch das setzt voraus, dass sich alle Mitgliedsstaaten zu der konditionierten Freizügigkeit bekennen.
Und auch ein weiteres heißes Eisen wird angesprochen:
3. ) „Kooperationen mit Transitstaaten sind trotz Dilemmata ein wichtiger Schritt“. Hier geht es vor allem die EU- Türkei-Erklärung, die landläufig als ‚Deal‘ bezeichnet wird. In der öffentlichen Diskussion überwiegen kritische Aspekte, durchaus nicht unberechtigt. Dennoch hält es der Rat für falsch, den mit der EU-Türkei-Erklärung eingeschlagenen Weg pauschal zu verdammen. »Denn er bricht mit einer perversen Logik: Nach dem gegenwärtigen Flüchtlingsrecht können nur diejenigen ihr Recht auf Schutz in Anspruch nehmen, die auf irregulären Wegen nach Europa kommen; diejenigen, die diesen Weg nicht einschlagen (können), bleiben im wahrsten Wortsinn ‚außen vor‘.« Man muss, so der Rat, die EU-Türkei-Erklärung gewissermaßen als Umsetzungsbaustein einer an sich schon älteren Idee verstehen: »die Asylpolitik der EU stärker auf das Territorium außerhalb Europas zu verlagern.« Erwogen wird u. a., jenseits der EU-Grenzen Aufnahmezentren einzurichten und Asylverfahren dort durchzuführen. Als mögliche Kooperationspartner für solche Aufnahmezentren rücken vor allem die Länder Nordafrikas in den Blick. Der Rat erkennt hier durchaus Chancen:

»Schutzbedürftige könnten dann auf sicherem Weg legal in die EU einreisen; das würde die Zahl der irregulären, gefährlichen und nicht selten tödlich endenden Fahrten über das Mittelmeer spürbar verringern. Über Resettlement könnten jene ausgewählt werden, die einen Schutz in Europa am meisten benötigen, z. B. verfolgte Frauen, alleingelassene Minderjährige, Kranke und Alte – damit bliebe Schutz nicht jenen vorbehalten, die physisch am stärksten sind oder die meisten Ressourcen aufbringen können.«

Was natürlich voraussetzt, dass man wem auch immer überhaupt die Möglichkeit eröffnet, aus den Aufnahmelagern im nördlichen Afrika legal in die EU zu kommen. Schon da kann man Fragezeichen anbringen. Und dann gibt es eine weitere (völlig berechtigte, aber angesichts der Realitäten hinsichtlich einer Verwirklichung mehr als fragwürdige) Forderung: »Eine Durchführung von Asylverfahren in solchen Aufnahmezentren müsste natürlich europäischen Menschenrechtsstandards entsprechen.« Natürlich. Aber selbst der Rat kann die Wahrscheinlichkeiten an fünf Fingern abzählen und formuliert etwas verdruckst: »Solche Zentren zu errichten und ordnungsgemäß zu betreiben wäre ein mittel- bis langfristiges Projekt, es ließe sich nicht von heute auf morgen umsetzen.« Und selbst wenn man das weiter verfolgen würde, sieht der Rat neue Fragen am Horizont (wer betreibt und kontrolliert solche Asylzentren, wer trägt die rechtliche Verantwortung und stellen solche Asylzentren nicht auch einen (Fehl-)Anreiz für jene dar, die es einmal austesten wollen, legal und risikoarm nach Europa zu gelangen?). Dennoch, eine grundsätzliche Ablehnung dieses Ansatzes ist beim Rat nicht zu erkennen und das wird den einen oder anderen in der Szene sicher überraschen und treffen.

Und das nächste heiße Eisen folgt auf dem Fuße:

4.) „Freiwillige Rückkehr fördern, Abschiebungen menschenwürdig und rasch vollziehen“. Wenn schon abgeschoben werden muss, dann sollte nicht zu viel Zeit vergeht. Die Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern wird oft dadurch erschwert, dass die Herkunftsstaaten nicht bereit sind, ihre Staatsbürger zurückzunehmen. Hier fragt der Rat, »warum gerade in diesem Bereich nicht stärker europäisch zusammengearbeitet wird«, um die betroffenen Staaten zur Kooperation zu bewegen.

5.) „Rechtlich ‚in der Spur‘ bleiben: Asyl- und Arbeitsmigration nicht vermengen“. Hier positioniert sich der Rat deutlich:

»Gerade das Asylrecht sollte nicht verwässert werden und Fehlanreize setzen, indem die Einwanderungspolitik z. B. einen ‚Spurwechsel‘ vom Asyl zur Erwerbsmigration ermöglicht. Es kann sinnvoll sein, Asylbewerbern eine Erwerbsarbeit zu gestatten, wenn ihr Verfahren ohne ihre Schuld sehr lange dauert. Wenn ein ‚Spurwechsel‘ aber ganz allgemein und frühzeitig ermöglicht wird, setzt das unweigerlich falsche Anreize. Außerdem hat Asyl einen besonderen, menschenrecht- lich abgesicherten Stellenwert. Wird es zu eng mit dem Arbeitsmarkt gekoppelt, könnten sich die öffentliche Meinung und die Akzeptanz der Flüchtlingszuwanderung umkehren, wenn ein Überangebot von Arbeitskräften entsteht: Dann würde möglicherweise argumentiert, dass weniger Asyl gewährt werden soll, weil es im Land so viele Arbeitsuchende gibt.«

Das innenpolitisch bekanntlich heftig umstrittene Instrument, bestimmte Länder zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, wird angesichts der Signalfunktion gegenüber den Zuwanderungswilligen, dass Asyl nicht für alle der richtige Kanal ist, vom Rat unterstützt. Auch der Vorschlag, eine gemeinsame, EU-weit gültige Liste sicherer Herkunftsländer zu erarbeiten, word ausdrücklich unterstützt – auch, um »eine ‚Schutzlotterie‘ … (zu) vermeiden, dass ein Asylbewerber aus dem Land A im EU-Mitgliedstaat X als Staatsbürger eines sicheren Herkunftslands behandelt wird und im EU-Mitgliedstaat Y nicht.« Allerdings wird darauf hingewiesen, dass man die tatsächliche Wirkung dieses Instruments nicht überschätzen sollte, die liegt eher im symbolischen Bereich.

Und was machen wir mit denen, die schon bei uns sind und von denen viele bleiben werden?

6.) „Flüchtlingskinder möglichst rasch in schulische Regelstrukturen integrieren, berufliche Bildung flexibler gestalten“. Der Rat warnt generell davor, zur Beschulung von Flüchtlingen eine spezielle Infrastruktur zu schaffen. In der beruflichen Ausbildung wird für eine stärkere Modularisierung plädiert. Entsprechende Reformen sollen jungen Flüchtlingen ermöglichen, niedrigschwellig ins System beruflicher Bildung einzusteigen und die erforderlichen Kompetenzen stufenweise aufzubauen. Nach Auffassung des Rats »könnte erwogen werden, … berufliche Ausbildungsgänge zumindest versuchsweise aufzugliedern in eine Basisausbildung und eine daran anschließende Spezialisierungsphase … Eine solche Modularisierung erzeugt traditionell starke Widerstände und birgt zweifellos auch gewisse Risiken. Allerdings würde eine Flexibilisierung dieser Art nicht nur Flüchtlingen zugutekommen, sondern z. B. auch jungen Langzeitarbeitslosen.«

7.) „Für Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen Regelstrukturen nutzen, informelle Qualifikationen stärker anerkennen“. Auch hier werden Sondermaßnahmen für Flüchtlinge eher skeptisch gesehen. »Vielmehr sollte in diesem Bereich das bewährte Portfolio der Arbeitsmarktpolitik, die in den letzten Jahren grundlegend reformiert wurde, ausgeschöpft werden. Deutschland ist in aktiven wie in passiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen gut aufgestellt.« Das nun ist eine vorsichtig formuliert sehr naive Sichtweise auf das Feld der Arbeitsmarktpolitik und der tatsächlichen Probleme, die wir dort gerade im „Regelbetrieb“ haben. Aber offensichtlich ist das kein Kompetenz-Schwerpunkt dieses Sachverständigenrats.

Und schon sind sie wieder bei einem weiteren Thema:

8.) „Wohnsitzauflage ,in der Stadt‘ und ,auf dem Land‘ nutzen“. Nach Auffassung des Rats verschafft die Wohnsitzauflage mit ihrer Begrenzung auf drei Jahre eine Atempause, die man nutzen sollte, denn »nach Ablauf der zeitlichen Befristung ein noch nicht genauer zu bestimmender Anteil aufmachen und dorthin ziehen, wo Angehörige jetzt bereits wohnen, und das sind meistens die großen Städte des Landes. Wenn in den Wohngebieten und daran gekoppelt auch im gesellschaftlichen Bereich Segregation verhindert werden soll (Stichwort ‚Parallelgesellschaft‘), sollten die Städte – auch aus integrationspolitischen Gründen – rechtzeitig Maßnahmen ergreifen, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.« Da werden sich die besonders betroffenen Großstädte aber sicher für bedanken, für diese wohlfeile Überlegung.

Und zum Schluss:

9.) „Werte zu vermitteln ist wichtig; Werteübernahme erfordert aber gemeinsame Praxis und soziale Teilhabe“. Bei der Reform der Integrationskurse wurde der Orientierungsteil dieser Kurse von 60 auf 100 Stunden aufgestockt. »Der SVR unterstützt dies, warnt aber gleichzeitig davor, die Wirkung auf den ‚Wertehaushalt‘ von Flüchtlingen zu überschätzen, die diese Stundenerhöhung entfalten kann. Ohne Zweifel ist es wichtig, die Werte des Grundgesetzes und die deutsche Rechtsordnung zu vermitteln und dafür nachdrücklich zu werben. Es ist auch legitim zu fordern, dass sie eingehalten werden. Eine echte Übernahme dieser Werte lässt sich aber nicht erzwingen.«
Dann wird noch darauf hingewiesen, dass sich die Aufnahmegesellschaft bemühen muss bei Teilhabe und Integration, dass sich aber auch die Menschen, die zu uns gekommen sind, anstrengen müssen. Das bleibt auf einer sehr allgemeinen Ebene, der man nicht widersprechen kann.

Aus der Welt der Mindestlöhne (und ihrer angeblichen Gefahren, wenn es denn welche gibt)

Der Mindestlohn ist mal wieder Thema in der kritischen Berichterstattung.
Alleinerziehende brauchen oft ergänzende Sozialleistungen, so eine der Schlagzeilen: »Ein Vollzeitjob mit Mindestlohn reicht für viele Arbeitnehmer nicht aus, um Lebenshaltungs- und Wohnkosten zu decken. Dies gilt insbesondere für Alleinerziehende, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Linken hervorgeht.« Beim aktuellen Mindestlohn von 8,84 Euro und 37,7 Stunden Arbeit pro Woche ergibt sich ein Bruttoeinkommen von 1.444 Euro. Unter Berücksichtigung von Steuern, Abgaben, Freibeträgen und Lebenshaltung bleiben einer Alleinerziehenden noch 339 Euro für die Kosten von Wohnung und Heizung. Das reicht in der Regel nicht. Bei 87 Prozent der Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften Alleinerziehender mit einem Kind liegen die von den Behörden anerkannten Wohnkosten höher, wie aus der Antwort der Bundesregierung hervorgeht. Vgl. hierzu Höhe des gesetzlichen Mindestlohns und Umfang der Sonderregelungen und Übergangsvorschriften, Bundestags-Drucksache 18/11918 vom 11.04.2017. Aber das betrifft nicht nur die Alleinerziehenden.

»Selbst für Singles in Vollzeittätigkeit, die nur den Mindestlohn erhalten, ist es mitunter schwierig, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Bei einem Bruttoeinkommen von 1444 Euro bleiben ihnen 368 Euro für das Wohnen und Heizen. Bei 39 Prozent der Bedarfsgemeinschaften Alleinstehender erkennen die Behörden höhere Wohnkosten an. Flächendeckend ist dies in Hessen, Berlin und Hamburg der Fall. Auch in Düsseldorf, im Kreis Neuss, in Bonn, Köln, Münster, Darmstadt, Frankfurt/Main, Wiesbaden und Mainz liegen die Wohnkosten so hoch, dass Vollzeit arbeitende Singles mit Mindestlohn auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen sind.«

Und dann gibt es da ja noch die Minijobs. Eine der wenigen verbliebenen (scheinbaren) Kritikpunkte der vielen Mindestlohngegner gerade aus der Ökonomenzunft bezieht sich auf den (angeblichen) massenhaften Abbau geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse aufgrund der mit dem gesetzlichen Mindestlohn seit dem 1. Januar 2015 einhergehenden Kostenerhöhung.

Hier hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit einmal genauer hingeschaut:

Philipp vom Berge und Enzo Weber (2017): Beschäftigungsanpassung nach Mindestlohneinführung: Minijobs wurden teilweise umgewandelt, aber auch zulasten anderer Stellen. IAB-Kurzbericht 11/2017, Nürnberg 2017

Die Wissenschaftler schreiben zusammenfassend zu ihren Befunden: »Um den Jahreswechsel 2014/2015 ist die Zahl der Minijobs in Deutschland deutlich gefallen. Dieser Rückgang wurde durch verstärkte Umwandlung solcher Jobs in sozial­ versicherungspflichtige Beschäfti­gung teilweise ausgeglichen. Im Vergleich zu den Vorjahren hat sich die Zahl der umgewandelten Minijobs verdoppelt. Dabei fanden Umwandlungen vermehrt bei be­stimmten Personengruppen statt: Frauen, Älteren, Ostdeutschen und Beschäftigten in mittelgroßen Be­trieben. Die im Zuge der Mindestlohneinführung umgewandelten Beschäftigungsverhältnisse waren bislang nicht weniger stabil als solche in der Vergangenheit.«

Apropos Minijobs. Dazu der Beitrag Schon 2016 wieder „business as usual“ bei den Minijobs von Markus Krüsemann, der über den Horizont der IAB-Studie hinausschaut: »Das im ersten Jahr nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns beobachtete deutliche Minus bei den ausschließlich geringfügig Beschäftigten hat offensichtlich keine Trendwende eingeläutet. Schon 2016, im zweiten Jahr mit Lohnuntergrenze war es mit den Rückgängen vorbei. Nach den jetzt vorliegenden Zahlen der Bundesagentur für Arbeit gingen die Zahlen wie schon zur Jahresmitte auch zum Ende des dritten Quartals nur noch kaum merklich zurück … Der Bestand an Beschäftigten, die nur im Minijob arbeiten, hat sich im Jahresverlauf damit kaum verändert. Dies kann als deutliches Zeichen dafür interpretiert werden, dass der 2015 erkennbare Prozess der betriebsinternen Umwandlung von geringfügiger in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung (dies betraf etwa die Hälfte der abgebauten Minijobs) längst abgeschlossen ist.« Und dann kommt ein ganz wichtiger Aspekt: »Von einer Rückkehr zum „business as usual“ kann bei den im Nebenjob geringfügig Beschäftigten erst gar keine Rede sein. Ihre Zahl steigt schon seit Jahren und unbeeindruckt vom Mindestlohn an. Ende September 2016 lag das Plus im Vergleich zum Vorjahresmonat bei 4,4 Prozent. Damit gab es fast 2,76 Millionen Beschäftigte mit einen zusätzlichen Minijob als Nebenjob, womit mal wieder ein neuer Höchststand markiert wurde.«

Aber wir wollen an dieser Stelle die vielen „enttäuschten“ Ökonomen, dass es (bisher) nicht so gekommen ist mit dem vorhergesagten „Jobkiller“ Mindestlohn, nicht alleine stehen lassen. Immer wieder gibt es Versuche, eine angebliche Pathologie des Mindestlohns für Beschäftigung zu belegen. Wie schädlich sind Mindestlöhne? So hat Norbert Häring seinen Artikel im Handelsblatt überschrieben, der – wenn auch mit einem Fragezeichen versehen – den Finger auf die Wunde legt, die von der Mainstream-Ökonomie in Deutschland so gerne diagnostiziert wird (auch wenn der Patient einfach über keine Beschwerden klagt).

»Schaden Mindestlöhne der Beschäftigung im Niedriglohnsektor? Viele Studien legen nahe, dass sogar das Gegenteil der Fall sein könnte. Nun haben Forscher einen neuen Ansatz gewählt – mit Hilfe der Bewertungsplattform Yelp«, berichtet Häring. Hintergrund der neuen Studie sind die Entwicklungen in den USA: »Der kalifornische Gesetzgeber hat jüngst beschlossen, dass der Mindestlohn bis 2022 von derzeit 10 auf 15 Dollar steigen wird. Gut zwei Fünftel der Beschäftigten in dem Staat verdienen nach Medienberichten derzeit weniger als 15 Dollar die Stunde. Eine Reihe von Städten, darunter San Francisco, hat den heftig umstrittenen Mindestlohn von 15 Dollar schon vorher beschlossen.«

Vor diesem Hintergrund fällt eine Studie aus der Elite-Uni Harvard, derzufolge höhere Mindestlöhne zu deutlich mehr Restaurantschließungen führen, den Mindestlohnkritikern wie ein Geschenk des Himmels vor die Füße. Da wird dann auch sofort von einer „Schock-Studie aus Harvard“ gesprochen (so beispielsweise Tyler Durden: Harvard ‚Shock‘ Study: Each $1 Minimum Wage Hike Causes 4-10% Increase In Restaurant Failures). Die (noch) Trump-nahe Nachrichten-Website Breitbart fand ihren ganz eigenen Zugang: „Mindestlohnerhöhungen drängen Nicht-Eliten-Restaurants aus dem Geschäft“ titelte man dort (vgl. dazu auch Härings Blog-Beitrag Breitbart und Zero-Hedge begeistern sich für windige Harvard-Studie gegen den kalifornischen Mindestlohn von 15 Dollar).

Um was für eine Studie geht es hier eigentlich?

Urheber der Aufregung ist das amerikanische Ökonomenehepaar Dara Lee Luca und Michael Luca. Dara Lee arbeitet für das Institut Mathematica Policy Research, Michael lehrt an der Harvard Business School. Beide sind auf datengetriebene Politikanalyse spezialisiert. Für ihre Mindestlohnstudie kooperierten sie mit der Bewertungsplattform Yelp, berichtet Norbert Häring.

Um ihren Ansatz zu verstehen, muss man wissen, dass die US-amerikanische Debatte über Mindestlöhne stark beeinflusst wurde von David Card und Alan B. Krueger und ihren Studien sowie den Anleihen, die bei ihnen gemacht wurden:

»1994 und 2000 veröffentlichten sie Studien zur Beschäftigungsentwicklung in Fast-Food-Restaurants der benachbarten Bundesstaaten Pennsylvania und New Jersey, nachdem in New Jersey der Mindestlohn erhöht worden war. 2010 folgte eine Studie von Dube, Lester und Reich, die den gleichen Ansatz auf viele Paare von benachbarten Kreisen in verschiedenen Bundesstaaten anwandte. In allen Studien war das Ergebnis, dass ein höherer Mindestlohn nicht zu Beschäftigungsverlusten, sondern eher zu Beschäftigungsgewinnen in dieser Niedriglohnbranche führt.«

Das Ökonomenpaar Luca hat mit Blick auf die beweisführende Branche der Fast-Food-Restaurants einen anderen Ansatz gewählt. Hier ist ihr Papier im Original:

Dara Lee und Luca Michael Luca (2017): Survival of the Fittest: The Impact of the Minimum Wage on Firm Exit. Working Paper 17-088, Harvard University, 2017

Sie haben sich auf der Plattform Yelp die Bewertungen, Zugänge und Abgänge von Restaurants in der Region San Francisco angeschaut. Häring zur Methode der beiden: »Dort haben verschiedene Städte unterschiedlich hohe Mindestlöhne eingeführt. Die beiden untersuchten, ob ein höherer Mindestlohn die Wahrscheinlichkeit verändert, dass ein Restaurant schließt.«
Zu den Ergebnissen der beiden schreibt Häring:

„Die Daten deuten darauf hin, dass höhere Mindestlöhne die Marktaustrittsrate von Restaurants erhöht“, schreiben die beiden. Das treffe vor allem Restaurants mit schlechten Bewertungen, die ohnehin existenzbedroht seien. Für ein Restaurant mit mittlerer Bewertung ermitteln sie eine um 14 Prozent erhöhte Wahrscheinlichkeit des Marktaustritts, wenn der Mindestlohn um einen Dollar pro Stunde steigt. Für Restaurants in der höchsten Bewertungskategoire (5 Sterne) ist kein Einfluss festzustellen.

Also müssen wir uns doch Sorgen machen? Sind die Arbeiten von Card und Kruger widerlegt? Häring trägt die Zweifel an der neuen Studie zusammen:

  • »Zur statistischen Absicherung gibt es im Studientext die Einräumung, dass das Hauptergebnis „nur in bestimmten Spezifikationen“ statistisch signifikant sei.« Bei so einer Formulierung sollte man hellhörig werden und vorsichtig bei der Übernahme der Befunde sein. Man kann das als Hinweis lesen, dass ziemlich viel mit den Daten herumprobiert wurde, bis brauchbare Ergebnisse im Sinne der Autoren herauskamen. Ein Blick in die Studie legt nahe, dass es genau so ist: »Nur ein Ergebnis bezeichnen die Autoren selbst als „robust“, dass nämlich eine Mindestlohnerhöhung schlecht bewerteten Restaurants mehr Probleme macht als gut bewerteten. Was den Gesamteffekt auf die Marktaustrittswahrscheinlichkeit angeht, sprechen sie dagegen nur von „suggestiver Evidenz“. Das ist die unterste Kategorie der Verlässlichkeit.«
  • Und dann gibt es einen weiteren, methodisch schwerwiegenden Einwand gegen die angebliche „Schock-Studie“ aus Harvard. Häring formuliert den so: »Bleibt die Frage, ob die Zahl der Restaurants und Arbeitsplätze insgesamt sinkt, oder ob die frei werdenden Lokalitäten durch neue, bessere Restaurants ersetzt werden, oder schon bestehende  Restaurants mehr Leute einstellen. Diese Frage kann die Studie nicht beantworten, weil die Anzahl der Beschäftigten in den Yelp-Daten nicht enthalten ist. Der wichtigste Faktor, der in der Theorie zu steigender oder stagnierender Beschäftigung durch höhere Mindestlöhne führen kann, wird also nicht geprüft.«

Das süffisante Fazit von Norbert Häring: »Die ausgehfreudigen Kalifornier müssen nicht befürchten, ihr notorisch gesundes und fades Essen künftig selbst zubereiten zu müssen.«

Auftauchende und ertrunkene Flüchtlinge, die Türkei und was Gabriele Del Grande damit zu tun hat. Ein leider notwendiger Rückblick

Seit mehreren Jahren gibt es diesen Blog. Und nicht selten wurde hier schon frühzeitig auf Themen (und Personen) hingewiesen, die zu einem späteren Zeitpunkt dann die öffentliche Diskussion beherrscht haben. Zugleich – auch das wurde und wird hier regelmäßig kritisiert – sind die meisten öffentlichen Debatten mit einem immer schnelleren Verfallsdatum versehen, sie tauchen empor, besetzen die Berichterstattung und die Talk-Shows nicht selten monothematisch in einem bestimmten Zeitraum, bis ihnen dann die Luft ausgeht und sie von der nächsten Aufmerksamkeits- und (scheinbaren) Quotensau, die durchs mediale Dorf getrieben wird, abgelöst werden. Nehmen wir als Beispiel „die Flüchtlinge“. Wenn wir uns an den Herbst und Winter 2015 und die erste Zeit im Jahr 2016 erinnern, dann haben wir alle die unzähligen Bilder und Töne vor Augen und im Ohr, die nur noch dieses Thema behandelt haben, so dass man den Eindruck bekommen konnte, es gibt nur noch Flüchtlinge. Selbst der (bisherige) Aufstieg einer Partei wie der AfD kann und muss mit dieser Phase assoziiert werden, sie wäre nicht möglich gewesen ohne die Entscheidung der Bundeskanzlerin in 2015, die Grenzen zu öffnen. Auch wenn es im Herbst 2015 vor allem um Flüchtlinge ging, die über die „Balkan-Route“ gekommen sind, schon Jahre vorher gab es die Route, die heute nach dem fragilen Pakt mit der Türkei und der Abschottung der südosteuropäischen Länder wieder im Mittelpunkt der Fluchtbewegungen steht – das Mittelmeer.

Und schon lange, bevor das Thema Flüchtlinge hier in Deutschland in größerem Umfang wahrgenommen und diskutiert wurde, gab es Versuche vor allem einzelner Akteure, auf das hinzuweisen, was damals schon tagtäglich in der Urlaubsbadewanne der Europäer passiert ist – der Tod vieler unbekannter Menschen, die elendig ertrunken sind bei ihrem Versuch, die Festung Europa auf dem Wasserweg zu erreichen.

Bereits am 29. Oktober 2012 wurde auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ dieser Beitrag veröffentlicht, in dem auch der italienische Journalist Gabriele Del Grande auftaucht:

»Was sind wir beschäftigt mit den kleinen und großen sozialpolitischen Problemen in unserem Land, die für viele Menschen schon schwer genug zu bearbeiten oder ertragen sind. Wir debattieren verständlicherweise über die Zukunft der Rente (oder was davon noch mal bleiben wird), über die Pflege und ihre angebliche Unbezahlbarkeit, über fehlende Kita-Plätze und ab und an auch über arbeitslose Menschen. Ganz selten – beispielsweise wenn das Bundesverfassungsgericht der Politik mal wieder grundsätzliche Anmerkungen ins Stammbuch schreibt – taucht dann auch das Schattenreich der Flüchtlinge, der Asylbewerber, noch seltener der „Papierlosen“, die als Illegale in unserem Land leben, auf. Das war vor kurzem so, als die deutlich niedrigeren Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes im Vergleich zur „normalen“ Grundsicherung für verfassungswidrig erklärt worden sind. Und auch aktuell schiebt sich das Thema wieder an die Oberfläche der tagesaktuellen Berichterstattung, allerdings nicht selten eher mit seiner hässlichen Fratze, also einem lauten Alarmismus angesichts einer steigenden Zahl von Asylbewerbern vor allem aus den bitterarmen Balkanstaaten, hierbei vor allem von Roma und Sinti, die sich zu den anderen Armutsflüchtlingen in unserem Land gesellen und den Bundesinnenminister sofort in eine Abwehrhaltung versetzen. Aber dieses Thema und Problem soll hier gar nicht ausgebreitet werden.

Es gibt noch eine andere, eine noch dunklere Seite des Themas – nämlich die unzähligen Fälle einer gescheiterten Flucht hinter die Mauern der Wohlfühl-Festung Europa. Vieles liegt hier naturgemäß im Nicht-Erfahrbaren verborgen, kein Statistik-Amt zählt die menschlichen Tragödien, die sich hier tagtäglich abspielen. Zuweilen dringen kurze, verstörende Informationsbröckchen von den Rändern der Festung Europa, da, wo es im wahrsten Sinne um Leben und Tod geht. Wer von uns erinnert sich nicht an die erschütternden Bilder von afrikanischen Flüchtlingen auf Booten, deren Bezeichnung als „Seelenverkäufer“ noch zu euphemistisch wäre. Und einige wenige Nachrichten erreichen uns aus einem Land wie Griechenland, selbst am Abgrund des Staatsversagens und der Auflösung basaler Versorgungsstrukturen stehend, die dann auch noch mit Flüchtlingsströmen konfrontiert werden, die über die Türkei oder das offene Meer bei ihnen anlanden.

Aber es gibt auch Menschen, die haben in all dem Elend das Zählen nicht aufgegeben, die mit kaum verständlicher Akribie die Zahl der Gescheiterten festzuhalten versuchen und die uns konfrontieren mit einem Blick in die Hölle auf Erden.

Gabriele del Grande, ein italienischer Journalist, Blogger, Schriftsteller und Menschenrechtler, ist ein solcher Mensch. Er gehört zu den führenden Menschenrechtlern im Bereich illegal eingewanderter Menschen in Italien und Europa.

2006 gründete er mit dem Blog Fortress Europe ein Forum, dass sich mit der Problematik illegal eingewanderter Menschen beschäftigt und in dieser Form einzigartig in Europa ist. Gabriele del Grande führt eine „Liste tödlicher Asylpolitik“, in der er versucht, die Menschen zu zählen, die beim Versuch, die Festung Europa zu erreichen, zu Tode gekommen sind – zumeist elendig ertrunken im Urlauberparadies Mittelmeer.

Am Wochenende musste er neue Opfer eintragen: Beim Versuch, die Küste Spaniens zuerreichen, ertranken seit Donnerstag mindestens 16 Menschen. Und dann wird man an den Rand des Abgrunds geführt, wenn man einen Blick auf seine akribisch geführte Liste wirft: Mindestens 18.567 Menschen sind seit 1988 beim Versuch zu Tode gekommen, die EU-Außengrenzen zu überwinden.

Ich muss gestehen, abseits der sporadischen Bildfetzen, die einem von den Vorposten der Europäischen Union erreichen, war mir diese Dimension nicht bekannt.

Thomas Fix hat in einem kürzlich erschienenen Artikel im „Freitag“ diesen überschrieben mit Gabriele del Grande- Held der Namenlosen. Es gibt verdammt viele Namenlose, die an unsere Türen klopfen. Das alles macht einen nachdenklich und es lässt einen auch ratlos zurück. Aber es ist wichtig, solche Stimmen hörbar werden zu lassen. Das hier war ein ganz kleiner, erster Versuch. Weitere werden folgen.«

Diese damals so einsame und wichtige Arbeit des Bloggers wurde dann erneut aufgerufen in einem weiteren Beitrag auf der Facebook-Seite  am 15. Juli 2013, als es darum ging, dass FPapst ranziskus auf der italienischen Insel Lampedusa – dem Außenposten der Wohlstandsinsel Europa – die Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von Migranten angeprangert hat.

Und mehr als ein Jahr später wurde in diesem Blog in dem Beitrag „Todesurteil für viele Flüchtlinge“. Mare Nostrum hat 150.000 Menschen im Mittelmeer gerettet, jetzt kommt Triton erneut auf die Arbeit von Gabriele del Grande hingewiesen.

In der Zwischenzeit ist viel passiert. Und nun taucht Gabriele Del Grande erneut auf in den Medien. Aber nicht  für seine Todesliste der im Mittelmeer Ertrunkenen. Sondern im Kontext eines anderen Friedhofs der Welt, dem Schlachthaus Syrien – und den Ereignissen in der Türkei, wo Erdogan ganz offensichtlich die Transformation der Reste des demokratischen Systems am Bosporus hin zu einem islamistischen System vorantreibt.

Italienischer Journalist Del Grande verhaftet, so die Überschrift eines Artikels von Hartmut Burggrabe am 19. April 2017: »Der italienische Journalist Gabriele Del Grande wurde am 9. April in der Türkei festgenommen. Offenbar verweigern ihm die Behörden bislang jeden rechtlichen Beistand.« Aus dem Artikel kann man weiter entnehmen:

»Gabriele Del Grande hielt sich offenbar zu Recherchen für sein aktuelles Projekt zum Krieg in Syrien in der türkischen Grenzregion auf, das wie schon frühere Projekte des Journalisten und Aktivisten über Crowdfunding finanziert wird. Neben dem vielbeachteten und preisgekrönten Dokumentarfilm „An der Seite der Braut“ von 2014, der eine Gruppe Geflüchteter auf ihrem Weg von Italien durch Europa bis nach Schweden begleitet, hat sich Gabriele Del Grande über Italien hinaus durch diverse Buchveröffentlichungen (auf deutsch u.a. „Mamadous Fahrt in den Tod. Die Tragödie der irregulären Migranten im Mittelmeer“, 2011) und besonders durch seinen Blog Fortress Europe einen Namen gemacht, auf dem er mit einem Team über Jahre hinweg die Fluchtbewegungen und die Zahlen der im Mittelmeer Umgekommenen recherchierte und zusammentrug.«

»Als er Flüchtlinge an der türkisch-syrischen Grenze interviewen wollte, wurde er von der türkischen Polizei verhaftet. Seitdem wird er festgehalten – ohne offizielle Anklage«, so Spiegel Online unter der Überschrift Italien fordert Freiheit für Gabriele Del Grande. Auch die Organisation Pro Asyl hat sich zu Wort gemeldet: Freiheit für Gabriele del Grande!

»PRO ASYL arbeitet seit vielen Jahren mit Gabriele del Grande zusammen. Sein Blog »Fortress Europe« ist zu einer der wichtigsten Dokumentationsstellen gegen die europäische Abschottung geworden. 2010 hat Stiftung PRO ASYL ihm ihren Menschenrechtspreis verliehen und damit seine jahrelange Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen an Europas Grenzen gewürdigt.«

Man kann nur hoffen, dass diese Geschichte gut ausgeht für den Betroffenen – wir dürfen nicht vergessen, wie viele andere Journalisten derzeit in den türkischen Verliesen verschwunden sind.

Und ein besonderer Zynismus der Geschichte ist darin zu sehen, dass Gabriele Del Grande vor vielen Jahren auf die namenlosen Flüchtlinge aus Afrika, die im Mittelmeer ihr Leben verloren haben, aufmerksam gemacht hat – und jetzt in einem türkischen Knast einsitzt, in einem Land, aus dem viele Menschen gerade nach Europa fliehen und hier bei uns Asyl beantragen. Ich hoffe sehr, dass das Thema Flüchtlinge den engagierten Mann am Ende nicht selbst verschlingt.

Die „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ werden still beerdigt und in den klammen Jobcentern ein wenig materialisiert. Und auch sonst hakt es vorne und hinten

Für einen kritischen Beobachter der Sozialpolitik ist es wirklich kein Grund zur Freude, wenn sich die eigenen, frühzeitig vorgetragenen Bedenken gegen eine Maßnahme am Ende bestätigen. Viel Zeit, Kraft und auch Geld ist ins Land gegangen, nur um festzustellen, dass etwas eingetreten ist, vor dem man schon vor Monaten aus sachlichen Gründen gewarnt hat. Und besonders ärgerlich ist die Tatsache, dass die dafür Verantwortlichen letztendlich nie zur Rechenschaft gezogen werden, auch und gerade wenn sie es hätten besser wissen können und müssen.

Nehmen wir als Beispiel die „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“. Bereits am 13. Februar 2016 wurde hier dieser Beitrag gepostet: Die Bundesarbeitsministerin fordert „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge. Aber welche? Und warum eigentlich sie? Fragen, die man stellen sollte. In dem Beitrag wurde aus einem Interview mit der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) zitiert, in dem sie ausgeführt hat: »Ich möchte zum Beispiel 100.000 Arbeitsgelegenheiten für Flüchtlinge schaffen. Bisher sitzen die Menschen manchmal zwölf Monate herum, ohne etwas tun zu können. Das löst auf allen Seiten Spannungen aus. Wir müssen so früh wie möglich ansetzen, das kann ich aber nur mit Unterstützung des Finanzministers. Es geht hier um 450 Millionen Euro zusätzlich im Jahr.« Das hört sich doch erst einmal nach einer guten Sache an. Wie so oft aber war bereits damals erkennbar, dass gut gemeint nicht selten schlecht gemacht bedeutet.

Auch wenn einem das nicht gefällt, es wurde bereits damals auf die in Deutschland so leidige und wichtige Zuständigkeitsfrage hingewiesen: Denn für die Flüchtlinge am Anfang ist das SGB II, also das Hartz IV-System und mit ihm die Jobcenter, gar nicht relevant. Die Flüchtlinge schlagen erst dann im Hartz IV-System auf, wenn sie als Asylberechtigte anerkannt sind. Am Anfang sind bzw. wären sie theoretisch Asylbewerber – theoretisch deshalb, weil viele von ihnen  Monate warten müssen, bis sie überhaupt einen Asylantrag stellen können beim BAMF, bis dahin sind sie noch nicht einmal Asylbewerber. Da gilt dann aber das Asylbewerberleistungsgesetz. Und für die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge beispielsweise in den Erstaufnahmestellen und vor Ort in den Unterkünften sind die Bundesländer und Kommunen zuständig, wobei der Bund an der Finanzierung beteiligt ist. Wer ist also für die laut Nahles bedauernswerten herumsitzenden Flüchtlinge zuständig? Auf alle Fälle nicht die Jobcenter (mit ihren Arbeitsgelegenheiten, die umgangssprachlich, aber inhaltlich falsch als „Ein-Euro-Jobs“ bezeichnet werden), sondern es sind die Kommunen. Aber die konnten schon damals, wenn sie es denn wollten, auf das Instrument der Arbeitsgelegenheit zurückgreifen. Nur nicht nach SGB II, sondern nach § 5 AsylbLG.

Die einfachste Antwort damals wäre gewesen, die Kommunen für ihre Klientel zu ermuntern, das Instrumentarium der Arbeitsgelegenheiten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz frühzeitig und innovativ (was durchaus einige Kommunen schon seit Jahren versucht haben) zu nutzen und ihnen dafür seitens des Bundes die erforderlichen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen – zudem muss man wissen, dass die Arbeitsgelegenheiten nach § 5 AsylblG förderrechtlich weitaus weniger restriktiv ausgestaltet sind als die „klassischen“ Ein-Euro-Jobs nach § 16 d SGB II.

Aber da hat der gesunde Menschenverstand nicht mit dem Institutionenwirrwarr gerechnet, das einem in diesem Land immer wieder auf die Füße fällt.

Bereits am 23. März 2016 musste dann dieser Beitrag gepostet werden: Die Bundesarbeitsministerin macht es schon wieder: „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge ankündigen, die noch nicht im Hartz IV-System sind. Was soll das? Damals konnte berichtet werden, das 300 Mio. Euro für das Jahr 2017 für diese Arbeitsgelegenheiten vorgesehen seien, mit denen Flüchtlinge auf den Arbeitsmarkt vorbereitet werden sollen. Aber wieder musste der Finger auf die föderale Wunde gelegt werden: »Wenn Frau Nahles erneut „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge in Aussicht stellt, die aber noch nicht in den Zuständigkeitsbereich „ihrer“ Jobcenter fallen, dann müssen das die Kommunen machen, was die – wie aufgezeigt – auch können (sogar mit mehr Spielräumen als bislang die Jobcenter), aber dann muss die Geldsumme, mit der sie heute hausieren geht, auch bei den Kommunen, die das machen, ankommen.«

Natürlich wusste man a) auch im Bundesarbeitsministerium (BMAS) von dieser Problematik und b) geht die Bundesagentur für Arbeit in Berlin ein und aus und die hat seit geraumer Zeit ein Interesse, neue Zuständigkeitsfelder zu erschließen, gehen ihr doch im Arbeitslosenversicherungssystem (SGB III) zunehmend die Kunden aus, während sich die große Zahl der von Erwerbslosigkeit betroffenen Menschen (und auch die Flüchtlinge nach ihrer Anerkennung) im Hartz IV-System tummeln. Also ist man auf eine „Lösung“ gekommen, die das ganze Unterfangen noch abenteuerlicher macht. Darüber wurde am 12. Juni 2016 unter dieser Überschrift berichtet: „Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“ zwischen Asylbewerberleistungsgesetz und SGB II. Eine dritte Dimension der „Ein-Euro-Jobs“ und die dann auch noch 20 Cent günstiger? Denn zwischenzeitlich hatte die Bundesregierung ein „Integrationsgesetz“ auf den Weg gebracht und das BMAS hatte sich da so verewigt: »Zusätzliche 100.000 Arbeitsgelegenheiten für Berechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ermöglichen erste Einblicke in den deutschen Arbeitsmarkt.«

In dem Beitrag wurde das grundlegende Problem der neuen, geplanten 100.000 „Bundes-AGH-Teilnehmer“ herausgearbeitet. Die neuen Maßnahmen sollen

a) für eine Klientel geplant werden, die es eigentlich nicht oder zumindest immer weniger geben wird und
b) dass mit der Durchführung nicht die Kommunen bzw. die Jobcenter (also die zuständigen Institutionen für die heute schon bestehenden AGHs) beauftragt werden sollen, sondern die Bundesagentur für Arbeit (BA) soll das machen.

Und damit nicht genug. Für diese „dritte Dimension“ der Arbeitgelegenheiten (neben denen des AsylblG und des SGB II) wurde ein eigner, positiv klingender Name kreiert („Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen (FIM)“) und ein eigenes Preisschild entworfen, denn den asylsuchenden Teilnehmern soll bei diesen Maßnahmen künftig nur noch 80 Cent pro Arbeitsstunde gewährt werden. Schon damals war die Bewertung meinerseits nicht wirklich angenehm für die Arbeit der Bundesregierung: »Man muss sich den Wahnsinn einmal ausmalen: Wir bekommen dann drei Arten von Arbeitsgelegenheiten (AGH nach AsylbLG, AGH nach SGB II und neu die AGH nach Bundesprogramm), drei zuständige Institutionen (kommunale Sozialämter, Jobcenter und neu die Arbeitsagenturen).«

Ein Merkmal dieses Blogs ist es, dass man die jeweils aktuellen Säue, die durchs Dorf getrieben werden, auch hin und wieder dahingehend befragt, was denn mit ihnen passiert ist. Folglich wurde am 23. Dezember 2016 dieser Beitrag hier publiziert: „80-Cent-Jobs“ für Flüchtlinge – billiger geht’s nun wirklich nicht. Und dennoch: Sie werden kaum genutzt. Die Länder und Kommunen nehmen das Angebot kaum in Anspruch. Erst 12.000 Plätze sind beantragt. Zwei Bundesländer haben gar kein Interesse. Noch mal zur Erinnerung: 100.000 solcher Arbeitsgelegenheiten wurden in Aussicht gestellt. Und beantragte Plätze sind nicht gleich auch besetzte Plätze. Auch wenn die Länder Plätze beantragt haben, geht deren Besetzung nur schleppend voran, so schon der damalige Erkenntnisstand. Und der kam eben nicht überraschend, wenn man sich einfach mal klar macht: Die Zielgruppe der Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen mit einer maximalen Dauer von sechs Monaten sind Volljährige mit guter Bleibeperspektive, über deren Asylantrag noch nicht entschieden ist. Die FIM sind also „Warte-Ein-Euro-Jobs“ für die Zeit zwischen Antrag und endgültigem Bescheid und damit für einen Zeitraum, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BMAF) immer mehr verkürzen soll und will.

Und der vorläufig letzte Todesstoß hinsichtlich der FIM wurde zumindest in diesem Blog am 3. Februar 2017 mit diesem Beitrag geleistet: Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen: „Erkenntnisse liegen der Bundesregierung nicht vor“. Doch, die gibt es – und sie bestätigen die Skepsis gegenüber den „Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“. Die FIM sind ein totaler Reinfall. Was zu erwarten war.

Mittlerweile hat sich das auch in Berlin herumgesprochen – und man hat gehandelt. In einem dem Verfasser vorliegenden Schreiben vom 30. März 2017 wendet sich der Staatssekretär im BMAS, Thorben Albrecht, an seine Länderkollegen unter der unverfänglichen Überschrift „Arbeitsmarktprogramm Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“. Darin wird den „sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen“ folgendes mitgeteilt – und der eine oder andere Leser, der bis hierhin durchgehalten hat, wird nicht verwundert sein:

»… gerade Flüchtlinge mit einer guten Bleibeperspektive, die die Hauptzielgruppe der Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen darstellen, wechseln durch zügigere Asylverfahren schneller in die Grundsicherung für Arbeitsuchende. Deshalb hat sich die Bundesregierung … unter anderem darauf verständigt, dass ab dem Jahr 2018 das Gesamtbudget in der Grundsicherung aus Mitteln für das Arbeitsmarktprogramm „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ verstärkt werden können soll … Auf dieser Grundlage habe ich … entschieden, ab dem Jahr 2018 240 Mio. Euro aus den Mitteln für das Arbeitsmarktprogramm „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ zur Verstärkung des Verwaltungskostenbudgets zur Durchführung des SGB II einzusetzen.«

Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Die FIM werden still beerdigt und die Mittel, die man eigentlich für dieses Programm eingeplant hatte, werden nun den Jobcentern teilweise zugewiesen. Aber nicht, wie vielleicht der eine oder andere jetzt naiv annehmen möchte, für andere Fördermaßnahmen, sondern für die Verwaltungsausgaben der Jobcenter, die bekanntlich seit Jahren ein unterausgestattetes Verwaltungskostenbudget haben und sich in einem von Jahr zu Jahr steigenden Umfang – aufgrund der gegenseitigen Deckungsfähigkeit auch rechtlich möglich – aus dem Eingliederungstopf für die Hartz IV-Empfänger bedienen, mithin also Gelder, die für die Förderung der Arbeitslosen gedacht sind, umschichten, um damit Miete und Personalkosten zu finanzieren (vgl. zu dieser besonderen Problematik meinen Beitrag Jobcenter: Die Notschlachtung eines Sparschweins für das Auffüllen eines anderen? Wieder ein skandalöser Rekord bei den Umschichtungen von Fördermitteln hin zu den Verwaltungsausgaben vom 27. Februar 2017).

Aber der Irrsinn kann noch gesteigert werden, denn landauf landab wird man mit solchen Meldungen konfrontiert: Mittel gekürzt: Jobcenter muss knausern: »Völlig überraschend hat Berlin dem Jobcenter Hannover Finanzmittel für Eingliederungsmaßnahmen gestrichen. 7,5 Millionen Euro fehlen. Der Sparkurs trifft Alleinerziehende, Jugendliche und Flüchtlinge.«

»Begründet wurde der Rotstiftkurs mit vermutlich geringerem Aufwand für die Integration von Flüchtlingen. Die Zahl der Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten, die eine neue Heimat in Deutschland suchen, sei natürlich gesunken, sagt Sozialdezernent Erwin Jordan als Vorsitzender der Trägerversammlung. Den Effekt aber bekomme das Jobcenter mit Verspätung zu spüren: „Wir haben 100 bis 150 Neuzugänge von Flüchtlinge pro Woche.“

Jobcenter-Chef Michael Stier musste das Arbeits- und Integrationsprogramm 2017 deutlich abspecken. Er hatte für Verwaltungskosten 84,6 Millionen und für Eingliederungsmaßnahmen 77,2 Millionen Euro erwartet. „Das hätte für notwendige Unterstützung ausgereicht“, sagt er. „Jetzt können wir zum ersten Mal nicht alles realisieren, was wir für erforderlich halten.“

Die Zahl der Maßnahmen für Langzeitarbeitslose, aber auch Jugendliche und Flüchtlinge wird von 22 000 auf 16 600 sinken – also fast um ein Viertel abnehmen. Kurse finden in Folge mit weniger Teilnehmern statt, werden auf später verschoben oder ganz gestrichen. Das trifft auch die Bildungsträger, die mit dem Jobcenter arbeiten. Quasi als Kettenreaktion dürften auch bei ihnen Jobs gefährdet sein.«

Und das vor dem Hintergrund der bereits seit längerem praktizierten und schon angesprochenen Mittelumschichtungen aus den zugewiesenen Mitteln für Fördermaßnahmen. Am Beispiel des Jobcenter Hannover: »Die Einrichtung in Hannover, die 1700 Mitarbeiter habe …  müsse aber immer Mittel umschichten, weil die Zuweisung für Personalkosten seit 2012 trotz Tariferhöhungen unverändert blieben. 200 Mitarbeiter hätten noch befristete Verträge, für ihn ein Unding.«

Und nicht das der eine oder andere denkt, jetzt ist aber Schluss. Thomas Öchsner hat sich thematisch hier leider mehr als passend mit diesem Artikel zu Wort gemeldet: Bürokratisches Gewirr: »Die neuen Kombikurse für Flüchtlinge, bei denen Deutschkurse und die Berufsvorbereitung kombiniert wurden, laufen nur schleppend an. Dabei sollte es eigentlich ganz schnell gehen. Die Rechnung wurde ohne die deutsche Bürokratie gemacht.« Wieder werden wir mit einer guten Absicht konfrontiert: Im August 2016 wurde ein Programm mit dem Titel „KompAS“ ( Kompetenzfeststellung, frühzeitige Aktivierung und Spracherwerb) gestartet. Es soll helfen, anerkannte Geflüchtete und Asylbewerber mit guter Bleibeperspektive schneller in eine Ausbildung oder eine Arbeit zu bringen. Es geht also um Kurse, bei denen Deutschkurse und die Berufsvorbereitung kombiniert werden (sollen).

»So prognostizierte das Bundesarbeitsministerium im Juli in bestem Amtsdeutsch: „Bis Jahresende wird mit ca. 40 000 Maßnahmeeintritten gerechnet.“ Gut 40 000 Plätze sollten also bis Ende Dezember 2016 besetzt sein.«

Tatsächlich aber waren es nur gut 10.000. Dass diese Zahlen überhaupt ans Licht der Öffentlichkeit gekommen sind, liegt an einer Anfrage der grünen Bundestagsabgeordneten Brigitte Pothmer. Und die führt das ernüchternde Ergebnis auf „zersplitterte Zuständigkeiten und bürokratische Abstimmungsprozesse“ zurück. Wir werden nicht nur mit dem institutionellen Wirrnissen unseres „Systems“ konfrontiert, sondern auch mit den Untiefen einer kafkaesk daherkommenden Förderlandschaft:

»Zuständig für die Kombikurse sind das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und die Nürnberger BA, das BAMF für die Integrationskurse, die Bundesagentur für Bewerbungstrainings oder Berufsvorbereitungskurse. Das löse laut Pothmer aber ein „Wirrwarr“ aus: So müssten die Bildungsträger die jeweiligen Kursanteile getrennt abrechnen. Bei den Unterrichtsräumen und der Qualifikation des Lehrpersonals gebe es unterschiedliche Normen. „Auch die Kursteilnehmer leiden unter den unterschiedlichen Vorschriften, etwa bei der Erstattung der Fahrkosten“, sagt die Grünen-Abgeordnete. Das sehen beteiligte Akteure genauso: Der zuständige Dezernent einer großen deutschen Stadt spricht in einer internen Mail von einem geringen Interesse der Bildungsträger wegen der „Regelungsdichte“. Auch weist er darauf hin, dass sich erst im Nachhinein herausstelle, dass viele Teilnehmer Analphabeten seien, die dann an den Kombikursen nicht mehr teilnehmen dürften. Viele Träger seien nach Aussagen der Jobcenter nicht bereit, mit anderen Anbietern zu kooperieren und sich gemeinsam für die Umsetzung der Kurse zu bewerben. Es fehle Lehrpersonal. Außerdem seien die Kombikurse für die Bildungsträger wegen der kurzen Laufzeiten finanziell nicht attraktiv.«

Und die Schlussfolgerung von Brigitte Pothmer? „Die Bundesregierung hätte von Anfang an die Zuständigkeit für die Kombikurse in eine Hand legen müssen. Jetzt droht der gute Ansatz der frühzeitigen Kombination von Spracherwerb und Qualifizierung zwischen den Ressort-Egoismen zerrieben zu werden.“

Irgendwie kommt einem das mehr als bekannt vor. Quod erat demonstrandum.