Selbstverständlichkeiten, die erodieren: Die häusliche Pflege

Immer noch werden weit mehr als eine Million pflegebedürftige Menschen alleine zu Hause gepflegt –  von den Angehörigen und hierbei ganz überwiegend von den Frauen. Von den Ehefrauen, Lebenspartnerinnen, Töchtern, Schwiegertöchtern. Würden diese Frauen oder nur ein erklecklicher Teil von ihnen ihre Pflege- und Sorgearbeit einstellen, binnen Stunden würde das deutsche Pflegesystem kollabieren. Nun gibt es seit langem Hinweise darauf, dass das, was Soziologen etwas verquast „gesellschaftlichen Werte- und Strukturwandel“ nennen, auch Auswirkungen hat und haben wird auf die Pflegebereitschaft der Angehörigen.

Zum einen fordert die zunehmende Mobilität und die damit oftmals verbundene räumliche Entfremdung ihren Tribut, dann kann man gar nicht pflegen, auch wenn man wollte. Zum anderen sinkt aus unterschiedlichen Gründen auch die Bereitschaft, beispielsweise die eigene Berufstätigkeit zu unterbrechen oder gar ganz aufzugeben.

Der Beitrag „Ist häusliche Pflege noch zu retten?“ liefert einige Zahlen zu diesem sensiblen Thema. Die Daten kommen von der Deutschen Rentenversicherung, den der Staat unterstützt unter bestimmten Bedingungen die Pflege der Angehörigen durch eine Berücksichtigung bei der Rente der Pflegepersonen. Wieder einmal liegt die notwendige Betonung auf „unter bestimmten Bedingungen“, wobei das im vorliegenden Fall überschaubar daherkommt: Für die psychisch und körperlich sehr belastende Tätigkeit bekommen die „Pflegepersonen“ Pluspunkte in der Rentenversicherung gutgeschrieben. Einzige Voraussetzungen: Die Pflege nimmt mindestens 14 Stunden pro Woche in Anspruch, und die Pflegeperson übt neben der Pflege höchstens noch 30 Stunden wöchentlich eine andere Erwerbstätigkeit aus. Sie darf selbst noch keine Altersrente beziehen.

Die Daten der Rentenversicherung sollten uns nachdenklich stimmen:

»Aktuellen Angaben der Rentenversicherer zufolge sank die Zahl der Pflegenden, die sich mindestens 14 Stunden wöchentlich um pflegebedürftige Angehörige, Freunde oder Nachbarn kümmern, zwischen 1999 und 2011 von knapp 512.000 auf nur noch 385.000 – ein Rückgang um fast 25 Prozent. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass vor allem gut gebildete Beschäftigte besonders häufig einen Bogen um die psychisch und physisch sehr belastende Arbeit als Pflegeperson machen.«

Die Zahl der häuslich Pflegenden, deren spätere Rente sich aufgrund ihrer Pflege erhöht, sinkt seit Ende der 90er-Jahre kontinuierlich. Ein wesentlicher Grund dafür dürften nach Einschätzung von Experten neben der zunehmend geforderten beruflichen Mobilität der potenziell Pflegenden die relativ geringen Rentenansprüche sein, die aus der Pflege erwachsen.
Den letzten Punkt muss man einmal besonders herausstellen:

»So steigert ein Jahr Pflege eines Angehörigen, der vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen in Pflegestufe II eingruppiert wurde und mindestens 21 Stunden Pflege pro Woche benötigt, die Rente derzeit um monatlich gerade einmal 14,25 Euro in den alten und 12,94 Euro in den neuen Ländern.
In der Praxis steigert die aufopferungsvolle Arbeit für die Angehörigen die Rente sogar nur um die Hälfte. Denn mehr als 62 Prozent der häuslich Gepflegten in der sozialen Pflegeversicherung sind in Pflegestufe I eingruppiert und werden höchstens 20 Stunden wöchentlich gepflegt.«

Wie nennt man so etwas? Almosen.

Wer zu der gesamten Thematik mehr und genauere Informationen haben möchte, der sei hier auf die folgende Studie verwiesen, die im Forschungsnetzwerk Alterssicherung entstanden ist:

Rainer Unger / Heinz Rothgang: Auswirkungen einer informellen Pflegetätigkeit auf das Alterssicherungsniveau von Frauen (FNA-Journal Heft 4/2013).

Von „Work hard. Have fun. Make history“ bei Amazon zur Proletarisierung der Büroarbeit in geistigen Legebatterien. Streifzüge durch die „moderne“ Arbeitswelt

Eines ist ganz sicher – die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di nervt Amazon mit ihrer impertinenten Forderung nach einem Tarifvertrag für die Beschäftigten in den deutschen Warenverteilzentren des Weltkonzerns. Deshalb lässt Amazon ja auch schon mal sicherheitshalber neue Logistik-Zentren in der Tschechei und Polen errichten – „natürlich“ auf gar keinen Fall mit der Absicht, die Arbeit dann aus dem für Arbeitgeber „anstrengenden“ Deutschland in die angenehmer daherkommenden Ostländer zu verlagern und die Standorte in Deutschland auszudünnen oder gar aufzugeben. Was natürlich nicht für die Belieferung des deutschen Marktes gilt, denn der ist richtig wichtig für Amazon, hier wird Marge gemacht und dass soll auch so bleiben –  bereits 2012 hat Amazon in Deutschland 6,4 Milliarden Euro umgesetzt und damit seit 2010 um 60 Prozent zugelegt. Und geliefert werden kann auch aus Polen und der Tschechei. Derartige  Überlegungen in der Konzernzentrale werden durch Meldungen wie diese sicher befördert: »Mit Streiks im Weihnachtsgeschäft will Verdi die Unternehmensführung des Versandhändlers Amazon an den Verhandlungstisch zwingen«, berichtet Stefan Sauer in seinem Artikel „Verdi erhöht Druck auf Amazon„.

»Für den weltweit größten Versandhändler Amazon kommen die Arbeitsniederlegungen, zu denen die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi am Montag in den Logistik-Zentren Bad Hersfeld und Leipzig aufrief, zur Unzeit.  Das Vorweihnachtsgeschäft ist längst angelaufen, die Zahl der Bestellungen erreicht Jahreshöchststände,  man ist auf reibungslosen Betrieb angewiesen.« Immerhin schwelt der Konflikt mit Amazon schon seit April dieses Jahres – und es gibt keine erkennbare Bewegung auf Seiten von Amazon. Bereits an 14 einzelnen Tagen hat ein Teil der Belegschaften in den beiden Verteilzentren Bad Hersfeld und Leipzig die Arbeit niedergelegt. Die Gewerkschaft kämpft um die Übernahme des hessischen Tarifvertrags für den Versandeinzelhandel, was das Unternehmen rundheraus ablehnt, weil man sich als Logistikdienstleister versteht und Tarifverträge sowieso nicht mag.

Der geforderte Einzelhandelstarif hätte deutliche Auswirkungen auf das Lohngefüge: »Immerhin liege der Tarif in der niedrigsten Lohngruppe für Ungelernte mit 11,69 um 10 Prozent über denen bei Amazon gezahlten Normallöhnen.  Das tarifliche Weihnachtsgeld von mindestens 1.250 Euro übersteige die von Amazon gewährten 400 Euro um mehr als das Dreifache.« Allerdings muss auch der Gewerkschaftssprecher einräumen, dass sich Amazon in den beiden letzten Jahren bewegt hat: »So stiegen die Löhne seit 2011 um 17 Prozent, zuletzt am 1. September  auf immerhin 10,01 Euro, Weihnachtsgeld werde überhaupt zum ersten Mal gezahlt.« Sicher auch ein Teil der Motivation auf Seiten von Amazon war und ist es dabei, der Gewerkschaftskampagne Wind aus den Segeln zu nehmen und das strukturelle Problem der Gewerkschaft gerade bei Amazon, genügend kampfbereite Mitglieder in den Belegschaften zu finden, zu verstärken bzw. wenigstens zu stabilisieren. Das hängt auch damit zusammen, dass dort viele einen Job gefunden haben, die entweder aus der Langzeitarbeitslosigkeit kommen und/oder die um ihre Ersetzbarkeit in der Amazon-Maschinerie wissen. Bei Amazon in Bad Hersfeld ist nur ein Fünftel der Beschäftigen gewerkschaftlich organisiert. Hinzu kommt, dass Amazon stets in der Vorweihnachtszeit mehrere tausend Hilfskräfte zusätzlich einstellt, die an Arbeitskampfmaßnahmen kein Interesse haben, so Stefan Sauer in seinem Beitrag. Um den Ausflug in die aktuelle Frontberichterstattung abzurunden: Sauer weist in seinem Artikel drauf hin, dass es durchaus Alternativen gibt zu der Vergütung bei Amazon, »wenn etwa das Gehaltsniveau des weltweit zweitgrößter Versandhändlers, der Otto Group, erreicht würde.  Amazons größter Konkurrent mit weltweit 53.000 Mitarbeitern unterwirft sich nämlich seit Jahren dem Einzelhandelstarifvertrag – und bezahlt mittlerweile sogar mehr. Das Credo der Hamburger lautet: Gut bezahlte Mitarbeiter sind motivierte Mitarbeiter und die nützen dem Unternehmen.«

Das Thema Arbeitsbedingungen umfasst aber nicht nur die Lohnfrage. Dazu sei hier auf ein interessantes Interview mit dem französischen Journalisten Jean-Baptiste Malet hingewiesen, das unter dem Titel „Die Roboter von Amazonien“ veröffentlicht worden ist. Der 26-Jährige hat sich für mehrere Wochen als Arbeiter ins Amazon-Versandlager von Montélimar geschleust. „Work hard. Have fun. Make history“, so lautet der Slogan, der in allen Amazon-Lagerhallen der Welt plakatiert ist, wobei lediglich der erste Teil zutreffend sei. Malet sieht ein totalitäres Arbeitssystem, das wir allerdings auch aus anderen US-amerikanischen Unternehmen kennen mit dieser eigenartigen künstlich hergestellten bzw. erzwungenen Laune:

»Vor Arbeitsbeginn feuern die Manager die Arbeiter in euphorischen Reden an, „sich selbst zu übertreffen“. Sie sollen „Top Performer“ werden, denen dann alle applaudieren müssen. Und all das, obwohl es sich um eine anstrengende, unangenehme, unqualifizierte Arbeit handelt, die man nur sehr schwer länger als fünf Jahre durchhält.«

Die »Produktivität (der Arbeitnehmer) wird gespeichert. Und sie erhalten schriftliche Mahnungen, wenn sie sich nicht mehr steigern. Sie werden vorgeladen und müssen über ihre vermeintliche Langsamkeit Rechenschaft ablegen – oder gleich ihre Sachen packen … Die Arbeiter werden ständig überwacht – durch einen kleinen Scancomputer, mit dem sie die Waren einlesen und die Standorte der Artikel abfragen. Die Maschine hängt an einem WLAN-Netzwerk und teilt dem Chef die exakte Position jedes Arbeiters mit. Auch der Arbeitsrhythmus und die Produktivität werden sekundengenau aufgezeichnet.«

Malet beschreibt seinen befristeten Arbeitsalltag bei Amazon so:

»Es gibt dort zwei Arten von Jobs: Die „Picker“ sammeln die verschiedenen Produkte ein, die die „Packer“ dann einpacken. Ich habe als Picker in der Nachtschicht gearbeitet, von 21.30 Uhr bis 4.50 Uhr bin ich oft mehr als zwanzig Kilometer gelaufen. Mein Stundenlohn lag bei 9,72 Euro brutto. Vor jeder Schicht kündigten die Manager die Produktivitätsziele an, im Schnitt sollte ich zwischen 120 und 130 Artikel pro Stunde erreichen.«

Die folgenden Ausführungen von Malet geben einen tieferen Einblick in diese „neue Arbeitswelt“, die irgendwie uralt daherkommt:

»Man begegnet nicht mehr wirklich Kollegen, sondern abgestumpften Robotern, die aussehen wie Menschen. Amazon verwendet das sogenannte 5S-Management in seinen Lagern. Dieses System stammt aus Japan und lässt sich auf Deutsch mit 5A übersetzen: Aufräumen, Aussortieren, Anordnungen befolgen, Arbeitsplatz sauber halten – und „Anomalien signalisieren“. Das kann ein Karton sein, der einen Eingang verstopft – aber auch zwei Kollegen, die die Regeln missachten. Denunziation wird bei Amazon gefördert und belohnt. Sie ist ein Mittel, um in der Hierarchie aufzusteigen. Das vergiftet das Klima unter den Arbeitern total …«

Malet wird in dem Interview natürlich auch konfrontiert mit dem berühmten Arbeitsplatz-Argument, Amazon schaffe doch Beschäftigung und dann nicht selten auch für Menschen, die vorher arbeitslos waren.

»Jedes Mal, wenn Amazon bei einer Lagereröffnung lokal Stellen „schafft“, zerstört das Unternehmen gleichzeitig unzählige Arbeitsplätze im traditionellen Handel der Umgebung. Meine Studien zeigen, dass Amazon für dieselbe Anzahl an verkauften Büchern 18-mal weniger Arbeiter braucht als ein unabhängiges Buchgeschäft.«

Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, ja, schlimme Entwicklungen da in den unteren Etagen des Arbeitsmarktes, aber wir haben doch so viele schöne Jobs für die mit den weißen Kragen, die in klimatisierten Büros arbeiten dürfen, auf deren Work-Life-Balance Rücksicht genommen wird, denen man PE-Maßnahmen und sogar zunehmend Gesundheitsmanagement zukommen lässt. Also die schöne Seite der modernen Arbeitswelt. Wer sich hier etwas irritieren lassen will, der möge sich den lesenswerten Artikel „Willkommen in der Bürofabrik“ von Dieter Schnaas anschauen: »Der Fortschritt ist keine Schnecke, sondern ein Huhn – meinen Forscher, die unter “Office Innovation” die Unterbringung ihrer Mitarbeiter in “Bürolandschaften mit Raumgliederungselementen” verstehen.« Schnaas spricht zutreffend von einer „Proletarisierung der Büroarbeit“ und sinniert über die Zukunft geistiger Legebatterien. Mit einem semantischen Zynismus macht der Verfasser eine tour d’horizon durch die angeblich schöne neue Büro-Arbeitswelt. Aber vorweg zu den Grundlagen:

»Heute …, nach dem Fall der Mauer und dem Vergehen der Sowjetunion, hält sich der zivilisierte Teil der Menschheit im ideologischen Abklingbecken auf, frisch geimpft mit dem kosmopolitischen Geist von Good Governance, Globalization und Green Sustainability – und vertraut auf andere, auf strahlend weiße Fortschrittskonzepte, wie sie etwa liberale Ökonomen, Amazon-Apple-Designer, Genetiker und Reproduktionsmediziner propagieren. In diesen Konzepten ist viel von der Entfesselung kreativer Kräfte die Rede und von der Bildung, Pflege und Vermehrung des  Humankapitals, von den wunderbaren Möglichkeiten des präimplantationstechnischen Feintunings und den Segnungen algorithmischer Assistenzsysteme, die uns kognitiv entlasten, indem sie uns die schöne, neue Konsumwelt unseren Vorlieben gemäß, wie auf dem Tablett servieren. Diese Konzepte erzählen uns von digital-individuellen, selbstbestimmten, unternehmerischen Café-Latte-Personen, die viel auf ihre Flexibilität halten – und von jungen Arbeitsathleten, für die “die Vereinbarkeit von Familie und Beruf” ein Kinderspiel ist, weil ein Laptop überall da und jederzeit plug-and-play-bereit ist, wo sich der ursprünglich petrischal aufgezüchtete Nachwuchs gerade effektiv frühbildet.«

Nach dieser semantischen Aufwärmphase wird der Verfasser konkreter: Das Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart beherbergt ein “multidisziplinäres Forscherteam” im “Competence Center Workspace Innovation” an Konzepten zur Optimierung unserer Arbeitswelten. Und was sagen die zum „Büro der Zukunft“? »Das Büro der Zukunft zeichne sich durch “kollaborative Arbeit in Teambüros”, “räumliche  Flexibilität bei der Arbeitsplatzauswahl”, durch “Bereiche, die zur Kreativität anregen und Inspiration ermöglichen” und durch “Zonen” aus, in denen “Recreation bereitgestellt” wird.« Hört sich doch toll an.
Schnaas hat eine andere Lesart parat:

»Ins Normaldeutsche übersetzt heißt das: Großraumbüros ohne festen Arbeitsplatz,  aber mit geteilter Chaise-Lounge für den gezielten Geistesblitz und mit Ruhebezirken für den effektiven Fünf-Minuten-Schlaf sind so ziemlich genau das, was sich deutsche Spitzenforscher unter dem “Büro der Zukunft” vorstellen.«

Schnaas arbeitet sich ab an einem knapp vierminütigen Werbefilm für die Bürowelt der Zukunft aus dem „Office Innovation Center“ – und er weiß erst einmal nicht wohin mit seiner Fassungslosigkeit:
»Die gleichzeitige Verheiligung des kreativ arbeitenden Individuums und seine totale Degradierung zu einem Kosten- und Produktionsfaktor, zu einer zahlenhaften, vermessbaren, buchhalterischen Größe, machen einen schier sprachlos.«

Seine Fassungslosigkeit bezieht sich vor allem darauf, dass auf die Entproletarisierung der Arbeiterschaft nun die Proletarisierung der Büroarbeit folgen soll. Denn darum gehe es doch ei der »Implementierung von Kollektivarbeitsflächen: um die Standardisierung von Denkprozessen zur Erzielung von Skaleneffekten, um das Heben von Produktivitätsreserven durch das Ausmerzen von Störfaktoren. Anders gesagt: Früher, im Industriekapitalismus, ging die körperliche Gesundheit der Arbeiter vor die Hunde. Heute, im Wissenskapitalismus, dem linierte Fachkompetenz heilig und Bildung ein Gräuel ist, geht der Geist zugrunde.«

Nun will er den Stuttgarter Forschern kein Unrecht tun und weist darauf hin, dass das eine oder andere Einzelbüro, in dem “konzentriertes selbständiges Arbeiten” möglich ist, durchaus vorgesehen sei. Aber auch hier schnell wieder Wasser in den Wein, wir ahnen es schon: Diese Einzelbüros sind exklusiv für besonders funktionelle Mitarbeiter reserviert. Auch hier wieder eine gelungene Kommentierung:

»Es sind Spitzenkräfte, die Subordinierten den  Aufbau gutnachbarschaftlicher Verhältnisse empfehlen und sie beim Herausgehen bitten, doch freundlichst die Türe zu schließen. Es sind Chefs, die viel von den Vorzügen “flacher Hierarchien” halten, solange sie die Funktionstüchtigkeit des Großraumheeres erhöhen – und solange ihre eigene Befehlsgewalt  einen büroräumlich-stattlichen Ausdruck findet.«

Der Liberale Dieter Schnaas regt sich auf – und zwar über die

»… Unverschämtheit, mit der die “liberale Elite” wochentags das Gegenteil von dem exekutiert, von dem sie sonntags unredlich spricht. Sie redet gern in höchsten Tönen von der “Freiheit des Individuums” – und richtet es im Arbeitsalltag zu einem möglichst monoton schnurrenden Wegarbeiter ab. Nachdenken, Zögern, Zaudern, das alles sind für einen ausgezeichneten Büroproletarier keine Qualitäten, sondern Funktionsstörungen. Es ist gewiss kein Zufall, dass die “cubicle offices” als “trading rooms” besonders von Finanzdienstleistern geschätzt werden: Die Börsen sind heute ja geradezu sprichwörtlich als exklusive Bezirke definiert, in denen die Mitarbeiter auf alles Menschliche (Gefühle) verzichten, um die Optimierung abstrakter Zwecke auf die Profitspitze zu treiben.«

Ein ätzender, aber zutreffender Text. Wer das, was Schnaas hier angesprochen hat, auf einer visuellen Ebene braucht, dem sei an dieser Stelle ganz besonders der Film „Work Hard – Play Hard“ von Carmen Losmann (2011) empfohlen, der in eindringlichen Bildern den Terror, weil Menschenfeindlichkeit „moderner“ Arbeitswelten anzuleuchten versucht.

Ein „historisches“ Verhandlungsergebnis zur Finanzierung der Krankenkassen? Fragt sich natürlich, für wen

Angela Merkel war eine andere, als sie auf dem „historischen“ Parteitag der CDU an den  ersten beiden Dezember-Tagen 2003 in Leipzig zum ersten und wahrscheinlich zum letzten Mal versucht hat, mit tiefgreifenden Veränderungsvorschlägen, die dem damaligen neoliberalen Zeitgeist ein Opfer bringen wollte: Verabschiedet wurde der Einstieg in ein Gesundheits-Prämienmodell sowie die Einführung eines einfachen, transparenten und gerechten Steuersystems, so finden wir es beschrieben in einem Artikel der CDU zu diesem Konvent. Sie wird die Beinahe-Niederlage von 2005, die in die erste Große Koalition mündete, nicht vergessen haben – und sie agiert seitdem überaus erfolgreich nach Kriterien des politischen Geschäfts gewissermaßen in einem „Anti-Leipzig-Modus“. Steuern auf Sicht und mit SMS. Von dem ganzen „Reform“- und „Umbau“-Plänen ist seitdem eigentlich nichts mehr übrig geblieben – bis auf einen kleinen, scheinbar unscheinbaren Wurmfortsatz namens einkommensunabhängige Zusatzbeiträge in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Und auch der wird jetzt rausoperiert, wenn es denn zur GroKo II kommen sollte.

Der kassenindividuelle Zusatzbeitrag wurde im Zuge der Gesundheitsreform 2007 von der ersten Großen Koalition beschlossen und stand bzw. steht noch im Zusammenhang mit der Einführung eines Gesundheitsfonds und eines bundeseinheitlichen Beitragssatzes in der GKV. Seit dem 1. Januar 2011 gibt es nur noch den einkommensunabhängigen Zusatzbeitrag, der nach oben nicht mehr direkt begrenzt ist (bis dahin gab es die Möglichkeit,  einkommensunabhängige Zusatzbeiträge von bis zu 8,00 Euro von den Mitgliedern der Kasse einzufordern); es findet aber ein Sozialausgleich aus Steuermitteln statt. Spiegelbildlich gab bzw. gibt es die Möglichkeit für gut wirtschaftende Kassen, Überschüsse in Form von Prämien an ihre Mitglieder auszuzahlen. Der Zusatzbeitrag (und in seiner Spiegelung die Prämien) haben zum einen die Funktion, Wettbewerb zwischen den Kassen bei einem für alle Kassen gleichen Beitragssatz anzuregen.

Allerdings war die faktische Entwicklung ernüchternd: »Tatsächlich führte die Regelung aber dazu, dass Kassen mit Zusatzbeiträgen die Mitglieder in Scharen davonliefen. Gerade junge Versicherte wechselten zu Kassen ohne Sonderzuschlag. Das führte zu einem absurden Zusatzbeitrag-Vermeidungswettbewerb. Die Kassen tun seit einigen Jahren alles, um keinen Zuschlag erheben zu müssen. Das tun sie nicht selten zu Lasten der Versicherten, etwa wenn psychisch Kranken das Krankengeld verweigert wird.«

Außerdem soll der Zusatzbeitrag den Kassen die Option eröffnen, zusätzliche finanzielle Mittel zu erschließen, wenn sie mit den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht auskommen. Auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Zusatzbeiträge ausschließlich von den Versicherten erhoben werden, galten sie als Vorbereitung des von der CDU anvisierten langfristigen Umstiegs von einkommensabhängigen Beiträgen zu Pauschalprämien, wie sie auf dem Leipziger Parteitag beschlossen wurden.

Doch auch mit diesem Rest wird jetzt Schluss sein- vorbehaltlich eines Zustandekommens der GroKo II. Claudia Lade berichtet in ihrem Artikel „Abschied vom Einheitsbeitrag für Krankenkassen“ über das laut Karl Lauterbach „historische“ Verhandlungsergebnis:
Union und SPD wollen den gesetzlichen Krankenkassen wieder mehr Spielraum bei der Festlegung der Beitragssätze geben. Das bedeutet faktisch eine Abkehr von dem bundeseinheitlichen Beitragssatz zur GKV, der seit drei Jahren bei 15,5 % des zu verbeitragenden Einkommens liegt.

Diese 15,5 % setzen sich aus zwei Bestandteilen zusammen, aus denen unterschiedliche Beitragsbelastungen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber resultieren, denn die Arbeitgeber zahlen 7,3 %, während sich der Anteil der Arbeitnehmer auf 8,2% beläuft. Die Arbeitnehmer zahlen also alleine einen Zusatzbeitrag von 0,9% schon im bestehenden System.

Den aktuellen Berichten über die Eignung in der Verhandlungsgruppe folgend, soll als verbindliche Beitragsuntergrenze die Marke von 14,6 % gesetzlich festgeschrieben werden, hälftig aufgeteilt auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Und jetzt kommt ein zentraler Punkt:

»Eine Änderung gibt es für den Zusatzbeitrag von 0,9 Prozent, den die Beschäftigten bisher allein geschultert haben. Je nach Finanzlage dürfen die Kassen die Höhe dieses Zusatzbeitrags selbst festlegen. Steht eine Krankenkasse finanziell gut da, kann sie ihren Mitgliedern einen geringeren Zusatzbeitrag abverlangen. Steckt die Kasse dagegen in der Finanzklemme, darf sie über die bisherige Marke von 0,9 Prozent hinausgehen.«

Und der Arbeitgeberbeitragsanteil von 7,3 % wird auf Dauer festgeschrieben – das war eine zentrale Forderung der Union, die sich hier hat durchsetzen können. Die Unternehmen bleiben auch weiterhin von Kostensteigerungen im Gesundheitssystem verschont, da sie auf einen gesetzlich festgeschriebenen Arbeitgeberanteil setzen können. Umgekehrt werden alleine die Arbeitnehmer belastet mit den zukünftigen Beitragsanhebungen.

Das hört sich nicht so an, als dass die Sozialdemokratie auf so ein Ergebnis stolz sein kann. Aber man kann sich das ja auch entsprechend hinbiegen. Claudia Lade beschreibt treffend den „sozialdemokratischen Wurmfortsatz“: »Dagegen erreichten die Sozialdemokraten, dass die Finanzierung des Gesundheitssystems künftig vollständig einkommensabhängig wird: Besserverdiener werden demnach höher belastet als Geringverdiener, wenn ihre Kasse in Finanzengpässe kommt.« Deshalb hebt Lauterbach auch so auf den Wegfall der einkommensunabhängigen Zusatzbeiträge ab: „Jetzt wurde der historische Ausstieg aus der Kopfpauschale erreicht“, so wird der sozialdemokratische Verhandlungsführer zitiert. Aber das ist teuer erkauft und außerdem ist das eigentliche Ziel einer Bürgerversicherung auch für Selbstständige und Beamte vom Tisch, was aber auch nicht zu erwarten war in einer Konstellation mit der Union.
Damit ist klar, wer die Zeche zu zahlen hat, wenn ab 2015 die Beiträge erwartbar ansteigen werden müssen aufgrund der weiter steigenden Gesundheitskosten: Die Versicherten alleine, bei den Arbeitgebern ist der Deckel gesetzlich fixiert.

Unter dem Titel „Einigkeit in allen Fragen!“ weist Anno Fricke auf die parallele Verständigung die Finanzierung in der Sozialen Pflegeversicherung betreffend:

»Die Beiträge in der sozialen Pflegeversicherung sollen ab 2015 um 0,3 Prozentpunkte erhöht werden. Ein Drittel davon sind zum Aufbau einer Kapitalreserve vorgesehen. In einem weiteren Schritt soll der Beitrag im Laufe der kommenden Legislaturperiode um weitere 0,2 Prozentpunkte angehoben werden. Die zusätzlichen Mittel sollen zunächst für kurzfristige Leistungsverbesserungen, dann zur Umsetzung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs eingesetzt werden.«

Man muss sich das klar vor Augen führen: Gut eine Milliarde Euro sollen pro Jahr aus Beitragseinnahmen einer umlagefinanzierten Sozialversicherung in einen Kapitalfonds abgezweigt werden, dessen Mittel dann auf den Märkten angelegt werden müssen, um irgendwann mal zur „Untertunnelung“ demographisch bedingter Mehrausgaben eingesetzt werden zu können – wenn sie dann noch da sind. Das ist wirklich was Neues. Dass das aber auch gut ist, daran kann man ein großes  und dickes Fragezeichen machen.

Schlussendlich bleibt die resignierte Feststellung, dass sich die Neuauflage der GroKo absehbar in den gleichen Bahnen bewegen wird, wie die alte. Das wirklich große Thema einer umfassenden Reform der Finanzierungsgrundlagen der sozialen Sicherungssysteme vor dem Hintergrund des gewaltigen, selbstgemachten Drucks auf das kleiner werdende Tortenstück sozialversicherungspflichtiges Arbeitseinkommen – und dieses auch noch begrenzt bis zur Beitragsbemessungsgrenze – wird noch nicht mal angedacht, geschweige denn diskutiert. Schade. Denn dafür, nur dafür bräuchte man eine Große Koalition.

Das deutsche „Jobwunder“ zwischen glücksuchenden Zuwanderern, tollen Kopfzahlen und der eigenen Realität an den Rändern, die immer weiter in die Mitte wachsen

Immer mehr Menschen aus dem Ausland suchen ihr Glück im wirtschaftlich stabilen Deutschland. Mehr als eine halbe Million Menschen kamen im ersten Halbjahr 2013. Viele sind gut ausgebildet  und auf dem Arbeitsmarkt gesucht – so die positiv daherkommende Botschaft in dem Artikel „Krise zieht mehr Zuwanderer nach Deutschland“ in der Online-Ausgabe der FAZ. Grundlage sind neue Zahlen des Statistischen Bundesamtes: „Zuwanderung nach Deutschland steigt im 1. Halbjahr 2013 um 11 %„. Dem kann man entnehmen, dass im ersten Halbjahr des laufenden Jahres 555.000 Personen nach Deutschland zugezogen sind, 55.000 (oder + 11 %) mehr als im ersten Halbjahr 2012. Damit gab es zum dritten Mal in Folge eine zweistellige Zuwachsrate bei den Zuwanderungen in einem ersten Halbjahr. Gleichzeitig zogen im ersten Halbjahr 2013 rund 349.000 Personen aus Deutschland fort (+ 10 %). Insgesamt hat sich dadurch der Wanderungssaldo von 182.000 auf 206.000 Personen erhöht (+ 13 %). In dem FAZ-Artikel wird bemerkt, dass die Zuwanderer vor allem aus Osteuropa und den Euro-Krisenländern kommen: »Die Mehrzahl der ausländischen Zuwanderer kam abermals aus Polen (93.000), gefolgt von Rumänien (67.000) und Bulgarien (29.000). Auch aus den Krisenländern des Euroraums – die unter hoher Arbeitslosigkeit leiden – zog es viele Menschen nach Deutschland: Aus Spanien wanderten 39 Prozent mehr ein als im Vorjahr, aus Portugal 26 Prozent und aus Italien 41 Prozent mehr.«

Und dann kommt mit Blick auf den Arbeitsmarkt oder sagen wir besser und korrekter auf die vielen Arbeitsmärkte ein interessantes Zitat:

»Die kräftige Zuwanderung hat die Zahl der Beschäftigten in Deutschland im September erstmals über die Marke von 42 Millionen steigen lassen. „Die Firmen finden die benötigten Arbeitskräfte zunehmend nicht mehr im Pool der verbliebenen Arbeitslosen, sondern im Ausland“, sagte Ökonom Christian Schulz von der Berenberg Bank.«

Der Satz des Ökonomen von der Berenberg Bank bringt eine zunehmende und sehr beunruhigende Problematik auf den Punkt: Auf der einen Seite steigt die Beschäftigung, wenn man sie vor allem an den Köpfen misst, zum anderen müssen wir beobachten, dass das kaum bis gar keine Effekte hat auf die Arbeitslosigkeit der heute vor allem im Hartz IV-System konzentrierten erwerbsfähigen Menschen. Die können einfach nicht profitieren von diesem „Jobwunder“. Dies hängt auch damit zusammen, dass sich für viele Unternehmen erfreulicherweise das Arbeitsangebot nicht nur im Bereich der niedrig qualifizierten Tätigkeiten durch die Zuwanderung ausweitet, sondern: »Die Einwanderer in die Bundesrepublik verfügen inzwischen über ein höheres Bildungs- und Qualifikationsniveau als die deutsche Stammbevölkerung. Die Neuzuwanderer haben häufiger einen Techniker-, Meister- oder Hochschulabschluss als die Deutschen«, so die FAZ mit Bezug auf eine Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung aus dem Frühjahr dieses Jahres (Herbert Brücker: Auswirkungen der Einwanderung auf Arbeitsmarkt und Sozialstaat: Neue Erkenntnisse und Schlussfolgerungen für die Einwanderungspolitik, Gütersloh 2013; vgl. dazu auch den Artikel: Zuwanderer besser ausgebildet als Deutsche).

Aber es lohnt sich, einen genaueren Blick auf diese derzeit vielzitierte und sich in den Medien auch verselbständigende Erfolgsstory zu werfen.

Denn zu dieser passt die folgende Überschrift so gar nicht: „Atypische und prekäre Beschäftigung weiterhin auf hohem Niveau„, meldet der DGB. Auch die Gewerkschaften nehmen sie zur Kenntnis: „Rekord bei der Beschäftigung“ und „mehr reguläre Jobs“, so lauten aktuelle Schlagzeilen zum Arbeitsmarkt. Aber sie haben genauer hingeschaut und kommen zu dem Ergebnis: den Wandel der Arbeitswelt begleitet ein schleichender Bedeutungsverlust des Normalarbeitsverhältnisses.
Der DGB weist völlig zu Recht auf eine interessante Auseinanderentwicklung von Erwerbstätigkeit gemessen an den Köpfen und dem Arbeitsvolumen hin.

Dieser Befund ist deshalb wichtig, weil viele Menschen ob bewusst oder unbewusst bei den Jubelmeldungen über „Rekordzahl an neuen Jobs“ an „richtige“ Jobs denken, also Vollzeit, unbefristet, halbwegs „normal“ entlohnt.

Massiv angestiegen ist die Zahl der erwerbstätigen Menschen, insbesondere seit Mitte des letzten Jahrzehnts und zwar um rd. 2,5 Millionen. Aber: Während die meisten Menschen bei Erwerbstätigen an sozialversicherungspflichtig, also „normal“ Beschäftigte denken, gilt zu beachten: »Dabei zählt auch die steigende Zahl von Minijobs, Selbständige (inkl. Scheinselbständige) und Ein-Euro-Jobber oder Ältere in der Freistellungsphase der Altersteilzeit zu den Erwerbstätigen. Als erwerbstätig zählt jede/r ab 15 Jahren, der/die in einem einwöchigen Zeitraum mindestens eine Stunde lang gegen Entgelt gearbeitet hat oder selbständig war. Allein 4,9 Millionen Erwerbstätige üben ausschließlich einen Minijob aus; gegenüber 1999 hat sich ihre Zahl um ein Drittel bzw. 1,2 Millionen erhöht. Selbst Erwerbstätige über 65 Jahre werden noch mitgezählt, die sich zu ihrer Altersrente noch etwas hinzuverdienen wollen und müssen.«

Im Ergebnis bleibt festzuhalten: »Zwar sind heute deutlich mehr Menschen erwerbstätig (inkl. Kleinstarbeitsverhältnisse), doch ein gestiegenes Sozialprodukt wird mit einem niedrigeren Arbeitsvolumen erwirtschaftet als 20 Jahre zuvor.«

Weitere interessante Befunde aus der DGB-Analyse:

  • Die (sozialversicherte) Beschäftigung bleibt weit hinter dem Zuwachs der Erwerbstätigkeit zurück. Absolut wurden Mitte 2013 rd. 29,2 Millionen sozialversicherte Beschäftigte gezählt, fast ebenso viele wie zuletzt Anfang der 90er Jahre. Dabei hat in den letzten 20 Jahren die sozialversicherte Teilzeit kontinuierlich zugenommen, während die Zahl der Vollzeitplätze rückläufig war. So haben sich die Teilzeitjobs mehr als verdoppelt, während etwa drei Millionen Vollzeitjobs in diesem Zeitraum per Saldo verloren gingen.  Aktuell üben lediglich 69,5 Prozent aller Erwerbsfähigen noch eine sozialversicherte Beschäftigung aus, gegenüber 76,8 Prozent vor 20 Jahren. Einen sozialversicherten Vollzeitjob übt nur noch gut die Hälfte aller Erwerbstätigen aus, gegenüber einem Anteil von gut zwei Dritteln 20 Jahre zuvor. 
  • Seriöse Untersuchungen wie vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (vgl. genauer Rhein, Thomas: Erwerbseinkommen: Deutsche Geringverdiener im europäischen Vergleich, IAB-Kurzbericht 15/2013, Nürnberg 2013), Nürnberg zeigen, dass „die Lohnungleichheit in Deutschland deutlich gewachsen“ und der hiesige Niedriglohnsektor zwischenzeitlich zu den größten in der EU zählt. Danach bezogen fast ein Viertel aller deutschen Beschäftigten im Jahr 2010 einen Niedriglohn. Stärker als in anderen EU-Ländern erhalten auch Qualifizierte hierzulande einen Niedriglohn; mehr als vier von fünf Geringverdienern haben eine abgeschlossene Berufsausbildung. 

In einem Interview des DGB mit Karl Brenke vom DIW in Berlin („Beschäftigungsquote und Zahl der prekären Jobs nehmen gleichzeitig zu„) werden weitere wichtige Aspekte zur Einordnung der aktuellen Arbeitsmarktentwicklung angesprochen: Auch er hebt bereits angesprochenen Aspekte hervor: »Der Beschäftigungsaufbau pro Kopf betrachtet ging also mit vermehrter Teilzeittätigkeit und geringfügiger Beschäftigung einher.«

Und weiter führt Brenke aus: »In der Tat hat sich der Niedriglohnsektor stark ausgeweitet. Allerdings steigt seit 2006 die Zahl der Niedriglöhner nur noch im Gleichschritt mit der Zahl aller Beschäftigten; der Anteil der abhängig Beschäftigten, die auf den Niedriglohnsektor entfallen, wächst seitdem nicht mehr. Das passt wenig zu der Auffassung, dass erst mit der Hartz IV-Reform die Arbeitslosen zur Aufnahme eines Jobs angereizt wurden, da sie zuvor zu wenig leistungsbereit waren und übermäßige Lohnvorstellungen gestellt  hatten. Vielmehr lässt sich zeigen, dass deren Lohnansprüche auch schon vor der Reform gering waren und sich danach auch nicht nennenswert verändert haben. Den Arbeitslosen mangelte es nicht an Arbeitsmoral, sondern an Beschäftigungsmöglichkeiten.«
Und mit Blick auf das derzeit hoch aktuelle Thema Mindestlohn ein kritischer Seitenhieb:
»Die aktuell im Vordergrund stehende Debatte um Mindestlöhne reduziert indes Lohnpolitik nahezu auf Sozialpolitik und lenkt davon ab, dass auch im mittleren Lohnbereich die Entgelte alles andere als kräftig gestiegen sind oder gegenwärtig zulegen. Absurd ist es deshalb, dass sich gerade solche politischen Verantwortlichen für Mindestlöhne einsetzen, die in ihrem öffentlichen Dienst Arbeitnehmern die Lohnanpassung an bestehende Tarifverträge verweigern.«

Man kann und soll aus seiner Kommentierung herauslesen, dass man nicht den Fehler machen darf, sich zu sehr auf den Mindestlohn zu fokussieren und dabei den viel bedeutsameren mittleren Teil aus den Augen zu verlieren. Und auch da passieren erhebliche Ausfransungen bis hin zu substanziellen Bedrohungen der Kernbelegschaften der Rückgrats der deutschen Volkswirtschaft, der Industrie mit ihren Belegschaften. Wie das aussehen kann, lässt sich beispielsweise hier nachlesen mit Blick auf ein ebenfalls sehr aktuelles Thema: „Längst kein Randphänomen mehr. Werkverträge – von der Ausnahme zur Regel„:

»In einer Betriebsrätebefragung hat die IG Metall Strukturen und Entlohnung der Branchen analysiert. Demnach stehen in der Automobilindustrie den 763 000 Stammbeschäftigten 100 000 Leiharbeitskräfte und 250 000 Werkvertragsbeschäftigte gegenüber. Das entspricht einem Verhältnis von fast 2:1. In der Stahlindustrie stehen 19 000 Werkvertragsbeschäftigte und 2 100 Leiharbeiter gegenüber 61 000 Festangestellten. Im Schiffbau arbeiten 16 800 Menschen fest, aber 2700 Menschen für Leih- und 6500 Menschen für Werkvertragsfirmen. Ebenso in der Luftfahrtindustrie: Dort gehören 72 400 Menschen zur Stammbelegschaft, aber 10 000 Menschen arbeiten als Leihbeschäftigte und weitere 10 000 Menschen sind über Werkvertrag beschäftigt.
Das bedeutet für die gesamte Branche der Metall- und Elektroindustrie und die unmittelbar an die Wertschöpfungskette angrenzenden Branchen: Fast ein Drittel der Beschäftigten arbeiten in Leiharbeit und Werkverträgen.«

„Trippelschritt in die richtige Richtung“ oder „Goldene Röcke für Deutschland“ als symbolisches Substitut für wirkliche Veränderungen? Eine embryonale Frauenquote als Ablenkungsmanöver von den wahren Herausforderungen der Geschlechterpolitik

Jetzt geht es den geschlossenen Männer-Gesellschaften in den Chefetagen der deutschen Wirtschaft aber so richtig ans Hemd – die gesetzliche Frauenquote ist im gesetzgeberischen Geburtskanal. Nun gut, vielleicht muss man sie ganz korrekt als ein „Quötchen“ bezeichnen, aber es reicht, um in der Wirtschaft wütende Proteste auszulösen. Was genau soll eigentlich kommen?

Hans Monath hat das im Tagesspiegel unter der Überschrift „Frauenquote soll 2016 kommen“ so zusammengefasst: Künftig sollen mindestens 30 Prozent weibliche Beschäftigte in den Aufsichtsräten von Firmen sitzen. Ein Teil der Meldung ist richtig, der andere unvollständig.

Richtig ist der 30%-Wert und auch der Hinweis auf Aufsichtsräte, aber etwas irreführend der Hinweis auf die „Firmen“. Es sind nur ganz bestimmte Unternehmen, um die es hier geht. Denn gemeint sind börsennotierte Aktiengesellschaften, denen die Quote ab 2016 auferlegt werden soll. Diese Frauenquote ist als eine „embryonale“ zu bezeichnen, denn sie bezieht sich nicht auf das eigentliche Machtzentrum der Unternehmen, denn das sind die Vorstände. Und hier hat die Union in den Verhandlungen für Entwarnung gesorgt: Ihr »gelang es, die SPD von einer festen Quote auch für Vorstände von Firmen abzubringen, für die nur eine selbst festzulegende Flexiquote gelten soll.« Dafür hat die SPD auch was bekommen, nicht nur die 30%-Quote für die Aufsichtsräte, sondern auch, »dass die neue Regelung mit harten Sanktionen bewehrt ist und der Einstieg in die Frauenförderung per Gesetz schon 2016« stattfinden soll. Die Sanktion: »Falls börsenorientierte Unternehmen die Frauenquote von mindestens 30 Prozent nicht erfüllen, darf das Aufsichtsratsmandat nicht besetzt werden.« Das wird in dem einen oder anderen Fall weh tun.
Als Zwischen-Fazit bleibt festzuhalten: Die SPD hat im Angesicht der gefundenen „Lösung“ kräftig Federn lassen müssen, denn in ihrem Wahlprogramm findet sich die Forderung: »Wir werden deshalb eine 40-Prozent-Geschlechterquote für Aufsichtsräte und Vorstände börsennotierter und mitbestimmter Unternehmen verbindlich festlegen.« 40-10 Prozent und Vorstände weg, so kann man das auf eine Kurzformel bringen.

Wie nun ist dieses Verhandlungsergebnis einzuordnen und zu bewerten? Schauen wir an dieser Stelle ins benachbarte Ausland. Hans Monath schreibt dazu:

»Im Vorreiter-Land Norwegen müssen die Vorstände staatlicher und großer börsenorientierter Konzerne zu rund 40 Prozent mit Frauen besetzt sein. In fünf EU-Staaten sind nach Angaben der EU-Kommission Frauenquoten für Aufsichtsräte und teilweise auch für Vorstände privater Unternehmen in Kraft. So sollen in Frankreich bis 2017 mindestens 40 Prozent der Vorstandsmitglieder weiblich sein. In Spanien müssen Firmen mit mehr als 250 Beschäftigten den Frauenanteil in der Chefetage ebenfalls auf 40 steigern. Auch Italien, Belgien und die Niederlande haben in den vergangenen Jahren starre Frauenquoten in Kraft gesetzt.«

Man kann einerseits erkennen, dass die Quotenregelung im europäischen Vergleich keine besonders neue Einrichtung ist. Und man sollte wissen, dass die deutsche Quotenabsicht letztendlich nur ein Umsetzungsversuch der Beschlusslage auf europäischer Ebene darstellt: Das EU-Parlament hatte im Oktober dafür gestimmt, dass ab 2020 insgesamt 40 Prozent der Aufsichtsräte in börsennotierten Unternehmen Frauen sein sollen.

Andererseits stellt sich aber die Frage nach der Sinnhaftigkeit und daran anschließend nach den erwartbaren Effekten.

Versuchen wir es mit einem positiven Blick auf das Verhandlungsergebnis, für den wir einige Hinweise finden in dem Beitrag „Trippelschritt in die richtige Richtung“ von Simone Schmollack. Sie zitiert Manuela Schwesig von der SPD, »das Ergebnis sei ein „wichtiges Signal, um die Aufstiegschancen von Frauen zu verbessern“. Unions-Unterhändlerin Annette Widmann-Mauz meinte: „Damit geben wir dem Aufstieg von Frauen in Aufsichtsräte und Vorstände den richtigen Schwung und schaffen einen Kulturwandel im Inneren der Unternehmen.“« Und auch Elke Holst, Volkswirtin und Forschungsdirektorin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, sekundiert, dass die Ergebnisse, insbesondere die Pflichte zur Transparenz, als „kleiner Schritt in die richtige Richtung“ zu bewerten sei.

Deutlich kritischer ist die Kommentierung bei Yasmin El-Sharif in ihrem Beitrag „Goldene Röcke für Deutschland„. Ihrer Meinung nach Vorgabe verfehlt die jetzt gefundene Quotenregelung ihr eigentliches Ziel. Profitieren werden zunächst einige wenige Frauen, die gleich mehrere Kontrollposten übernehmen Das eigentliche Ziel wird die Frauenquote in Aufsichtsräten nicht erreichen: nämlich die sogenannte gläserne Decke zu durchbrechen. Und die haben wir in den Vorständen, den eigentlichen Machtpositionen in den Unternehmen. Als Beleg für diese These führt sie gerade Norwegen an, das Land, das bereits 2003 mit einer Quote gestartet ist, wie sie jetzt hier in Deutschland vorgesehen sind:

»Dort ist zwar schon seit rund fünf Jahren ein 40-Prozent-Anteil von Frauen in den Aufsichtsratsgremien vorgeschrieben – und wird sogar eingehalten – doch wird er keinesfalls entscheidend übertroffen. Die Unternehmen erfüllen ihre Pflicht, aber das war es dann auch. In den Vorständen, den Machtzentralen der Unternehmen, tut sich fast gar nichts.«

Und dann verweist sie auf eine reale und durchaus plausible Gefahr: »… wie schon in Norwegen, dürften auch in Deutschland „Goldene Röcke“ bald zum geflügelten Begriff werden. Damit sind Frauen gemeint, die diverse Aufsichtsratsposten innehaben, weil es ad hoc einfach nicht genügend Kräfte für die neuen Frauensitze gibt.« Damit adressiert sie ein diskussionsbedürftiges generelles Grunddilemma solcher Quotenregelungen, die auf einen Durchschnitts-Anteilswert basieren: In der einen Branche mag das wirklich locker zu reißen sein oder sogar noch übertroffen werden können, in anderen Branchen wird es sehr lange dauern, wirklich nur in die Nähe des Anteilswertes zu kommen, da schlichtweg aufgrund der bisherigen Geschlechterspaltung nicht annähernd genügend geeignete Frauen zur Verfügung stehen (können), was dann wiederum das schräge Bild der „Quotenfrau“ festigen wird, mit allen Abwehrreflexen, die das auslösen wird.

Auch wenn es sich nicht gut zu verkaufen ist wie irgendeine Quote – El-Sahrif hat schon recht, wenn sie schreibt: »Viel dringender als eine Quote in Aufsichtsräten werden mehr Frauen in managementnahen oder naturwissenschaftlich-technischen Studienfächern benötigt, mehr Förderprogramme für junge Talente, bessere (Betreuungs-)Angebote für junge Familien, ein Umdenken bei Männern und nicht zuletzt eine größere Offenheit von Chefs für die besonderen, teils anderen Fähigkeiten von Frauen.« Damit adressiert sie zum einen den notwendigen Sinneswandel, der einem Kulturwandel entspricht – übrigens, wenn man das hier anmerken darf, eben nicht nur auf der Seite „der“ Unternehmen und „der“ Männer, sondern auch bei vielen Frauen bei ihren Entscheidungsprozessen. Substanzielle Veränderungen müssen auch wenn es schmerzt auf intrinsischer Motivation der Unternehmen aufbauen. Zum anderen ist aber auch klar, dass viele Maßnahmen zur mittel- und langfristigen Verbesserung der Lage Investitionen erforderlich machen – und man kann schon den Verdacht hegen, dass sich die Große Koalition in spe hier auf eine symbolische Maßnahmen „zu Lasten“ Dritter verständigt hat, die vor allem einen echten Vorteil mit sich bringt: Sie kostet keinen Euro.

Wie weit die Wegstrecke noch ist, wenn man denn von einem anzustrebenden höheren Anteilswert in den Aufsichtsräten und den Vorständen großer börsennotierter Unternehmen ausgeht, verdeutlichen die Daten aus dem noch laufenden Jahr 2013, die von FidAR, der Initiative für mehr Frauen in die Aufsichtsräte, in Form des Women-on-Board-Index (WoB-Index) veröffentlicht werden:

»12 Jahre nach der freiwilligen Selbstverpflichtung der deutschen Wirtschaft, den Frauenanteil in Führungspositionen zu erhöhen, und über 4 Jahre nach der Aufnahme der Forderung nach mehr Vielfalt in den Deutschen Corporate Governance Kodex beträgt der Frauenanteil in Aufsichtsräten insgesamt 17,4 Prozent … Von den Vorständen sind nur 6,1 Prozent weiblich … Kumuliert liegt der Anteil von Frauen in Aufsichtsräten und Vorständen bei 11,7 Prozent.«

Aber angesichts der erheblichen Probleme, die viele Frauen immer noch und im Teilzeitbereich sogar zunehmend auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben, angesichts der ökonomischen Abhängigkeit von den (männlichen) Partnern, die nach neueren Forschungsbefunden sogar zugenommen hat, bleibt das doppelt ungute Gefühl, dass hier nicht nur eine Symbolpolitik betrieben wird, sondern dass die darüber hinaus auch noch auf eine extrem kleine Gruppe von Frauen ausgerichtet ist, mit denen die Millionen „normalen“ Frauen nicht das geringste zu tun haben. Eine – in diesem Beitrag nicht zu leistende – Analyse der für diese Frauen relevante bisherigen Beschlüsse muss zum jetzigen Zeitpunkt  mit einem großen Fragezeichen versehen werden. Nicht einmal in Erwägung gezogen wurde beispielsweise eine Abschaffung oder wenigstens ein Umbau der frauenpolitisch hoch problematischen geringfügigen Beschäftigung, also der so genannten „450-Euro“- oder auch „Minijobs“, die man nicht anzutasten bereit ist. Dabei weiß jeder unbefangene Beobachter, welche negativen Auswirkungen diese Beschäftigungsform auf die Biografie vieler Frauen hat. Um nur ein wirklich relevantes Beispiel zu nennen.

Wieder einmal verlässt man die Bühne mit dem Gefühl, einer veritablen Luftnummer beizuwohnen.