Auch in Österreich das gleiche Problem wie in Deutschland: ein föderaler Flickenteppich bei der Kinderbetreuung. Und eine notwendige Debatte über Mindeststandards

Wenn in Deutschland über Kindertageseinrichtungen (und Kindertagespflege) diskutiert wird, dann wird immer gerne über „die“ Kitas oder „die“ Tagespflege gesprochen – dabei sind die Verhältnisse überaus heterogen, wir sind konfrontiert mit 16 unterschiedlichen Systemen der Kindertagesbetreuung in den Bundesländern und auch innerhalb der Länder gibt es oft von Kommune zu Kommune erhebliche Varianzen, beispielsweise bei den Elternbeiträgen oder der konkreten Finanzierung. Allein vor diesem Hintergrund verbieten sich allgemeine Aussagen über „die“ Kindertagesbetreuung.

Man kann sich die historisch gewachsenen Diskrepanzen allein schon auf der Ebene eines Bundesländervergleichs verdeutlichen, wenn man sich die Streuung der Personalschlüssel in den Kitas anschaut – es handelt sich hierbei, damit keine Missverständnisse auftauchen, die nicht um die tatsächliche Fachkraft-Kind-Relation, die ist ausgehend von den hier zitierten Werten noch schlechter, weil es sich nur um eine statistische Größe handelt, wie viele ganztags betreute Kinder auf eine Ganztagsfachkraft rechnerisch kommen, wohl wissend, dass die auch mal krank sein kann oder im Urlaub ist. Schaut man sich vor diesem Hintergrund die Bundesländerwerte an, dann fällt die erhebliche Streuung zwischen den Ländern auf. Nehmen wir einmal nur die klassischen Krippengruppen, also für Kinder unter drei Jahren. Dann liegt der 2013 vom Statistischen Bundesamt in der Studie „Der Personalschlüssel in Kindertageseinrichtungen. Aktuelle Ergebnisse auf Basis neuer Berechnungsgrundlagen 2012“ veröffentlichte beste Wert in Bremen bei 1 zu 3,2 Kinder, während der schlechteste Wert von Sachsen-Anhalt mit 1 zu 6,9 Kindern unter drei Jahre erreicht wird. Das bedeutet, der Personalschlüssel im Osten ist mehr als doppelt so schlecht wie in Bremen. Und wenn man jetzt weiß, dass auch der Spitzenwert in Bremen nicht den Wert erreicht, der in der frühpädagogischen Fachdiskussion als aus fachlichen Gründen geboten angesehen wird, dann kann man schnell erkennen, welche hoch problematischen Verhältnisse wir hier bei uns in Deutschland haben.

Auch Österreich ist mit dieser Problematik konfrontiert – nur sind es dort nicht 16, sondern „nur“ neun Bundesländer, was aber völlig ausreicht, um einen echten föderalen Flickenteppich hinzulegen. Darüber und vor allem über die Unterausstattung mit Personal berichtet eine neue Studie, die von der Arbeiterkammer Wien in Auftrag gegeben und nunmehr veröffentlicht wurde:

Stephanie Klamert, Marion Hackl, Caterina Hannes, Winfried Moser: Rechtliche Rahmenbedingungen für elementarpädagogische Einrichtungen im internationalen Vergleich. Eine Studie des Instituts für Kinderrechte und Elternbildung im Auftrag der der Arbeiterkammer Wien, Wien 2013

Gudrun Springer berichtet in ihrem Artikel „Kinderbetreuung: Neun Länder, neun Konzepte“ von einigen Befunden der Studie:

  • Beim Betreuungsschlüssel zeigt sich, dass im Österreich-Schnitt auf eine Fach- oder Hilfskraft 13 Kinder kommen. Rechnet man nur die Zahl der Kindergartenpädagoginnen, liegt der Schlüssel bei 1:24 – weit weg von der Empfehlung des Network on Childcare, wonach eine Betreuungskraft auf maximal 15 Kinder schauen soll (in Finnland beaufsichtigt eine Fachkraft sieben Kinder).
  • Die vorgeschriebene Gruppengröße liegt zwischen maximal 20 Kindern in Tirol und 25 in Wien, Kärnten, Niederösterreich, Burgenland und der Steiermark.
  • Für das unterstützende Personal ist laut Studie in Wien, Salzburg, Tirol und Vorarlberg gar keine Ausbildung gesetzlich festgeschrieben. Dabei arbeiten Kindergartenhelferinnen laut Karin Samer von den Wiener Kinderfreunden stark betreuend mit, denn: „Der Fachkräftemangel wäre nicht ohne Assistentinnen abzufangen.“ Österreich bräuchte demnach mindestens 900 zusätzliche Kindergartenpädagogen.
  • Der Besuch des Kindergartens ist in allen Bundesländern … im Jahr vor der Schulpflicht gratis (20 Stunden). Darüber hinaus sind die Regelungen für Elternbeiträge laut Studie „äußerst heterogen“ und daher nur bedingt vergleichbar.

Eine Zusammenfassung der Studienergebnisse sowie die daraus abgeleiteten politischen Forderungen hat die Arbeiterkammer Wien gemeinsam mit einigen Gewerkschaften auf einer Pressekonferenz unter dem Titel „Mehr Qualität in der Kinderbetreuung. Internationaler Vergleich, Erfahrungen aus der Praxis und politische Forderungen“ veröffentlicht. Und die Forderungen (S. 7) sind konkret formuliert und zugleich hilfreich für die gleiche Debatte, die auch hier in Deutschland notwendig ist:

  • Qualitätsstandards österreichweit: Stufenplan für die Vereinheitlichung mit dem Ziel einer bundeseinheitlichen gesetzliche Regelung von Mindeststandards (Gruppengrößen, Betreuungsschlüssel, Vorbereitungszeit, etc.) 
  • Einheitliche Ausbildungsstandards für das unterstützende Personal: Das unterstützende Personal ist in Österreich unverzichtbar in der Betreuung der Kinder. Ohne diese KollegInnen würde Österreich keine internationale Empfehlung zum Betreuungsschlüssel erreichen. Daher sind auch Ausbildung und die Berufsbezeichnung entsprechend österreichweit einheitlich zu sichern.
  • Hochschul-Ausbildung für PädagogInnen: Die Ausbildung von PädagogInnen auf Hochschulniveau soll auf den Weg gebracht werden. Vom Kinderhilfswerk UNICEF gibt es die Empfehlung, dass zumindest die Hälfte der PädagogInnen über eine Hochschulausbildung verfügen soll.
  • Finanzielle Rückendeckung für Gemeinden: Diese sollen künftig Zuschüsse nach der Zahl der betreuten Kinder erhalten, was bedeutet: je besser das Betreuungsangebot, desto mehr Geld (Stichwort aufgabenorientierter Finanzausgleich).
  • Kollektivvertrag: Für den privaten Bereich soll es einen Kollektivvertrag für alle Bundesländer geben.

In Deutschland muss es in den kommenden Monaten darum gehen, das von der Noch-Bundesfamilienministerin Schröder bereits im Sommer in Aussicht gestellte „Bundesqualitätsgesetz“ für den Bereich der Kindertagesbetreuung mit Leben zu füllen. Über dieses Gesetz sollten endlich im SGB VIII konkrete Personalstandards festgeschrieben werden, die bislang vollständig fehlen. Ein möglicher Ansatz wäre, dass man im Kinder- und Jugendhilfegesetz Mindestpersonalstandards normiert, die sich orientieren an den derzeit besten Personalschlüsseln, die wir in den westlichen Bundesländern haben. Auf dieser Grundlage wären dann alle Bundesländer verpflichtet, in einem zu definierenden Zeitrahmen diese Werte in ihren Einrichtungen sicherzustellen. Natürlich Würde eine solche Regelung bedeuten, dass der Bund sich aufgrund der Konnexität s Regeln an der Finanzierung der laufenden Betriebskosten der Kindertageseinrichtung unter Tagespflege anteilig beteiligen müsste. Aber genau das ist schon seit langem überfällig und unbedingt erforderlich, um das derzeit vorhandene krasse Missverhältnis in der Kosten-Nutzen-Architektur zuungunsten der Kommunen und zugunsten des Bundes und der Sozialversicherungen abzumildern.

Konkretere Vorschläge mit Blick auf eine Umsetzung der seit langem geforderten anteiligen Bundesfinanzierung über einen „KiTa-Fonds“ habe ich vor kurzem in einem Diskussionspapier veröffentlicht:

Stefan Sell: Die Finanzierung der Kindertagesbetreuung vom Kopf auf die Füße stellen. Das Modell eines „KiTa-Fonds“ zur Verringerung der erheblichen Unter- und Fehlfinanzierung der Kindertagesbetreuung in Deutschland, Berlin, Oktober 2013

Es geht leider nicht einfacher: Das real existierende Wohlstandsgefälle in der EU, eine eigentlich gut gemeinte Richtlinie sowie osteuropäische Billigarbeiter in Frankreich und am Bett von Pflegebedürftigen in Deutschland

Frankreich steht unter erheblichen Druck. Eine offizielle Arbeitslosenquote von über 11%, zunehmende soziale Spannungen, Geländegewinne rechtspopulistischer Strömungen – und gleichzeitig haben Baufirmen oder Großbauern in Frankreich in diesem Jahr etwa 350.000 Arbeiter vorwiegend aus Osteuropa geholt, wie Schätzungen der französischen Arbeitsverwaltung besagen. Europaweit soll eine Million Arbeiter aufgrund der EU-Richtlinie in Partnerstaaten „entsandt“ sein. Frankreich stellt damit ein Drittel dieser „Lowcost-Arbeiter“. Die französischen Unternehmen reagieren damit auf solche für sie verlockenden Angebote, wie Stefan Brändle in seinem Artikel „Feldzug gegen Billigarbeit“ berichtet:

„Sie suchen Flexibilität, niedrige Kosten, Qualität und Legalität?“, fragt die polnische Jobagentur französische Bauunternehmer, um gleich selbst die Antwort zu geben: „Die Lösung für ihre Einstellungen – polnische, lettische, rumänische Interimsarbeiter.“ Solche Angebote finden französische Firmen zuhauf in ihren Briefkästen. Und immer mehr greifen darauf zurück: Osteuropäer werden angeheuert, kosten sie im Durchschnitt doch dreimal weniger – statt rund 20 bloß etwa sechs bis sieben Euro pro Stunde, Sozialabgaben eingerechnet.«

Und das alles sei „völlig legal“. Also muss es dafür eine Grundlage geben – und die wurde im Jahr 1996 in die Welt gesetzt: Es handelt sich um die Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern, auch als „Entsenderichtlinie“ bekannt. Wie so oft erleben wir hier den Mechanismus von gut gemeint und ganz anders gelandet: Die Richtlinie wurde ursprünglich geschaffen, um ins Ausland „entsandte Arbeiter“ besser zu schützen. Gerade Franzosen konnten damit im EU-Ausland arbeiten, ohne die großzügige französische Sozialversicherung zu verlieren. Der EU-Beitritt der osteuropäischen Länder hat dieses Prinzip aber auf den Kopf gestellt. Jetzt wird mit Hilfe dieses Regelwerks schlicht und einfach krasses Lohn- und Sozialabgabendumping betrieben.

Dass über die Entsenderichtlinie sowohl beim Stundenlohn als auch bei den Sozialabgaben massiv „gespart“ werden kann, beschreibt Brändle so:

»Ein Rumäne kostet seinen französischen Arbeitgeber deshalb deutlich weniger, weil die Sozialabgaben in seinem Land viel niedriger sind als in Frankreich. Er hat zwar laut Direktive Anspruch auf den im Land oder der Branche gültigen Mindestlohn. Den erhält er aber nur auf dem Papier: Meist werden davon diverse Ausgaben für Kost und Logis abgezogen – selbst wenn er auf dem Zeltplatz oder im Hühnerstall übernachtet.«

Also noch mal in anderen Worten: Auf der Grundlage der Richtlinie muss man zwar den entsandten Arbeitnehmern z.B. aus Polen oder Rumänien den im jeweiligen Staatsgebiet – falls vorhanden – gültigen gesetzlichen Mindestlohn (oder die bislang in Deutschland in einigen Branchen über das „Arbeitnehmerentsendegesetz“ für allgemeinverbindlich erklärte Branchen-Mindestlöhne) zahlen, was man aber faktisch durch „Rückverlagerung“ angeblicher Kosten auf die Arbeitnehmer sogleich wieder „abschmelzen“ kann.

Von großer Bedeutung sind die Einsparpotenziale aus Arbeitgebersicht bei den Sozialabgaben auf den Faktor Arbeit. Denn die Richtlinie verschließt gerade den Zugang zu dem Sozialversicherungssystem des Ziellandes: Für entsandte Arbeitnehmer gelten hier während der ersten 24 Monate einer Entsendung entsprechend Art. 12 (1) der VO (EG) 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit die Bestimmungen des Herkunftslandes. Mit anderen Worten: Die entsandten Arbeitnehmer z.B. aus Rumänien müssten zwar (wie wir gesehen haben oftmals nur formal) nach Mindestlohn bezahlt werden, aber für sie müssen keine Sozialabgaben in dem Land abgeführt werden, in dem sie arbeiten, also in Frankreich oder Deutschland, sondern in ihren Herkunftsländern (und bei vielen Sozialdumpern erfolgt das auch nur eingeschränkt oder nur auf dem sprichwörtlich geduldigen Papier). Für das Unternehmen in dem Zielland ist es ein weiterer Vorteil, dass die entsendenden Agenturen verantwortlich sind für die Einhaltung der Schutzbestimmungen, so dass man Verantwortung immer abdrücken kann. Das erschwert zugleich die Arbeit der Kontrollbehörden. Hierzu Brändle in seinem Artikel:

»Kontrollen der Zollbehörden stoßen regelmäßig an ihre Grenzen, sobald zur Rekrutierung von Arbeitskräften Ketten über mehrere Länder hinweg gebildet werden. Wenn etwa ein französisches Bauunternehmen Arbeiter anheuern will, bedient es sich einer irländischen Jobvermittlerin; diese reicht die Anfrage weiter an eine litauische Firma, die ihrerseits eine polnische Agentur einschaltet, welche die Arbeiter schließlich von einer rumänischen Partnerin bezieht.«

Was aber hat das nun mit der Betreuung von Pflegebedürftigen in Deutschland zu tun, mag sich der eine oder die andere jetzt fragen. Wer das genauer wissen möchte, dem sei hier der wirklich lesenswerte Beitrag „Legal, illegal, fast egal“ von Markus Klohr aus der Stuttgarter Zeitung empfohlen: Etliche Agenturen werben mit billiger Rund-um-die-Uhr-Pflege für Senioren. Das Geschäftsmodell ist lukrativ – aber oft gegen das Gesetz. Dubiose Anbieter nutzen eine Grauzone, die eine EU-Regel eröffnet. Und die Behörden sind meist machtlos.

Schauen wir einmal genauer in den Beitrag hinein.

»24 Stunden Arbeitszeit, an sieben Tagen pro Woche – und das alles für einen Monatslohn von 900 Euro oder noch weniger. Für Tausende Frauen aus Osteuropa sind solche Arbeitsbedingungen Alltag in Deutschland, einer Republik im Pflegenotstand … Fachleute schätzen, dass in Deutschland etwa eine halbe Million Frauen aus Osteuropa leben, die deutsche Senioren zu Hause betreuen … Ein gigantischer Wachstumsmarkt. Und ein Tummelfeld für dubiose Vermittlungsagenturen.«

Klohr zitiert Werner Huptas (57), der vor ein paar Jahren noch selbst Betreuerinnen vermittelt hat. Doch jetzt kann der gebürtige Oberschlesier mit der Billigkonkurrenz nicht mehr mithalten. Seitdem führt er einen Kampf gegen die Billig-Agenturen: „Die Leute müssen wissen, dass für diese Agenturen Senioren nur Renditeobjekte sind“, sagt er. Und dann wird er in dem Artikel mit einer harschen, aber die Realität leider gut treffenden Bemerkung zitiert: Es würden Sozialkassen betrogen, Tarife und gesetzliche Standards ausgehöhlt. Sein Fazit: „Die Behörden dulden die Schattenwirtschaft, weil sie keine einfachen Alternativen sehen.“

Als Beispiel für die entstandene „Schattenwirtschaft wird den Agentur „Promedica Plus“ erwähnt. »Der Tochterbetrieb des polnischen Unternehmens Promedica 24 – nach eigenen Angaben europäischer Marktführer bei der Vermittlung von Betreuungskräften – hat ein deutschlandweites Netz mit vielen örtlichen Franchisepartnern aufgebaut. So wurden nach eigenen Angaben schon rund 17 000 Arbeitskräfte nach Deutschland vermittelt. Promedica Plus wirbt im Internet mit „24-Stunden-Betreuung zu Hause, ab 45 Euro pro Tag“ – also rund 1300 Euro monatlich.« Und der Geschäftsführer des Unternehmens wird zitiert mit den Worten: Man biete den Mitarbeiterinnen „Verdienstmöglichkeiten, die in der Regel weit über denen in ihrer Heimat liegen“.«

Genau das hier erkennbare „doppelte Gefälle“ treibt diesen Menschen-Markt: Die Preise für die Betreuungsleistungen sind aus deutscher Sicht unschlagbar, auf der Basis auch unterster Standards des deutschen Sozial- und Arbeitsrechts nur für einige wenige sehr reiche Menschen finanzierbar, zum anderen sind die Hungerlöhne hier für die Betroffenen zu Hause immer noch „viel“ Geld, also vergleichsweise gemessen an dem, was sie dort erwirtschaften können, wenn sie überhaupt eine Erwerbsarbeit finden.

„Bei jedem Angebot einer ‚entsendeten‘ Rund-um-die-Uhr-Pflegekraft zum Preis von 1.600 oder 1.800 Euro pro Monat kann es nicht mit rechten Dingen zugehen“. Mit dieser Aussage zitiert Klohr den Bundesverband Europäischer Betreuungs- und Pflegekräfte (BEBP).

Die Basis des Promedica-Modells und das anderer Agenturen heißt – „Arbeitnehmerentsendung“. Womit wir wieder beim Thema wären. Allerdings ist dieser Bezug nach Ansicht der Finanzkontrolle Schwarzarbeit auf dem Pflege- und Betreuungssektor höchst fragwürdig. Das liegt daran, dass die entsandten Arbeitnehmer (eigentlich) nicht an Anweisungen ihrer deutschen Kunden gebunden werden dürfen, denn das Weisungsrecht verbleibt beim entsendenden Unternehmen, z.B. in Polen. Was natürlich total lebensfremd ist, worauf ich bereits in einer frühen Phase der Debatte über die Problematik der osteuropäischen Pflege- und Betreuungskräfte in Deutschland hingewiesen hatte.

Sell, S. (2010): Abschied von einer „Lebenslüge“ der deutschen Pflegepolitik. Plädoyer für eine „personenbezogene Sonderregelung“ und für eine aktive Gestaltung der Beschäftigung von ausländischen Betreuungs- und Pflegekräften in Privathaushalten (= Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 09-2010), Remagen, 2010

In der Praxis sieht es aber so aus, dass die betreuten Senioren und deren Familien faktisch als Arbeitgeber auftreten – ohne dass sie dafür aber Steuern und Abgaben in Deutschland entrichten.
Klohr weist in seinem Artikel auf ein zweites Problem der Agentur-Modelle hin: Die Agentur darf nur Arbeitnehmer ins EU-Ausland entsenden, wenn ihr Kerngeschäft und ihr Stammpersonal – laut EU-Richtlinie mindestens 25 Prozent – im Herkunftsland sind. Es sei nicht im Sinne der Richtlinie, „wenn Unternehmen gegründet werden, nur um Mitarbeiter ins Ausland zu entsenden und Sozialabgaben zu sparen“, so ein Sprecher des Zolls.

Und mit Blick auf Forderungen nach „mehr Kontrolle“ sollte man nicht vergessen, dass es sich um einen zahnlosen Tiger handelt, denn: Die Unverletzlichkeit der Wohnung verhindert das, was dem Zoll bei Großbaustellen oft die größten Schlagzeilen bringt: Kontrollen ohne Anlass oder Verdacht, bei denen Kommissar Zufall eine wichtige Rolle spielt, kommen bei privaten Betreuungsmodellen nicht infrage.

Ein weiterer problematischer Befund: Mittlerweile hat »die Billigkonkurrenz den legalen Vermittlungsmarkt fast verdrängt. Die Diakonie in Stuttgart etwa stellt die Vermittlung von Hilfskräften im Projekt Fair-Care ein. „Wir wollten zeigen, dass es auch legale Wege gibt“, sagt Maria Simo von der Diakonie. Aber die Nachfrage sei inzwischen gleich null.«

Könnte es eine legale Form der Beschäftigung geben – und zu welchem Preis? Auch dazu finden wir in dem Artikel von Klohr Hinweise, die wiederum von Werner Hupkas stammen:

»Rund 2.200 Euro muss den Familien ihre Pflegekraft schon wert sein. Dafür werden die Frauen dann direkt bei den Familien angestellt, Sozialbeiträge und Lohnsteuer werden regulär abgeführt – und: die Frauen sind bei schweren Unfällen oder Krankheiten regulär versichert. Für die Frauen selbst bleiben unterm Strich 1.000 bis 1.200 Euro – plus Kindergeld aus der deutschen Staatskasse …«
Allerdings auf Basis einer zu vereinbarenden Arbeitszeit von 38,5 Stunden pro Woche. Eine „24-Stunden-Pflege“ ist schlichtweg nicht legal möglich.

Mittlerweile – der „Markt“ funktioniert – haben sich die Modelle, über die die Helferinnen vermittelt werden, immer subtiler ausdifferenziert. Frauen kämen als Scheinselbstständige mit einem Gewerbeschein nach Deutschland. Selbst Hausärzte würden inzwischen Pflegekräfte an Patienten vermitteln – ihr Vertrauensverhältnis nutzend. Real Business halt.

Und nun abschließend wieder zurück zu den Franzosen. Was tun? Stefan Brändle berichtet:

»Die EU-Kommission hat zwar schon vor Monaten eine Reform angeboten. Paris will die Entsenderichtlinie aber von Grund auf revidieren … Die Kontrollen sollen europaweit durchgeführt werden; auch soll der Auftraggeber … verantwortlich werden, wenn die Vermittlungsagenturen die sozialen Mindeststandards nicht einhalten.«

Warten wir also mal ab, ob aus den Brüsseler Mühlen was rauskommt für die Betroffenen. An einem grundsätzlichen Treiber – auch anderer Formen der armutsbedingten Migration – ändert das alles nichts: An dem wirklich massiven Wohlstandsgefälle innerhalb des „einheitlichen Binnenmarktes“ namens EU. Das sichert den Nachschub an Billigarbeitskräften. Und schafft Arbeitsplätze für Kontrolleure, deren Tätigkeit oftmals den Charakter einer frustrierenden Don Quichoterie haben.

PISA prophylaktisch unter Feuer – das ist wirklich neu. Dabei gilt doch eigentlich: StEG, BiTe, BILWISS, LISA, Se- Mig, NEPS, ICILS: „Der Bedarf an Kennzahlen ist groß“

Am morgigen Dienstag werden die Ergebnisse der neuesten, fünften PISA-Studie veröffentlicht. Normalerweise läuft so ein zahlenhuberisches Großereignis nach dem Strickmuster ab, dass alle Medienvertreter gebannt auf die neuen Daten warten und dann ein beeindrucktes, vielstimmiges Raunen der Auf- und Erregung durch die elektronische bzw. Audio-TV-Welt und mit etwas Verspätung dann auch durch den Blätterwald rauscht, um kurze Zeit später wieder dem nächsten Ereignis den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie folgend Platz zu machen.

Doch diesmal ist etwas passiert, das nachdenklich stimmt – die neuen PISA-Daten sind noch gar nicht ex cathedra verkündet worden, da schwappt eine imposante Flut an Kritik, gar Ablehnung dessen, was sich hinter dem Kürzel PISA verbirgt, durch die Medien. Bereits in der vergangenen Woche konnte man in der Wochenzeitung DIE ZEIT in dem Artikel „Genauer hinschauen“ von Martin Spiewak lesen: »… die Leistungsvergleiche sagen wenig über gutes Lernen und Lehren aus. Ein Tadel.« In der heute veröffentlichten neuen Ausgabe des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL wird unter der Überschrift „Lernen nach Zahlen“ kritisch über den rasanten Aufstieg des Geschäftsmodells „empirische Bildungsforschung“ berichtet, die Süddeutsche Zeitung spricht von „Moderner Aberglaube“ und in der WirtschaftsWoche gibt es ein langes Interview mit dem Bildungsforscher Volker Ladenthin, das gar überschrieben ist mit dem Warnhinweis „PISA gefährdet unser Bildungssystem„. Das ist nun wirklich neu. Also stellt sich die Frage, ob man sich hier zu einer konzertierten Aktion verabredet hat, um einen deutschen Ausstieg aus der PISA-Testerei vorzubereiten – oder ob wir hier ein Überlaufen des Frustes über einen Imperialismus der zahlengetriebenen Sicht auf Schule erleben (dürfen).

Spiewak weist darauf hin, dass es unter der Oberfläche der inflationären Schulleistungstestverfahren mit ihren Schrankmeter füllenden, aber immergleichen Befunden eine brodelnde Unzufriedenheit breit gemacht hat: »Belegt ist mittlerweile, dass Jugendliche im Süden Deutschlands besser lesen als jene im Norden und dass im Osten der Republik besser gerechnet wird als im Westen. Man weiß auch, dass Schüler aus Zuwandererfamilien hohe Ambitionen haben, im Schnitt aber dennoch schlechter abschneiden als ihre Mitschüler. Und dass Neuntklässler in Bayern ihren Alterskameraden in Berlin um anderthalb Schuljahre voraus sind.« So weit, so bekannt. »Nur eines weiß man leider nicht: Warum ist das eigentlich so?« Man würde gerne wissen: Wer ist denn verantwortlich und mit welchem Anteil – die Lehrer, die Eltern, die sozialen Unterschiede, die Schulpolitik der Bundesländer? Manfred Prenzel, der derzeitige Pisa-Leiter, wird von Spiewak zitiert mit den Worten: „Über die Ursachen der regionalen Leistungsdifferenzen liegen keine empirisch gesicherten Erkenntnisse vor.“ Man könnte es auch so formulieren: „Empirische Wende“ erfolgreich geschafft, Deutungsdefizit stabilisiert. Der Umfang der Datensätze korreliert nicht mit dem Wissen über das Ursächliche. Für Spiewak sind die großen Vergleichsstudien wie „Satellitenbilder“, Schnappschüsse von oben – ein schönes, zutreffendes Bild. Und auch einen guten Rat hat er, leider wird dessen Umsetzung keine tollen Pressekonferenzen füllen: »Die empirische Bildungsforschung muss in Zukunft viel genauer hinschauen. Sie sollte untersuchen, wie Lehrer unterrichten und Kinder lernen; wie Eltern bei den Hausaufgaben helfen oder Rektoren ihre Schule verändern.«

Warum sind alle so auf die bekannteste aller Bildungsstudien fixiert? Schließlich ist nicht einmal gesichert, dass sie misst, was sie zu messen vorgibt, so die These von Thomas Steinfeld in seinem Artikel „Moderner Aberglaube„. Seine Zweifel beziehen sich auf die Tests, die den Studien zugrundeliegen: »Erfasst werden kann nur, was zuvor ausgewählt, standardisiert und zum Zweck der Prüfung aufbereitet wurde.« Und für jeden, der statistisch vergleichend arbeitet, ist das folgende Argument durchschlagend für Skepsis und Zweifel an den Ranking-Ergebnissen neben den inhaltlichen Fragezeichen: »Bekannt ist auch, dass die Voraussetzungen für die Teilnahme an den Tests in verschiedenen Ländern oft nicht vergleichbar sind – etwa dadurch, dass in vielen Staaten Fünfzehnjährige mit schlechter Ausbildung die Schule schon verlassen haben, während sie in Deutschland noch unterrichtet werden, weshalb der Durchschnitt dann zwangsläufig sinkt.«
Und es gibt eine ernstzunehmende Kritik daran, über die PISA-Philosophie das Verstehen konsequent durch Kompetenz zu ersetzen, Wissen durch abrufbare Fertigkeiten oder „skills“. Der vielleicht schwerwiegendste Vorwurf lautet: PISA & Co. haben sich längst von einem deskriptiven zu einem normativen Projekt gewandelt.

Wenn aber ausweislich der breiten Kritik an vielen Aspekten des Test(un)wesens die Ergebnisse der Tests so fragwürdig sind – warum gibt es sie dann noch? Gute Frage. Steinfeld resümiert dazu: »… weil im Zuge der radikalen Ökonomisierung aller Gesellschaften der Wettbewerb als solcher längst als etwas schlechthin Erstrebenswertes gilt, ganz unabhängig davon, was jeweils dabei herauskommt – weil also der verselbständigte Formalismus der Konkurrenz gar keinen anderen Gedanken mehr zulässt, als dass mehr Konkurrenz besser ist als weniger Konkurrenz. Das aber ist ein moderner Aberglaube.« Touché, Herr Steinfeld.

Schweres Geschütz fährt der Bildungsforscher Volker Ladenthin in einem Interview auf: „PISA gefährdet unser Bildungssystem„. Er kritisiert, dass PISA zum einen viele explizite Ziele in unserem Bildungssystem gar nicht misst, beispielsweise demokratische Gesinnung. Zum anderen hat PISA eigenmächtig fremde, nicht vorab demokratisch verabredete Kriterien für das, was gute Bildung sein soll, eingeführt – also PISA als „normatives Projekt“, wie wir es in diesem Beitrag schon lesen konnten. Letztendlich verdichtet sich seine Argumentation in einer Art feindlichen Übernahme des Bildungssystems durch Dritte und deren Interessen. Ladenthin beklagt, dass die Normsetzung durch internationale Organisationen wie die OECD, die hinter PISA steht, unser Bildungssystem zunehmend darauf reduziert, Menschen nur noch für kurzfristige und begrenzte Zwecke auszubilden:

»Schüler sollen nach PISA eben nicht lernen, nach dem Sinn des Lernens zu fragen, sondern sie sollen Aufgaben lösen, gleichgültig welche. Der von PISA als kompetent Geprüfte soll später einmal ebenso Babynahrung produzieren können wie Landminen. Angesichts der Kriterien von PISA und einer auf PISA ausgerichteten Schule sind beide Aufgaben gleich gültig. Und sie bedürfen der gleichen Kompetenzen.«

Bei der ersten PISA-Runde wurden die deutschen Schulen unvorbereitet getroffen. »Nach dem ersten wohlinszenierten PISA-Schock haben sich Schulverwaltungen und Schulen dann jedoch angestrengt, schnell das als Lehrstoff verbindlich zu machen, was PISA testet.«

Insofern dürfen wir uns auch nicht wundern, dass die ehrgeizigen Deutschen morgen sicher weitere tolle Fortschritte auf dem Weg nach PISA attestiert bekommen werden. Alles andere würde die konsequente Ausrichtungsstrategie in den Bundesländern schwer diskreditieren.
PISA ist für die Ausbildung der Massen da. Für die Massen-Schulen, in denen künftige Arbeitskräfte fit gemacht werden sollen. Es geht um Anpassung und Einübung. »Von der Qualifikation der Arbeitgeber ist erst gar nicht die Rede.« Da muss man ihm zustimmen. Das ist vergleichbar mit der ewigen Klage über eine angebliche oder tatsächliche mangelnde Ausbildungsreife der jungen Menschen. Die gibt es aber auch auf der anderen Seite, bei den Unternehmen. Das taucht aber kaum oder gar nicht auf in der öffentlichen Debatte. Höchstens, wenn es wieder einmal einen „bedauerlichen“ Einzelfall unhaltbarer Zustände gegeben hat, was dann aber so schnell wieder aus den Medien verschwunden ist wie die Berichte über irgendwelche unhaltbaren Zustände in Pflegeheimen.

Ladenthin stellt die These auf, dass über PISA nicht wirklich mehr „Bildungsgerechtigkeit“ angestrebt werden soll, sondern Vergleichbarkeit, Gleichförmigkeit und Standardisierung. Die Ziele von Bildung heißen inzwischen „Bildungsstandards“. Das Schlagwort „Bildungsgerechtigkeit“ dient dabei ausschließlich der „Akzeptanzbeschaffung“, so zitiert Ladenthin die Aussage eines Staatssekretärs.

Und dann weist er auf eine fundamentale Kritik hin, die hier besonders hervorgehoben zitiert werden soll: »Die Folge für das Bildungssystem ist der Verlust an Kultur, also der Verlust von bedeutsamen Inhalten: Philosophie, Politik, Kunst, Literatur, Natur oder humaner Lebenssinn werden zur Privatangelegenheit«.

Übrigens sind das alles Dinge, die bei PISA gar nicht getestet werden (können). Und was nicht gemessen werden kann, das gibt es dann irgendwann auch nicht mehr richtig. Also im falschen Leben. Dem der Datengläubigkeit. Von daher ist es gut, dass wir schon am Vorabend von PISA die Chance bekommen, unsere Zeit anders einzuteilen als nach dem üblichen Muster der Erregungsökonomie. Beispielsweise – wenn man denn die Zeit hat – mal wieder ein Buch lesen.

Anderthalb Schritte vor, ein Schritt zurück? Die Regelungen zum flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn im Koalitionsvertrag

Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 18. Legislaturperiode trägt den Titel „Deutschlands Zukunft gestalten“. Besonders umstritten waren und sind Fragen den Arbeitsmarkt betreffend, denn bereits im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen wurde die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde seitens der SPD als conditio sine qua non für den erfolgreichen Abschluss eines Vertrages in den politischen Raum gestellt. Nunmehr liegt er also vor, der große Koalitionsvertrag und damit haben wir die Möglichkeit wie die Verpflichtung, einmal genauer hinzuschauen. Und neben dem Mindestlohn gibt es weitere arbeitsmarktliche Baustellen, vor allem bei der Leiharbeit und den Werkverträgen, die es in diesem Kontext zu analysieren und – soweit man das zum jetzigen Zeitpunkt angesichts der „Koalitionsvertragslyrik“ überhaupt leisten kann – auch zu bewerten gilt.

Beginnen wir mit dem Mindestlohn, konkreter in seiner von der SPD gleichsam als Vorbedingung für das gemeinsame Regieren geforderten Form als flächendeckender, gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde. Kommt er? Die Antwort nach einem Blick in den Koalitionsvertrag muss so ausfallen: Im Prinzip ja, aber. Diese Antwort-Kategorie mit ihrer Anlehnung an das Radio-Eriwan-Prinzip ist natürlich auf der einen Seite eine gemein daherkommende Überspitzung angesichts der Tatsache, dass man das Ergebnis durchaus als einen großen Durchbruch angesichts der bisherigen Widerständigkeit gegen einen gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohn als solchen sowie den heftigen, aggressiven Angriffen aus Teilen der Wirtschaft wie auch aus dem Mainstream der deutschen Wirtschaftswissenschaften gegen die vorgesehene Höhe von 8,50 Euro pro Stunde bewerten kann. Auf der anderen Seite bildet die „Im Prinzip ja, aber“-Formel genau das ab, was wir dazu im vorliegenden Vertragstext finden:

»Zum 1. Januar 2015 wird ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde für das ganze Bundesgebiet gesetzlich eingeführt. Von dieser Regelung unberührt bleiben nur Mindestlöhne nach dem AEntG.« (S. 68)

Erster Befund: Der Mindestlohn wird kommen und das auch in der geforderten Höhe von 8,50 Euro. Aber erst zum 01.01.2015. Damit hat man schon mal das gesamte kommende Jahr „gewonnen“ für eine „mindestlohnfreie“ Zeit. Das bedeutet im Ergebnis aber auch, dass es keine 8,50 Euro pro Stunde von heute sein werden, denn nominal 8,50 Euro 2015 werden real keine 8,50 Euro des Jahres 2013 sein können. Außerdem ergibt sich eine weitere Einschränkung aus der Formulierung im Vertrag, dass „nur Mindestlöhne nach dem AEntG“ unberührt bleiben von der Einführungsvorschrift. Damit sind die Branchenmindestlöhne gemeint. Hier lohnt allerdings ein genauerer Blick auf die dort fixierten Branchenmindestlöhne, die nach dem AEntG allgemein verbindlich erklärt worden sind. Denn es gibt hier einige Branchen-Mindestlöhne, die unter der angeblich „nicht-verhandelbaren“ Lohnschwelle von 8,50 Euro pro Stunde liegen – und die betreffen bis auf eine Ausnahme immer Ostdeutschland:

  • In der Gebäudereinigung liegt der Mindestlohn (LG1) derzeit bei 7,56 Euro, Ab dem 01.01.2014 werden es 7,96 Euro sein und eine weitere Anhebung auf 8,24 Euro ist für den 01.01.2015 vorgesehen.
  • In der Pflegebranche liegt der Mindestlohn in den ostdeutschen Bundesländern bei 8,00 Euro.
  • Bei den Sicherheitsdienstleistungen liegt der Mindestlohn derzeit bei 7,50 Euro, hier nicht nur in Ostdeutschland, sondern ebenfalls in zahlreichen westdeutschen Bundesländern (Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein usw.)
  • Und schlussendlich haben wir noch die Leiharbeit, wo erst vor kurzem die Gewerkschaften einen neuen Tarifvertrag abgeschlossen haben mit den Arbeitgebern der Branchen: Während für Westdeutschland ab dem kommenden Jahr ein Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde gelten wird, sieht der Tarifvertrag für Ostdeutschland nach unten abweichende Regelungen vor:  Ab dem 01.01.2014 werden es dort 7,86 Euro sein, ab dem 01.04.2015 dann 8,20 Euro und die heute geforderten 8,50 Euro werden nach diesem Tarifwerk erst am 30.06.2016 erreicht sein.

Nun könnte man an dieser Stelle argumentieren, dass über diesen Weg eine auch von grundsätzlichen Befürwortern eines gesetzlichen Mindestlohns bei der Diskussion über die konkrete Einstiegshöhe von 8,50 Euro ins Spiel gebrachte abweichende Übergangsregelung für Ostdeutschland realisiert wird aufgrund der vielen Niedriglohnbranchen dort, um schockartige Anpassungsprozesse mit größeren Arbeitsplatzverlusten zu vermeiden oder abzumildern. Allerdings ist das keine zeitlich eng befristete regionale Differenzierung einer allgemeinen Lohnuntergrenze, sondern wir sind hier konfrontiert mit unterschiedlich niedrigeren Mindestlöhnen in einigen Branchen, die es in der Vergangenheit unter den Schutzschirm des Arbeitnehmerentsendegesetzes geschafft haben.

Aber die weiteren Formulierungen im Koalitionsvertrag verkomplizieren die Situation sogar noch, denn nach dem bereits zitierten Passus mit der grundsätzlichen Einführungsvorschrift zum 01.01.2015 unter Herausnahme der behandelten Branchenmindestlöhne nach AEntG werden weitere Ausnahmetatbestände aufgeführt – und die nun wieder nicht differenziert nach West und Ost:

»Tarifliche Abweichungen sind unter den folgenden Bedingungen möglich:
• Abweichungen für maximal zwei Jahre bis 31. Dezember 2016 durch Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf Branchenebene
• Ab 1. Januar 2017 gilt das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau uneinge- schränkt.
• Zum Zeitpunkt des Abschlusses der Koalitionsverhandlungen geltende Tarifverträge, in denen spätestens bis zum 31. Dezember 2016 das dann geltende Mindestlohnniveau erreicht wird, gelten fort.
• Für Tarifverträge, bei denen bis 31. Dezember 2016 das Mindestlohnniveau nicht erreicht wird, gilt ab 1. Januar 2017 das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau.
• Um fortgeltende oder befristete neu abgeschlossene Tarifverträge, in denen das geltende Mindestlohniveau bis spätestens zum 1. Januar 2017 erreicht wird, eu- roparechtlich abzusichern, muss die Aufnahme in das Arbeitnehmerentsendegesetz (AentG) bis zum Abschluss der Laufzeit erfolgen.«

In der einfachen und zusammenfassenden Übersetzung bedeutet das: Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn in Höhe von (dann) 8,50 Euro pro Stunde kommt definitiv – am 01.01.2017. Dann uneingeschränkt. Bis dahin – also während der kommenden drei Jahre – können aber Tarifvertragspartner in bestimmten Branchen, wenn sie denn wollen, Abweichungen nach unten vornehmen.

Jetzt ist es aber genug mit den Ausnahmen – oder doch nicht? Nein, nicht ganz, denn ein weiterer, überaus flexibel gehaltener Passus findet sich zum Thema Mindestlohn im Koalitionsvertrag:

»Wir werden das Gesetz im Dialog mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern aller Bran- chen, in denen der Mindestlohn wirksam wird, erarbeiten und mögliche Probleme, z. B. bei der Saisonarbeit, bei der Umsetzung berücksichtigen.«

Das zielt nun eben nicht nur auf die Saisonarbeit, besonders relevant für die Landwirtschaft mit ihren zumeist osteuropäischen Saisonkräften, deren Herausnahme aus dem „flächendeckenden“ gesetzlichen Mindestlohn offensichtlich über diese Formulierung vorbereitet wird. Sondern die Saisonkräfte stehen dort nur als ein Beispiel für die grundsätzliche Bereitschaft, mit allen Branchen im Gesetzgebungsverfahren zum Mindestlohn über dann vorgetragene Probleme einer Mindestlohnimplementierung zu sprechen und deren Spezifika falls notwendig auch zu „berücksichtigen“, was immer das bedeutet.

Fazit: Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn kommt – in Höhe von (dann) 8,50 Euro definitiv zum 01.01.2017. Zwischenzeitlich gibt es Abweichungsspielräume nach unten und überhaupt wird man noch über vieles reden wollen müssen.

Eine harte Packung: Ungleichheit und soziale Polarisierung im Spiegel neuer Zahlen

Es gibt sie, diese Tage, an denen man förmlich bombardiert wird mit Zahlen und Aussagen, die auf fundamentale gesellschaftliche Entwicklungslinien verweisen. So ein Tag fängt beispielsweise an mit einer solchen Botschaft: Das Statistische Bundesamt bringt es in der für die Bundesstatistiker so typisch trockenen Art und Weise, aber zugleich absolut zutreffend schon in der Überschrift der Pressemitteilung über den neuen „Datenreport 2013“ auf den Punkt: „Mehr Jobs, aber auch mehr Armut„. Die Süddeutsche Zeitung titelt dazu: ”Reiches Deutschland, armes Deutschland“ und Spiegel Online gar: „Arme Deutsche sterben früher„. Eine Zusammenfassung einiger ausgewählter Aspekte aus dem neuen „Datenreport 2013“ kann man auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ nachlesen.

Aber damit noch nicht genug: „Deutschland vernachlässigt arme Rentner„, so berichtet Spiegel Online über eine neue OECD-Studie, die Online-Ausgabe der Welt überschreibt einen Artikel dazu mit: „Geringverdiener bekommen ein Rentenproblem„. Was ist hier los?

Die OECD hat eine neue Studie vorgestellt, aus der wir für Deutschland die folgende Perspektive entnehmen können: Nach derzeitigem Stand würden „die Rentenbezüge für Menschen mit verhältnismäßig kleinem Gehalt gegen Mitte dieses Jahrhunderts so niedrig sein wie in kaum einem anderen OECD-Land“, sagte die Leiterin der Abteilung für Sozialpolitik, Monika Queisser. Die Ökonomen der OECD analysieren die Lebensstandardänderung beim Eintritt in den Ruhestand. Die wird gemessen an den so genannten „Ersatzraten“:

»Sie zeigen an, wie hoch die Bezüge von Rentnern im Verhältnis zu ihrem früheren Einkommen in Zukunft liegen werden. Im Schnitt aller 34 Länder liegt die Rate bei 54 Prozent des Bruttoeinkommens. Wer in Deutschland 2012 zu arbeiten beginnt und sein Leben lang Rentenbeiträge zahlt, kann laut OECD später 42 Prozent seines durchschnittlichen Bruttoeinkommens erwarten. Das ist nicht einmal halb so viel wie beim Spitzenreiter Niederlande, der auf eine Ersatzrate von stolzen 89 Prozent kommt.«

Immerhin bekommt man in Deutschland mehr als in Großbritannien, wo Durchschnittverdiener nur knapp ein Drittel ihres früheren Einkommens erhalten.

Allerdings: Das sind die Durchschnittswerte. Und die Daten für die Geringverdiener zeigen für Deutschland ein weitaus schlechteres Bild:

»Deutlich schlechter sieht der Vergleich jedoch bei Geringverdienern aus, die nur über die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens verfügen. Sie erhalten laut Studie in den meisten OECD-Ländern deutlich höhere Ersatzraten als Durchschnittsverdiener und werden somit vor Altersarmut geschützt. In Dänemark bekommen Niedrigverdiener 121 Prozent ihres früheren Einkommens, in Israel sind es 104 Prozent. Ganz anders in Deutschland: Hier erhalten Geringverdiener genauso wie der Durchschnitt nur 42 Prozent ihres Einkommens. Damit landet Deutschland noch hinter Polen (49 Prozent) auf dem letzten Platz.«

Nun wird an dieser Stelle immer wieder kritisch angemerkt, dass der Lebensstandard nicht nur von der Rente abhängig sei, sondern beispielsweise auch von Vermögenstatbeständen wie dem Besitz eines Hauses oder einer Eigentumswohnung. Doch auch da sieht es im internationalen Vergleich für einen Teil der in Deutschland lebenden Menschen nicht gut aus:

»So profitiert nur jeder zweite Deutsche im Ruhestand vom eigenen Haus oder der eigenen Wohnung. Im OECD-Schnitt sind es dagegen 76 Prozent.«

Und auf die immer wieder beschworenen Umverteilungseffekte staatlicher Leistungen kommen nicht berauschend daher:

»Staatliche Leistungen erhöhen das Einkommen der deutschen Rentnergeneration um durchschnittlich 30 Prozent, zehn Prozentpunkte unter dem OECD-Schnitt.«

Derzeit – gleichsam als Folgewirkung der „alten“ Erfolgsstory Rentenversicherung steht Deutschland nicht gut da beim Thema Altersarmut. Allerdings:

»Der (neue) Datenreport 2013 zeigt aber, dass die Armutsgefährdung gerade bei älteren Deutschen in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen hat.«

Die OECD weist darauf hin, dass viele Länder anders als Deutschland die Geringverdiener bei ihren Sparbeschlüssen verschont haben.

Was zu tun wäre? Ein relativ naheliegendes Konzept wäre die Besserstellung der Geringverdiener in der Rentenversicherung. Also eine stärkere Umverteilung innerhalb der Rentenversicherung. Wir hatten in der Vergangenheit solche Umverteilungselemente, die mittlerweile abgeschafft worden sind, beispielsweise die Rente nach Mindesteinkommen. Eine Mindestrente wäre die logische Antwort auf diese Entwicklungen. Beispielsweise.