Unabhängig von der durchaus plausiblen Vermutung, dass eine vergleichbare Abstimmung in Deutschland wahrscheinlich ähnlich ausgefallen wäre, wird auch in unserem Land auf der einen Seite vorsätzlich (oder fahrlässig?) mit dem Feuer gespielt, andererseits dürfen reale Folgeprobleme, die aus der Zuwanderung in bestimmte Städte resultieren, nicht einfach von denen ausgeblendet werden, die als Entscheidungsträger persönlich mit diesen Folgen in aller Regel überhaupt nicht konfrontiert sind.
Sozialpolitik
Keine Ausnahmen beim Mindestlohn. Also eigentlich keine. Über die Schwierigkeiten, die man bekommen kann, wenn man sich mit den jungen Menschen beschäftigt
In der Politik gibt es ein einfaches Gesetz, nach dem man auch komplizierte Dinge möglichst einfach regeln sollte bzw. zumindest die Botschaft, die an die Betroffenen geht, sollte so einfach wie möglich gehalten werden. Damit das auch wirklich jeder versteht bzw. verstehen kann. Damit verbunden ist natürlich ein unauflösbares Spannungsverhältnis zwischen eigentlich differenziert auszugestalten Regelungen und dem, was man letztendlich vor diesem politischen Hintergrund umsetzen kann. Die anstehende Regelung eines gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohns bietet hierfür quasi ein Lehrbuchbeispiel. Ist schon die Höhe des Mindestlohns heftig umstritten, so verweisen die Befürworter dieses Instruments darauf, dass jede Ausnahme von der Gültigkeit der zu schaffenden Mindestlohnregelung gravierende Folgeprobleme mit sich bringt, die die angestrebte Wirkung des Mindestlohns abschwächt bzw. entsprechende Umgehungsstrategien anreizt.
Insofern war es nicht überraschend, dass der Versuch des gegnerischen Lagers, über eine möglichst weit ausgreifende Ausnahmeregelung beispielsweise alle Rentner, Studenten oder gar alle Mini-Jobber von der Anwendung des Mindestlohns auszunehmen, auf heftigen Widerstand gestoßen ist. Letztendlich wäre die Zahl der Betroffenen derart groß geworden, dass wir unterhalb des „Mindestlohns“ eine neue „Nicht-Mindestlohngruppe“ bekommen, in der sich mehrere Millionen Menschen befinden würden. Vor diesem Hintergrund ist es erst einmal nicht überraschend, dass ein Vorstoß aus den Reihen der Grünen, über eine Ausnahmeregelung für junge Menschen nachzudenken, auf große Ablehnung gerade bei den Mindestlohnbefürworter angestoßen ist. So eine Headline kommt hier nicht gut an: „Grüne fordern reduzierten Mindestlohn für Berufseinsteiger„. Die grüne Bundestagsabgeordnete Brigitte Pothmer hat vorgeschlagen, die Höhe des Mindestlohns nach Alter oder Berufserfahrung zu staffeln, damit Jugendliche nicht durch die Aussicht auf 8,50 Euro Stundenlohn in einfache Hilfsarbeiten gelockt werden.
„Ein Mindestlohn sollte zum Beispiel keinen Anreiz dafür setzen, dass junge Menschen jobben gehen und dafür auf eine Ausbildung verzichten“, so wird Pothmer in dem Beitrag zitiert. Frau Pothmer ist sich natürlich darüber bewusst, dass sie gleichsam zwischen den Stühlen sitzt, wenn sie eine solche Forderung aufstellt, denn es ist immer einfacher, wenn man „nur“ für oder gegen den Mindestlohn ist. »Allerdings dürfe der gesetzliche Mindestlohn auch nicht durch „ausufernde Ausnahmen“ ausgehöhlt werden«, so wird sie selbst in dem Artikel mit Blick auf das sich auftuende Dilemma zitiert.
Nun ist es bekanntlich ja so, dass in den meisten Ländern um uns herum staatliche Mindestlohnregelungen vorhanden sind. Und hier werden von Frau Pothmer zwei Länder gleichsam als Kronzeugen angeführt, bei denen es ganz offensichtlich eine Differenzierung nach dem Alter der Betroffenen gibt:
»Beispiele für solche gestaffelten Mindestlöhne liefern etwa die Niederlande und Großbritannien. In den Niederlanden gilt der Mindestlohn von derzeit 1.485,60 Euro je Monat (etwa 9,30 Euro je Stunde) erst von einem Alter von 23 Jahren an; für Arbeitnehmer im Alter von 15 bis 22 Jahren sind es dagegen nur 30 bis 85 Prozent des vollen Mindestlohns. In Großbritannien beträgt der allgemeine Mindestlohn 6,31 Pfund (umgerechnet 7,65 Euro) je Stunde; bis zu einem Alter von 21 Jahren gelten jedoch reduzierte Sätze von 3,72 und 5,03 Pfund.«
Mit Blick auf die besondere Situation in Deutschland sollen hier zwei Hauptargumentationslinien für einen abgesenkten Mindestlohn für junge Menschen kritisch diskutiert werden:
- Zum einen wird argumentiert, dass ein zu hoher Mindestlohn mitverantwortlich sei für die außerordentlich hohe Jugendarbeitslosigkeit in anderen Ländern, so dass eine Übertragung auf unser Land entsprechend negative Arbeitsmarktkonsequenzen für die jungen Menschen hätte.
- Auf der anderen Seite wird angesichts der besonderen Bedeutung der dualen Berufsausbildung in unserem Land darauf hingewiesen, dass es hoch problematisch sei, wenn der Mindestlohn während einer dreijährigen Berufsausbildung keine Anwendung findet (was bei allen, die sich ernsthaft mit dem Mindestlohn beschäftigen, unstrittig ist), man aber gleichzeitig für eine ungelernte Arbeit einen deutlich höheren Stundenlohn aufgrund der Anwendung des Mindestlohnes erzielen könnte. Hieraus wird die Befürchtung abgeleitet, dass negative Anreize bei den jungen Menschen gesetzt werden, eine ordentliche Berufsausbildung zu machen, worauf Frau Pothmer ja auch ausdrücklich hingewiesen hat.
Beide Argumentationslinien hängen natürlich miteinander zusammen, was man sich verdeutlichen kann, wenn es um die Unterschiede hinsichtlich der Jugendarbeitslosigkeit im internationalen Vergleich geht. Die Quellen der Jugendarbeitslosigkeit sind natürlich äußerst heterogen, es gibt nicht nur eine Ursache für das jeweilige Niveau der Jugendarbeitslosigkeit. Allerdings wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die doch im internationalen Vergleich sehr niedrige Jugendarbeitslosigkeit in Ländern wie Deutschland, Österreich, Dänemark oder auch in der Schweiz nicht nur, aber eben auch mit der Tatsache zu tun haben, dass es in diesen Ländern ein hoch entwickeltes System der dualen Berufsausbildung gibt. Wenn man nun solche Länder beispielsweise vergleicht mit Frankreich oder Spanien, dann muss man doch nicht nur fairerweise die völlig unterschiedliche volkswirtschaftliche Situation berücksichtigen, sondern auch die Unterschiede in den Ausbildungssystemen die jungen Menschen betreffend. Insofern wird die Frage eines Mindestlohns hier eine Rolle spielen, aber eben nur eine unter vielen.
Nun kann man allerdings gerade vor diesem Hintergrund der besonderen Bedeutung der dualen Berufsausbildung in Deutschland argumentieren, dass man besonders intensiv über die Frage der Anwendbarkeit einer Mindestlohnregelung auch für sehr junge Menschen nachdenken muss. Denn es ist doch offensichtlich, dass während der Berufsausbildung, die ja kein normales Arbeitsverhältnis darstellt, sondern gleichsam eine Hybridform aus Arbeiten und Lernen, die Anwendung der vorgesehenen Mindestlohnhöhe zu einer derartigen Verteuerung der Ausbildungskosten für die Arbeitgeber führen würde, so dass die Gefahr besteht und auch realistisch wäre, dass das Ausbildungssystem erheblichen Schaden nehmen würde. Aus dieser Perspektive wäre es dann allerdings hoch problematisch, wenn man für eine Ausbildung, die ja nicht nur mit Arbeit im Betrieb verbunden ist, sondern einen nicht selten erheblichen Lernaufwand voraussetzt, der über die betriebliche Tätigkeit hinausgeht, deutlich weniger Geld bekommt, als wenn man in der gleichen Zeit als ungelernte Arbeitskraft in einer Fabrik für 8,50 € in der Stunde arbeiten geht.
An dieser Stelle offenbart sich allerdings in aller Schärfe das letztendlich unlösbare Dilemma bei der Frage nach einer (Nicht-) Differenzierung des Mindestlohns nach dem Alter: Denn ganz offensichtlich besteht bei der Absenkung oder gar der Nichtanwendbarkeit eines gesetzlichen Mindestlohns im Falle junger Menschen die Gefahr und der Anreiz, verstärkt auf junge Menschen zurückzugreifen, denn damit kann man ja deutlich niedrigere Personalkosten realisieren, als wenn man „normale“ Arbeitnehmer beschäftigen muss. Dass dies eine erwartbare Verhaltensweise eines Teils der Unternehmen wäre, kann man sich verdeutlichen, wenn man sich beispielsweise Branchen anschaut wie die Systemgastronomie oder auch Teile des Einzelhandels, wo das jeweils spezifische Tätigkeitsspektrum eine noch stärkere Verlagerung auf junge Arbeitskräfte durchaus möglich macht.
- Ich habe an dieser Stelle ganz bewusst als ein Branchen-Beispiel die Systemgastronomie herangezogen, denn ein mögliches ökonomisches Argument für einen abgesenkten Mindestlohn für junge Menschen wäre ein Produktivitätsunterschied zwischen jüngeren und älteren Arbeitnehmern. Aber ganz offensichtlich ist es im Fall der Tätigkeit bei einem der Burger-Ketten so, dass man nicht wirklich behaupten kann, dass ein 17- oder 18-jähriger Arbeitnehmer deutlich weniger produktiv einen Burger braten kann, als ein Mitarbeiter, der sich im normalen Erwachsenenalter befindet. Gerade wenn es diese Produktivitätsunterschiede zwischen Jüngeren und Älteren nicht gibt und wir mit unterschiedlichen Mindestlöhnen konfrontiert werden, besteht ein großer Anreiz für einen Teil der Unternehmen auf die Beschäftigung der in diesem Kontext dann natürlich günstigeren jüngeren Kräfte auszuweichen.
Dass wir es hier mit einem letztendlich nicht auflösbaren Dilemma zu tun haben zwischen einer Entscheidung für eine möglichst umfassende, flächendeckende Anwendung einer Mindestlohnregelung für alle Arbeitnehmer und der Berücksichtigung von besonderen Anreizen, die man bei jungen Menschen vermeiden möchte, zeigt auch ein Blick auf den internationalen Vergleich hinsichtlich der Frage, inwieweit es – das wurde am Anfang am Beispiel der Länder Niederlande und Großbritannien schon angesprochen – eine abgesenkte Mindestlohnvariante für junge Menschen gibt oder eben nicht. Interessanterweise findet man im Netz sofort Übersichten über die in den einzelnen Ländern geltenden Mindestlöhne, in aller Regel fehlen dort allerdings Hinweise, dass es nicht nur einen Mindestumsatz pro Stunde gibt, sondern unterschiedliche Mindestlöhne, beispielsweise für junge Menschen. Die OECD hat sich in der Vergangenheit immer wieder in ihren arbeitsmarktpolitischen Veröffentlichungen bei der Behandlung des Mindestlohnes wenigstens kursorisch immer auch mit der Frage der Gleich- oder Sonderbehandlung von jungen Menschen auseinandergesetzt. Hier beispielsweise der Auszug aus einer tabellarischen Übersicht, die von der OECD im Jahr 2010 in einer Studie publiziert worden ist:
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Quelle: OECD (2010): Jobs for Youth. Greece 2010, Paris 2010, S. 136 |
Mit Blick auf alle OECD-Staaten, die „einen“ Mindestlohn eingeführt haben, kann man vereinfachend sagen, dass etwa die Hälfte dieser Länder spezielle, d.h. abgesenkte Regelungen für junge Menschen hat. Das bedeutet auf der anderen Seite aber auch, dass es in der Hälfte der Mindestlohn-Länder keine Sonderregelung für junge Menschen gibt. Eine Differenzierung der Mindestlöhne kann es auch im Erwachsenenbereich bzw. nach anderen Kriterien geben als nach dem Alter. So weist die OECD darauf hin, dass Griechenland einerseits zwar keinen „sub-minimum wage“ für Jugendliche hat, andererseits aber im internationalen Vergleich durch eine erhebliche Differenzierung der Mindestlöhne auffällt: »Greece is unusual in having 22 different levels of the minimum wage set according to family and professional status as well as work experience« (OECD 2010: 134).
Die OECD hat in ihren Veröffentlichungen immer wieder auch versucht, den Stand der Forschungsdiskussion über die spezielle Frage nach einer (Nicht-)Sonderbehandlung von jungen Menschen beim Mindestlohn zusammenfassend darzustellen. Hier einige der wichtigsten Erkenntnisse (vgl. dazu „The minimum wage and youth employment: international evidence“, in: OECD (2010): Jobs for Youth. Greece 2010, Paris 2010, S. 137, Box 3.1.), wobei gleich am Anfang auf das hier schon angesprochene Dilemma hingewiesen wird:
»While a high minimum wage may increase the rate of school dropouts and therefore labour force participation, it can also drive a wedge between youth labour costs and their expected productivity, thereby raising unemployment and discouraging some youth from entering the labour market.«
In einer bilanzierenden Gesamtschau kommt die OECD zu dem Ergebnis:
»The balance of international empirical evidence suggests that too-high minimum wages have a negative impact on youth employment, especially if combined with high non-wage labour costs …«
Die vor allem hier in Deutschland angesichts der angesprochenen besonderen Bedeutung der dualen Berufsausbildung relevante Frage nach den (möglichen) Auswirkungen eines Mindestlohns auch für junge Menschen auf deren Aus)Bildungsbeteiligung lässt sich – das ist jetzt keine Überraschung – auch nicht einfach beantworten, allerdings ist hinsichtlich der Forschungsbefunde zumindest eine klare Tendenz erkennbar:
»Too-high minimum wages may also have an effect on education enrollment. Theoretically, this effect could go either way. For example, if a higher minimum wage reduces the number of jobs available, more teenagers may remain in school because they cannot find jobs. A minimum wage increase may also raise the minimum level of productivity required for employment and some youth may return to education to acquire the necessary skills. On the other hand, higher minimum wages increase the opportunity costs of staying in education, particularly for very low skilled youth. Furthermore, by increasing the income of drop-outs relative to graduates, higher minimum wages may reduce the relative return to higher levels of education. Empirically, the balance of international evidence suggests that increasing minimum wages has a negative impact on the enrollment of teenagers in education but not of young adults and that the negative effect is particularly strong for youth with very low skills.«
Folgt man also der skizzierten Forschungsevidenz, dann würde es bei uns Probleme vor allem geben können im Bereich der Jüngeren (16 bis 18 Jahre) und unter denen vor allem bei den Jugendlichen mit erheblichen Qualifikationsproblemen.
Auf der anderen Seite ist sicherlich deutlich geworden, dass die Herausnahme der Jüngeren nicht ohne entsprechende Kollateralschäden zu haben sein wird.
Abschließend soll hier dafür geworben werden, dass wir uns eine ergebnisoffene Diskussion über die Frage leisten müssen, ob der Mindestlohn in der vorgesehenen Höhe am Ende auch für 16- oder 17-jährige Arbeitnehmer Anwendung finden soll. Ich bin nicht davon überzeugt, dass das der richtige Weg wäre. Nicht nur vor dem Hintergrund der besonderen Bedeutung der dualen Berufsausbildung hier bei uns, die sowieso schon erheblich unter Druck ist. Es kann nicht in unserem Interesse liegen, dieses System noch zusätzlich in eine weitere Schieflache zu manövrieren.
Hinzukommt, dass beispielsweise Länder wie Australien, die über einen sehr hohen Mindestlohn für Erwachsene verfügen, eine ausdifferenzierte Absenkung der Mindestlöhne bei den jungen Menschen bis 20 Jahre haben (vgl. hierzu „National Minimum Wage Order 2013„). Nicht ohne Grund, so meine Vermutung. Ein hoher Mindestlohn für „normale“ Arbeitnehmer wird wahrscheinlich einhergehen müssen mit entsprechenden Ausnahmen bei den jungen Arbeitnehmern. Wenigstens darüber zu diskutieren wäre notwendig.
Es muss ein guter Tag für die Langzeitarbeitslosen gewesen sein. Also auf dem Papier. Das ist bekanntlich geduldig
Auch wenn immer wieder über das so genannte „Jobwunder“ in Deutschland geschrieben und diskutiert wird – eine Gruppe unter den Arbeitslosen hat in den vergangenen Jahren definitiv so gut wie gar nicht profitieren können von der ansonsten durchaus erfreulichen Arbeitsmarktentwicklung in unserem Land. Die Rede ist hier von den Langzeitarbeitslosen. Arbeitsmarktexperten sprechen schon seit längerem von einer massiven „Verfestigung“ bzw. „Verhärtung“ der Arbeitslosigkeit. Ein Teil der Arbeitslosen wird komplett abgekoppelt von der Integration in Beschäftigung. Hierbei handelt es sich keineswegs um eine zu vernachlässigende Größe. So hat beispielsweise eine Ende des vergangenen Jahres veröffentlichte Studie der Hochschule Koblenz ergeben, dass rund 1,7 Millionen Menschen im Grundsicherungssystem in den vergangenen drei Jahren mehr als 90 % der Zeit ohne irgendeine Beschäftigung waren. Über 609.000 erwerbslose Menschen haben mehr als vier so genannte Vermittlungshemmnisse. Über 435.000 Menschen zählen nach dieser Studie zu den arbeitsmarktfernen Personen, die mittelfristig, viele sogar auf Dauer keine realistische Perspektive haben, wieder irgendeinen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bekommen. In den Haushalten dieser Menschen leben mehr als 305.000 Kinder unter 15 Jahren, die besonders negativ von der Situation in ihrem Elternhaus betroffen sind.
Gleichzeitig wurden Milliardenbeträge gekürzt im Bereich der Arbeitsförderung für Menschen im Grundsicherungssystem. Immer offensichtlicher wird das Dilemma, dass auf der einen Seite eine zunehmende Zahl an Arbeitslosen in die Langzeitarbeitslosigkeit abrutscht und dort auch nicht mehr herauskommt, gleichzeitig aber kaum noch Möglichkeiten einer gezielten Förderung dieser Menschen zur Verfügung stehen. Dies nicht nur aufgrund fehlender Finanzmittel, sondern gleichzeitig wurde das Förderrecht gerade im Bereich der öffentlich geförderten Beschäftigung seitens des Bundesgesetzgebers noch restriktiver ausgestaltet, so dass sinnvolle Maßnahmen oftmals schlichtweg nicht mehr möglich sind.
Die erwähnte Studie kann hier abgerufen werden:
Obermeier, T.; Sell, S. und Tiedemann, B.: Messkonzept zur Bestimmung der Zielgruppe für eine öffentlich geförderte Beschäftigung. Methodisches Vorgehen und Ergebnisse der quantitativen Abschätzung (= Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 14-2013), Remagen, 2013
Nunmehr scheint es aber Grund zur Hoffnung zu geben, folgt man den Medienberichten, die im Anschluss an eine gemeinsame Pressekonferenz von Bundesagentur für Arbeit, Deutscher Städtetag und Deutscher Landkreistag erschienen sind: „Staat soll Langzeitarbeitslose besser fördern„, „Bundesagentur will mehr Hilfe für Langzeitarbeitslose“ oder von der anderen Seite „Kommunen wollen neue Initiative für Hartz-IV-Empfänger„. Da ist sogar von einem „Maßanzug für Langzeitabeitslose“ die Rede. Das hört sich doch insgesamt sehr positiv und dem wachsenden Problemdruck in diesem Bereich angemessen an. Schauen wir also einmal genauer hin.
Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat ihre Pressemitteilung so überschrieben: „Hilfen für Langzeitarbeitslose verbessern – Hohes Engagement der Jobcenter allein kann Probleme nicht lösen„. Auch hier wird auf den enormen Problemdruck innerhalb des Grundsicherungssystems hingewiesen: »Drei Millionen erwerbsfähige Menschen erhalten seit zwei oder mehr Jahren Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Rechnet man die Kinder hinzu, sind rund vier Millionen Menschen langfristig auf diese Leistungen angewiesen.« Die BA weist darauf hin, dass von den Langzeitbeziehern, die vermittelt worden sind, aber etwa die Hälfte innerhalb eines Jahres wieder in die Grundsicherung zurückkommt. Und auch auf die bereits angesprochene prekäre Finanzlage wird seitens des Deutschen Städtetages hingewiesen: »Von 2010 bis 2013 sank die Anzahl der Arbeitslosen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende um lediglich 8 Prozent. Im gleichen Zeitraum wurden die Mittel für Fördermaßnahmen aber um etwa 40 Prozent reduziert, von 6,6 Milliarden Euro auf 3,9 Milliarden Euro.«
Die beiden kommunalen Spitzenverbände bringen die von vielen kritischen Beobachtern der Arbeitsmarktpolitik seit Jahren immer wieder vorgetragenen Schwachstellen auf den Punkt:
»Die Strategien für Menschen, die nur kurze Zeit arbeitslos sind, lassen sich nicht einfach auf Langzeitarbeitslose übertragen. Aktuell sind die arbeitsmarktpolitischen Instrumente der Jobcenter an viele Auflagen seitens des Gesetzgebers und an eher kurze Zeiträume gebunden. Schwer zu vermittelnden Langzeitarbeitslosen kann aus Sicht der Kommunen damit zu wenig geholfen werden. Der Bund sollte den Jobcentern deshalb die Entwicklung flexibler und längerfristiger Strategien zugestehen.«
Und sie fordern mit Blick auf die Vergangenheit mehr Geld – vom Bund: »Hatte der Bund zur Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende noch ein Budget von durchschnittlich 3.200 Euro pro Leistungsempfänger für Aktivierung, Eingliederung und Leistungsgewährung im Jahr veranschlagt, standen im Jahr 2012 nur noch 1.700 Euro zur Verfügung.«
Für etwa eine Million Menschen, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende erhalten, sei eine Vermittlung in den Arbeitsmarkt äußerst schwierig. Während die BA in Gestalt von Heinrich Alt „neue Ideen über Zugangswege in Arbeit, mehr Perspektiven in Betrieben“ fordert, sind für die Kommunen »die drohende Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit und damit verbundene soziale Folgen eine der wichtigsten Herausforderungen. Viele Menschen, die sehr lange nicht mehr in der Arbeitswelt waren, brauchen neben der Vermittlung in Qualifizierungen oder in Arbeit eine intensive und individuell passgenaue Unterstützung.«
Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, Dr. Stephan Articus, wird mit den folgenden Worten zitiert:
»Um Langzeitarbeitslosen mit sozialen und beruflichen Integrationsproblemen Chancen auf Teilhabe in Arbeitsprozessen zu ermöglichen, halten die Städte es für sinnvoll, auch die öffentlich geförderte Beschäftigung weiterzuentwickeln. Solche Angebote können dazu beitragen, sich dem ersten Arbeitsmarkt wieder anzunähern. Und für Menschen, die dort nicht mehr Fuß fassen können, sind sie eine Alternative zu Ausgrenzung und sozialer Isolation.«
Der Deutsche Landkreistag sekundiert mit Blick auf den „harten Kern“ der Langzeitarbeitslosen, »dass es eine Gruppe schwer zu vermittelnder Langzeitarbeitsloser gibt, für die der erste Arbeitsmarkt unabhängig von bestehenden Fördermitteln und Instrumenten nicht erreichbar ist. Diese Menschen benötigen längerfristige Angebote.« Gefordert wird »ein tragfähiges Konzept für öffentlich geförderte Beschäftigung. Denn auf dem regulären Arbeitsmarkt werden viele Langzeitarbeitslose realistischerweise keinen Job finden.«
Ja, ja und nochmals ja. Die immer wieder vorgetragenen Punkte aus der Arbeitsmarktdebatte der vergangenen Jahre tauchen hier in konzentrierter Form wieder auf.
Und nun? Was tun? Da wird es schon dünner bzw. angesichts der intensiven Diskussionen und der vorliegenden konkreten Modelle eines „zweiten“ oder wie er auch immer heißen soll Arbeitsmarkt muss man den Kopf schütteln angesichts solcher Worte des BA-Vorstandsmitglieds Heinrich Alt zur öffentlich geförderten Beschäftigung, die Katharina Schüler in ihrem Artikel „Kommunen wollen neue Initiative für Hartz-IV-Empfänger“ zitiert:
»Bislang leide der zweite Arbeitsmarkt jedoch unter dem Paradox, dass nur Tätigkeiten, die keine normale Beschäftigung gefährden, gefördert werden dürften, sagte Alt. Arbeitslose lesen beispielsweise in Heimen vor oder sammeln Müll in den Parks ein. Die Art der Tätigkeiten verringere die Chancen, dass der Übergang vom zweiten in den ersten Arbeitsmarkt gelinge. Auch das Prestigeprojekt der früheren Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, die Arbeitslose zu Bürgerarbeitern machen wollte, erwies sich als Flop. „Hier müssen wir nochmal neu nachdenken“, sagte Alt.«
Da muss man angesichts der vielen Modelle nicht wirklich neu nachdenken, sondern man braucht mehr Mittel und vor allem rechtlich auch die entsprechenden Möglichkeiten, beispielsweise in professionellen Beschäftigungsunternehmen mit dem „ersten Arbeitsmarkt“ zusammen arbeiten zu können. Da hätte man sich schon eine klare Forderung an den Bundesgesetzgeber gewünscht: Abschaffung der „Zusätzlichkeit“ und der „Wettbewerbsneutralität“ von Maßnahmen der öffentlich geförderten Beschäftigung, damit man die Andockstellen an das „real life“ des Arbeitsmarktes endlich bestimmen und ausbauen kann.
Das wäre nur ein Beispiel für konkrete Forderung auch und gerade an die Große Koalition, die man hätte formulieren können und müssen. Statt dessen bekommen wir wieder einmal viel Lyrik serviert, gerade von Heinrich Alt, dem für das SGB II zuständige Vorstandsmitglied. In dem Artikel „Maßanzug für Langzeitabeitslose“ wird er mit den folgenden Worten zitiert: „Mit Konfektionsware kommen wir in der Grundsicherung nicht weiter“. „Wir brauchen eher was wie den Maßanzug, der vor Ort geschneidert werden sollte.“ Wohlfeile Formulierungen, wenn man sich die Realität in vielen Jobcentern anschaut.
Fazit: Nicht nur die enormen Mittelkürzungen in der Arbeitsmarktpolitik der vergangenen Jahre müssen rückgängig gemacht werden, weil man ansonsten keine halbwegs vertretbaren Maßnahmen für die Betroffenen entwickeln und anbieten kann. Aber gleichzeitig muss endlich das Förderrecht so eingedampft werden, dass man die vielen (übrigens seit Jahren geforderten) Freiheitsgrade in der Arbeit vor Ort endlich mal bekommt. Viele Jobcenter-Mitarbeiter sagen einem, auch wenn wir wollen, wir dürfen nicht. Hinsichtlich der erforderlichen Bearbeitung der vielen, wieder einmal richtig beschriebenen Probleme braucht es Flexibilität und Entscheidungsspielräume vor Ort.
Aber – auch wenn man nicht depressiv enden soll – selbst wenn das gelingen würde, wofür es derzeit keine Anhaltspunkte gibt, bleibt das Problem, dass viele Jobcenter-Mitarbeiter in den kommenden Monaten gar nicht mehr dazu kommen können, neue Wege zu gehen bzw. auszuprobieren. Weil sie absaufen in der internen Arbeit. Das, was hier angedeutet werden soll, ist ein sich abzeichnendes Drama der innersystemischen Paralyse und das hat einen Namen: „Allegro“. In der Musik ist Allegro eine Tempobezeichnung mit der Bedeutung schnell. Das ist vielleicht der Wunsch der BA-Spitze und der sie begleitenden Unternehmensberater. Die (fast schon zynische) Wahl des Programmnamens „Allegro“ ist irgendwie konsequent aus der Perspektive der da oben, denn das Wort kommt ursprünglich aus der italienischen Sprache und bedeutet „fröhlich, lustig, heiter“.
Aber das, was auf die Jobcenter zukommt, sieht ganz und gar nicht nach einem „fröhlichen, lustigen und heiteren“ Arbeiten am „Kunden“ aus. Denn „Allegro“ ist eine neue Software, in der Langfassung steht das für „ALG2-Leistungsverfahren Grundsicherung Online“. Und eine ganz neue Software verheißt gerade in der Einführungsphase nicht wirklich was Gutes.
»Wegen einer Software-Umstellung bei den Jobcentern könnte es im April zu Problemen bei der Auszahlung von Hartz-IV-Leistungen kommen. Betroffen seien vor allem die Ballungsräume und Großstädte, warnt Personalratschef Lehmensiek im Deutschlandfunk. Es gehe um vier Millionen Empfänger und deren Kinder«, so kann man es dem Vorspann zu einem Interview mit Uwe Lehmensiek, entnehmen. Im April soll der Testbetrieb beginnen. Zwar soll die neue Software parallel zur alten eingeführt werden, um die Probleme des Startjahres 2005 zu vermeiden. Dennoch kommt es in den Jobcentern zu einer Menge Mehrarbeit durch die EDV-Umstellung – womöglich zu so viel Mehrarbeit, dass über diese Umstellung auch die Hartz-IV-Auszahlungen in Mitleidenschaft gezogen werden könnten. Denn in den Jobcentern muss diese gewaltige Umstellung – inklusive der händischen Eingabe der vorhandenen Daten in das neue System – mit Bordmitteln und „neben“ dem Tagesgeschäft erfolgen.
Die Umstellung erfolgt händisch und parallel zum normalen Betrieb, da kein Budget für zusätzliche Fachkräfte eingeplant wurde. Dort, wo die Jobcenter zusätzlich Personal eingestellt hätten, laufe die Finanzierung aus dem „Eingliederungstitel“, also dem bereits zusammengestrichenen Topf für Fördermaßnahmen, denn diese Mittel sind „deckungsfähig“ mit den Verwaltungskosten.
Zu diesem problematischen Punkt berichtete das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ): » Insgesamt 445 Millionen Euro sind aus dem Haushaltstitel mit der Zweckbestimmung „Leistungen zur Eingliederung in Arbeit“ (darunter „Leistungen zur Engliederung nach dem SGB II“) in den Haushaltstitel mit der Zweckbestimmung „Verwaltungskosten für die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende“ (Bundesanteil) umgeschichtet worden.« Und weiter: »Die „Verwaltungskosten“ der insgesamt 410 Jobcenter betrugen demnach im Haushaltsjahr 2013 … in etwa 5,3 Milliarden Euro. Noch nie zuvor wurde vom Bund und den Kommunen so viel für diesen Zweck („Verwaltungskosten für die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende“) ausgegeben wie im neunten „Hartz IV-Jahr“.«
Bevor die Umstellung überhaupt beginnt, würden die Mitarbeiter geschult und Akten auf den neuesten Stand gebracht. Hier gebe es noch großen Nacharbeitungsbedarf. Wenn der Testbetrieb im April beginnt, seien dann, vor allem in Großstädten, Fehler und Zeitverzögerungen zu erwarten.
Wenn Bescheide und Geldleistungen in großem Umfang zu spät oder fehlerhaft herausgehen, erwartet Lehmensiek „Aggression und Gewalt, das wollen wir verhindern. Deswegen ist das unsere größte Sorge, dass es mit der Zahlung nicht klappt.“, erläutert er im Interview.
Dazu noch eine Ergänzung, gefunden im neuesten Newsletter von Harald Thomé: Kommt es durch Computerpannen und nicht rechtzeitiger Zahlung zu wirtschaftlichen Schäden bei den Betroffenen, z.B. in Form von Rückbuchungsgebühren, Mahngebühren des Energieversorgers oder Vermieters, Zinsen wegen Kontoüberziehung, dann ist das Jobcenter dafür ersatzpflichtig. Der Ersatzanspruch begründet sich über § 40 Abs. 1 S. 1 SGB II iVm § 60 S. 2 SGB X iVm § 839 BGB iVm ständiger Rechtsprechung des BSG zum sozialrechtlichen Herstellungsanspruch.
Wahrscheinlich muss man dann noch mehr umbuchen aus dem Eingliederungstitel.
Das sind keine guten Rahmenbedingungen für neue Wege, um Langzeitarbeitslose wieder in Beschäftigung zu bringen.
Eine Studie, die Hartz IV als Blaupause für Deutschlands „Jobwunder“ zu entzaubern behauptet. Das tut allen Agenda 2010-Kritikern gut. Aber wieder einmal geht es auch um den Mindestlohn. Und um Tarifpolitik
Diese Überschrift wird viele elektrisieren und das ist wohl auch so gewollt: „Studie entzaubert Hartz-Mythos“. Für alle Agenda 2010-Kritiker scheint es hier neues Futter zu geben und passend darf man weiterlesen: » Das deutsche Jobwunder machte die Hartz-Reformen zum Vorbild für die Krisenländer Europas. Eine neue Studie räumt mit diesem Mythos auf: Nicht die Agenda 2010 habe Deutschland zum ökonomischen Superstar gemacht, sondern die Unabhängigkeit der Betriebe und der Gewerkschaften vom Staat.«
Es geht um diese Veröffentlichung, die allerdings erst in der kommenden Woche publiziert wird:
Dustmann, C., Fitzenberger, B., Schönberg, U., Spitz-Oener, A. (2014): From Sick Man of Europe to Economic Superstar: Germany’s Resurgent Economy. Journal of Economic Perspectives 28 (1), pp. 167-188.
Yasmin El-Sharif berichtet in ihrem Artikel vorab über den Beitrag der vier Wissenschaftler, insofern kann man die zitierten Aussagen noch nicht am Original prüfen.
»Hartz habe lediglich dabei geholfen, die Langzeitarbeitslosigkeit einzudämmen. Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands hätten die Instrumente – wie etwa flexibilisierte Leiharbeit oder die Einführung von Minijobs – dagegen kaum gesteigert.«
Hier nun könnte man bereits kritisch reingehen und den ersten Teil der Aussage – also das mit der Eindämmung der Langzeitarbeitslosigkeit – auseinandernehmen, denn das stimmt so nicht. Allerdings geht es hier nicht um die Frage, ob und inwieweit Fortschritte bei der Bekämpfung der Langezitarbeitslosigkeit erreicht worden sind, sondern die Hauptaussage der Wissenschaftler ist eine andere: Sie identifizieren als wirkliches Wundermittel »die einzigartige Unabhängigkeit der Tarifpartner vom Staat und die damit verbundene freie Entscheidung über Löhne, die Branchen, die Größe und konjunkturelle Lage von Unternehmen berücksichtigt.«
Warum die deutsche Entwicklung kein Vorbild abgeben kann für die südeuropäischen Krisenstaaten (für die derzeit von interessiertenKreisen eine Kopie der deutschen „Agenda 2010“-Politik empfohlen wird), verdeutlicht das folgende Zitat: Die Wissenschaftler »erinnern an die einmaligen Entwicklungen in der Bundesrepublik. So hätten die extremen wirtschaftlichen Veränderungen nach dem Mauerfall in Deutschland schon ab Mitte der neunziger Jahre dazu geführt, dass die Löhne real sanken. In der Folge fielen die Lohnstückkosten, welche die Arbeitskosten in Relation zur Produktivität setzen, flächendeckend über alle Industriezweige; und das verbesserte die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportindustrie langfristig deutlich.« Oder in anderen Worten: »Als Schröder 2003 die Hartz-Reformen einleitete, waren die wichtigsten Weichen von Unternehmen und Mitarbeitern schon Jahre zuvor gestellt worden. In der schweren Rezession ab 2008 sorgten – neben der Kurzarbeit – vor allem wieder die Tarifpartner dafür, dass die Unternehmen keine Lohnerhöhungen stemmen mussten, die sie womöglich in die Knie gezwungen hätten.«
Insofern haben die Autoren der Studie große Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer „holzschittartigen“ Übertragung der Hartz-„Reformen“ auf andere Länder.
Dann aber kommt doch noch ein Schwenk in die innenpolitische Debatte in Deutschland und die Autoren mahnen vor angeblichen „Rückschritten“:
»Der von der Bundesregierung geplante gesetzliche Mindestlohn sei „ein Schritt zu weniger Autonomie im Tarifsystem“. Allerdings dürfe wie schon bei den Hartz-Reformen die Bedeutung einer Lohnuntergrenze auf das gesamte starke Gefüge nicht überschätzt werden.«
»Gewerkschafter der alten Garde wie Jörg Barczynski sind denn auch fassungslos. Der heute 73-Jährige war 25 Jahre Sprecher der IG Metall, er diente unter vier Vorsitzenden und galt als einer, der den Gewerkschaftsbossen schon mal sagte, wo es langgeht. Mittlerweile aber versteht er seine Gewerkschaft nicht mehr: „Ich weiß nicht, was die derzeitige IG-Metall-Führung umtreibt. Dass die Gewerkschaften den gesetzlichen Mindestlohn unterstützen, halte ich für organisationspolitischen Wahnsinn.“«
»Ist der Mindestlohn einmal eingeführt, besteht die Gefahr, dass er für viele Tarifbereiche zur Referenzgröße wird. „Dann steht in Tarifverträgen plötzlich zum Beispiel der Satz: Die Arbeitnehmer erhalten 103, 107 oder 185 Prozent des geltenden gesetzlichen Mindestlohns“, prophezeit Metaller Barczynski. „Auf diese Weise erhält der Staat eine lohnpolitische Schlüsselposition, die ihm in einem Land mit Tarifautonomie nicht zusteht.“«
- »Um renitente Klein- und Spartengewerkschaften auszubremsen, soll die große Koalition auf Drängen des DGB und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) die sogenannte Tarifeinheit im Betrieb wieder herstellen.« Das Prinzip, wonach in einem Betrieb nur eine Gewerkschaft Tarifverträge abschließen darf, wurde vom Bundesarbeitsgericht in einer Entscheidung im Jahr 2010 gekippt mit der Begründung, das würde gegen die Koalitionsfreiheit des Grundgesetzes verstoßen.
- Die große Koalition bereitet eine »drastische Ausweitung der sogenannten Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) von Tarifverträgen vor«. Die bisherige Grenze, dass mindestens 50 Prozent der jeweiligen Branchenbeschäftigten bei einem tarifgebundenen Unternehmen arbeiten müssen, soll aufgehoben werden.
- »Immer mehr Landesregierungen beschließen auf Wunsch der Gewerkschaften auch sogenannte Tariftreue-Regeln. Danach dürfen nur noch solche Betriebe Staatsaufträge erhalten, die bestimmte Tarifstandards einhalten. Die große Koalition prüft ein solches Tariftreuegesetz nun auch auf Bundesebene.«
Was steckt hinter diesen Entwicklungslinien – die allerdings für sich genommen begründungsbedürftig sind, wenn man der Tarifautonomie von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden einen so hohen Stellenwert zuschreibt?
Was „Aufstocker“ im Hartz IV-System (nicht) mit dem Mindestlohn zu tun haben
Es ist eine bekannte Lebensweisheit, dass man mit Zahlen viel machen kann und mit Überschriften erst recht. Vor dem Hintergrund der kontroversen Debatte über die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns von besonderer Relevanz sind dann Überschriften, die einem ins Auge springen (sollen/müssen): „Zahl der Niedriglöhner seit Jahren überschätzt“ oder „BA-Statistik liefert Mindestlohn-Gegnern Nahrung„. Müssen die Apologeten eines Mindestlohns jetzt in Sack und Asche gehen? Was genau ist hier passiert und vor allem – hat das alles wirklich mit dem Mindestlohn zu tun?
Dem FAZ-Artikel kann man entnehmen, dass es hier nicht um „die“ Niedriglöhner geht, sondern es geht um eine bestimmte Gruppe unter ihnen: Die „Aufstocker“, also Menschen, die trotz bzw. wegen ihres Erwerbseinkommens noch einen Anspruch haben auf aufstockende Leistungen aus dem Grundsicherungssystem (SGB II). Und die diese Aufstockungsmöglichkeit auch tatsächlich in Anspruch nehmen:
»In Deutschland sind weitaus weniger vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer auf ergänzendes Arbeitslosengeld II angewiesen als bisher in der politischen Auseinandersetzung über Mindestlöhne unterstellt wurde. Dies ist das überraschende Ergebnis einer aktuellen Revision der entsprechenden Statistik der Bundesagentur für Arbeit … die Gesamtzahl der Vollzeitbeschäftigten, die wegen eines niedrigen Arbeitslohns die staatliche Einkommensaufstockung beziehen, (ist) um fast ein Drittel geringer als bisher vermutet. Die Zahl der allein lebenden Vollzeitbeschäftigten, die eine Aufstockung benötigen, ist sogar um 41 Prozent geringer.«
Jeder, der sich in den Tiefen und Untiefen der Statistik auskennt, ahnt an dieser Stelle schon, dass es sich a) um eine komplizierte Angelegenheit handeln muss, die man b) nachvollziehen sollte mit einem Blick in die Erläuterungen der Verursacher dieser Datenveränderung.
Aber Dietrich Creutzburg geht in seinem Artikel gleich in die politische Interpretation der Zahlen:
»Die Neufassung der Statistik bringt politischen Zündstoff, da sie eines der zentralen Argumente der Befürworter des gesetzlichen Mindestlohns deutlich relativiert. Dieses besagt, dass ein immer größerer Teil der Arbeitnehmer trotz Vollzeitarbeit nicht von seinem Lohn leben kann.«
Seiner Meinung nach geht es hier um den grundsätzlichen Anspruch, dass jeder Mensch durch Vollzeitarbeit mindestens seinen eigenen Lebensunterhalt sichern können soll. Und dieser Anspruch muss im Lichte der neuen Zahlen, so Creutzburg, neu gelesen werden, denn:
»Legt man die nun revidierte Aufstockerstatistik der Bundesagentur für Arbeit als Maßstab zugrunde, dann war dieser politische Anspruch zur Jahresmitte 2013 für genau 46.814 von 21,8 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Vollzeitarbeit nicht erfüllt; das ist ein Anteil von 0,2 Prozent. Sie hatten keine Familie zu versorgen und brauchten dennoch neben der Vollzeitarbeit Hartz IV. Vor der Revision war die Bundesagentur von 80.000 Betroffenen ausgegangen.
Bezogen auf die insgesamt 1,2 Millionen abhängig erwerbstätigen Aufstocker machen die alleinstehenden Vollzeitbeschäftigten nun 3,9 Prozent aus, statt 6,4 Prozent wie zuvor vermutet. Ähnlich drastisch ist die Verschiebung in der Gesamtgruppe der Vollzeitbeschäftigten, die eine Aufstockung erhalten: Sie umfasst laut den neuen amtlichen Daten noch 218.000 Personen. Das sind fast 113.000 weniger als vor der Revision; ihr Anteil beträgt damit 16,6 Prozent und nicht 26,3 Prozent.«
»Spiegelbildlich zur verringerten Zahl der Vollzeit-Aufstocker hat sich die Zahl der Aufstocker mit Teilzeitstelle stark erhöht: Sie belief sich nach dem neuen Datenstand auf 363.000 zur Jahresmitte 2013. Das sind 119.000 mehr als bislang vermutet.«
Das scheint doch alles sehr beeindruckend zu sein. Also doch Sack und Asche für die Mindestlohnbefürworter?
An dieser Stelle empfiehlt sich der Blick in das Original, denn die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat „Hintergrundinformationen“ zu dem Thema veröffentlicht: „Neue Ergebnisse zu sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitslosengeld II-Beziehern in Vollzeit und Teilzeit„.
Die BA fasst die quantitativen Befunde so zusammen:
»Die neuen Ergebnisse zeigen nun von Juni 2011 bis Juni 2013 für die sozialversicherungspflichtigen Arbeitslosengeld II-Bezieher einen Rückgang der Vollzeitbeschäftigten um 113.000 auf 218.000 und einen fast komplementären Anstieg der Teilzeitbeschäftigten um 119.000 auf 363.000. Die Summe aller sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitslosengeld II-Bezieher (einschließlich der Beschäftigten ohne Angabe zur Arbeitszeit) hat sich dagegen nur wenig verändert und nur geringfügig um 5.000 auf 582.000 zugenommen.«
Wie kommt es aber nun zu dieser nicht geringen Verschiebung der beschäftigten Arbeitslosengeld II-Bezieher von Vollzeit- auf Teilzeitbeschäftigung? Wurde hier seitens der BA in der Vergangenheit (oder aber jetzt) „getrickst“? Einige Medien verbreiteten zumindest einen solchen Eindruck, so beispielsweise der Artikel „Bundesagentur verrechnet sich bei Niedriglöhnern“ auf Welt Online mit der Ergänzung: „Heikle Statistikpanne“. Und in die gleiche Richtung, dabei aber weitaus subtiler die Stoßrichtung in dem Kommentar „Revisionsbedarf“ von Dietrich Creutzburg, in dem es im Untertitel heißt: »Der große Statistik-Skandal der alten Bundesanstalt für Arbeit liegt zwölf Jahre zurück. Nun stellt sich heraus, dass die Zahl der Niedriglöhner im Hartz-IV-System statistisch überzeichnet war. Es wäre auch eine politische Parallele wünschenswert.« Damit wird für den eiligen Leser eine klare Assoziation aufgebaut. Subtil ist das, weil der Autor dann selbst schreibt: »Der aktuelle Vorgang ist anders gelagert als der große Statistikskandal der alten Bundesanstalt für Arbeit im Jahr 2002 – und doch …«.
Erstens ist die nun vorgenommene Revision der Daten nicht wirklich eine „Schuld“ der BA, sondern hier zeigt sich erneut, dass wohl sehr viele Journalisten schlichtweg keine Ahnung haben, wie schwierig und mit welchen Fehlerquellen behaftet statistische Datenerhebung in praxi ist, auch bei gutem Willen.
Inhaltlich aber wesentlich relevanter: Unabhängig von der Tatsache, dass man nun wirklich kein Interesse bei der BA erkennen kann, die Zahl der Vollzeitbeschäftigten, die gleichzeitig ergänzend Hartz IV-Leistungen beziehen, höher auszuweisen als sie tatsächlich ist: Die Ursache ist viel banaler und wir landen wieder beim ersten Punkt, der eben nicht trivialen Frage, wie die Daten gemeldet werden: Die Verschiebung »dürfte zum weitaus größten Teil eine Auswirkung der Umstellung auf das neue Meldeverfahren zur Sozialversicherung sein. Die Umstellung hat dazu geführt, dass Angaben zu Arbeitszeit bei kontinuierlich Beschäftigten überprüft und korrigiert wurden (Aktualisierungseffekt) und bei neuen Beschäftigten die Arbeitszeit besser er- fasst wird als in der Vergangenheit (Sensibilisierungseffekt)«, so die Erläuterung der BA in ihren Hintergrundinformationen.
Zusammenfassung: Mit der Umstellung des Meldeverfahrens waren Arbeitgeber gezwungen, die Angaben zur Arbeitszeit ihrer Beschäftigten in ihren Lohnabrechnungsprogrammen anzupassen. Daraus hat sich offenbar ein massiver Aktualisierungseffekt durch Korrekturen der Arbeitszeit bei Bestandsfällen ergeben.
Jetzt kommen wir aber inhaltlich zu dem entscheidenden Punkt: In der zitierten Berichterstattung wird ja argumentiert, dass ein angeblich zentrales Argument der Mindestlohnbefürworter weggebrochen sei, weil die Zahl der Niedriglöhner deutlich niedriger ausfällt – was natürlich nicht stimmt, denn korrigiert wurden die absoluten und relativen Zahlen bei den aufstockenden Hartz-IV-Empfängern, also weniger aufstockende Vollzeitarbeitskräfte und entsprechend mehr teilzeitarbeitende Menschen. Da fehlt doch aber was:
- Gezählt werden hier wie gesagt die tatsächlichen „Aufstocker“ im Grundsicherungssystem. Aber zwangsläufig nicht berücksichtigt werden diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer einen Anspruch haben auf aufstockende Leistungen, diese aber aus welchen Gründen auch immer nicht in Anspruch nehmen. Und dabei handelt es sich nicht um eine kleine Gruppe. Nach Simulationsrechnungen des IAB wurde im vergangenen Jahr bekannt, dass zwischen 3,1 bis 4,9 Millionen Menschen, die eigentlich Anspruch auf Leistungen nach SGB II haben, diese Leistungen nicht abrufen. Das sind zwischen 34 bis 44% aller Leistungsberechtigten. Die Studie des IAB kann hier eingesehen werden: Bruckmeier, K. et al.: Simulationsrechnungen zum Ausmaß der Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen der Grundsicherung (= IAB Forschungsbericht 5/2013), Nürnberg. Wir sprechen hier über die „verdeckte Armut“.
- Ein weiterer Punkt: Gerade bei den Vollzeiterwerbstätigen, die teilweise mit relativ geringen Beträgen aufstocken, kann es durch Änderungen in nebengelagerten Bereichen, beispielsweise beim Wohngeld oder dem Kinderzuschlag zu einem formalen Rückgang der Aufstocker-Zahlen kommen, nur werden die Leistungen jetzt aus anderen Töpfen gezahlt.
- Und zum Mindestlohn: Johannes Steffen hat berechnet, wie hoch der Stundenlohn sein müsste, damit kein aufstockender Leistungsanspruch mehr besteht im SGB II-System: »Auf Basis dieser Annahmen lässt sich die Höhe des Mindestlohns bestimmen, der bei typisierender Betrachtung einen Anspruch auf aufstockende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II oder »Hartz IV«) ausschließt. Nach gegenwärtigem Stand wäre dies ein Brutto-Stundenlohn in Höhe von 7,95 Euro oder monatlich 1.298 Euro. Nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben verbleiben netto 977,50 Euro, wovon als sogenannter Erwerbstätigenfreibetrag insgesamt 300 Euro von der Anrechnung auf die Grundsicherung freigestellt sind. Das ergibt ein anrechenbares Einkommen von 677,50 Euro, so dass rechnerisch kein Anspruch mehr auf aufstockende SGB-II-Leistungen besteht« (Quelle: Steffen, J.: Ein Mindestlohn für Arbeit und Rente. Erforderliche Höhe eines existenzsichernden Mindestlohns, Bremen, 10.04.2013). Aber: Diese 7,95 Euro reichen wiederum bei der Rentenversicherung bei weitem nicht aus, um eine gesetzliche Rente erwirtschaften zu können, die über dem Grundsicherungssatz liegt. Da bewegen wir uns bei Stundenlöhnen von 11,31 Euro ansteigend. Berücksichtigt man diese Punkte, dann kann ich nicht erkennen, warum ein zentrales Argument der Mindestlohnbefürworter weggebrochen sein soll.
- Schlussendlich wieder zurück in die Untiefen der Statistik bzw. der Datenqualität: Auf der Seite 10 der Erläuterungen der BA findet man den folgenden aufschlussreichen Passus: »Weiterhin erklärungsbedürftig bleibt die Frage, wie es bei Vollzeitbeschäftigten zu Bruttoer- werbseinkommen von weniger als 600 Euro kommen kann. Ein solcher Betrag kann im Fall einer 40-Stundenwoche nur bei einem Stundenlohn von 3,50 Euro realisiert werden. Hier können nur Vermutungen über die möglichen Gründe angestellt werden, statistische Belege liegen nicht vor … Gleichwohl werden auch im Juni 2013 noch knapp 30.000 vollzeitbeschäftigte Arbeitslosengeld II-Bezieher mit einem Bruttoerwerbseinkommen von weniger als 600 Euro ausgewiesen.« Ds wäre doch auch eine Schlagzeile wert gewesen – oder?
Und eine letzte Anmerkung zu den „Aufstockern“ und Mindestlöhnen: Auch bei einem Mindestlohn von 9 oder 10 Euro wird es Aufstocker geben – bei der Hauptgruppe der nur teilzeitarbeitenden Menschen und bei denen, die alleine eine Familie ernähren müssen. Aufgrund der Defizite beim Familienlastenausgleich. So lange die bestehen.
Fazit: Man sollte schon immer den Kontext berücksichtigen und keine voreiligen Schlüsse hinausposaunen. Ansonsten muss man „Revisionsbedarf“ bei der Forderung nach einem Mindestlohn als das bezeichnen, was es wohl ist: Billige Propaganda.
Und noch eins: Selbst wenn es so wäre, dass die Zahl der von Hungerlöhnen betroffenen Menschen eingedampft wäre (was wie gezeigt nicht der Fall ist): Gerade dann müsste doch die Forderung nach einem moderaten Mindestlohn seinen Schrecken verloren haben, denn offensichtlich zahlen dann doch die Unternehmen schon viel besser. Warum also dann dieser Widerstand? Logisch wäre das nicht. Aber Logik und Ideologie waren noch nie eng befreundet.