Die kleinen egoistischen Wilden? Beiträge zur Versachlichung der Debatte über Berufs- und Spartengewerkschaften

»Bei der Rolle der Berufsgewerkschaften in der Tarifpolitik handelt es sich um ein heikles, sehr kontrovers und häufig auch emotional diskutiertes Thema. Für die einen sind die Berufs- und Spartengewerkschaften der neue Typus einer kämpferischen Gewerkschaft, die unbeeindruckt von den Restriktionen einer eingefressenen Sozialpartnerschaft für die originäre Interessenvertretung ihrer Mitglieder steht. Für die anderen sind sie hingegen eine Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit, die rücksichtslos und ohne Blick auf die Interessen der Gesamtbelegschaften die Einzelinteressen kleiner Belegschaftsgruppen vertreten.« So beginnt ein wirklich lesenswerter Artikel von Reinhard Bispinck vom gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung mit der Überschrift Wirklich alles Gold, was glänzt? Zur Rolle der Berufs- und Spartengewerkschaften in der Tarifpolitik.
Er beginnt seine Einordnung mit dem Hinweis auf fünf zentrale Entwicklungslinien in der Tarif- und Gewerkschaftslandschaft: Erosion der Tarifbindung, Fragmentierung der Tariflandschaft, Pluralität der Gewerkschaftsverbände, Über- und Unterbietungskonkurrenz sowie eine gestiegene Bedeutung der Berufs- und Spartengewerkschaften.

Wenn man über Tarifpolitik – auch über die Tarifpolitik der Berufsgewerkschaften – spricht, muss man sich bewusst sein, dass es um ein schrumpfendes Handlungsfeld geht, in dem nur noch 58 Prozent der Beschäftigten durch Tarifverträge erfasst werden –  Ende der 1990er Jahre waren es noch mehr als 70 Prozent. »Nur noch in Ausnahmefällen gibt es den Idealtypus des branchenübergreifenden Flächentarifvertrages, der einheitlich Arbeits- und Einkommensbedingungen in den betreffenden Betrieben regelt.« Und diese Fragmentierung des Tarifsystems wird ergänzt durch Gewerkschaftspluralität, was seit einem wegweisenden Urteil des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 2010 auch Tarifpluralität bedeutet, jedenfalls noch, denn ein „Tarifeinheitsgesetz“ ist schon von der Bundesregierung auf den Weg gebracht worden. Neben den DGB-Gewerkschaften gibt es die Berufs- oder Spartengewerkschaften. Und die sind seit geraumer Zeit in das Visier der Politik geraten. Und die Debatte über sie hat in den Medien teilweise hysterische Züge angenommen, vor allem mit einem völlig verengten Blick auf die GDL (und besonders auf den Vorsitzenden dieser Truppe, also auf Claus Weselsky) sowie auf die Pilotengewerkschaft Cockpit, die regelmäßig die Lufthanseaten unter den Piloten in den Ausstand führen.

Immer wieder – so Bispinck – wird im Zusammenhang mit den Sparten- und Berufsgewerkschaften vor „englischen Verhältnissen“ gewarnt, wonach die 600 Klein- und Kleinstgewerkschaften in Großbritannien den Industriestandort ruiniert haben. Aber das entlarvt er für Deutschland als das, was es ist – Unsinn. Denn:
»Es gibt hier nicht etwa 600, sondern nur sechs Berufsgewerkschaften, die man als streikfähige Gewerkschaften bezeichnen kann, als akzeptierte Tarifvertragsparteien mit eigenständigen Tarifverträgen. Diese Zahl ist seit langer Zeit stabil, selbst nach dem BAG-Urteil von 2010 hat sich daran nichts geändert.«

Von den sechs wichtigsten Berufsgewerkschaften sind die meisten auch keine Neugründungen, sondern haben Jahrzehnte – im Fall der Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) – sogar mehr als ein Jahrhundert Geschichte hinter sich. Sie zeichnen sich aus durch einen hohen Organisationsgrad. Und wie sagt man so schön: Man muss auch mal die Kirche im Dorf lassen, was zutreffend ist, wenn man sich die tarifpolitische Bedeutung der „kleinen“ Gewerkschaften vor Augen führt:

»Laut dem jährlichen Tarifregister des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) haben wir rund 47.000 sogenannte Ursprungstarifverträge. Änderungs- und Paralleltarifverträge sind in diesen Zahlen nicht berücksichtigt. Zusammengerechnet sind es aber nur 567 Ursprungstarifverträge, die Marburger Bund, GDL, Vereinigung Cockpit (VC), Deutscher Journalisten-Verband (DJV), UFO und der Verband der medizinischen Fachangestellten (VmF) abgeschlossen haben. Die meisten Tarifverträge wurden mit dem Marburger Bund abgeschlossen, gefolgt von der GDL. Sehr häufig handelt es sich dabei um Firmentarifverträge.«

Und wie ist es mit der gerade gegenwärtig heftig diskutierten „Streikwelle“ durch diese Gewerkschaften? Auch hier ist wieder ein nüchterner Blick angesagt:

»Die Bedeutung der Streiks in der Tarifpolitik der Berufsgewerkschaften wird deutlich überschätzt. Es gibt zwar eine Reihe von spektakulären Arbeitskämpfen, die von Berufsgewerkschaften durchgeführt worden sind, aber keineswegs nur solche. Die normale Tarifrunde einer Berufsgewerkschaft ist nicht immer durch Warnstreiks oder Streiks gekennzeichnet. Im Gegenteil: Wir haben in den letzten Jahren ein völlig normales Tarifgeschäft beobachten können.«

Der entscheidende Punkt hierbei ist: Arbeitskämpfe in den Vertretungsbereichen der Berufsgewerkschaften erfahren häufig eine ganz andere mediale Aufmerksamkeit. Bispinck dazu: »Wenn – wie in dieser Tarifrunde 2015 – 890.000 Beschäftigte in den Metallbetrieben warnstreiken, dann steht das in der Zeitung, es nimmt aber niemand wahr. Wenn tausende Beschäftigte  bei der Bahn, in den Krankenhäusern oder im Luftverkehr in den Streik treten, ist die unmittelbare Betroffenheit eine ganz andere.« Wir sind hier also konfrontiert mit einem Auseinanderfallen der subjektiven Wahrnehmung und der objektiven Daten.

Und Bispinck treibt die notwendige Differenzierung und damit verbunden auch Relativierung weiter, in dem er darauf hinweist, dass es im Kern um drei Bereiche geht:

»Das erste Konfliktfeld ist der Flughafen. Es gibt verschiedenste Berufsgruppen und mehrere zuständige Gewerkschaften. Piloten, Kabinenpersonal, Bodenpersonal, Fluglotsen, Sicherheitspersonal und das breite Spektrum von Dienstleistungsanbietern rund um das gesamte Flughafengeschäft. Die großen oder größeren Player sind hier ver.di, Cockpit, UFO und die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF).

Bei der Bahn ist das Feld übersichtlicher, was aber nicht heißt, dass es weniger konfliktträchtig wäre. Die beiden dort aktiven Gewerkschaften sind die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und die GDL. Und wir haben mit der Deutschen Bahn AG einen Arbeitgeber, der versucht, in diesem Umfeld Tarifkollisionen in Tarifverträgen zu vermeiden.

Schließlich das Konfliktfeld Krankenhaus. Neben ver.di ist hier vor allem der Marburger Bund ein aktiver tarifpolitischer Akteur. In der aktuellen Diskussion um die Berufsgewerkschaften steht dieser Bereich nicht im Zentrum, weil es in den vergangenen Jahren nur selten zu Tarifkonflikten mit Streiks mit dem Marburger Bund gekommen ist.«

Und wie ist es mit der Gefahr der „Überbietungskonkurrenz“? Immerhin: »Hohe Tarifabschlüsse durch Cockpit (Lufthansa 2001), Marburger Bund (Ärzte 2006) und GDL (Deutsche Bahn 2008) legen den Schluss nahe: Wenn Berufsgewerkschaften antreten, erzielen sie deutlich bessere Ergebnisse.« Wie so oft kann es helfen, wenn man die Abschlüsse über einen längeren Zeitraum verfolgt. »Das Ergebnis: Bei der Deutschen Bahn hat die EVG in den Jahren 2007 bis 2014 etwas besser abgeschnitten als die GDL, bei der Lufthansa erreichten Cockpit ein Plus von 17 Prozent, UFO 21 Prozent und ver.di 27 Prozent.«

»Bleibt die Frage: Haben wir es bei den Berufsgewerkschaften mit einer klientelorientierten, gruppenegoistischen Tarifpolitik zu tun, während die DGB-Gewerkschaften ihrerseits eine solidarische Tarifpolitik betreiben, die Belegschaften insgesamt in den Blick nimmt …«
Auch hier ergibt der Vergleich mit den „Normal“- also DGB-Gewerkschaften keine Sonderrolle der Berufs- und Spartengewerkschaften:

»Hohe Tarifforderungen für einzelne Beschäftigtengruppen sind … kein „Privileg“ der Berufsgewerkschaften: Zwei Beispiele zeigen, dass auch DGB-Gewerkschaften entsprechende Forderungen in den Tarifverhandlungen stellen. Im Bewachungsgewerbe Nordrhein-Westfalen forderte ver.di 2013 30 Prozent mehr. In der aktuellen Auseinandersetzung im Sozial- und Erziehungsdienst werden im Schnitt zehn Prozent gefordert, bei genauerer Betrachtung für einzelne Berufsgruppen sogar ein Plus von bis zu 20 Prozent.«

Soweit die nüchterne Analyse von Bispinck.

Und ein weiterer Beitrag – mit einem besonderen Fokus auf das vor der Verabschiedung stehende Tarifeinheitsgesetz – soll hier nicht unerwähnt bleiben:

Mittlerweile fahren die Züge bei der Deutschen Bahn wieder bzw. sie versuchen es, wieder in Gang zu kommen. Die GDL verspricht den Kunden dieses Mobilitätsunternehmens eine „Pause“, in der sie nicht mit weiteren Streikaktionen rechnen müssen. Aber an der grundsätzlich verfahrenen Situation hat sich nichts geändert. Und während nicht wenige Medien ihr Heil zu suchen meinen in einer völlig unterirdischen Personalisierung des Konflikts mit einer Fokussierung auf einen angeblich völlig abgehoben bis durchgeplanten GDL-Chef Weselsky, gab es in den zurückliegenden Tagen durchaus erstaunlich viele differenzierte Kommentare in der Presse über die Hintergründe des scheinbaren Amoklaufs der Gewerkschaft GDL.

Das besten Beispiel für eine klare Sicht auf den eigentlichen Grundkonflikt, mit dem wir es nunmehr zu tun haben, liefert nicht irgendein linker Journalist, sondern Rainer Hank, der verantwortliche Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, gemeinhin bekannt für seine – wie gewisse Kreise sagen würden – ausgesprochen neoliberalen Positionen. Der hat heute in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen Beitrag veröffentlicht, der hier nur empfohlen werden kann: Warum Weselsky nicht durchgeknallt ist, so kompakt hat er seinen Artikel überschrieben. Und er feuert gleich im Untertitel die Kernaussage ab: »Versteht noch jemand, was bei der Bahn los ist? Ja. Es ist die große Koalition, die Weselsky in den Streik hineingetrieben hat.«
So ist das wohl leider. Greifen wir einige Argumente von Hank heraus:

»Weselsky ist nicht durchgeknallt. Er mag womöglich nicht gerade ein Charmeur sein. Aber er hat intuitiv erkannt, dass es in diesem Streit nicht nur um die Bahn geht, sondern um ein grundsätzliches Thema: Wie halten wir es mit den Freiheitsrechten von Minderheiten?« Und weiter: »Das sogenannte Tarifeinheitsgesetz aus dem Hause von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ist nicht die mögliche Lösung des Konflikts, sondern in Wirklichkeit seine Ursache.«

Und dann verdichtet Hank das Grundproblem völlig zutreffend:

»Es ist die Ironie der Geschichte, dass SPD-Minister sich zum Handlanger der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (und von Teilen des Deutschen Gewerkschaftsbundes) machen lassen: Die beiden Kartellverbände fühlen sich aus unterschiedlichen Gründen von den kleinen Gewerkschaften bedroht und verstehen es prächtig, ihre Machtanmaßung als Gemeinwohlinteresse zu kaschieren. In Wirklichkeit soll das Diktat der Mehrheit die Minderheit ersticken. Dabei hatten gerade die Arbeitgeberverbände noch nie ein Problem damit, durch Leiharbeit oder Werkverträge verursachte Lohnkonkurrenz in ihren Betrieben friedlich zu handhaben.«

Genau in diese Richtung habe ich in mehreren Beiträgen im Blog „Aktuelle Sozialpolitik“ argumentiert.

Vgl. dazu Der Blick verengt sich auf den mehrtägig angelegten Streik der Lokführer. Und gleichzeitig wird im Parlament das Streikrecht und seine (eingeschränkte) Zukunft auf die Tagesordnung gesetzt,

Die Katze aus dem Sack lassen. Unionspolitiker fordern eine explizite Verankerung des Streikverbots für kleine Gewerkschaften und in der „Daseinsvorsorge“ Einschränkungen des Streikrechts für alle 

sowie vor allem den Beitrag Schwer umsetzbar, verfassungsrechtlich heikel, politisch umstritten – das ist noch nett formuliert. Das Gesetz zur Tarifeinheit und ein historisches Versagen durch „Vielleicht gut gemeint, aber das Gegenteil bekommen“ vom 5. März 2015.

Man kann nur weiterhin hoffen, dass der eine oder die andere noch rechtzeitig über das Tarifeinheitsgesetz nachdenkt, bevor es zur endgültigen Abstimmung im Bundestag kommt.

Erzieherinnen als „Müllmänner 2.0“? Der Kita-Streik stellt mehrere Systemfragen gleichzeitig

Auch wenn es übertrieben formuliert erscheint: Wir stehen vor einem historischen Moment. Weit über 90 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder von ver.di und GEW und auch denjenigen, die im Deutschen Beamtenbund organisiert sind, haben sich für einen unbefristeten Arbeitskampf ausgesprochen. Wir sprechen hier von Erzieher/innen und anderen Beschäftigten der kommunalen Kindertageseinrichtungen. Die Medienmaschinerie läuft an und produziert überall solche Meldungen: Ab Freitag bleiben viele Kitas zu: »Rund 150 Kitas werden am Freitag in Rheinland-Pfalz geschlossen bleiben. Schwerpunkte sind die Regionen Koblenz, Rheinhessen mit Mainz und die Pfalz.« Die Streiks in Rheinland-Pfalz sollen nach und nach ausgeweitet werden. Am Dienstag, dem 12. Mai, wird es einen landesweiten Streiktag geben, zu dem alle Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst bei den Kommunen aufgerufen werden. So oder ähnlich kann man es aus vielen Regionen Deutschlands hören und lesen. Der Streik ist unbefristet und kann nach Angaben der Gewerkschaften mehrere Wochen dauern. Sie fordern eine finanzielle Aufwertung der Sozial- und Erziehungsberufe unter anderem durch eine deutlich höhere Eingruppierung. Der nun anlaufende Kita-Streik ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil mit ihm mehrere „Systemfragen“ verbunden sind.

Den Gewerkschaften geht es um eine deutliche Anhebung der Vergütungen für die Fachkräfte in den kommunalen Kindertageseinrichtungen, wobei das Besondere darin besteht, dass nicht eine prozentuale Erhöhung der gegebenen tariflichen Vergütung gefordert wird, sondern die Fachkräfte sollen um mehrere Stufen nach oben gehoben werden. In der Gesamtschau würde das Vergütungsniveau um 10 % ansteigen müssen, die betroffenen Kommunen bzw. ihre Spitzenverbände geben an, dass dies Mehrkosten in einer Bandbreite von 500 Mio. bis 1,2 Milliarden € zur Folge hätte.

Zur Begründung für diesen erheblichen Vergütungssprung wird vor allem auf zwei Aspekte verwiesen: Zum einen sei das Aufgabenprofil der pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen in den vergangenen Jahren erheblich ausgeweitet wie auch vom Anspruch her gesehen angehoben worden. Dies stellt vor allem auf die Tatsache ab, dass die Kindertageseinrichtungen in den vergangenen Jahren, vor allem seit der Rezeption der Pisa-Ergebnisse, zu Bildungseinrichtungen deklariert worden sind (die sie auf dem Papier schon immer waren, denn das Kinder- und Jugendhilfegesetz, also das SGB VIII, spricht seit jeher von dem frühpädagogischen Dreiklang aus Bildung-Betreuung und Erziehung). Aber unbestreitbar ist, dass sich seit dem vergangenen Jahrzehnt sowohl die Erwartungen der Politik an die Kindertageseinrichtungen hinsichtlich des Bildungsauftrags nach oben verschoben haben (so gibt es in allen Bundesländern so genannte Bildungspläne bzw. Bildungsempfehlungen für die Kitas), wie aber auch auf Seiten eines (wachsenden) Teils der Eltern, die sehr viel Wert legen auf die Bildungselemente in der frühpädagogischen Arbeit. Diese Entwicklung korrespondiert mit einer intensiven Auseinandersetzung über die Bedeutung der ersten Lebensjahre vor dem Schuleintritt für die weitere Bildungslaufbahn der Kinder und in jeder Sonntagsrede zu diesem Thema wird das besonders hervorgehoben.

Hinzukommt unbestreitbar eine erhebliche Veränderung der Belastungsprofile der Arbeit der pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen. Dies zum einen dadurch, dass in den vergangenen Jahren, vor allem in Westdeutschland, immer mehr jüngere Kinder in die Kindertageseinrichtungen aufgenommen werden (müssen), die ganz andere Anforderungen an die Arbeit der Fachkräfte stellen hinsichtlich der Betreuungsintensität wie auch der Bildungsaufgaben, die dieser Altersgruppe angemessen sind. Hinzu kommt eine deutliche Zunahme der Ganztägigkeit, also immer mehr Kinder, die anders als früher nicht nur vier oder fünf Stunden in der Einrichtung verbleiben, sondern teilweise sieben Stunden oder noch länger.

Vor diesem Hintergrund wird derzeit argumentiert, dass das Niveau der Vergütung der pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen, das tatsächlich im Vergleich über alle Bildungsstufen derzeit am niedrigsten ist, eigentlich auf das Niveau der Grundschullehrer angehoben werden müsste. An dieser Stelle ist eine erste „Systemfrage“ zu diagnostizieren: Eine Umsetzung dieser Forderung würde unweigerlich zu einem Konflikt innerhalb der bestehenden Hierarchie der gegebenen Ausbildungssysteme führen, denn die Kritiker dieser Forderung verweisen sofort darauf, dass die – sicherlich sehr anspruchsvolle und teilweise bis zu fünf Jahre umfassende – Ausbildung der Erzieherinnen als eine fachschulische Ausbildung nicht vergleichbar sei mit dem Studium, dass Grundschullehrer zu absolvieren haben. Die überaus ausgeprägte Hierarchie unseres Ausbildungssystems wird dann daran erkennbar, dass die im Vergleich geringere Vergütung der Grundschullehrer gegenüber den Lehrern an weiterführenden Schulen ebenfalls damit begründet wird, dass sie nicht das gleiche Studium wie beispielsweise ein Gymnasiallehrer absolviert haben. Insofern wird hier zum einen grundsätzlich die Ausbildungsfrage aufgeworfen, zum anderen bekommen wir hier ein wenig Licht in das „Schattendasein“ der fachschulischen Ausbildung in Deutschland, die neben der üblicherweise im Mittelpunkt der Diskussion stehenden „dualen Ausbildung“ sowie der an Hochschulen steht. Die fachschulische Berufsausbildung, zu der beispielsweise auch die meisten Gesundheitsberufe gehören, ist eine Domäne der Frauen.
Insofern wird hier auch als eine weitere „Systemfrage“ die Diskussion über den Stellenwert und die Ausgestaltung „typischer“ Frauenberufe aufgeworfen.

Aber damit noch lange nicht genug. Der nun anlaufende unbefristete Kita-Streik wirft zugleich eine fundamentale „Systemfrage“ auf, die sich zugleich als zentrale „Achillesferse“ des Kita-Streiks erweisen könnte, wenn man sie nicht mitdenkt bzw. parallel adressiert: die Finanzierungsfrage der – teilweise völlig unterschiedlich ausgestalteten – Kita-Finanzierungssysteme in den Bundesländern.

Vereinfachend und zuspitzend formuliert: Die derzeit bestehenden Finanzierungssysteme der Kindertageseinrichtungen in den einzelnen Bundesländern weisen trotz aller Unterschiede Zwei zentrale Schwachstellen auf. Zum einen müssen wir von einer erheblichen Unterfinanzierung des Kita-Systems ausgehen. Schon vor vielen Jahren hat die Wirtschaftsorganisation OECD als Soll-Vorgabe für eine ausreichende finanzielle Ausstattung des Elementarbereichs einen Wert in Höhe von einem Prozent des Bruttoinlandsproduktes der jeweiligen Volkswirtschaft vorgegeben, in Deutschland kommen wir derzeit auf etwa 0,6 %. Dabei handelt es sich keineswegs um eine „Wünsch dir was“-Größe, sondern skandinavische Länder erreichen diese Größenordnung und auch unser Nachbarland Frankreich kommt in die Nähe dieses Werts. Anders ausgedrückt: In Deutschland müssten mehrere Milliarden Euro zusätzlich zu den bereits getätigten Ausgaben aufgewendet werden, um nach diesen Maßstäben eine angemessene Finanzausstattung erreichen zu können.

Neben der Unterfinanzierung von besonderer Bedeutung gerade auch mit Blick auf den nun anlaufenden großen Kita-Streik ist die eklatante Fehlfinanzierung des Systems der Kindertagesbetreuung in Deutschland.  Diese Finanzierung lässt sich vereinfachend so beschreiben: Über alle Bundesländer hinweg tragen die Kommunen mindestens 60 % der Kosten der Kindertagesbetreuung. Betrachtet man nun auf der anderen Seite die monetär bezifferbaren Nutzen aus der Kindertagesbetreuung, vor allem in Form der Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, die nicht nur von den Beschäftigten im Kita-System generiert werden, sondern vor allem aufgrund der Tatsache, dass die Eltern, vor allem die Mütter, durch die Bereitstellung dieser Infrastruktur überhaupt erst in die Lage versetzt werden, einer Teilzeit- oder gar Vollzeitbeschäftigung nachgehen zu können, aus der wiederum Steuern und Sozialversicherungsbeiträge generiert werden,  dann wird man zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die Hauptnutznießer auf der Ebene des Bundes und vor allem der Sozialversicherungen zu verrotten sind. Würde man nun ein rationales Finanzierungskonzept zugrundelegen, dann müssten diese Hauptnutznießer auch entsprechend an der Regelfinanzierung der Kindertageseinrichtungen (sowie der Kindertagespflege, die in der Diskussion oftmals vergessen wird) beteiligt werden. Das ist heute aber keineswegs der Fall, der Bund ist erst seit einigen Jahren an der Finanzierung vor allem des Ausbaus der Betreuungsangebote für die unter dreijährigen Kinder beteiligt. Die Sozialversicherungen überhaupt nicht. Seit Jahren wird vor diesem Hintergrund eine regelgebundene anteilige Finanzierung der Betriebskosten der Kindertageseinrichtungen (sowie der Ausgaben für die Kindertagespflege) seitens des Bundes gefordert. Entsprechende Modelle, wie man das umsetzen kann, beispielsweise in Form eines Kita-Fonds  sind in den vergangenen Jahren ausgearbeitet worden. Es fehlt schlichtweg der politische Wille, diesen Ansatz umzusetzen.

Vor dem Hintergrund der Forderung der Gewerkschaften und der Lage vieler Kommunen in Deutschland, die sich beispielsweise unter der Haushaltssicherung befinden und mit einer enormen Verschuldung konfrontiert sind, wird schnell erkennbar, das die zentralen und durchaus berechtigten Forderungen der Gewerkschaften, die Vergütungen deutlich anzuheben, in diesem Bereich nur dann wirklich eine Chance auf Umsetzung gekommen werden, wenn die Finanzierungsfrage im Sinne einer Entlastung der Kommunen gelöst wird.

Eine weitere „Systemfrage“ berührt die Gewerkschaften und ihre Strategie als solches. Die älteren Semester werden sich an die 70er und teilweise 80er Jahre erinnern, in denen die damalige Gewerkschaft ÖTV bei Tarifauseinandersetzungen gerne auf die berühmten Müllmänner zurückgegriffen hat, wenn es um die Demonstration der möglichen bzw. tatsächlichen Folgen eines Arbeitskampfes im öffentlichen Dienst ging. Die Nachfolgegewerkschaft Verdi steht heute vor dem Problem, dass die meisten Müllmänner privatisiert worden sind und als Speerspitze eines Arbeitskampfes im öffentlichen Dienst schlichtweg nicht mehr zur Verfügung stehen (können). Es gibt durchaus Strategen im Gewerkschaftslager, die den Erzieherinnen in den Kindertageseinrichtungen angesichts ihrer enorm gewachsenen Bedeutung im gesellschaftlichen Gefüge unseres Landes eine vergleichbare Funktionalität zu schreiben, wie sie früher die Müllmänner im öffentlichen Dienst eingenommen hatten. Die konnten durch einen Arbeitskampf innerhalb einer sehr überschaubaren Frist weite Teile der Bevölkerung empfindlich treffen und damit einen entsprechenden Druck aufbauen, dass die öffentlichen Arbeitgeber in einer Tarifauseinandersetzung einlenken. Es ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass man angesichts der die enormen Bedeutung, die die Kindertagesbetreuung heute angesichts der gestiegenen Erwerbstätigkeit der Mütter in unserer Gesellschaft hat, davon ausgehen kann und muss, das Streikaktionen in diesem Bereich zu empfindlichen Einschränkungen führen können und müssen. Vor diesem Hintergrund kann es durchaus Sinn machen, perspektivisch die Erzieherinnen gleichsam zu einer Speerspitze zukünftiger Arbeitskämpfe zu machen, also gleichsam zu „Müllmänner 2.0“.

Auf der anderen Seite kann und darf man nicht übersehen, dass wir gerade in diesem Bereich nicht nur aus gewerkschaftlicher Sicht mit zahlreichen Besonderheiten konfrontiert sind: Zum einen gibt es nicht „die“ Gewerkschaft, die in diesem Bereich alleine für die Interessen der Beschäftigten kämpft, sondern mit Verdi und der GEW zwei DGB-Gewerkschaften und auch der Deutsche Beamtenbund mischt teilweise mit seinen Mitgliedern mit., vor allem hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den beiden DGB-Gewerkschaften Verdi und GEW. Hinzu kommt eine weitere Besonderheit, die auch in den vor uns liegenden Tagen deutlich erkennbar werden wird: Viele Bürger werden aus ihrer Perspektive mehr oder weniger erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass eben nicht „die“ Kitas streiken bzw. gestreikt werden, sondern nur ein Teil der kommunalen Kitas. Man wird dann ebenfalls zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Mehrheit der Kindertageseinrichtungen nicht in kommunaler Trägerschaft betrieben werden, sondern von den so genannten freien Trägern, insbesondere handelt es sich hierbei um konfessionell gebundene Einrichtungen der evangelischen und der katholischen Kirche. In diesen Einrichtungen arbeitet die Mehrzahl der Erzieherinnen, die haben aber aufgrund der Sonderrechte der Kirchen kein Streikrecht. Sie werden in der nun anlaufenden großen Auseinandersetzung lediglich als Zaungäste die Entwicklung begleiten und beobachten können.

Darüber hinaus den Blick wieder gerichtet auf die nun vor einem unbefristeten Streik stehenden Erzieherinnen in den kommunalen Kindertageseinrichtungen: Es handelt sich im wahrsten Sinne des Wortes um ein „Experiment“, denn so eine Arbeitskampfmaßnahme hat es in der bisherigen Geschichte im Bereich der pädagogischen Fachkräfte von Kindertageseinrichtungen noch nicht gegeben. Im Jahr 2009 gab es bereits über einen längeren Zeitraum zahlreiche Warnstreikaktionen in Kindertageseinrichtungen, die allerdings begrenzt waren auf in der Regel ein bis zwei Tage. Es wird spannend sein, zu verfolgen, wie die Erzieherinnen auf einen längeren Ausstand reagieren werden, vor allem dann, wenn nach ein bis zwei Tagen die am Anfang sicher vorhandene breite Sympathie vor allem bei den Eltern einer heftigen Kritik an den Streikaktionen weichen wird. Es gibt zahlreiche Skeptiker, die befürchten, dass die Erzieherinnen gerade aufgrund ihrer hohen intrinsischen Motivation erhebliche Probleme haben werden, einen längeren Arbeitskampf auch durchzuhalten. Dem wird entgegengehalten, dass es in den vergangenen Jahren eine erhebliche Politisierung vieler Erzieherinnen gegeben hat, dass also die Haltung und die Verfassung vieler betroffener Fachkräfte heute eine andere sei als noch vor ein paar Jahren und man deshalb diesen Schritt wagen könne.

Über all diese inneren Fragen den Kita-Streik betreffend weit hinausreichend ist als eine weitere „Systemfrage“ der Hinweis erlaubt, dass es bekanntlich das so genannte „Lernen am Modell“ gibt. Damit soll an dieser Stelle zum Ausdruck gebracht werden, dass wenn die Erzieherinnen erfolgreich bzw. halbwegs erfolgreich sein sollten mit ihrer unbefristeten Streikaktion, dann wird das auf andere Bereiche ausstrahlen, wo sich mittlerweile ein erheblicher und überaus nachvollziehbarer Druck aufgebaut hat: gemeint ist an dieser Stelle vor allem der ganze Bereich der Pflege, also die Pflegekräfte und ihre wachsende Unzufriedenheit angesichts der teilweise wirklich desaströsen Arbeitsbedingungen, denen sie ausgesetzt sind. Die werden sich dann in absehbarer Zeit auch der Entscheidung ausgesetzt sehen, ob sie in den großen Konflikt gehen werden bzw. wollen bzw. können.

Der Blick verengt sich auf den mehrtägig angelegten Streik der Lokführer. Und gleichzeitig wird im Parlament das Streikrecht und seine (eingeschränkte) Zukunft auf die Tagesordnung gesetzt

Alle Augen sind auf den nun im Güterverkehr angelaufenen und morgen auch den Personenverkehr erreichenden mehrtägigen Ausstand der Lokführergewerkschaft GDL gerichtet. Wie auch immer man dazu steht – ein Aspekt taucht immer wieder auf, wenn es um die Frage geht, warum die GDL diese enorme Eskalation der Arbeitskampfmaßnahme vorantreibt: Gemeint ist der Hinweis auf das „Tarifeinheitsgesetz“ der Bundesregierung, das diese derzeit durch den Bundestag schleust.  Bereits ab 1. Juli soll das Tarifeinheitsgesetz nach dem Willen der Koalitionäre in Kraft treten. Heute fand nun im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Bundestages eine Sachverständigenanhörung statt. Unter der Überschrift Kontroverse zur Tarifeinheit berichtet der Pressedienst des Parlaments darüber. Ergänzend auch die Stellungnahmen der Sachverständigen zum Entwurf eines Tarifeinheitsgesetzes. Zur Diskussion stand außerdem ein Antrag der Fraktion Die Linke (18/4184) und ein Antrag von Bündnis 90/Die Grünen (18/2875). Darin sprechen sich die Fraktionen gegen die geplante Gesetzesinitiative aus. Im Mittelpunkt stand aber das, was die Bundesregierung beabsichtigt:
»Der derzeit vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Tarifeinheit (18/4062) sollte noch nicht das letzte Wort zu diesem Thema sein. So lassen sich, vereinfacht gesagt, die Äußerungen der Sachverständigen in einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am Montagmittag zusammenfassen.«

Klar für das Gesetz sprachen sich der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) aus. Bei der BDA verwundert das nicht, das Votum des DGB überrascht dann schon etwas, wenn man weiß, dass es innerhalb der Gewerkschaften erhebliche Widerstände gibt, vor allem gegen die – seitens der Kritiker behauptete – faktische Einschränkung des Streikrechts.

Erhebliche Zweifel wurden auch von einigen geladenen Sachverständigen vorgetragen:

»Gregor Thüsing, Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn, sprach sich zwar grundsätzlich für das Ziel aus, die Zersplitterung der Tariflandschaft gesetzlich verhindern zu wollen. Er äußerte jedoch in einigen Punkten deutliche Zweifel an den im Entwurf vorgeschlagenen Mitteln. So bezeichnete er einige „Sicherungsmittel“, die die Verfassungskonformität des Entwurfs gewährleisten sollen, als „absurd“. Ein einklagbares Recht der Minderheitsgewerkschaft, ihre Forderungen mündlich vortragen zu dürfen sei genauso funktionslos wie das Recht einer Gewerkschaft, den von ihr nicht mit beeinflussten Tarifvertrag einer Konkurrenzgewerkschaft nachzuzeichnen.«

»Am deutlichsten äußerten der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler und Gerhart Baum, ehemaliger Bundesinnenminister, ihre Kritik. So verwies Däubler darauf, dass die Arbeitgeberseite künftig durch legale Maßnahmen die Struktur der Arbeitnehmerseite so beeinflussen könne, dass die von ihr geschätzte Gewerkschaft die Mehrheit im Betrieb habe. Das greife aber in die Unabhängigkeit der Gewerkschaften ein und lasse sich nicht mit dem Grundgesetz vereinbaren, sagte Däubler. Außerdem sei es fraglich, wie festgestellt werden solle, welche Gewerkschaft die Mehrheitsgewerkschaft sei. Noch unklar sei, welche Arbeitnehmer als betriebszugehörig gezählt würden, was mit den „Karteileichen“ geschehe oder mit jenen, die sich weigerten, ihre Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft offenzulegen.«

Der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum »kritisierte, dass das mehrheitlich bestehende gute Kooperationsklima zwischen den Tarifpartnern durch das geplante Gesetz gestört werde und die Gefahr bestehe, dass die Öffentlichkeit allgemein gegen das Streikrecht mobilisiert werden soll. „Das betrifft dann auch den DGB“, sagte Baum.«

Ebenfalls zu Wort gemeldet hat sich heute die ehemalige stellvertretende DGB-Bundesvorsitzende Ursula Engeren-Kefer in ihrem Blog unter der mehr als eindeutigen Überschrift Hände weg vom Streikrecht. Sie wägt die Vor- und Nachteile der Tarifeinheit ab, findet aber klare Worte beim Thema Streikrecht:

»In jedem Fall ist es jedoch eine unzulässige Einschränkung des grundgesetzlich verbrieften Rechts auf Vereinigungs- und Tarifvertragsfreiheit, wenn den Spartengewerkschaften per Gesetz das eigenständige Streikrecht genommen werden soll. Die vorgesehene Regelung in den Eckpunkten zu einem derartigen Gesetz, die bereits im Sommer vom BMAS vorgelegt worden waren, ist über das zuträgliche Maß hinausgegangen. Danach wären die Spartengewerkschaften zu der Einhaltung des Tariffriedens während der Laufzeit des Tarifvertrages der Mehrheitsgewerkschaft gezwungen und hätten deren Tarifergebnis übernehmen müssen.  Dies wäre dem faktischen „Tod“ derartiger Spartengewerkschaften gleichzusetzen. Warum soll ein Arbeitnehmer für die Mitgliedschaft in einer Spartengewerkschaft dann überhaupt Beiträge zahlen? Damit würde eine grundgesetzwidrige Einschränkung des Rechts auf Vereinigungsfreiheit und Tarifautonomie  erfolgen … Jede gesetzliche Einschränkung des Streikrechtes der Spartengewerkschaften verstößt  gegen § 9 des Grundgesetzes und die dem zugrundliegenden Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), 87 und 98. Gewerkschaften ohne Streikrecht haben keine Existenzberechtigung.«

Engelen-Kefer präsentiert aber auch einen Lösungsansatz jenseits des Weiter so:

»Die Bundesregierung ist daher gut beraten, wenn  sie von ihrem diesbezüglichen Vorhaben Abstand nimmt und den Gesetzentwurf  entsprechend abschwächt. Dabei könnte es durchaus berechtigt sind, von Mehrheits- und Spartengewerkschaft zu verlangen, sich regelmäßig über die Tarifpolitik abzustimmen. Ziel muss dabei sein, die Interessen der zu betreuenden Menschen sowie der zu erbringenden Dienstleistungen, der übrigen Mitarbeiter und der wirtschaftlichen sowie finanziellen Rahmenbedingungen zu beachten. Zum Beispiel könnten  für den Fall des Konfliktes geeignete Schiedsverfahren vorgesehen werden.«

Große Zweifel an dem Tarifeinheitsgesetz wurde hier schon an anderer Stelle formuliert, beispielsweise am 05.03.2015 in dem Beitrag Schwer umsetzbar, verfassungsrechtlich heikel, politisch umstritten – das ist noch nett formuliert. Das Gesetz zur Tarifeinheit und ein historisches Versagen durch „Vielleicht gut gemeint, aber das Gegenteil bekommen“.

Besonders relevant vor dem Hintergrund zum einen des aktuellen Gesetzgebungsverfahrens, von dem man plausibel annehmen kann, dass es die parlamentarische Hürde nehmen wird, zum anderen aber auch der Wutwelle, die jetzt gegen die GDL und deren Mega-Streik aufgebaut und die sich in den kommenden Tagen entfalten wird (wobei hier nur angemerkt werden kann, dass es auch die GDL verteidigende Kommentierungen gibt, beispielsweise Bahnvorstand will Unterwerfung von Pascal Beucker, Ein Lob des Streiks von Andreas Oswald oder Danke, GDL von Tom Strohschneider), sind die Hinweise in dem Beitrag vom 20.04.2015: Die Katze aus dem Sack lassen. Unionspolitiker fordern eine explizite Verankerung des Streikverbots für kleine Gewerkschaften und in der „Daseinsvorsorge“ Einschränkungen des Streikrechts für alle: Der Wirtschaftsflügel der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat ein Streikverbot für die kleineren Gewerkschaften innerhalb eines Betriebes gefordert. Das geht aus einem Positionspapier hervor, das der Wirtschaftsflügel an den Vorsitzenden der Unionsfraktion Volker Kauder geschickt hat, kann man dem Beitrag entnehmen. Zudem fordern die Unionspolitiker, dass das Streikrecht im Bereich der „Daseins­vorsorge“ eingeschränkt wird, beim Luft- und Bahnverkehr zum Beispiel, aber ebenso im Erziehungswesen, der Energie- und Wasserversorgung und der medizinischen Versor­gung. Das Papier des Wirtschaftsflügels der Union ist erfrischend deutlich: „Der Ergänzungsvorschlag für die Daseinsvorsorge erfasst Streikfälle mit besonderer Breitenwirkung“. Die sollen in die Mangel genommen werden.

Dazu passt dann leider auch der Artikel Ziel: Kampf dem Arbeitskampf von Claudia Wrobel. Sie berichtet von einem „Hearing zum Entwurf des Tarifeinheitsgesetzes“, zum dem der Deutsche Beamtenbund und Tarifunion (dbb) in Berlin geladen hatte. Die  Bundestagsfraktionen von SPD und CDU/CSU hatten keine Vertreter zu dem Symposium geschickt. Wrobel notiert am Ende ihres Artikels, dass viele an dem Symposium Teilnehmenden oft »bemerkten …, dass es der Bundesregierung vor allem darum gehe, die Streiks der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) einzuschränken. Allerdings traue sie sich nicht, dies öffentlich zuzugeben.«

Man kann nur weiterhin hoffen, dass die Gewerkschaften und vor allem die Spitze des DGB erkennt, auf was für eine schiefe Bahn man sich hier hat setzen lassen.

Sie fährt, sie fährt nicht, dann fährt sie wieder – aber jetzt soll sie eine ganze Woche zwangspausieren. Die Bahn. Denn die Lokführer-Gewerkschaft GDL will es offensichtlich wissen, wie weit man gehen kann. Da kommt vieles unter die Räder

Und täglich grüßt das Murmeltier. So in etwa lässt sich zusammenfassen, wie sich mittlerweile der Konflikt zwischen der Lokführer-Gewerkschaft GDL und der Deutschen Bahn für viele Menschen darstellt. Die Bahn fährt (mehr oder weniger), dann streikt die GDL zwei oder drei Tage, dann fährt sie wieder und nach einiger Zeit zurück auf Streik seitens der Lokführer. Und vor wenigen Tagen hat die GDL erneut die Verhandlungen mit der Bahn abgebrochen, das von der Bahn-Spitze vorgelegte Angebot sei keinesfalls akzeptabel. Man ahnte es schon – das Muster sollte sich wiederholen. Aber alles hat mal ein Ende und offensichtlich will es die GDL jetzt so richtig wissen, wie weit man gehen kann. Die Eilmeldungen überschlagen sich derzeit: Lokführer streiken sechs Tage langEine Woche Bahnstreik ab Montag oder Lokführer streiken die ganze nächste Woche, um nur drei davon zu zitieren.

Bahnreisende müssen sich von Dienstag an auf den bisher längsten Streik der Lokführer im Tarifkonflikt bei der Bahn einstellen. Der Ausstand soll im Personenverkehr sechs Tage lang von 5. Mai um 2.00 Uhr morgens bis 10. Mai um 9.00 Uhr dauern, teilte die Gewerkschaft am Sonntag in Frankfurt am Main mit. Im Güterverkehr soll bereits ab Montag um 15.00 Uhr gestreikt werden. Es wäre bereits der achte Streik in dem Tarifkonflikt. Um was es da geht? Das ist gar nicht so ein fach zu beschreiben.

Die Gewerkschaft hatte am Donnerstag das neue Tarifangebot des Unternehmens zurückgewiesen. Die Bahn hatte angeboten, die Löhne sollten vom 1. Juli an in zwei Stufen um insgesamt 4,7 Prozent steigen. Dazu komme eine Einmalzahlung von insgesamt 1.000 Euro bis zum 30. Juni. Die GDL fordert für die Beschäftigten fünf Prozent mehr Geld und eine Stunde weniger Arbeitszeit pro Woche.  Aber die Differenz zwischen Angebot und Forderung auf dieser Ebene ist noch nicht einmal der eigentliche Knackpunkt. Die GDL will nicht nur für Lokführer, sondern auch für Zugbegleiter und Rangierführer eigene Verträge abschließen. Dies strebt auch die größere, konkurrierende Gewerkschaft EVG an. Die Bahn will unterschiedliche Abschlüsse für dieselbe Berufsgruppe vermeiden.

Hinzu kommt – sicher ein Motiv für die für viele unerwartete Härte der Lokführer-Gewerkschaft: Die GDL befürchtet, unter die Räder des Terifeinheitsgesetzes zu geraten, das derzeit im Bundestag seinen Gang nimmt und das dann bald in Kraft treten könnte, so dass Streikaktionen der GDL möglicherweise nicht mehr zulässig wären. Die GDL unterstellt der Bahn, sie spiele auf Zeit und lasse die Gewerkschaft am ausgestreckten Arm verhungern, bis es zu der gesetzlichen Neuregelung gekommen ist. Vor diesem Hintergrund wäre die Eskalation der GDL aus deren Binnensicht ein durchaus logischer Schritt – allerdings, wie noch zu diskutieren sein wird – mit ganz erheblichen und teilweise unabsehbaren Konsequenzen. Auch für die GDL selbst, die scheinbar in den Selbstzerstörungsmodus gewechselt ist. Aber blicken wir zuerst noch einmal kurz zurück auf den bisherigen Stand vor der nun erfolgten Ankündigung des Mega-Streiks.

Eine gute Übersicht über das, was im vergangenen Jahr passiert ist, liefert der Artikel Deutsche Bahn AG. Tarifrunde 2014 des WSI-Tarifarchivs:

»Die Tarifrunde 2014 bei der Deutschen Bahn AG verlief besonders konfliktreich und war zum Jahresende auch noch nicht abgeschlossen. Ursache dafür waren die besonderen (tarif)-politischen Rahmenbedingungen in diesem Tarifbereich. Seit über zehn Jahren streiten zwei Gewerkschaften bei der Deutschen Bahn um Einfluss und Zuständigkeiten. Anders als in anderen Wirtschaftszweigen gibt es keine funktionierende Tarifkooperation, sondern lediglich einen seit 2008 befristet festgeschriebenen „Waffenstillstand“, der die Tarifkonkurrenz zwischen den beiden Gewerkschaften EVG (bis 2010: Transnet/GDBA) und GDL aber nicht befriedet hat.«

Schon im vergangenen Jahr hat das Agieren der GDL polarisiert:

»Die Streiks der GDL führten zu einer sehr kontroversen öffentlichen Debatte. Zum einen wurden die Arbeitsniederlegungen als unverhältnismäßig kritisiert. Der GDL und speziell ihrem Vorsitzenden Claus Weselsky wurde vorgeworfen, aus purem Organisations- und Machtinteresse heraus zu streiken … Rufe nach einer Begrenzung des Streikrechts im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge wurden laut. Auf der anderen Seite gab es auch explizit positive Stimmen, die die GDL für ihr Vorgehen ausdrücklich lobten …«

Aber auch im neuen Jahr ist der Konflikt weiter gegangen und nach einem weiteren „normalen“, das heißt hier zweitägigen Streik (vgl. dazu beispielsweise den Artikel Die Paralleluniversen von Bahn und GDL), steht nun der große Konflikt vor der Haustür. Die Gespräche seit Mitte vergangenen Jahres drehen sich immer wieder um dieselbe Frage: Welche Gewerkschaft darf welche Berufsgruppe im Bahn-Konzern vertreten? Denn neben der kleineren GDL, die übrigens keine DGB-Gewerkschaft ist, sondern unter den Fittichen des Deutschen Beamtenbundes segelt, gibt es noch die größere Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Die waren und sind bislang in einer sehr unkomfortablen Position, laufen sie doch immer im Windschatten der überaus öffentlichkeitswirksamen Aktionen der GDL und müssen zugleich zunehmend Anfragen der eigenen Mitglieder hinsichtlich ihres vergleichsweise sehr friedlichen Umgangs mit dem Arbeitgeber Deutsche Bahn zur Kenntnis nehmen – sicher auch ein Grund für solche Meldungen: Jetzt drohen auch die anderen Eisenbahner mit Streik. Irgendwie kommen die jetzt natürlich immer mehr in Zugzwang, gegenüber den eigenen Mitgliedern zu demonstrieren, dass sie auch noch da sind.

Bahnstreik und kein Ende? Das fragen sich viele Menschen. So auch die Überschrift eines Artikels, in dem über ein Gespräch mit dem Streikforscher Heiner Dribbusch von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung berichtet wurde. Auch Dribbusch verweist auf die direkt-indirekt fatalen Auswirkungen des laufenden Gesetzgebungsprozesses im Kontext der Tarifeinheit:

»Da das Gesetz noch vor der Sommerpause vom Bundestag verabschiedet werden soll, laufe der GDL aber auch langsam die Zeit davon. Insofern habe Entwurf des Tarifeinheitsgesetzes zur Verhärtung beigetragen und vermutlich auch die Auseinandersetzung in die Länge gezogen. Denn die Bahn scheine auf Zeit zu spielen und zu hoffen, mit Hilfe des Tarifeinheitsgesetzes die GDL als Tarifvertragspartei letztlich ausschließen zu können. Ob dies in allen 300 Bahnbetrieben wirklich gelingen würde, sei zwar unklar. Aber das Management hoffe, zumindest die Verhandlungsposition der GDL nach einer Neuregelung zu schwächen. Die EVG wiederum zögere mit der Bahn zum Abschluss zu kommen, solange nicht klar ist, welche Zugeständnisse das Management der GDL macht. All dies verhindere eine schnelle Lösung.«

Schon beim letzten, zweitägigen Streik der Lokführer im April dieses Jahres lief die Anti-GDL-Berichterstattung auf Hochtouren. Neben den betroffenen Reisenden wurde diesmal besonders auf die – angeblichen und tatsächlichen – volkswirtschaftlichen Schäden abgestellt, die durch die Arbeitsniederlegungen der Lokführer hervorgerufen werden.

»Streikbedingte Schäden können von einstelligen Millionenbeträgen schnell auf bis zu 100 Millionen Euro Schaden pro Tag wachsen«, warnte Dieter Schweer, Mitglied der Hauptgeschäftsführung im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Besonders hart betroffen seien Branchen, die auf die Bahn angewiesen seien, etwa Chemie-Gefahrguttransporte, die Stahlindustrie oder die Autowirtschaft. Auch der Chefökonom des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Alexander Schumann, sprach am Mittwoch in »Bild« von einem bis zu 100 Millionen Euro großen Schaden durch den aktuellen 66-stündigen Streik im Güterverkehr«, so Rainer Balcerowiak in seinem diese Argumentation kritisierenden Artikel Kein Grund für Horrorszenarien. Er spricht von „Fantasiezahlen“ und sieht „Panikmache und Anti-GDL-Propaganda“ am Werke. Seine Begründung dafür:

»Ein Sprecher des DIHK räumte … ein, dass es »keine konkreten Zahlen gibt« und man auch keinerlei konkrete Angaben von einzelnen Branchen oder Betrieben über die möglichen Auswirkungen des Streiks habe. Vielmehr handele es sich um »Modellrechnungen« für den Fall eines längeren flächendeckenden Streiks im Güterverkehr. Für ein bis zwei Tage seien Firmen in der Lage, Produktionsausfälle weitgehend zu vermeiden. Kohle- und Stahlfirmen, die zu den Großkunden der Bahn zählen, besitzen nach eigenen Angaben sogar einen Puffer von fünf bis sieben Tagen. Zudem kann die Bahn trotz der Arbeitsniederlegung besonders terminsensible Großkunden weiter bedienen, weil sie nicht streikberechtigte verbeamtete Lokführer einsetzen kann.«

Auch der Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME) sieht derzeit keinen Grund für Horrorszenarien. »Erst nach drei Tagen wird es bei den meisten kritisch«, so wird deren Sprecher Gunnar Gburek in dem Artikel zitiert – eine Grenze, die allerdings bei dem nunmehr angekündigten Ausstand von einer Woche mehr als überschritten würde, was die neue Qualität dessen verdeutlicht, was wir seit heute zur Kenntnis zu nehmen haben.

Die Hinweise auf die Schäden durch die Streikaktionen müssen auch vor dem Hintergrund gesehen werden, über eine solche Argumentation den Gesetzgeber zum Einschreiten zu bewegen. Noch vor der Ankündigung der neuen Streikaktionen findet man dann beispielsweise in der FAZ die folgende Kommentierung von Heike Goebel unter der bezeichnenden Überschrift: Ran ans Streikrecht! Auch sie sieht den Zusammenhang mit dem Tarifeinheitsgesetz der großen Koalition, zieht allerdings eine „interessante“ Schlussfolgerung:

»An der Eskalation ist die große Koalition mitschuldig. Ihr Tarifeinheitsgesetz bedroht die Existenz der Sparten-Gewerkschaften, auch deswegen kämpft die GdL so rücksichtslos. Die Regierung sollte das Gesetz einstampfen und stattdessen das Streikrecht begrenzen, zumindest da, wo solche Konflikte das öffentliche Leben unter hohen Kosten für Dritte empfindlich stören. Eine gute Debattengrundlage sind die Vorschläge des CDU-Wirtschaftsflügels, die andere Länder erfolgreich anwenden: Streiks sollten erst nach einem Schlichtungsversuch erlaubt sein, es muss längere Ankündigungsfristen geben und höhere Abstimmungshürden.«

Genau diese Entwicklung wurde bereits kritisch in dem Beitrag Die Katze aus dem Sack lassen. Unionspolitiker fordern eine explizite Verankerung des Streikverbots für kleine Gewerkschaften und in der „Daseinsvorsorge“ Einschränkungen des Streikrechts für alle vom 20. April 2015 behandelt.

Noch wesentlich weiter geht Werner Rügemer in seinem Beitrag DB im GdL-Streik: „Bewusst eine Sackgasse herbeiführen“: »Polizei- und Geheimdienstmethoden gegen streikbereite Gewerkschaften wie die GdL. Strategische Beratung durch Zürcher Union Busting-Institut SNI«, so beginnt sein Artikel, in dem er darauf hinweist, dass auch seitens der Deutschen Bahn „Union Busting“-Methoden Anwendung finden.

Man kann es drehen und wenden wie man will – bei einem Streik in der Größenordnung, wie ihn die GDL heute angekündigt hat, wird es erhebliche negative Auswirkungen geben müssen. Dazu und hier besonders relevant kommt hinzu: In den kommenden Tagen wird die gesamte mediale Aufmerksamkeit auf den Ausstand der in der GDL organisierten Lokführer gezogen werden und man braucht keine prognostische Expertise um vorauszusagen, dass die (ver)öffentliche Meinung massiv gegen die Aktion der GDL ausgerichtet wird. Auch für viele bislang Gutmütige wird der Rubikon diesmal überschritten sein.

Nun lebt die GDL nicht auf einer Insel, auch wenn man den Eindruck bekommen könnte, dass das bei der Führungsebene dort so ist. Denn es gibt noch andere Konfliktfelder in Arbeitsbereichen, die deshalb von großer Bedeutung sind, weil Streikaktionen in diesen Bereichen aufgrund der unmittelbaren Betroffenheit vieler Menschen eine ganz andere Wahrnehmung bekommen, als wenn beispielsweise die IG Metall bei einem Metallunternehmen streiken würden. Das kann für das Unternehmen bis zur Existenzfrage gehen, für die normale Bevölkerung wäre das nicht oder nur ganz am Rande relevant.

Völlig anders sieht das aus in Bereichen wie der Kindertagesbetreuung, der Paketzustellung oder der Pflege. Hier sind zumeist Millionen Menschen direkt oder indirekt betroffen. Und diese Bereiche werden deshalb an dieser Stelle erwähnt, weil wir hier gegenwärtig ebenfalls mit Streikaktionen konfrontiert wurden bzw. werden. Man denke nur daran, dass die Gewerkschaft ver.di die Erzieher/innen der kommunalen Kindertageseinrichtungen zur Urabstimmung über unbefristete Arbeitskampfmaßnahmen aufgerufen hat und wenn sie die erforderliche Zustimmung bekommen, dann sollte sich eigentlich ab Ende der nächsten Woche, also ab dem 8. Mai 2015, der Streikzug in Bewegung setzen (vgl. hierzu beispielsweise Kita-Streik der Erzieher startet wohl vielerorts am 8. Mai). Wohlgemerkt, in einem Bereich, der viele Eltern treffen wird, die einen Warnstreik von einem Tag locker wegstecken können, die aber erhebliche Probleme bekommen werden, wenn die Kitas mehrere Tage geschlossen bleiben. Für ver.di ergibt sich aus der heutigen Ankündigung der GDL, einen Mega-Streik durchzuführen, eine überaus unangenehme Lage, denn sie drohen mit ihrem Streikvorhaben unter die Räder eines durch den Lokführer-Streiks extrem negativ aufgeheizten Klimas in der Gesellschaft zu geraten, obgleich sie mit der GDL nichts zu tun haben.
Auch auf eine andere Großbaustelle muss an dieser Stelle hingewiesen werden: Die Pflege und die Pflegekräfte. Vor kurzem fand in Berlin an der Charité eine wichtige zweitägige Warnstreikaktion von Pflegekräften statt, deren Hauptforderung darin bestand und besteht, dass mehr Pflegekräfte verbindlich eingesetzt werden. Also mehr Personal und gar nicht einmal höhere Löhne (vgl. hierzu Ein krankes System: »Der Charité-Ausstand ist im Kern ein politischer Streik – er fordert nicht nur die Universitätsklinik, sondern das Gesundheitswesen heraus«. Oder „Gravierender Warnstreik“ an der Charité – 400 Operationen fallen aus sowie Diagnose: Heilung kaum mehr möglich).

Es steht zu befürchten, dass die mehr als berechtigten Anliegen in diesen Arbeitsfeldern in den kommenden Tagen und Wochen unter die Räder geraten dessen, was in berechtigter wie auch hochgespielter Ablehnung des Lokführerstreiks im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte stehen wird. Das wäre schade und kontraproduktiv.

Der Bahn und der GDL wie auch der EVG kann man wohl nur noch von außen helfen. Aber nicht im Sinne der Forderung nach einer Beschränkung des Streikrechts, sondern im Sinne einer echten Schlichtung. Sonst kommen die da nicht mehr raus.

Zwischen den Welten von BMW, Amazon, Erzieherinnen und Pflegekräften. Und dann auch noch diese Crowdworker. Renaissance und Dilemmata der Gewerkschaften

Heute ist der Tag der Arbeit. Für nicht wenige Menschen ist das einer dieser gesetzlichen Feiertage, die vor allem dann besonders positiv in Erinnerung bleiben, wenn man sie als Brückentag für ein verlängertes Wochenende benutzen kann, was in unsere Zeit der (Selbst)Optimierungsstrategien passt. Auf der anderen Seite ist es eine Art „Hochamt“ der Gewerkschaften. Auf Kundgebungen will man sich Gehör verschaffen und – wahrscheinlich noch weitaus bedeutsamer – den eigenen Zusammenhalt zelebrieren als Botschaft nach innen. Und das hat mittlerweile eine für heutige Zeiten fast schon „katholisch“ lang daherkommende Geschichte, den der 1. Mai 2015 steht auch unter dem Motto, dass es der 125. Maifeiertag der Arbeiterbewegung ist. Vor 125 Jahren gingen in Deutschland zum ersten Mal Arbeiter am 1. Mai auf die Straße. Damals beteiligten sich rund 100.000 Menschen an Streiks, Demonstrationen und sogenannten Mai-Spaziergängen. Sie forderten bessere Arbeitsbedingungen und die Einführung des Achtstundentags. Besonders viele Arbeiter demonstrierten 1890 in Hamburg, die Unternehmen reagierten mit Entlassungen und Aussperrungen.

Der 1. Mai 2015 steht unter dem Motto: „Die Arbeit der Zukunft gestalten wir!“ Aber wie wollen die Gewerkschaften das machen? Und wie ist es eigentlich um sie selbst bestellt, im Jahr 2015? Noch vor wenigen Jahren wurde ihr definitives baldiges Ableben prognostiziert, heute hat man durchaus mit Recht den Eindruck einer gewissen Revitalisierung dieser Institutionen. Und sind wir nicht subjektiv gesehen fast täglich betroffen von Streiks und den damit verbundenen Beeinträchtigungen? Grund genug, ein wenig genauer hinzuschauen.

Der Aufruf des DGB zum 1. Mai 2015 kommt nicht mit direkten Forderungen daher, sondern mit zahlreichen (Schein-)Fragen, bei denen sich die Antworten aus Sicht der Arbeitnehmer gleichsam von selbst ergeben:

Wollt Ihr Euch ein gutes Leben aufbauen – und nicht nur für die Arbeit leben?
Wollt Ihr, dass das Lohndumping aufhört und der gesetzliche Mindestlohn ohne Ausnahme gilt?
Wollt Ihr sichere Arbeitsplätze statt Leiharbeit, Werkverträge oder Minijobs?
Wollt Ihr flexibler arbeiten und mehr Zeit fürs Privatleben, ohne dass Ihr jederzeit verfügbar sein müsst?
Wollt Ihr, dass mehr auf Eure Gesundheit geachtet wird und der Arbeitsstress ein Ende hat?
Wollt Ihr mehr Unterstützung, um Euch weiterentwickeln und auch Neues wagen zu können?
Wollt Ihr, dass Ihr fit bis zur Rente arbeiten könnt – und die Rente auch wirklich zum Leben reicht?
Wollt Ihr im Betrieb mehr mitbestimmen, wie die Arbeit von heute und morgen aussieht?
Wollt Ihr, dass es endlich selbstverständlich wird, dass Frauen gleich viel verdienen wie Männer?
Wollt Ihr eine bessere Bildung und Ausbildung für Eure Kinder, bezahlbare Energie, Kitas und Schwimmbäder? Wollt Ihr, dass Arbeitslose nicht in Hartz IV abstürzen und Millionen Menschen in Armut leben müssen?
Wollt Ihr, dass die oberen Zehntausend einen angemessenen Beitrag für unser Gemeinwohl leisten?
Wollt Ihr eine offene und solidarische Gesellschaft, die Nazis und Rassisten keine Chance gibt?
Wollt Ihr in einem friedlichen und sozialen Europa leben?

Ja wer will das nicht, möchte man den Verfassern dieser Botschaft zurufen. Klar doch. Nun gut, zwischen Wollen und Können und zuweilen auch Dürfen gibt es nicht nur semantische Unterschiede.

Die Zuspitzung auf das, was man will, ist das eine. Die Realität auf den Arbeitsmärkten ist natürlich oftmals eine ganz andere. Man kann das exemplarisch entfalten, wenn man sich nur einige wenige große Herausforderungen, denen sich die Gewerkschaften ausgesetzt sehen, etwas genauer anschaut.

In allen Festreden am heutigen Tag der Arbeit wird mit Sicherheit die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Januar dieses Jahres als ein großartiger Erfolg der Gewerkschaftsbewegung gefeiert werden. Es geht an dieser Stelle gar nicht darum, darauf hinzuweisen, dass noch vor einigen Jahren große Teile der Gewerkschaftsbewegung, vor allem die starken, einflussreichen Industrie-Gewerkschaften, die Einführung eines vom Staat gesetzten gesetzlichen Mindestlohns als Eingriff in die Tarifautonomie abgelehnt haben. Insofern kann und muss man in Teilen die Tatsache, dass wir neben den schon seit längerem existierenden Branchen-Mindestlöhnen nun auch eine allgemeine gesetzliche Lohnuntergrenze bekommen haben, auch interpretieren als Ausdruck einer fundamentalen Schwäche von Gewerkschaften in den unteren Etagen des Arbeitsmarktes, denn die Alternative zu einem solchen, vom Staat gesetzten Mindestlohn wäre ja die Definition von Lohnuntergrenzen durch die Tarifvertragsparteien. Dafür nun wiederum gibt es nicht nur einen, sondern zahlreiche Gründe, aber unbestreitbar bleibt die Tatsache, dass der Organisationsgrad der Gewerkschaften gerade in den Niedriglohnbereichen des Arbeitsmarktes (immer noch) erschreckend niedrig ist.

Der allerdings viel  wichtigere Punkt für die vor uns liegenden Monate und Jahre ist die gerade nicht die Fokussierung auf den Mindestlohn, der ja – nicht mehr, aber auch nicht weniger – „nur“ eine allgemeine Lohnuntergrenze im Sinne einer Sicherungsvorschrift nach unten darstellt, sondern weitaus bedeutsamer wäre für die Gewerkschaftsbewegung etwas, was neben der Einführung des Mindestlohns ebenfalls im Koalitionsvertrag der großen Koalition verankert worden ist: Gemeint ist die Vereinfachung und stärkere Nutzung des Instruments der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen. Aus gewerkschaftlicher Sicht wie auch darüber hinaus aus einer ordnungspolitischen Sicht auf die Machtverhältnisse auf vielen Arbeitsmärkten wäre dieses Instrument weitaus schärfer und zugleich wichtiger als die Engführung der Perspektive auf eine Lohnuntergrenze, die natürlich alles das, was oberhalb von ihr liegt und passiert, nicht beeinflusst bzw. nicht beeinflussen kann. Genau das ist aber der Unterschied, wenn ein Tarifvertrag allgemein verbindlich erklärt wird, denn dann gelten die im Tarifvertrag festgelegten Strukturen über die gesamte Belegschaft „von unten nach oben“ – und dann mit Gültigkeit bei Allgemeinverbindlichkeit für alle Unternehmen, auch die nicht tarifgebundenen Betriebe. Der Tarifvertrag regelt ja nicht nur die unterste Tariflohngruppe, sondern die gesamte Tarifstruktur wird hier abgebildet. Man darf gespannt sein, ob und was in der vor uns liegenden Zeit in diesem Bereich (noch) passieren wird.

Zum Wesenselement von Gewerkschaften gehört die Möglichkeit, die eigenen Forderungen – wenn es denn nicht anders geht – auch mithilfe von Arbeitskampfmaßnahmen, also Streiks, durchzusetzen. Nur wenn Gewerkschaften diese letzte Möglichkeit der Eskalation einer Verhandlung haben und realistisch mit ihr drohen bzw. sie Realität werden lassen können, werden sie von der anderen Seite, also den Arbeitgebern, wirklich ernst genommen. Und wenn man in den vergangenen Monaten ausschließlich die Medienberichterstattung verfolgt hat, dann muss man den Eindruck gewinnen, den subjektiv viele Bürger mit Sicherheit sofort teilen würden, dass sich Deutschland zu einem „Streikland“ entwickelt hat. Wie so oft ist die Realität komplexer. Ist Deutschland ein Streikland? Subjektiv ja, objektiv nein, so müsste die halbwegs korrekte Antwort lauten. Subjektiv ja deshalb, weil mittlerweile neun von zehn Arbeitskämpfen im Dienstleistungsbereich stattfinden und dabei vor allem in öffentlichkeitsnahen Dienstleistungsbereichen, man denke hier an die Arbeitskämpfe der Piloten der Lufthansa, der Lokführer bei der Deutschen Bahn oder – höchst aktuell – vor dem Hintergrund der derzeit laufenden Urabstimmung der Gewerkschaftsmitglieder ein möglicherweise in wenigen Tagen beginnender großer, unbefristeter Arbeitskampf bei den Erzieherinnen, die in kommunalen Kindertageseinrichtungen arbeiten, was natürlich erhebliche Auswirkungen haben muss und wird auf das tägliche Leben von vielen Menschen. Und die Berichterstattung über die Folgen solcher Streikaktionen werden dann die subjektiven Eindrücke weiter verstärken und verfestigen. Objektiv nein deshalb, weil die nüchterne Sicht auf die Entwicklung der Arbeitskämpfe und des durch Streiks ausgefallenen Arbeitsvolumens zu einem anderen Befund führt. Nehmen wir das vergangene Jahr 2014: Während sich die Gesamtzahl der Konflikte kaum veränderte, gingen das Streikvolumen und die Zahl der an Streiks Beteiligten im Vergleich zu 2013 deutlich zurück. Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Die Republik stand still im vergangenen Jahr. Wegen kleinen, aber kampfstarken Gewerkschaften und vieler Streiks. Wirklich? vom 04.03.2015.

Hinter diesen Zahlen besteht nicht nur die Tatsache, dass die Arbeitskampfaktivitäten in Deutschland im internationalen Vergleich seit langem und auch aktuell im unteren Drittel angesiedelt sind, wir also aus dieser Perspektive von einem „streikarmen“ Land sprechen müssen, sondern mit Blick auf die weitere Entwicklung der Gewerkschaften von besonderer Bedeutung ist die Auseinanderentwicklung zwischen den klassischen Industrie-Gewerkschaften und dem, was im Dienstleistungsbereich passiert. In früheren Zeiten, in denen weitaus mehr gestreikt wurde und deutlich mehr Arbeitsstunden durch Streiks ausgefallen sind, fanden diese Auseinandersetzungen oft und überwiegend im Industriebereich statt, mit der Folge, dass die ökonomischen Auswirkungen für die betroffenen Unternehmen in der jeweiligen Branche teilweise überaus massiv waren, die allgemeine Öffentlichkeit davon aber wenig bis gar nichts mitbekommen hat. Mittlerweile, wie bereits erwähnt, finden fast alle Streikaktionen im Bereich der Dienstleistungen statt, vor allem im Bereich personenbezogener Dienstleistungen, deren Ausfall dann sofort von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Vor allem die Gewerkschaft ver.di bestreitet ein Großteil dieser Arbeitskampfmaßnahmen, zugleich belastet durch eine unglaubliche Heterogenität der Anlässe, der Branchen bzw. der Unternehmen, wo gestreikt wird. Das reicht dann von unternehmensbezogenen Arbeitskampfmaßnahmen wie denen bei Amazon, über die bei anderen Unternehmen wie beispielsweise der Deutschen Post DHL und reicht hinein in wiederum ganz anders strukturierten Branchen wie die kommunal betriebenen Kindertageseinrichtungen oder den Krankenhäusern, wobei die Verbindung zwischen den Kitas und den Krankenhäusern vor allem darin zu sehen ist, dass beide Bereiche im wesentlichen bzw. ausschließlich öffentlich finanziert werden, also aus Steuer- und/oder Beitragsmitteln und hier neben „klassischen“ Lohnforderungen zum einen Ziel der Aktivitäten eine Aufwertung der Berufsbilder ist (wie bei den Erzieher/innen) bzw. der Kampf um mehr Personal (gerade aktuell bei den Pflegekräften). Wenn man in dieser heterogenen Gemengelage nach einer Gemeinsamkeit der beobachtbaren Streikaktivitäten bzw. der parallel laufenden Konflikte sucht, dann kann man zuspitzend formuliert sagen, dass die Gewerkschaft ver.di in zahlreiche Scharmützel bis hin zu heftigen Auseinandersetzungen in einer sich zerfasernden (Nicht-)Tariflandschaft eingebunden ist. Dabei geht es immer wieder darum, zum einen überhaupt tarifvertragliche Regelungen umsetzen zu können bzw. in der Vergangenheit ausgehandelte Tarifverträge vor ihrem Rück- und damit Abbau zu schützen. Oftmals reduziert sich das Ziel auf eine Vermeidung bzw. eine Abschwächung von Lohndumping in den betroffenen Bereichen.

Trotz alle Schwierigkeiten und Probleme – man muss auch sehen, dass es so etwas wie eine – euphemistisch formuliert – Renaissance von Gewerkschaften gibt bzw. geben kann. Die Entwicklung generell nach unten ist gestoppt und gerade auch jüngere Leute beginnen wieder, sich stärker in den Gewerkschaften zu engagieren. Man kann das studieren an der Entwicklung des Organisationsgrades der Erzieher/innen, der noch vor wenigen Jahren hundsmiserabel war und seit einiger Zeit ordentliche Zuwächse erkennen lässt. Man erlebt eine massive „Politisierung“ der Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen und das wirkt sich positiv aus auf die Bereitschaft, sich auch gewerkschaftlich zu engagieren.

Auf der anderen Seite stehen die großen, „alten“ Industrie-Gewerkschaften, die in der Vergangenheit oftmals aufgefallen sind durch heftige und nicht selten auch erfolgreiche Streikaktionen.  Und es ist noch gar nicht solange her, dass die IG Metall  eine ganze Reihe an Warnstreikaktionen durchgeführt hat, die allerdings nicht ausgeweitet werden mussten, weil man relativ schnell eine Einigung mit den Arbeitgebern gefunden hat. „Richtig“ gestreikt hat diese große, starke Traditionsgewerkschaft in den vergangenen Jahren nicht mehr. Noch krasser ist die Situation bei der IG BCE. Es war den Medien eine eigene Berichterstattung wert, als vor kurzem bei den Tarifverhandlungen der Eindruck entstand, dass möglicherweise Streikaktionen in Aussicht stehen könnten. Man muss das so formulieren, weil man im Bereich der Chemieindustrie damit tatsächlich eine Art „Neuland“ betreten hätte, denn – das muss man sich einmal vorstellen – die Chemie-Gewerkschaft hat das letzte Mal vor 44 Jahren einen Streik organisiert und durchgeführt. Etwas zynisch formuliert hätte man der Gewerkschaft in diesem Jahr durchaus die Empfehlung geben müssen, wenigstens eine oder zwei große Warnstreikwellen in den Unternehmen der Chemie-Industrie zu organisieren, damit die hauptberuflichen Gewerkschaftsfunktionäre überhaupt wieder einmal lernen, wie man einen Streik organisiert, denn nach 44 Jahren ist allein aus biologischen Gründen so gut wie keiner mehr da, der diese Erfahrung noch hat, man müsste sich also aus anderen Gewerkschaften Hilfestellung holen.

Das heißt aber nun nicht, dass die Industrie-Gewerkschaften keine Probleme haben bzw. auf Streikaktionen nicht angewiesen wären. Ganz im Gegenteil. Aber der skizzierte Befund verdeutlicht zum einen, dass auch nach außen rhetorisch sich als sehr kämpferisch gebende Gewerkschaften wie die IG Metall zur Kenntnis genommen haben bzw. nehmen müssen, in welchem (harten) wettbewerblichen Umfeld sich die Betriebe befinden, in denen die meisten ihrer Mitglieder arbeiten. Hier wäre ein Streik tatsächlich die allerletzte Option, die in Erwägung gezogen werden würde. Die Konfliktfelder der Industrie-Gewerkschaften sind anders als im Dienstleistungsbereich weniger klassische Niedriglöhne bzw. Lohndumping, sondern die Ausfransungen  ihrer Tarifverträge von den Randbereichen beginnend bis hinein in die Kernbereiche der Unternehmen, in denen sie mit ihren Tarifvertrag (noch) die Regelungshoheit haben. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass das Thema Werkverträge bzw. Dienstverträge für die IG Metall eine besondere Bedeutung hat und die strategische Ausrichtung der Organisation darauf abstellt, dass die den kleiner werdenden Stammbelegschaften zuliefernden Bereiche, die wenn überhaupt, dann oftmals unter andere, billigere Tarifverträge beispielsweise der Logistik fallen,  (wieder) unter die Fittiche des Metalltarifvertrags geholt werden. Beispielhaft dafür steht die Ankündigung von BMW, in Zukunft bei den Zulieferern und den Dienstleistern, mit denen man kontinuierlich zusammenarbeitet, zu verlangen, dass sie nach „IG Metall-Tarif“ bezahlen müssen. Wobei man an dieser Stelle darauf hinweisen muss, dass es eben nicht „den“ IG Metall-Tarif gibt, sondern diese Gewerkschaft hat zahlreiche Tarifverträge mit ganz unterschiedlichen Vergütungsniveaus abgeschlossen, das reicht dann von dem, was für das Handwerk vereinbart wird bis hin zu den wirklich üppigen Tarifen der Kernbelegschaften der deutschen Automobilindustrie.

Bereits die bisher beschriebenen, gleichsam „klassischen“ Herausforderungen gewerkschaftlicher Arbeit sind komplex und führen auch innerhalb des Gewerkschaftslagers zu zahlreichen Konflikten, am deutlichsten erkennbar in den durchaus zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen den Industrie-Gewerkschaften und der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di über nur scheinbar formale Zuständigkeitsfragen.

Aber so richtig kompliziert und derzeit nur mit großen Fragezeichen zu versehen ist der Anspruch der Gewerkschaften, bestimmte Teilbereiche der Arbeitswelt der Zukunft organisieren zu wollen. Industrie 4.0, Crowdworker – ganz unterschiedliche Sprachspielereien versuchen, sich den Entwicklungen, die dahinter stehen, zu nähern. Das alles wird derzeit auf die Tagesordnung der Gewerkschaften gesetzt. Um was für gewaltige Herausforderungen es sich hier handelt, kann man sich klar machen, wenn man das, was man derzeit als Erfolg feiert,  in Relation setzt zudem, was mit Blick auf die Zukunft eigentlich zu regeln wäre. Gemeint ist auf der einen Seite der Mindestlohn, der gleichsam Ausdruck der „alten“ Arbeitswelt ist, denn es handelt sich um einen Stundenlohn, also eine Vergütung bezogen auf die definierbare Arbeitsleistung in einer Zeiteinheit, was voraussetzt, dass es abgrenzbare Arbeitsorte und Arbeitszeiten gibt. Genau das aber ist bei dem, was man unter so schillernden Begriffen wie Crowdworker diskutiert, gerade nicht der Fall. Nicht umsonst spricht der DGB-Vorsitzende hier von einem modernen Tagelöhnertum, sogar den Begriff „Leibeigenschaft“ nimmt er in den Mund. Hier gibt es, wenn überhaupt, Lösungsansätze nur in einer embryonalen Form. Das ist kein Vorwurf an die Adresse der Gewerkschaften, sondern liegt in der Natur der Sache begründet.

Wie dem auch sei – es gibt nicht „die“ Gewerkschaften und deren Herausforderungen. Wir müssen schon genauer hinschauen und differenzieren.

Zum Abschluss bei aller Fokussierung auf Deutschland und zugleich auch als Mutmacher für die Teile der Gewerkschaftsbewegung, die sich vor allem in den unteren Etagen des Arbeitsmarktes den Auseinandersetzungen stellen müssen, dabei aber auch immer konfrontiert sind mit dem Probleme der niedrigen Organisationsgrade auf der Seite der Arbeitnehmer: Vielleicht sollte man sich auseinandersetzen mit der auf den ersten Blick gerade hinsichtlich von Gewerkschaften abenteuerlich daherkommende Aufforderung Von den USA lernen. So ist der Artikel von Ingar Solty überschrieben: »Ausgerechnet in den gewerkschaftsfeindlichen Vereinigten Staaten ist eine Massenstreikbewegung im Niedriglohnsektor entstanden. Im Visier befinden sich vor allem die Fast-Food-Konzerne.« Und mit Niedriglohnsektoren kennen wir uns ja mittlerweile auch in Deutschland sehr gut aus.