Am Tag der Arbeit des Jahrs 2022 wurde die vom Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) nunmehr auch als Gesetzentwurf in das Parlament eingebrachte, im Wahlkampf des vergangenen Jahres versprochene Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde sicher in vielen Reden als eine erfreuliche und erfolgreiche Sache hervorgehoben. Ansonsten hätte es noch Jahre gedauert, bis man die 12 Euro erreicht hätte. Im Umfeld des „Entwurfs eines Gesetzes zur Erhöhung des Schutzes durch den gesetzlichen Mindestlohn und zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung“, BT-Drs. 20/1408 vom 13.04.2022 gibt es nun natürlich einen Aufschrei aus dem Lager der Arbeitgeberfunktionäre, die schlagzeilenträchtig mit einer möglichen Klage vor dem Bundesverfassungsgericht drohen – und dafür zwei Auftragsgutachten eingekauft haben (vgl. dazu 12 Euro waren schon beschlossen – Jetzt eskaliert der Streit um den „Staatslohn“). Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hat gleich zwei Gutachten in Auftrag gegeben, die – wenig überraschend – zum Schluss kommen, dass der Mindestlohn in die Tarifautonomie eingreife und womöglich sogar gegen das Grundgesetz verstoße. Die Einschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit eines solchen Vorstoßes: »Allzu große Chancen räumen Juristen dem Verband allerdings nicht ein.«
In der öffentlichen Diskussion wenig beachtet wird der gesetzliche Mindestlohn an einer ganz anderen Stelle tatsächlich vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt. Da geht es allerdings nicht um seine Erhöhung, sondern um die Nicht-Gewährung dieser Lohnuntergrenze. Konkret geht es um die Vergütung der Arbeit der Strafgefangenen in den Justizvollzugsanstalten unseres Landes.
»Nicht einmal zwei Euro Arbeitslohn pro Stunde erhalten Gefangene derzeit in deutschen Gefängnissen. Ob das noch dem Resozialisierungsgebot des Grundgesetzes entspricht, muss nun das BVerfG entscheiden«, so dieser Bericht von Hasso Suliak vor dem Beginn von zweitägigen Verhandlungen am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe: Kommt der Mindestlohn für Häftlinge? »Unterhaltszahlungen, Miete und gegebenenfalls auch ein Täter-Opfer-Ausgleich: Für entlassene Gefangene startet die wiedergewonnene Freiheit oft mit purer Existenznot. Hoch verschuldet verlassen viele von ihnen das Gefängnis. Dass sie trotz Arbeitspflicht auch nach langer Zeit hinter Gittern kein Geld für die Zeit danach ansparen konnten, liegt auch an einer exorbitant niedrigen Arbeitsvergütung im Gefängnis.«
➔ Die von Suliak behauptete Arbeitspflicht für die Gefangenen muss man differenziert sehen: Es gibt etwa 44.000 Strafgefangene in Deutschland (2021; zehn Jahre vorher, also 2011, waren es noch 60.000). In 12 von 16 Bundesländern herrscht Arbeitspflicht; in Sachsen, Brandenburg, Rheinland-Pfalz und dem Saarland können die Inhaftierten selbst entscheiden, ob sie arbeiten wollen.
➔ Im Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland ist im Artikel 12 Absatz 2 das (grundsätzliche) Verbot von Zwangsarbeit festgeschrieben: »Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.« Dann aber kommt der Artikel 12 Absatz 3 GG: »Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.«
➔ Und im „Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung“ (Strafvollzugsgesetz – StVollzG) heißt es im § 41 StVollzG, der mit „Arbeitspflicht“ überschrieben ist: »Der Gefangene ist verpflichtet, eine ihm zugewiesene, seinen körperlichen Fähigkeiten angemessene Arbeit, arbeitstherapeutische oder sonstige Beschäftigung auszuüben, zu deren Verrichtung er auf Grund seines körperlichen Zustandes in der Lage ist.«
Was bekommen die Gefangenen, wenn sie im Strafvollzug arbeiten? Dazu Suliak in seinem Artikel:
»Aktuell liegt der mittlere Tagessatz der Gefangenenvergütung bei 14,21 Euro in den alten Bundesländern bzw. bei 13,61 Euro in den neuen Bundesländern. Ausgehend von einem 8-Stunden-Tag entspricht das einem Stundenlohn von 1,77 Euro bzw. 1,70 Euro. Geld, das gerade einmal reicht, um im ohnehin überteuerten Gefängnisshop das Nötigste, wie Tabak, Hygieneartikel und Kaffee, zu kaufen oder sich die hohen Telefonkosten des Monopolanbieters Telio leisten zu können.«
Wolfgang Janisch schreibt dazu in seinem Artikel unter der Überschrift Spitzengehalt: 2,22 Euro: »Die Vergütung hinter Gittern orientiert sich an einem „Ecklohn“, der neun Prozent des Durchschnittsentgelts der gesetzlichen Rentenversicherung beträgt. Derzeit entspricht das einem Tagessatz von 14,21 Euro, wovon es – je nach Qualifikation – Abweichungen nach oben und unten gibt. Bei einem Acht-Stunden-Tag reicht die Spanne von 1,33 bis 2,22 pro Stunde.«
➞ Rechtsgrundlage ist der § 200 StVollzG, der nur aus diesem einen Satz besteht: »Der Bemessung des Arbeitsentgelts nach § 43 sind 9 vom Hundert der Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch zu Grunde zu legen.« Im § 43 StVollzG (überschrieben mit „Arbeitsentgelt, Arbeitsurlaub und Anrechnung der Freistellung auf den Entlassungszeitpunkt“) heißt es in den Absätzen 2 und 3: »Übt der Gefangene eine zugewiesene Arbeit, sonstige Beschäftigung oder eine Hilfstätigkeit nach § 41 Abs. 1 Satz 2 aus, so erhält er ein Arbeitsentgelt. Der Bemessung des Arbeitsentgelts ist der in § 200 bestimmte Satz der Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch zu Grunde zu legen (Eckvergütung). Ein Tagessatz ist der zweihundertfünfzigste Teil der Eckvergütung; das Arbeitsentgelt kann nach einem Stundensatz bemessen werden. Das Arbeitsentgelt kann je nach Leistung des Gefangenen und der Art der Arbeit gestuft werden. 75 vom Hundert der Eckvergütung dürfen nur dann unterschritten werden, wenn die Arbeitsleistungen des Gefangenen den Mindestanforderungen nicht genügen.«
Das sei zu wenig, so erwartbar Manuel Matzke, Sprecher der Gefangenengewerkschaft GG/BO. „Das System muss vermitteln, dass sich ehrliche Arbeit lohnt.“ Diese Organisation wurde bereits früher immer wieder zitiert, wenn es um die Lohnfrage ging, so beispielsweise in dem Beitrag Langzeitprobleme durch geringe Löhne von Philip Raillon, der am 1. September 2021 veröffentlicht wurde. Die fordern den Mindestlohn auch für Häftlinge: „Häftlinge könnten dann Beiträge für die Haftkosten zahlen und hätten trotzdem noch mehr zur Verfügung als jetzt“, so Manuel Matzke. Und er bekommt Schützenhilfe: »Für die Resozialisierung sei der niedrige Lohn kontraproduktiv, meint Kriminologe Tobias Singelnstein von der Ruhr-Universität Bochum. So entstehe bei den Häftlingen lediglich der Eindruck, Arbeit lohne nicht.« Es geht hier nicht primär um Arbeitstherapie, denn: »… viele Gefangene machen nicht irgendetwas, sondern sie arbeiten in der Küche oder in JVA-eigenen Werkstätten. In der JVA Remscheid nähen sie zum Beispiel die Häftlingskleidung für ganz Nordrhein-Westfalen und fertigen Hausschuhe, die im Internet bestellbar sind. Neben diesen Werkstätten gibt es auch sogenannte Unternehmerbetriebe, bei denen externe Unternehmen in den Gefängnissen produzieren lassen.« Dazu gehören beispielsweise zum Beispiel Miele, Hörmann, Gardena und der Flugzeugzulieferer MTU.
»Die Zusammenarbeit rechnet sich für die Firmen. Die Aufgaben, die Häftlinge übernehmen, sind oft nicht sehr anspruchsvoll. Solche Arbeiten ließen sich auf dem freien Markt in Mitteleuropa kaum wirtschaftlich durchführen. An die Justiz zahlen die Unternehmen zwar meist Preise, die sich am Tariflohn orientieren. Sie können aber, wie zum Beispiel in der JVA Bielefeld-Senne, auch unter dem Mindestlohn liegen. Außerdem sparen die Unternehmen Urlaubs- und Krankengeld. Trotz allem scheint es keine echten Dumpingpreise zu geben«, so die Rechercheergebnisse des ARD-Wirtschaftsmagazins „Plusminus“ aus dem vergangenen Jahr.
Ein Großteil des Lohns, den die Firmen für die Häftlingsarbeit an die Justiz zahlen, bleibt also bei den Justizverwaltungen hängen. Die Bundesländer rechtfertigen den niedrigen Lohn mit dem Hauptziel der Resozialisierung, außerdem müssten die Häftlinge keine Unterkunft, Verpflegung und ärztliche Versorgung zahlen. »Gefangenenarbeit sei … objektiv nicht „wirtschaftlich“ oder auch nur auf eine „Wirtschaftlichkeit“ ausgerichtet«, so wird das nordrhein-westfälische Justizministerium zitiert. Was natürlich aus Sicht der Justizvollzugsanstalten in ihrer Rolle als Anbieter von Arbeit hinter Gittern Unsinn ist, denn selbstverständlich müssen die knallhart wirtschaftlich kalkulieren, um Aufträge von externen Unternehmen zu bekommen oder die Eigenprodukte unter Marktbedingungen platzieren und absetzen zu können.
➞ Allerdings haben die Häftlinge auch im Knast Kosten, teilweise überdurchschnittlich hohe Kosten zu tragen: Etwa Lebensmittel zum Selbstkochen oder Alltagsgegenstände, die etwas Selbstständigkeit und Komfort bedeuten können. Das Wirtschaftsmagazin „Plusminus“ hat das im vergangenen Jahr am Beispiel der Preise in der JVA Werl verdeutlicht: »Viele Produkte sind teurer als draußen. Eine Flasche Cola kostet im Knast 25 Prozent mehr als draußen, eine Packung Salami ebenfalls. Und für einen elektrischen Rasierer zahlen Häftlinge sogar 45 Prozent mehr als im Onlinehandel.«
»Für die Preise in der JVA Werl ist das Unternehmen Massak aus Bamberg verantwortlich. Es beliefert bundesweit rund 130 der knapp 180 Gefängnisse. Geschäftsführer Werner Massak sagt, er müsse solche Preise verlangen. „Wir haben einen ganz anderen Aufwand als im Supermarkt“, sagt er.«
Auch Wolfgang Janisch verweist auch auf die Auftraggeber-Seite: »Lohnenswert, so erscheint es, ist die Gefängnisarbeit zunächst für die Unternehmen, die dort produzieren lassen. Denn neben den „Eigenbetrieben“ der Gefängnisse – meist Schreinereien oder Schlossereien – sind die sogenannten „Unternehmerbetriebe“ das zweite Standbein. Also externe Arbeitgeber, die den nahen Strafvollzug dem fernen Billiglohnland vorziehen. Das Recherchenetzwerk Correctiv hat vor einigen Jahren eine – nicht annähernd erschöpfende – Liste mit 90 Firmennamen veröffentlicht. Ein paar große Namen sind darunter, wie BMW, Daimler, Miele und VW. Oder MTU, gefragter Arbeitgeber in der JVA Straubing, wo Spitzenkräfte auch mal 600 Euro im Monat verdienen können. Ansonsten zeigt sich dort ein Spiegelbild des Mittelstands, von der Armaturenproduktion über die Herstellung von Leuchten oder Kurzwaren bis zu Paletten, Fliesen oder Ventilatoren.«
Was würde denn angesichts der Vorteile, die Unternehmen durch die Auftragsvergabe an die Beschäftigungsbetriebe des Strafvollzugs realisieren können, dennoch gegen die Auszahlung des Mindestlohns sprechen – also rein wirtschaftlich gesehen? Dazu schreibt Janisch: Derzeit liegt der gesetzliche Mindestlohn bei 9,82 Euro. »Wäre dies das neue Maß, „dann wäre die Hälfte der jetzt Arbeitenden beschäftigungslos“, sagt Frank Arloth, Ministerialdirektor im bayerischen Justizministerium. Die Unternehmer würden abwandern, die Eigenbetriebe wären unproduktiv. Denn so attraktiv sich der niedrige Lohn für Unternehmen auf dem Papier ausnimmt: Aufs Ganze gesehen liegt die Qualifikation von Strafgefangenen weit unter dem Standard auf dem freien Markt. Verschiedene Studien veranschlagen den Anteil der Gefangenen ohne abgeschlossene Berufsausbildung bei bis zu zwei Dritteln, und annähernd die Hälfte hat nicht einmal einen Schulabschluss … Und der größere Teil derer, die inhaftiert werden, ist vor der Haft keiner geregelten Arbeit nachgegangen.«
➔ Es ist aber nicht nur die deutlich unter dem Mindestlohn liegende Vergütung für geleistete Arbeit. Philip Raillon wies darauf hin, dass die Gefangenen keinen Rentenanspruch erwirtschaften durch die Knast-Arbeit. »Dabei will die Politik das seit Jahrzehnten ändern. Allerdings wollten weder Bund noch Länder dafür zahlen, räumt das bayerische Justizministerium ein.« Vgl. zu dieser Baustelle den Beitrag Die Ambivalenz der „Ein-Euro-Arbeit“ im Knast und die seit Jahren offene Frage der Rentenversicherung von Strafgefangenen, der hier am 19. Mai 2018 veröffentlicht wurde.
Warum nun muss sich das Bundesverfassungsgericht mit der Arbeit hinter Gittern beschäftigen?
Zwei Strafgefangene aus Bayern und Nordrhein-Westfalen haben bereits vor Jahren eine Verfassungsbeschwerde gegen die ihrer Meinung nach viel zu niedrige Vergütung erhoben. Jetzt ist das zusammen mit dem Begehr eines dritten Beschwerdeführers in Karlsruhe aus dem Schrank geholt worden. Eine zweitägige Anhörung hat das höchste deutsche Gericht zum dem Thema angesetzt. Die Mündliche Verhandlung in Sachen „Gefangenenvergütung“ hat am 27. und 28. April 2022 stattgefunden. Das BVerfG berichtet dazu, dass man sich mit drei Verfassungsbeschwerden zur Frage, ob die gesetzlich festgelegte Höhe der Vergütung, die Gefangene im Strafvollzug für dort erbrachte Arbeitsleistungen erhalten, mit der Verfassung vereinbar ist, beschäftigen will.
»Die Verfassungsbeschwerden wurden von drei Strafgefangenen aus Bayern, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt erhoben, welche in Eigen- oder Unternehmerbetrieben zur Arbeit eingesetzt worden waren. Die Beschwerdeführer aus Bayern und Nordrhein-Westfalen wenden sich gegen die Höhe des monetären Teils der Gefangenenvergütung, der Beschwerdeführer aus Sachsen-Anhalt insbesondere gegen den Wegfall der nicht monetären Vergütungskomponente in Form der Gewährung von Freistellungstagen, die – wie im zuvor geltenden Strafvollzugsgesetz des Bundes geregelt – auf den Entlassungszeitpunkt angerechnet werden konnten.
In der mündlichen Verhandlung, zu der auch mehrere sachkundige Auskunftspersonen geladen sind, sollen insbesondere die Resozialisierungskonzepte Bayerns, Nordrhein-Westfalens und Sachsen-Anhalts erörtert werden. Im Rahmen dessen werden die Bedeutung des Faktors Arbeit für das Resozialisierungsgebot nach Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG sowie die monetären und nicht monetären Bestandteile der Vergütung thematisiert. Für die Gefangenenvergütung möglicherweise relevante Gesichtspunkte wie die Produktivität der Gefangenenarbeit, das Angebot an Arbeitsplätzen in den Justizvollzugsanstalten und die Konkurrenzsituation sowie die Kosten, mit denen Gefangene im Strafvollzug belastet werden, beispielsweise durch Telefonie, Verplombung von technischen Geräten oder Zuzahlung bei Gesundheitsleistungen, sollen ebenfalls angesprochen werden. Die sachkundigen Auskunftspersonen sollen zudem zur Verschuldungssituation der Strafgefangenen, Unterhalts- und Wiedergutmachungszahlungen sowie der sozialen Absicherung der Gefangenen befragt werden.«
Da hat man sich einiges vorgenommen. Der Verhandlungsgliederung kann man entnehmen, dass sich das Gericht viel vorgenommen hat und das Thema Gefangenenvergütung umfassend ausloten will. »Die unterschiedlichsten Aspekte sollen zur Sprache kommen: Die Produktivität der Gefangenenarbeit, das Angebot an Arbeitsplätzen in den Justizvollzugsanstalten, die Konkurrenzsituation sowie die Kosten, mit denen Gefangene im Strafvollzug belastet werden, wie z.B. durch Telefonie, Verplombung von technischen Geräten oder Zuzahlung bei Gesundheitsleistungen. Die Sachverständigen sollen zudem zur Verschuldungssituation der Strafgefangenen, Unterhalts- und Wiedergutmachungszahlungen sowie der sozialen Absicherung der Gefangenen befragt werden«, so Hasso Suliak in seinem Artikel Kommt der Mindestlohn für Häftlinge? vom 26. April 2022.
»Das Bundesverfassungsgericht wird sich … nicht so sehr für die Gewinnmargen der Knastbetriebe interessieren. Das Schlüsselwort, an dem sich das Verfahren entscheiden wird, lautet Resozialisierung«, so Wolfgang Janisch.
Exkurs: Hatte das BVerfG nicht schon mal? Doch, das wichtigste Urteil hierzu stammt aus dem Jahr 1998
Dazu berichtet Suliak: »1998 stellte das BVerfG klar, dass wegen des Resozialisierungsgebots aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG die Gefangenenarbeit grundsätzlich anerkannt werden müsse. Arbeit im Strafvollzug, die Gefangenen als Pflichtarbeit zugewiesen werde, sei nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel, wenn die geleistete Arbeit Anerkennung finde. Diese müsse geeignet sein, den Gefangenen den Wert regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortetes und straffreies Leben in Gestalt eines für sie greifbaren Vorteils vor Augen zu führen. Den Gefangenen müsse durch die Höhe des Entgelts in einem Mindestmaß bewusst gemacht werden, dass Erwerbsarbeit zur Bestreitung der Lebensgrundlage sinnvoll sei. Karlsruhe mahnte seinerzeit bereits eine höhere Vergütung an … 2001 trat daraufhin eine Neuregelung im Strafvollzugsgesetz des damals noch zuständigen Bundes in Kraft, in Folge derer die Pflichtarbeit der Gefangenen durch ein erhöhtes Arbeitsentgelt und durch Freistellung von Arbeit entlohnt wurde. Die Berechnungsgrundlage für die Vergütung beträgt seit 2001 nunmehr neun Prozent der Bezugsgröße nach § 18 Abs. 2 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch. Daran hat sich auch nichts geändert, seit 2006 die Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug bei den Ländern liegt … Im Jahr 2002 hatte das BVerfG noch keine Bedenken gegen die neun Prozent. Die Höhe der Vergütung, so das Gericht in einem Beschluss vom 23. April 2002, sei erst dann nicht grundgesetzkonform, wenn es zusammen mit den anderen Vorteilen, die für die Gefangenenarbeit gewährt würden, offensichtlich nicht geeignet sei, den Gefangenen im gebotenen Mindestmaß davon zu überzeugen, dass die Erwerbstätigkeit zur Herstellung einer Lebensgrundlage sinnvoll sei. Allerdings, so das BVerfG, bleibe der Gesetzgeber aufgefordert, die Bezugsgröße nicht festzuschreiben, sondern einer steten Prüfung zu unterziehen (2 BvR 2175/01). Geschehen ist das nicht.
Im Dezember 2015 wurde das Gericht in einem obiter dictum erneut deutlich: Arbeit müsse im Strafvollzug einen gewichtigen Resozialisierungsfaktor darstellen, dessen Wirksamkeit jedoch davon abhänge, dass geleistete Arbeit eine angemessene Anerkennung finde. Dies sei unabhängig davon, ob die Arbeit freiwillig oder verpflichtend ausgeführt werde. Die Vergütung für im Vollzug geleistete Arbeit müsse stets geeignet sein, dem Resozialisierungsgebot gerecht zu werden (2 BvR 1017/14).« (Hervorhebungen nicht im Original)
Nun also einer neuer Anlauf in Karlsruhe. Es wird darauf ankommen, was das Gericht unter der verfassungsrechtlich gebotenen Wiedereingliederung in die Gesellschaft versteht.
Suliak zitiert den Strafvollzugsexperten und Anwalt Helmut Pollähne, »der auch für den Republikanischen Anwältinnen- und Anwälte Verein RAV spricht, bezeichnete … das Thema Gefangenenvergütung als „trübes Kapitel des Vollzugsrechts und der Kriminalpolitik“. „Zu viele Gefangene führt Armut ins Gefängnis: Dass der Vollzug diese Kluft noch vertieft, ist inakzeptabel. Andererseits sind klare Aussagen dazu angezeigt, welche Bedeutung einer gerechten Entlohnung für die Wiedereingliederung zukommt, wobei gerade auch die noch immer ausstehende Einbeziehung arbeitender Gefangener in die Sozialversicherung nicht aus dem Blick geraten darf“, so Pollähne.«
Diese Position wird auch an anderer Stelle geteilt bzw. begleitet: »Nicht gleich den Mindestlohn, aber doch eine deutliche Heraufsetzung der Vergütung für Gefangene fordert auch der Deutsche Anwaltverein (DAV). „Es muss den Inhaftierten verdeutlicht werden, dass sich Arbeit lohnt (…) Das Resozialisierungsgebot verlangt nach mehr als einem Entgelt, das gerade ausreicht für Dinge des täglichen Bedarfs aus den Gefangenenshops“, erklärte Swen Walentowski, Leiter Politische Kommunikation und Medien des DAV in Berlin. Eine größere Wertschätzung von Arbeit hinter Gittern, so Walentowski, käme am Ende beiden Seiten zugute: „Für die Inhaftierten vergrößert sich die Chance einer wirklichen Resozialisierung. Und der Staat würde dem Eindruck entgegenwirken, es gehe hier um billige Arbeitskräfte“.«
Und was könnte in ein paar Monaten aus der Anhörung für ein BVerfG-Urteil geboren werden? Eine erste EInschätzung
»Entspricht der aktuelle Arbeitslohn für Strafgefangene noch dem Resozialisierungsgebot der Verfassung? Zwei Tage hat das BVerfG hierzu verhandelt. Radikale Änderungen des bisherigen Systems sind nicht zu erwarten.« So die kompakte Einordnung von Hasso Suliak in seinem Bericht Mindestlohn im Gefängnis unwahrscheinlich. Diese eher skeptische Einschätzung muss vor dem erst einmal auf eine andere Richtung hindeutenden Tatbestand gesehen werden, dass sich das Gericht für das komplexe Thema zwei volle Tage nahm, um mit Anstaltsleitern, Kriminologen und Gefangenorganisationen die komplexe Thematik gründlich zu erörtern, was als Indiz gewertet wird, »dass Karlsruhe die derzeitige Praxis und Resozialisierungskonzepte der Länder nicht unbeanstandet lässt.«
Hinzu kommt, dass der Zweite Senat durch die eigene Rechtsprechung in der Vergangenheit unter Zugzwang gerät: »20 Jahre ist es schon her, dass das BVerfG die bis heute grundsätzlich unveränderte Rechtslage gerade noch als verfassungsrechtlich vertretbar angesehen hatte.« Außerdem sollte, wie bereits erwähnt, die Bezugsgröße nicht einfach auf Dauer festgeschrieben werden, sondern sie sei einer steten Prüfung zu unterziehen (2 BvR 2175/01), was bislang versäumt wurde. Auch eine vom BVerfG geforderte Evaluierung hat es in all den Jahren offensichtlich nicht gegeben. In der Anhörung haben die Richter immer wieder ihren Unmut darüber geäußert, »dass es die Politik bislang nicht geschafft habe, valide Studien in Auftrag zu geben, um z.B. herauszufinden, ob und wie die Arbeit in Haft zur Resozialisierung beiträgt. Es herrsche hier „ein riesiges Wissenschaftsdefizit“, beklagte nicht nur Verfassungsrichter Peter Müller.«
Das Ansinnen der beschwerdeführenden Strafgefangenen fand durchaus Unterstützung: »Mehrere Sachverständige regten … an, wie bei den Beschäftigten außerhalb des Gefängnisses (oder auch Freigängern, die „draußen“ einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen), die Entlohnung auf das Bruttoprinzip umzustellen. Als Bezugsgröße könne dabei der gesetzliche Mindestlohn zugrunde gelegt werden, so der Vorschlag. Von dem insoweit erhöhten Lohn würden dann Haftkosten abgezogen, Schulden beglichen und ggf. sogar in die Sozialversicherung eingezahlt – z.B. in die gesetzliche Rentenversicherung. Auch, wenn der Gefangene am Ende nicht mehr in der Tasche hat als jetzt: Er würde damit besser auf ein späteres Erwerbsleben vorbereitet, beteilige sich an den Kosten und betreibe Schuldenabbau.«
Zu den Chancen dieses Vorschlags schreibt Suliak: »Indes: Dass das Gericht am Ende den Ländern diesen radikalen Systemwechsel ins Stammbuch schreiben wird, ist kaum zu erwarten.«
Dieses mögliche Ergebnis wird durch diesen Gedankengang gestützt: »Bei einer Erhöhung des Stundenlohns oder gar einer Umstellung auf das Bruttoprinzip wird das Gericht ohnehin auch abwägen müssen, inwieweit dies möglicherweise zu einer Verringerung von Arbeitsangeboten in den Haftanstalten führen könnte, weil sich für Unternehmen und externe Auftraggeber die Produktion dort dann nicht mehr lohnt. Schon jetzt verfügen viele Haftanstalten nicht über ausreichende Arbeitsangebote für arbeitswillige Gefangene. Arbeit als Mittel zur Resozialisierung scheidet für diese Gefangenen aus.« Da ist sie dann doch wieder, die „Wirtschaftlichkeit“.
Suliak hat auch eine gewisse Abneigung bei einem Teil der Richter wahrgenommen: »Wie auch immer das BVerfG in einigen Monaten entscheiden wird: Eine Art rechtspolitisches „Wünsch-Dir-was“ schmeckte vor allem den Verfassungsrichtern Prof. Dr. Huber und Peter Müller in der mündlichen Verhandlung so gar nicht: Eine Orientierung am gesetzlichen Mindestlohn würde zu einer „deutlichen Subventionierung“ der Gefangenen führen, gab Huber zu bedenken. Und der ehemalige saarländische CDU-Ministerpräsident Müller stellte klar: „Dass man etwas besser machen kann, heißt nicht, dass es auch von der Verfassung geboten ist.“«
»Enttäuschungen dürften also vorprogrammiert sein«, so das Zwischenfazit von Hasso Suliak. Also bei denen, die eine Veränderung nach oben möchten. Die Bundesländer wären sicher sehr zufrieden, wenn der Kelch ein weiteres Mal an ihnen vorübergehen sollte, denn dann werden erneut Jahre ins Land gehen, bevor das wieder in Karlsruhe landen wird. Bleibt als „Restrisiko“, dass das BVerfG die Auflagen aus der alten Rechtsprechung, die man offensichtlich ausgesessen hat, nicht einfach vergessen und neue verhängen wird, die dann aber auch am ausgestreckten Arm der Bundesländer verhungern könnten bzw. werden.