Die vorprogrammierte Altersarmut im System und das hässliche Gesicht der Altersarmut vor Ort. Und dann das Nichtstun als Alternative zur Alternative

Leistungen begrenzen, Beiträge und Lebensarbeitszeit erhöhen, staatliche Zuschüsse ausweiten – das waren und sind die vier großen Stellschrauben in der Rentenpolitik der letzten Jahrzehnte. Das kann man einer Sendung des Deutschlandradio Kultur entnehmen, die unter diese Überschrift gestellt wurde: Und in 50 Jahren ist alles vorbei? Die Zukunft der Rentenkasse. Ein Parcours-Ritt durch die Geschichte und Gegenwart der Gesetzlichen Rentenversicherung, der wichtigsten Säule der Alterssicherung. Und wenn man sich mit dieser beschäftigt, dann stößt man immer wieder auf zwei besonders herausgestellte Bewertungen: Da wird zum einen damit argumentiert, dass es noch nie einer Rentnergeneration so gut ging wie der heutigen – und das sei eben auch Ausdruck des Erfolgs der guten alten Tante Rentenversicherung, die ansonsten immer gerne in Grund und Boden geredet und geschrieben wird. Und parallel dazu läuft seit längerem ein Diskurs, der darauf abstellt, dass in den vor uns liegenden Jahren die Altersarmut (wieder) erheblich ansteigen wird bzw. muss, denn innerhalb des Systems der Alterssicherung ist die  tragende Säule, also die gesetzliche Rentenversicherung, durch ständige Bauarbeiten an vielen Stellen beschädigt worden.

Vor allem die Rentenniveauabsenkung im Gefolge der „Rentenreformen“, vor allem der Einschnitte während der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder, werden hier ins Feld geführt. Die rot-grüne Regierung hatte damals das gesetzliche Versorgungsniveau bis 2030 um ein Fünftel abgesenkt. Und mit dem damaligen Bundesarbeitsminister Walter Riester untrennbar, auch namentlich verknüpft ist der Vorstoß in die kapitalgedeckte individuelle Alterssicherung – Stichwort „Riester-Rente“ -, mit der eine Kompensation der Rentensenkungen im umlagefinanzierten Teil der Alterssicherung versprochen wurde.

Das alles hat sich als ein grandioser Irrtum erwiesen, wie Karl Doemens in seinem Leitartikel Auf dem Weg in die Altersarmut herausgearbeitet hat:

»Um die sinkenden Renten im Alter auszugleichen, müssten hundert Prozent der Beschäftigten jeweils vier Prozent ihres Gehalts in einen Riester-Vertrag stecken, der sich bei zehnprozentigen Verwaltungskosten Jahr für Jahr mit vier Prozent verzinst. So unterstellt es die Bundesregierung kurzerhand in ihrem jährlichen Rentenversicherungsbericht. Eine Utopie.
Tatsächlich dümpelt der Garantiezins bei 1,25 Prozent, die Kostenquote beträgt oft zwölf bis 15 Prozent, und von den 34 Millionen künftigen Rentnern zahlen nur 6,4 Millionen die vollen vier Prozent in einen Riester-Vertrag ein. Zwar haben im Westen Deutschlands viele ältere männliche Beschäftigte in der Industrie oder dem Bankgewerbe noch eine Betriebsrente. Doch laut einer ministeriellen Studie wird ein Drittel der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten künftig alleine auf die schrumpfende gesetzliche Rente angewiesen sein.«

Dabei war der Systemwechsel durchaus anders geplant gewesen. Riester wollte ein Obligatorium für die private Altersvorsorge installieren. Wieder einmal war es wohl die BILD-Zeitung, die diesem Vorhaben ein jähes Ende bereitet hat: »Für die Altersvorsorge in Deutschland aber war der 17. Juni 1999 ein schicksalhafter Tag. „Auch das noch! Riester plant Zwangsrente“, titelte die „Bild“-Zeitung und löste in der Regierung Panik aus. Die Grünen rebellierten, der Kanzler sah eine „Wut-Welle“ heranrollen. Eilig stoppte Gerhard Schröder die Pläne seines Sozialministers für eine verpflichtende Zusatzvorsorge.« Unabhängig von der eigenen Positionierung den Sinn und Unsinn einer kapitalgeeckten individuellen Altersvorsorge, mit erheblichen Steuermitteln gepampert, betreffend – der Verzicht auf eine obligatorische private Altersvorsorge kann und muss durchaus als Geburtsfehler der rot-grünen Rentenreform identifiziert werden.

»Stattdessen kam eine freiwillige Lösung, die nun dazu führt, dass aus sozialpolitischer Sicht zu wenige einen Vertrag abschließen«, so der Volkswirt Gert Wagner vom DIW, zugleich Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung, der diese in Rentenfragen berät, in einem Interview mit der Überschrift „Riester-Rente funktioniert nicht“.

Auch Wagner kommt zu diesem Befund: »Für viele Niedrigverdiener lohnt sich die Riester-Rente nicht. Selbst wenn einige ein ganzes Arbeitsleben sparen, kommen sie am Ende nicht über die Grundsicherung.« Er plädiert für eine  Abschaffung der staatlichen Zulagen, die dann nur noch an die Altfälle ausgezahlt werden würde. Wagner: »Für viele Niedrigverdiener lohnt sich die Riester-Rente nicht. Selbst wenn einige ein ganzes Arbeitsleben sparen, kommen sie am Ende nicht über die Grundsicherung.« Sein Alternativvorschlag – zugleich ein Hinweis darauf, welche Rentendebatte uns in der zweiten Jahreshälfte bevorsteht, denn genau daran versucht sich die heutige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles bereits mit ersten Entwürfen: »Man sollte die betriebliche Altersvorsorge ausbauen. Damit können alle Beschäftigten obligatorisch erfasst werden, die einem Tarifvertrag angehören.« Und das wären zumindest mehr als heute einen Riester-Rentenvertrag unterschrieben haben.

Zurück zu dem, was damals passiert ist: Für alle (zukünftigen) Rentner wurde das Versorgungsniveau in der Gesetzlichen Rentenversicherung verpflichtend abgesenkt – was natürlich die unteren Einkommensgruppen relativ gesehen viel stärker trifft als die mit höheren Rentenansprüchen. Aber genau die unteren Einkommensgruppen sind diejenigen, die die staatliche Förderung des Aufbaus einer individuellen, kapitalgedeckten Alterssicherung am wenigstens bis gar nicht in Anspruch genommen haben. »Die … Einbußen für künftige Senioren sollten durch die Erträge aus einer neuen kapitalgedeckten Vorsorgesäule ausgeglichen werden. Doch während die Kürzungen im Gesetzbuch festgeschrieben wurden, basiert die Kompensation auf dem Prinzip Hoffnung: Finanzielle Anreize durch Zulagen und Steuervergünstigungen sollen die Bürger zum Sparen bringen«, so auch Karl Doemens. Die Hoffnungen, die man mit diesem Systemwechsel verbunden hatte – Systemwechsel deshalb, weil die staatliche Förderung der privaten Altersvorsorge nicht als zusätzliche Ergänzung zum bestehenden System ausgelegt war, sondern Einschnitte in dieses kompensieren sollte -, haben sich auch deshalb zerschlagen, weil die Annahmen, mit denen man die Kompensationshoffnung grundiert hatte, mittlerweile wie die Butter in der Sonne dahingeschmolzen sind. Der Volkswirt Reinhold Thiede, bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) zuständig für Forschung und Entwicklung, wird in einem Radiobeitrag (Und in 50 Jahren ist alles vorbei? Die Zukunft der Rentenkasse) mit den folgenden Worten die damalige Situation bei Einführung der Riester-Rente beschreibend:

»Das achte Weltwunder des Zinseszinseffektes wurde beschworen, es wurden Rendite unterstellt von Kapitalanlagen von acht Prozent in gewissen Modellen, von Wissenschaftlern, die heute noch bekannt sind und die einen guten Namen haben.«

Zurück zum Thema Altersarmut. Denn in der aktuellen Diskussion wird immer darauf hingewiesen, dass Altersarmut derzeit „kein Problem sei“. Zwar befinden sich gut 500.000 Menschen in der Grundsicherung für Ältere (vgl. dazu auch meinen Blog-Beitrag Sie wächst und wird weiter wachsen – die Altersarmut. Neue bedrückende Zahlen am Anfang einer bitteren Wegstrecke vom 4.11.2014), aber das seien „nur“ gut drei Prozent der Älteren. Für einen kritischen Blick auf die in der aktuellen Debatte immer wieder behauptete Nicht-Existenz von Altersarmut heute vgl. auch meinen Blog-Beitrag Elfenbeinturm pur: „Altersarmut existiert in Deutschland praktisch nicht“. Und dann spielt Biedermann wieder mal mit den Brandstiftern: Eine „Diktatur der Rentner“ sei ante portas vom 22.02.2015).

Unabhängig von der gerade bei Älteren ausgeprägten Nicht-Inanspruchnahme rechtlich eigentlich zustehender Grundsicherungsleistungen stellt sich natürlich die Frage, ob diese Teilgruppe wirklich „Altersarmut“ adäquat abzubilden in der Lage ist.

Für eine neue Übersicht über die Diskussion der Bestimmung von Altersarmut vgl. auch diese neue Publikation aus dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung:

Johannes Geyer: Grundsicherungsbezug und Armutsrisikoquote als Indikatoren von Altersarmut. Berlin, April 2015

Vor diesem Hintergrund und aufgrund der in die Rentenformel eingebauten Mechanik der Bestimmungsfaktoren der Rentenhöhe ist eines auf alle Fälle sicher: Ceteris paribus wird es zu einer stetigen und sich beschleunigenden Entwicklung der Altersarmut kommen. Selbst Ökonomen, die zu der Gruppe gehören, von der Reinhold Thiede in seinem Zitat gesprochen hat, müssen das konstatieren, wie beispielsweise die Schlüsselfigur beim Umbau der der Alterssicherungssysteme, Bert Rürup, der sich in einem Interview („Die Lebensversicherer haben ein dickes Problem“) zum Thema (drohende) Altersarmut äußert:

»Altersarmut ist … derzeit – zum Glück – noch kein gesellschaftlich relevantes Problem. Allerdings gibt es Anzeichen, dass die Risiken steigen.«

Rürup sieht vor allem zwei Risikofaktoren:

»Die Absenkung des gesetzlichen Rentenniveaus spielt sicher auch eine Rolle. Wichtiger ist allerdings, dass sich die Erwerbsbiographien der Menschen im Vergleich zu früher deutlich gewandelt haben … Die Lohnspreizung und die Teilzeitbeschäftigung haben zugenommen. Es gab eine Destandardisierung der Erwerbsverhältnisse – Stichwort Solo-Selbstständige -, und für Bezieher des Arbeitslosengelds II werden keine Beiträge gezahlt. Gerade in den neuen Ländern haben sich diese durchbrochenen Erwerbsbiografien auch in die Rentenbiografien eingefräst. Da sind Altersarmutsprobleme vorprogrammiert.«

Bevor hier abschließend Hinweise gegeben werden, was denn nun mit Blick auf das System an Alternativvorschlägen diskutiert wird, sei an dieser Stelle auf einen anderen Zugang zum Thema Altersarmut hingewiesen, der wesentlich konkreter und fassbarer und auch realistischer daherkommt. Nehmen wir aus der Vielzahl der vorliegenden Berichte diesen hier: Das Leid wohnt nebenan. Altersarmut in der Kreisstadt. Und hier geht es nicht um zukünftige und mögliche und umstrittene Entwicklungen, sondern um die Gegenwart, die vor allem die wahrnehmen, die mit armen alten Menschen arbeiten: »Verwahrloste Wohnungen, in denen es kaum Essen und kein Telefon gibt, alte Menschen, die seit Jahren nicht beim Arzt waren, vereinsamte Senioren ohne jeden Kontakt zur Außenwelt: So präsentiert Marion Eisler, seit 35 Jahren fürs Diakonische Werk, die Kirche, den Betreuungsverein und die Ahrweiler Tafel aktiv, das hässliche Gesicht der Altersarmut in Bad Neuenahr-Ahrweiler.«

Der Artikel berichtet über die Arbeit von Marion Eisler in einer rheinland-pfälzischen Kurstadt, die schon seit langem einen überdurchschnittlichen Anteil an älteren Menschen hat – von den rund 28.000 Einwohnern sind heute 10.563 über 60 Jahre alt. In den kommenden drei Jahren kommen 1.430 hinzu. Von den 369 Personen, die derzeit Sozialhilfe nach SGB XII erhalten, sind rund 200 über 60 Jahre alt sind. Auch hier: Tendenz steigend:

»Die Kurstadt, die bebaut ist mit Stadtvillen für Gutbetuchte, bietet so gut wie keinen bezahlbaren Wohnraum für Senioren, die Grundsicherung nach SGB XII – auch Hartz IV für Ältere genannt – beziehen. Das heißt im Klartext: 399 Euro monatlich plus eine Miete, die jedoch höchstens 295 Euro betragen darf, was bei maximal 50 Quadratmetern einem Preis von 5,90 Euro pro Quadratmeter entspricht. Es gibt keine Beihilfen mehr für Kleidung, Schuhe, Renovierung, Brillen, Fahrten zum Arzt oder beispielsweise kaputt gegangene Haushaltsgegenstände. Stirbt der Partner, muss binnen sechs Monaten der Betroffene, bei dem das Geld nicht reicht, in eine „angemessene“ Wohnung ziehen. „Womit wir wieder beim nicht vorhandenen Angebot plus der derzeitigen Situation, dass jeder Meter Wohnraum für Flüchtlinge benötigt wird, sind“, so Eisler zum Teufelskreis … Welche Lawine gerade erst anrollt, das machte Eisler klar: Langzeitarbeitslose werden ebenso in der Grundsicherung landen, wie Menschen mit geringem Einkommen. Selbst der Mindestlohn von 8,50 Euro reicht nicht aus und wird im Alter dorthin führen. „Alle Aufstocker, also Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, durch Niedriglöhne aber Leistungen vom Jobcenter erhalten, gehen in die Grundsicherung. Die, die Kinder erzogen haben, also immer noch schwerpunktmäßig Frauen, sind bedroht. Zwangsverrentungen durch das Jobcenter, also vorzeitige Altersrente mit Abschlägen mit 63 Jahren, kommen in Frage. Wir können uns anhand der Arbeitslosenstatistik ausrechnen, was da auf uns zukommt.“«

Natürlich stellt sich auch hier, gerade hier vor Ort, die Frage nach: Was tun?

„Wir, die täglich mit Menschen in Not zu tun haben, wissen, dass aus der materiellen Armut oft auch eine soziale Armut entsteht. Manche wissen nicht, dass sie Anträge stellen können oder sind nicht in der Lage, sie auszufüllen. Viele schämen sich und nehmen keine Hilfe in Anspruch. Mein Appell: Schauen Sie links und rechts in Ihrer Nachbarschaft genau hin. Kümmern Sie sich“, forderte Eisler auf.
Für sie ist die Einführung eines „Topfes für aktive Hilfe“ unabdingbar. „Ich fände es schön für eine Stadt mit solch unermesslichem Reichtum, wenn die Solidargemeinschaft in diesen Topf einzahlt für die, die aus dem Leben geschmissen wurden. Das stünde einer Stadt wie unserer gut zu Gesicht.“

Und wie es vor Ort auch aussehen kann für ältere Menschen in Armut, verdeutlicht dieser Bericht aus einer – von oben betrachtet – sehr reichen Stadt. Also München: Abgewiesen vom Amt, so hat Sven Loerzer seinen Artikel überschrieben: »Weit mehr als ihr halbes Leben hat eine 78 Jahre alte Münchnerin in derselben Wohnung verbracht. Doch jetzt hätte nicht viel gefehlt, dass die Frau, die seit 1959 dort lebt, obdachlos geworden wäre – und zwar ohne eigenes Verschulden. Beim zuständigen Sozialbürgerhaus fand sie zunächst kaum Hilfe und Unterstützung, sondern fühlte sich im Gegenteil drangsaliert.«

Zurück auf die große Bühne der Riester- und sonstigen Renten. Doemens, mit dessen kritischen Leitartikel wir begonnen haben, berichtet über zwei konträre Lösungsvorschläge aus den Reihen der Oppositionsparteien:

»Die Linke möchte die drohende Versorgungslücke einfach dadurch schließen, dass sie die Einschnitte der Rentenreformen zurücknimmt.« Diesen Ansatz hält er für nicht wirklich praxistauglich, denn so seine Einschätzung: »Nicht nur müssten dann nämlich Millionen Menschen, die auf staatliches Geheiß eine private Police abgeschlossen haben, neben ihren Prämien auch noch kräftig steigende Rentenbeiträge zahlen. Vor allem würden die Kosten komplett von den Älteren auf die Jüngeren abgewälzt.«

Also rüber zu den Grünen, die es dem Artikelschreiber schon deutlich mehr angetan haben:

»Sie fordern ein einfaches, kapitalgedecktes Basisprodukt zur Altersvorsorge unter öffentlich-rechtlicher Verwaltung. Wer sich nicht mit dem Vergleich unzähliger Angebote beschäftigen will, der könnte einen solchen Pensionsfonds erwerben, der ohne exzessive Vertriebskosten in Anleihen oder auch Aktien investiert, die im Augenblick wesentlich rentabler sind. In Schweden gibt es ein ähnliches Modell. Dort ist es sogar verpflichtend.«

Ob das schon als „revolutionäre Reformidee“ zu bezeichnen ist, wie das Doemens tut, sei hier mal dahingestellt. Aber er ist insofern realistisch, als er keinerlei Bewegung bei der Bundesregierung erkennen kann, auch nur Schritte in diese Richtung zu gehen. Er kommt zu einem pessimistischen Ausblick:

»Zwar hat das Haus von Sozialministerin Andrea Nahles kürzlich Sympathien für den Ausbau der betrieblichen Altersversorgung durch die Tarifparteien bekundet. Doch gerade in eher schlecht bezahlten Berufen wie der Pflege- oder Baubranche existieren praktisch keine Betriebsrenten. Weder soll es nun mehr Fördermittel noch eine Verpflichtung geben. So klingt das Ganze bislang eher nach weißer Salbe als nach einer entschlossenen Initiative. Mit den fragwürdigen Wahlgeschenken der Mütterrente und der Rente mit 63 hat die große Koalition nicht nur ihren finanziellen Spielraum verspielt. Es scheint, als habe sie auch jede Ambition im Kampf gegen die drohende Altersarmut aufgegeben.«

Dass Handlungsbedarf besteht, konstatiert selbst Bert Rürup, der maßgeblich beteiligt war an der Herbeiführung der jetzigen Strukturprobleme. Auf die Frage, was zu tun wäre, antwortet er:
»Eine Art Lebensleistungsrente wäre sinnvoll. Deutschland gehört zu den wenigen OECD-Ländern, in denen Geringverdiener bei der Festsetzung oder Anpassung ihrer Renten gleichbehandelt werden wie Durchschnitts- oder Besserverdiener. Durch die Lebensleistungsrente würde man eine gewisse Umverteilung zugunsten der Geringverdiener erreichen. Das halte ich für wichtig, auch aus Gründen der Legitimation unseres Rentensystems …  Ich gehe davon aus, dass die Regierung noch in dieser Legislaturperiode eine Lebensleistungsrente, eine Solidarrente – oder wie immer Sie es nennen wollen – einführt.« Schauen wir mal.

Der (nicht nur) niedrigzinsgebeutelte Riester-Rentner wird gerettet! Über demnächst ganz viel Geld von den Versicherungen für deutsche Infrastruktur

Jetzt wird bald wieder so richtig in die Hände gespuckt. Überall werden Baustellen errichtet und die gerade in Westdeutschland vielerorts vor sich hinbröselnde Infrastruktur wird endlich saniert oder abgerissen und neu gebaut. Der gewaltige Investitionsstau, der sich in den zurückliegenden Jahren aufgestaut hat, wird mit entschlossenem Mitteleinsatz abgebaut und die infrastrukturelle Basis für die kommenden zwanzig, dreißig Jahre wird vor unseren Augen entstehen. Das ist nicht – um es an dieser Stelle gleich anzumerken – die Vision verrückter Utopisten, sondern eine der Botschaften, die wir in wenigen Wochen überall zu lesen und zu hören und zu sehen bekommen werden. Und diese Botschaft wird geliefert werden von einer Expertenkommission unter Vorsitz von Marcel Fratzscher, dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) im August 2014 eingesetzt hat. In dieser Kommission vertreten ist – neben der irgendwie immer anwesenden Deutschen Bank mit Jürgen Fitschen – auch die deutsche Versicherungswirtschaft, konkret durch Dr. Helga Jung von der Allianz SE und Dr. Torsten Oletzky von der Ergo. Und die hat bekanntlich ein sehr schwerwiegendes Problem: Sie ist aufgrund des jahrelangen Niedrigzinsumfeldes und der Anlagevorschriften immer weniger bis gar nicht mehr in der Lage, die erforderlichen Renditen auf die Anlage des ihr anvertrauten Kapitals zu erwirtschaften und die in der Vergangenheit versprochenen bzw. in Aussicht gestellten Auszahlungsbeträge realisieren zu können.

Und da sind wir bei unserem Riester-Rentner, der ja nun schon so einiges erleiden musste, nachdem er sich auf diese scheinbare Honigspur der staatlich, also mit Steuermittel geförderten privaten Altersvorsorge begeben hat. Der Riester-Rentner (wie auch andere privat für das Alter Vorsorgende, man denke hier an die vielen kleinen Selbständigen) ist nicht nur mit der „Kosten“- bzw. Profitwirklichkeit der Versicherungen und anderer Akteure der Finanzwelt konfrontiert, sondern er ahnt auch, dass es noch schlimmer kommen muss angesichts der geld- und damit zinspolitischen Rahmenbedingungen, die in den kommenden Jahren relativ plausibel so bleiben werden wie sie sind: richtig mies für den Normal-Sparer. Verständlich, dass man da nach jedem Strohhalm greifen möchte, der sich einem zu bieten scheint. Und deshalb werden wir in den kommenden Wochen auch erleben, dass bei den notwendigen Legitimationsversuchen der zu erwartenden Vorschläge der Fratzscher-Kommission die Riester-Rentner, von denen es immerhin einige Millionen in diesem Land gibt, wie auch die an eine oder mehrere Lebensversicherungen gebundene Sparer in den Mittelpunkt gerückt werden, wenn es darum geht, zu begründen, warum alle und besonders der kleine Sparer von dem Modell der Kommission profitieren wird. Man könnte an dieser Stelle bereits ein erstes Fazit vorwegnehmen und argumentieren, dass der „kleine Sparer“ noch nie in der Vergangenheit wirklich gut weggekommen ist. Warum soll das also jetzt anders werden? Aber schauen wir einmal genauer hin.

Beginnen wir mit der Story, die auf uns zukommen wird und die auf den ersten Blick durchaus plausibel rüberkommt: Der Staat hat ein enormes Problem – und das heißt die selbst verordnete Schuldenbremse in Verbindung mit einem enormen Investitionsstau (vgl. dazu auch die Studie von Katja Rietzler: Anhaltender Verfall der Infrastruktur. Die Lösung muss bei den Kommunen ansetzen aus dem Juni 2014), der es notwendig macht, dass erhebliche Finanzmittel für seine Behebung organisiert werden müssen. Gleichzeitig haben wir zahlreiche Versicherungen, die auf sehr großen Summen an Kapital sitzen, für das sie händeringend eine rentierliche Anlage suchen, die sie aber – angesichts der geldpolitischen Rahmenbedingungen der vergangenen und wahrscheinlich auch vor uns liegenden Jahre – derzeit immer weniger finden. Was liegt also nahe? Beide Seiten zusammen zu bringen. Genau daran hat die Kommission gearbeitet und dafür wird sie Vorschläge präsentieren, die auch sehr wahrscheinlich umgesetzt werden, denn hier tut sich eine klassische „win-win-Situation“ auf, die ihre eigenen Reize entfalten wird. Der Staat braucht Geld, viel Geld für seine Investitionen – und die privaten Versicherungsunternehmen sitzen genau auf diesem. Das alles schreit förmlich nach dem, was bereits seit vielen Jahren unter „PPP“ bzw. „ÖPP“ diskutiert wird – „Public Private Partnership“ (bzw. „Öffentlich-Private Partnerschaft“).

Private Unternehmen finanzieren (und teilweise betreiben) die Infrastruktur, der Staat vergütet das dann über regelmäßige, über viele Jahre laufenden Zahlungen an diese Unternehmen. David Hall hat das kürzlich vor dem Hintergrund auch der internationalen Erfahrungen mit diesem Instrumentarium aufgearbeitet (dazu sein Artikel Öffentlich-Private Partnerschaften – Lehren aus internationaler Erfahrung vom 11.03.2015): »Der Bundesrechnungshof beklagt seit längerem ihre Unrentabilität für die öffentlichen Kassen. Auch internationale Erfahrungen der letzten 15 Jahre zeigen, dass es sich bei Öffentlich-Privaten-Partnerschaften (ÖPP) langfristig um eine teure und ineffiziente Finanzierungsform für Infrastruktur und öffentliche Dienstleistungen handelt, die finanzielle Probleme weniger löst als verursacht.«

Nun wissen auch die Kommissionsmitglieder um die Evidenz der kritischen, teilweise vernichtend schlechten Bestandsaufnahmen der bisherigen PPP- bzw. ÖPP-Modelle. Deshalb wird man – folgt man den bislang vorliegenden Material aus der Kommission – vorschlagen, einen Fonds einzurichten, in den Geld fließt, das dann verwendet werden kann für größere Bündel an Infrastrukturinvestitionen beispielsweise der Kommunen. Ein Investitionsfonds zwischen Staat und Privatwirtschaft, der natürlich dann auch nicht mehr Gefahr läuft, zum Ziel von Angriffen zu werden, als wenn man nur ein einzelnes Projekt, wie beispielsweise eine Justizvollzugsanstalt, errichten würde. Und auch wenn es natürlich vor allem um das viele Geld der Versicherungsunternehmen geht, wird man vorschlagen, das auch für private Investoren aus den Niederungen der Normalbürger zu öffnen, um sie zu (scheinbar) Beteiligten zu machen und gerade deren Not, irgendwo halbwegs sicher das Geld anlegen zu können, für die Unterstützung dieses Ansatzes zu verwenden. Gabriel selbst hat dazu in seiner Haushaltsrede bereits im September 2014 ausgeführt, es gehe ihm „nicht um die Neuauflage von ÖPP-Projekten, sondern um veränderte Rahmenbedingungen für Investitionen in die öffentliche Infrastruktur“, so Kai Schlieter in seinem Artikel Gabriels Profitexperten. Und in diesem Artikel findet man auch den folgenden Hinweis, der erkennen lässt, warum das alles mit hohen Realisierungswahrscheinlichkeiten behaftet ist: »Das Schöne aus Sicht dieser Politik besteht darin, dass niemand auf die Schuldenbremse Rücksicht nehmen muss. Das ist das politische Anreizmodell. Denn die anfallenden Kosten dieser Privatisierung werden über einen Zeitraum von meist 30 Jahren gestreckt.«

Das muss man sich in aller Deutlichkeit klar machen: Der Staat hat sich mit der sogar verfassungsrechtlich in Zement gegossenen Schuldenbremse selbst in beide Knie geschossen und steht jetzt vor dem Problem, dass er nicht das machen kann, was a) durchaus volkswirtschaftlich grundsätzlich in Ordnung wäre (also eine Kreditfinanzierung langlaufender Investitionsvorhaben, um die nachkommenden Generationen an der Finanzierung dieser Investitionen zu beteiligen) und was b) vor dem Hintergrund der gegenwärtig und absehbar anhaltenden Situation auch ein an sich gutes Geschäft wäre, denn derzeit bekäme der Staat für eine auf dreißig Jahre laufende Staatsanleihe zur Finanzierung der Investitionen Konditionen, die mit 0,7 Prozent und weniger deutlich unter den Renditeerwartungen der privaten Investoren liegen, die mit fünf Prozent kalkulieren (noch im Dezember gab es die Vorstellung von sieben bis acht Prozent, worauf Schlieter in seinem Artikel hinweist, in dem er den DGB-Vorsitzenden Hoffmann zitiert: „Die Renditeforderungen mancher Versicherungen von sieben bis acht Prozent sind inakzeptabel“. Apropos Gewerkschaften: »Der Privatisierungsexperte Carl Waßmuth wirft den Gewerkschaften Naivität vor. Sie dienten Gabriels Kommission als Feigenblatt. Ähnlich sei es bei der Hartz-Kommission abgelaufen. „Auch da waren sie von Anfang an dabei«, so Schlieter in seinem Artikel.

Nun muss man kein ehemaliger und den Pflichten des aktuellen Handelns entbundener Bundesfinanzminister sein wie Hans Eichel, der in einem Interview unter der Überschrift „Das wird alles teurer werden“ im Dezember 2014 ausgeführt hat: »Wenn wir die Infrastruktur direkt finanzierten, wäre das wesentlich günstiger, denn der Bundesfinanzminister bekommt zur Zeit für 0,8 Prozent oder weniger eine 10-jährige Anleihe. Der Staat kann sich Geld viel billiger leihen.«
Aber er darf es im Kontext der selbstgeschaffenen Schuldenbremse eben nicht mehr und wird förmlich in die Arme getrieben der Finanzindustrie, die sich dann natürlich ihre „Rettungsaktion“ entsprechend vergüten lassen möchte. Mit dem Modell eines Fonds kann man die Blockade der Schuldenbremse gleichsam umgehen, denn statt die Gelder für ein oder mehrere Projekte vom Staat besorgen zu lassen, weicht man aus auf die privaten Versicherungsunternehmen und Banken, die sich dafür natürlich bezahlen lassen. Unter dem Strich muss dieses – überaus lukrative – Geschäft am Ende gegenfinaziert werden. Das wird dann über das Kollektiv der Steuerzahler erfolgen müssen.

Die Interessen der beteiligten Versicherungsunternehmen sind seit längerem bekannt und naheliegend: Ein Interview mit dem Chef des Versicherungsunternehmens Ergo, Torsten Oletzky, der ja auch direkt in der Kommission des Bundeswirtschaftsministers sitzt, wurde bezeichnenderweise überschrieben mit „Wir würden auch Schulen bauen“. Darin der Ergo-Chef höchstselbst: »Wir haben früher eine hohe Erwartungshaltung geweckt, die wir heute nicht erfüllen können. Wir haben den Eindruck suggeriert, dass am Ende auf den garantierten Zins immer noch ein dickes Extra drauf kommt.« In diesem Artikel findet man dann den folgenden Passus:

»Die Unternehmen suchen nach alternativen Anlageformen, die höhere Renditen abwerfen als klassische Investitionen in Anleihen. Zudem bringen sie neue Lebensversicherungsprodukte ohne die klassischen Zinsgarantien auf den Markt. So bauen sowohl Marktführer Allianz als auch die Versicherer Ergo und Axa auf solch neuartige Policen, bei denen Kunden im Gegenzug von höheren Renditechancen profitieren sollen. Bei der Anlage der Versichertengelder geht der Trend zu Investitionen in Infrastruktur wie Autobahnen, Gas- und Stromnetze, Solar- und Windkraftanlagen oder Flughäfen. Die Versicherungsbranche fordert vom Staat, solche Investitionen zu erleichtern.«

Und es ist für den normal denkenden Menschen klar: Das muss einfach teurer werden, als wenn sich der Staat angesichts der derzeitigen Bedingungen auf den Kapitalmärkten das erforderliche Geld selbst besorgen würde. Darf er aber nicht, wegen der Schuldenbremse.

Eine nachdankenswerte Analyse dessen, worüber hier gesprochen wird, hat bereits im November des vergangenen Jahres Jens Berger in seinem Artikel Autobahnen vom Lebensversicherer? Das ist Irrsinn mit Methode geliefert.
Berger beginnt deutlich: » … schon bald könnte es so weit sein, dass Versicherungskonzerne Autobahnen bauen und sich die lukrativen Renditen vom Steuerzahler bezahlen lassen. Das ist – nicht nur – volkswirtschaftlicher Irrsinn.« Er argumentiert so:

»Hohe Renditen verbunden mit niedrigem Risiko – das ist eigentlich die Quadratur des Kreises, da im Finanzwesen höhere Renditen stets mit einem höheren Risiko einhergehen. Und hier kommen nun die privaten Investitionen in die staatliche Infrastruktur ins Spiel. Man spricht bei solchen Projekten auch gerne von „Öffentlich-privater Partnerschaft“ (ÖPP) oder „Public-private-Partnership“ (PPP). ÖPP- bzw. Die Partnerschaft ist dabei folgendermaßen zu verstehen: Der Staat sorgt dafür, dass der private Partner nicht nur erstklassig – zu Lasten des Steuerzahlers – abgesichert ist, sondern auch – ebenfalls zu Lasten des Steuerzahlers – vergleichsweise hohe Renditen einfahren kann. Die Quadratur des Kreises wird durch PPP-Projekte somit ermöglicht.«
Jens Berger illustriert seine Kritik an zwei Rechenbeispielen. Er beginnt mit der Variante, die dem PPP zugrunde liegt:

»Szenario 1 (PPP): Ein Versicherungskonzern übernimmt die Investitionskosten i.H.v. 1.000 Mio. Euro für den Ausbau einer Autobahn. Dafür kriegt er über 30 Jahre hinweg aus den laufenden Mauteinnahmen des Bundes eine Abschlagsrate, die sich aus dem Abtrag und einer Verzinsung von 7% bezogen auf die Restschuld zusammensetzt. Innerhalb von 30 Jahren summieren sich diese Zahlungen damit auf 2.015 Mio. Euro. Der Bund – also der Steuerzahler – hat also im Endeffekt mehr als das Doppelte der eigentlichen Investitionskosten bezahlt, während die Versicherungskonzerne und ihre Kunden einen ordentlichen Reibach gemacht haben.«

Und wie sieht die Alternative aus?

»Szenario 2 (herkömmliche Finanzierung über Kredite durch den Staat): Der Bund finanziert das Projekt über eine Neuverschuldung i.H.v. 1.000 Mio. Euro, die Kosten werden über 30 Jahre gestreckt mit einer Verzinsung von 1% (dies ist der aktuelle Zinssatz für derart langlaufende Staatsanleihen) aus den laufenden Einnahmen aus der Maut beglichen. Bei diesem Modell belaufen sich die Kosten auf lediglich 1.145 Mio. Euro.«

Das würde bei einer nüchternen Betrachtung doch alles dafür sprechen, auf die Einschaltung der privaten Konzerne zu verzichten.

Und unser Riester-Rentner? Der hat derzeit ganz andere Sorgen, die ihn möglicherweise davon abhalten, „nur“ wegen der Betroffenheit „der“ Steuerzahler insgesamt nicht auf das scheinbar verlockende Angebot einzugehen. Dafür nur ein Beispiel von vielen:
Daniel Mohr berichtet in seinem Artikel Riestern lohnt sich für fast alle, der zugleich Programm ist:
»Viele der derzeit 16 Millionen Riester-Verträge beruhen auf einem Missverständnis. Die staatliche Zulage wurde mit einer Art Staatsgarantie für eine gute Altersvorsorge verwechselt. Ein oft teurer Irrtum. Die Anbieter von Riester-Verträgen hatten leichtes Spiel … Doch die staatliche Zulassung als zertifizierter Riester-Anbieter ist nichts anderes als eine Prüfung formaler Kriterien. Sie sagt nichts darüber aus, ob der Anleger tatsächlich einen vernünftigen Vertrag für seine Altersvorsorge abgeschlossen hat.«

»In diesen Wochen erhalten die Riester-Kunden wieder ihre Jahresabrechnungen. Beispielhaft eine im Dezember 2006 abgeschlossene Riester-Rente: Das Vertragsguthaben beträgt nach mehr als acht Jahren 12.200 Euro. Doch der Kunde hat 13.400 Euro eingezahlt. Dazu kamen fast 2.000 Euro staatliche Zulagen. Doch der Versicherer hat fast 5.000 Euro an Gebühren kassiert. Die haben damit die staatlichen Zulagen weit überwogen und auch die Erträge aus der Geldanlage von rund 1800 Euro locker aufgefressen. Von den Kosten war im Beratungsgespräch natürlich nie die Rede. Nur von den Zulagen.«

Eigentlich spricht das, was Mohr berichtet, für sich und gegen die Riester-Rente, dennoch schafft es der Verfasser, wie die Überschrift des Artikels anzeigt, dennoch eine große Werberede für die Riester-Rente zu halten.

Fazit: Wir stehen vor einem großen Theater, dessen Ende leider offensichtlich ist, folgt das Stück doch einem Drehbuch mit einer ganz eigenen Logik starker Interessen. Die kann und muss man zur Kenntnis nehmen, aber der kleine Riester-Rentner sollte nicht meinen, dass er oder sie mehr sein wird als eine billige legitimatorische Staffage in einem – für andere – sehr lukrativen Stück.

Die ganze Thematik wurde auch aufgegriffen in einem Beitrag des Politikmagazins „Panorama“ (ARD) am 19.03.2015: Warum ein englischer Rentner von einem deutschen Knast profitiert, so ist der Filmbeitrag überschrieben.

Ergänzend dazu die Reportage Vielen Dank, Deutschland! von Marcus Pfeil und Christian Salewski: »Sigmar Gabriel will mit privatem Geld das Investitionsloch im Land stopfen. Schulen, Schwimmhallen und Autobahnen will er fit machen für den Kapitalmarkt. Gibt es längst – auch in Deutschland. Ein Knast in Sachsen-Anhalt hat es bis an die Londoner Börse geschafft, am Ende landet das Geld sogar bei britischen Rentnern. Lässt sich auch die deutsche Altersvorsorge mit Infrastruktur retten?«

Elfenbeinturm pur: „Altersarmut existiert in Deutschland praktisch nicht“. Und dann spielt Biedermann wieder mal mit den Brandstiftern: Eine „Diktatur der Rentner“ sei ante portas

Da wird schon wieder so ein Stück aus der Mottenkiste namens Instrumentalisierung von „Wissenschaft“ inszeniert, um scheinbar seriös daherkommende, Ängste produzierende bzw. verstärkende Aussagen zu benutzen, um mit dem gesellschaftspolitischen Feuer zu spielen. Und wieder einmal fungiert die BILD-Zeitung als Regisseur des ganzen unsauberen Spiels. Die „BILD am SONNTAG“-Ausgabe vom 22.02.2015 (die Abbildung zeigt einen Screenshot des Artikels in der Online-Ausgabe) macht so richtig Stimmung und man schüttelt in einem ersten Reflex verwundert den Kopf, um dann zunehmend damit beschäftigt zu sein, Ärger und Wut zu kontrollieren. Aber zuerst der Sachverhalt: Focus Online fasst die Berichterstattung der BILD-Zeitung unter dieser Überschrift zusammen: Goldene Generation von Rentnern: „Am Ende droht die Diktatur der Alten“. Und setzt dann noch einen nach: „Altersarmut existiert in Deutschland praktisch nicht“. Das muss man erst einmal sacken lassen, denn diese – nun ja – mehr als waghalsige Aussage stammt nicht von irgendeinem dahergelaufenen Redakteur oder Volontär, sondern der – man kann diese Typisierung schon nicht mehr lesen – „Top-Ökonom“ Thomas Straubhaar habe sie vorgetragen. Für ihn stellt Altersarmut in Deutschland derzeit kein Problem dar. »Der überragende Teil der Über-65-Jährigen braucht jenseits von Rente, betrieblicher und eigener Vorsorge keinen weiteren Cent vom Staat, um über die Runden zu kommen. Den Rentnern geht es im Vergleich zu jungen Familien oder Alleinerziehenden und auch im internationalen Vergleich also rosig.“ Wie erfolgreich die deutsche Wirtschaft und der deutsche Sozialstaat in den vergangenen 60 Jahren gewesen sei, zeige sich nirgends so deutlich wie bei den Rentnern.« Dürfen wir jetzt an dieser Stelle ein Loblied auf die heutzutage viel geschmähte umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung erwarten und – was an den Kern des eigentlichen Problems heranführen würde – eine Kritik der unendlichen Geschichte der als „Reformen“ verkauften Kürzungen innerhalb des eigentlich und bislang erfolgreichen Hauptsystems der Alterssicherung in Deutschland? Das wäre ja mal was, aber darum geht es den Regisseuren dieses Dramas gar nicht, deshalb bleibt alles im Nebel, um zur eigentlichen Stoßrichtung der Inszenierung zu kommen: Panik verbreiten. Dafür bedient man sich des „Wissenschaftlers“.

In seinen Worten hört sich dass dann so an:

»Es ist dramatisch: In Deutschland kann schon heute keine Politik mehr gegen die Interessen der Senioren gemacht werden. Wer an den Privilegien der Älteren rüttelt, wird abgestraft. Wahlsiege sind nur noch mit den Stimmen der Rentner möglich. Die Große Koalition hat verstanden, dass die Chancen für eine Wiederwahl steigen, wenn sie Politik für die Älteren macht. Die jüngere Generation gerät dabei politisch in die Defensive, am Ende droht die Diktatur der Alten.«

Quel malheur – eine „Diktatur der Alten“. Da muss man doch was gegen tun. Auch hier wird die Stimme des Ökonomen, sorry, es muss natürlich richtig heißen: „Top-Ökonomen“ ins Feld geführt, denn er fordert ein Kinderwahlrecht und – jetzt nicht wirklich überraschend – ein flexibleres Renteneintrittsalter: »Erstens müsste die Regierung ein Familienwahlrecht einführen. Für jedes Kind hätten die Eltern dann eine Stimme zusätzlich. Zweitens: Nur eine Hälfte der geschenkten wunderbarerweise immer längeren Lebenszeit geht in Altersfreizeit, die andere Hälfte sollte gearbeitet werden.« Und der umtriebige Journalist Roland Tichy sekundiert in seinem Kommentar Die Rente wird dünn wie ein Pizzateig in der BILD-Zeitung und man muss einfach einen Auszug aus diesem Erguss zitieren, auch wenn das für jeden, der sich etwas mit der Materie beschäftigt, einfach nur peinlich ist:

»Weil wir immer länger leben, wird unsere erarbeitete Rente gestreckt – und dabei dünn wie ein Pizzateig. Damit der nicht zu dünn ist, müssen wir länger arbeiten. Das ist gemein, aber ist es wirklich schlimm?
Mal ehrlich: Die Kinder der Generation Zahnspange mussten nie frieren – außer im Skilift. Sie haben nie gehungert – außer bei der Frühjahrsdiät. Und sie stemmen freiwillig in der Muckibude Gewichte – weil körperliche schwere Arbeit Gott sei Dank eher selten geworden ist.
Wir sind so fit wie nie zuvor. Die heute 70-Jährigen sind geistig, biologisch und gesundheitlich so gut drauf wie die 50-Jährigen damals, 1960. Mal ehrlich: Längst nicht alle, aber viele Frührentner von heute wissen doch oft gar nicht wohin mit ihrer Kraft, Lebenslust und Energie. Das ist einer der Gründe, warum heute nicht mehr die Studenten demonstrieren, sondern die Grauen, von Stuttgart 21 bis Dresden-Pegida.
Und es wird immer besser: Die Kinder des Jahres 2000 werden fast alle 100 Jahre alt, sagen die Forscher übereinstimmend. Das ist die gute Nachricht. Aber mit 62 in Rente und bis 100 Rente kassieren – diese Rechnung wird nicht aufgehen.«

Nur eine – entnervte – Anmerkung: Auch hier taucht wieder völlig losgelöst die falsche Behauptung auf, dass die Kinder des Jahres 2000 fast alle 100 Jahre alt werden, „sagen die Forscher übereinstimmend“. Dass das schlichtweg nicht stimmt, habe ich an anderer Stelle schon ausgeführt (vgl. dazu den Beitrag Weil der Riester-Mensch durchschnittlich hundert Jahre alt wird und weil er die FAZ liest, kann er sicher glauben, dass sie sicher ist, die (Riester)-Rente vom 27.10.2014).

Aber hier soll es vor allem um die frei nach dem Motto „Frechheit siegt“ vorgetragene Behauptung des Top-Ökonomen gehen, es gebe in Deutschland keine Altersarmut. Das nun ist gelinde gesagt eine ordentliche Verdrehung der Tatsachen. Hierzu beispielsweise der Beitrag Sie wächst und wird weiter wachsen – die Altersarmut. Neue bedrückende Zahlen am Anfang einer bitteren Wegstrecke vom 04.11.2014. Dort kann man lesen:

»Fast genau eine halbe Million Menschen sind es, die in den Statistiken auftauchen als Empfänger von Leistungen der Grundsicherung für Ältere nach SGB XII, also dem „Hartz IV“ eigener Art für ältere Menschen … Innerhalb der vergangenen zehn Jahre hat sich die Zahl der älteren Grundsicherungsempfänger schlichtweg verdoppelt. Und man muss an dieser Stelle sogleich anfügen: Es handelt sich hier um die Älteren, die auch tatsächlich Leistungen beziehen – wenn es um das Thema Altersarmut geht, dann müsste man natürlich noch die älteren Menschen hinzuzählen, die eigentlich Anspruch hätten auf die Grundsicherungsleistungen, diese aber aus ganz unterschiedlichen Gründen faktisch nicht in Anspruch nehmen. Dabei handelt es sich um keine kleine Gruppe.

Es geht hierbei um das Problem der „verdeckten Armut“. Die Verteilungsforscherin Irene Becker hat dazu 2012 einen Beitrag publiziert, in dem sie die Ergebnisse einer Untersuchung vorgestellt hat, die der Frage nachgegangen ist, wie sich die verdeckte Armut unter Älteren seit der 2003 erfolgten Einführung der „Grundsicherung im Alter“ entwickelt hat … Aus den Zahlen der repräsentativen Befragung ergibt sich: Von gut einer Million Menschen ab 65 Jahren, denen damals Grundsicherung zustand, bezogen nur 340.000 tatsächlich Leistungen. Die „Quote der Nichtinanspruchnahme“, so der technische Begriff für die Dunkelziffer der Armut, betrug 68 Prozent.«

Dass bereits heute Altersarmut ein reales Problem ist, kann man beispielsweise solchen Kommentaren entnehmen: Die Koalition vergisst die armen Alten, so Katharina Schuler: »Neue Zahlen belegen: Die Altersarmut in Deutschland nimmt zu. Doch ausgerechnet zu diesem Problem gibt es von der Koalition bisher kaum mehr als ein Lippenbekenntnis.« Oder Die Alten werden immer ärmer oder Altersarmut nimmt in Deutschland zu.

Und dass in Zukunft die Altersarmut – ceteris paribus – kontinuierlich ansteigen wird, worauf die BILD-Berichterstattung ja auch durchaus richtig hinweist, hängt primär mit den politischen, also von Menschenhand gemachten Eingriffen des Staates in das Alterssicherungssystem zusammen, den so genannten „Rentenreformen“, vor allem seit denen der damaligen rot-grünen Bundesregierung Anfang des Jahrtausends. Nur hält die BILD-Zeitung sich an diesen Tatsachen nicht auf, die Leser könnten ja auf die durchaus naheliegende Idee kommen, dass man politische Entscheidungen auch wieder politisch verändern könnte. Auf diese Spur will man die Leute nicht setzen, sondern das eigentlich Ziel ist die Konstruktion eines Generationenkonfliktes, das Herbeischreiben gar eines Kriegs der Generationen, der unvermeidlich auf uns zuzukommen scheint.

»Millionen heutiger und künftiger Rentnerinnen und Rentner bezahlen für den zur Jahrhundertwende vorgenommenen Paradigmenwechsel in der Alterssicherung mit einem stetig sinkenden Versorgungsniveau«, so der ausgewiesene Rentenexperte Johannes Steffen im November des vergangenen Jahres vor dem Hintergrund des damals veröffentlichten Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung (»Drei-Säulen-Modell« der Alterssicherung ist gescheitert. Trotz geförderter Privatvorsorge keine Lebensstandardsicherung. Auf der Website „Portal Sozialpolitik“ von Johannes Steffen finden sich zahlreiche fundierte Materialien zu dieser Thematik).

Und das eine zunehmende Altersarmut – wie gesagt: ceteris paribus – sicher ist, verdeutlichen auch andere, wissenschaftliche Bestandsaufnahmen zum Thema: »Das Einkommen im Alter hängt von der Erwerbshistorie, den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und vom Haushaltskontext ab. Die langfristige Abschätzung von Einkommensrisiken im Alter ist schwierig. Bereits heute zeichnen sich allerdings bestimmte Risikogruppen ab. Langzeitarbeitslosigkeit oder Niedriglohnbeschäftigung, die schon in der Erwerbsphase ein Armutsrisiko darstellen, wirken kumuliert im Ruhestand fort. Zugleich werden die Einkommen aus der GRV nicht mehr ausreichen, um das Einkommensniveau im Ruhestand zu erhalten.« So eine Schlussfolgerung in der Analyse Zukünftige Altersarmut von Johannes Geyer vom DIW Berlin aus dem Sommer des vergangenen Jahres.

Aber um Fakten und seriöse Diskussionen geht es dem „Top-Ökonomen“ und vor allem der BILD-Zeitung nicht. Hier soll Stimmung gemacht werden. So, wie man an anderer Stelle gerne Arme gegen Noch-Ärmere aufzuhetzen versucht, sollen hier „Jüngere“ gegen „Ältere“ in Stellung gebracht werden. Es bleibt nur zu hoffen, dass dieses miese Manöver als solches erkannt wird. Und noch besser wäre es, wenn man dann endlich seriös und mit Blick auf die Betroffenen von der real existierenden wie auch der erwartbaren Altersarmut sprechen kann in diesem Land.

Foto: Screenshot von der BILD-Online-Seite am 22.02.2015