Auch in Österreich wird an der Pflegeausbildung herumgedoktert

Die Reform der Pflegeberufe ist in Deutschland derzeit heftig umstritten und das Gesetzgebungsverfahren dazu hängt im Bundestag (vgl. dazu den Beitrag Reform der Pflegeausbildung: Noch auf der Kippe oder schon vor der Geburt verstorben? vom 15. Januar 2017).

Vor diesem Hintergrund ist der Blick in das Nachbarland Österreich von Interesse, denn auch dort wird gerade über eine Reform der Pflegeausbildung gestritten. Es gibt durchaus Analogien zu dem, was in Deutschland verhandelt wird, aber aufgrund der Systemunterschiede auch abweichende Entwicklungslinien, deren Verfolgung für die deutsche Diskussion interessant sein könnte.

Im Juli 2016 konnte man solche Meldungen in der österreichischen Presse lesen: Nationalrat beschließt neue Krankenpflege-Ausbildung. Die kompakteste Kurzfassung geht so: »Künftig gibt es drei Gruppen, neben einer Pflegeassistenz noch eine Pflegefachassistenz sowie die gehobenen Pflegefachkräfte«, wobei die gehobenen Pflegefachkräfte akademisch an Fachhochschulen ausgebildet werden (sollen). Etwas ausführlicher: »Laut Gesundheits- und Krankenpflegegesetz gibt es in Zukunft drei Berufsbilder. Neben der Pflegeassistenz (bisher: Pflegehilfe) wird auch eine Pflegefachassistenz geschaffen, die mehr Kompetenzen haben soll. Beide sollen weiterhin an den Krankenpflegeschulen ausgebildet werden, die Ausbildung ein bzw. zwei Jahre dauern. Die gehobenen Pflegefachkräfte (derzeit „diplomierte Pflegekräfte“) absolvieren künftig ausnahmslos eine FH-Ausbildung. In Kraft treten soll die Neuregelung ab September 2016 stufenweise bis 2024.« Diesem Beschluss vorangegangen war eine kontroverse Diskussion, die bereits in den Überschriften deutlich wird und teilweise an das erinnert, was wir derzeit in Deutschland erleben: Neuorganisation der Pflegeberufe gefällt nicht allenBreite Kritik an Plan für neue Pflegeausbildung oder Arbeiterkammer: Entwurf für neue Pflegeausbildung überarbeiten, um nur eine kleine Auswahl zu zitieren.

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Und jährlich grüßt das Arbeitskampf-Murmeltier im Krankenhaus?

Neues Jahr, möglicherweise neues Glück, auf alle Fälle die Wiederkehr vieler Themen aus den vorangegangenen Jahren. Vor allem in der Sozialpolitik ist das auch nicht überraschend. Und so beginnen wir das Jahr 2017 mit einem Artikel, der am 2. Januar 2016 in der Saarbrücker Zeitung veröffentlicht und unter diese Überschrift gestellt worden ist: Ein Streik wie keiner zuvor: »Verdi will Entlastung der Klinik-Beschäftigten notfalls mit Arbeitskampf durchsetzen.« Und weiter kann man dem damaligen Artikel entnehmen: »Die Gewerkschaft Verdi will bei den Klinikträgern im Saarland einen Tarifvertrag zur Entlastung der Pflege-Beschäftigten durchsetzen – und droht mit massiven Streiks.« Allerdings wird dann sofort eine offensichtlich nicht unbegründete Frage hinterhergeschoben: »Doch ist Verdi dazu überhaupt stark genug?«

Bereits am 9. Oktober 2015 hatte der Pflege-Experte Michael Quetting der Gewerkschaft ver.di auf einem Kongress angedeutet: „Wir wollen eine Entlastung der Beschäftigten. Und da sie uns keiner gibt, gibt es nur eine Möglichkeit: Wir müssen sie uns selbst holen.“ Die Gewerkschaft will die Träger aller Krankenhäuser im Saarland zunächst auffordern, einen Entlastungs-Tarifvertrag auszuhandeln. Den Weg bis zu diesem Ziel bezeichnet Quetting als „äußerst ambitioniert“. Warum diese Einschränkung? Die »Wahrscheinlichkeit, dass die Klinikträger mitspielen, ist auch nach Einschätzung der Gewerkschaft ziemlich gering. Für diesen Fall werden bereits Streik-Pläne geschmiedet, die bis weit ins nächste Jahr reichen. Es soll der größte Krankenhaus-Streik in der Geschichte des Saarlandes werde.« So konnten wir das am 2. Januar 2016 lesen.

Und einige Monate später, konkret am 26. Dezember 2016, also fast genau ein Jahr nach dem ersten Artikel, kann man diese Schlagzeile lesen: Verdi bereitet Klinikstreiks vor.

»Die Gewerkschaft Verdi wagt im nächsten Jahr einen bisher einzigartigen tarifpolitischen Vorstoß. Erstmals sollen die Kliniken unterschiedlicher Träger zu Tarifverhandlungen aufgefordert werden – auch unter dem Druck von Streiks der Pflegekräfte.«

Nun wird der eine oder andere irritiert sein und fragen: Wieso „erstmals“ sollen Kliniken aufgefordert werden? War das nicht schon die Absichtserklärung am Anfang des nunmehr vergangenen Jahres?  Keineswegs ist es so, dass die Gewerkschaft hier einfach eine alte Meldung hat recyceln lassen, sondern man muss erinnern an einen Passus aus dem Artikel vom 2. Januar 2016: Die »Wahrscheinlichkeit, dass die Klinikträger mitspielen, ist auch nach Einschätzung der Gewerkschaft ziemlich gering. Für diesen Fall werden bereits Streik-Pläne geschmiedet, die bis weit ins nächste Jahr reichen. Es soll der größte Krankenhaus-Streik in der Geschichte des Saarlandes werde.« Aber es geht jetzt nicht mehr „nur“ um das Saarland, sondern berichtet wird über eine bundesweit geplante Kampagne der Gewerkschaft.

Was genau wird gefordert? »Verdi hat drei Forderungsblöcke: So wird eine verlässliche Arbeitszeit angemahnt … Zudem wird eine Mindestbesetzung auf den Stationen gefordert: mit Zweierteams in den Nachtschichten oder einem Stellenschlüssel von einer Pflegekraft zu zwei Patienten auf Intensivstationen, was auch Fachverbände verlangen. Ferner geht es um einen Belastungsausgleich: Früher hätten die Pflegekräfte noch Erholungsphasen gehabt. Diese gebe es wegen der Arbeitsverdichtung nicht mehr. Zudem müssten Konsequenzen vereinbart werden für den Fall, dass die Regeln nicht eingehalten werden. Es dürfe nicht mehr sein, dass Mitarbeiter bei Engpässen aus der Freizeit geholt und Pausen gestrichen werden.«

Bis Juli 2017 will ver.di die Arbeitgeber zu Tarifverhandlungen auffordern – unter dem Druck von Ausständen. „Wenn es nicht anders geht, streiken wir“, wird der Verdi-Experte Jürgen Lippl zitiert. „Wir bereiten einen flächendeckenden Arbeitskampf zur Durchsetzung unserer Tarifziele vor.“

Aber genau hier wird eine zentrale Problemstelle die Pflegekräfte in den Krankenhäusern und einen möglichen, von vielen sogar als unbedingt notwendig erachteten Arbeitskampf betreffend erkennbar – ein Punkt, der noch vor der ebenfalls überaus schwierigen Frage angesiedelt ist, wie man in einem derart sensiblen Bereich wie den Krankenhäusern einen Streik praktisch organisiert. Dabei entfaltet sich die zentrale Problemstelle in drei Dimensionen:

1.) Es geht zum einen um die Frage des Adressaten eines möglichen Arbeitskampfes. Sind es die unmittelbaren Arbeitgeber der Pflegekräfte, also die Träger der Krankenhäuser? Das wäre ja der „Normalfall“ bei einem Arbeitskampf, man denke hier beispielsweise an Streikaktionen der IG Metall gegen die jeweiligen Arbeitgeber, die dann auch die Auswirkungen unmittelbar zu spüren bekommen und aufgrund des daraus entstehenden wirtschaftlichen Drucks über die Arbeitgeberverbände Druck hin zu einer Einigung ausüben werden. In dem bereits erwähnten Artikel wird auch der Geschäftsführer des Klinikums Stuttgart, Reinhard Schimandl, mit diesen Worten zitiert: »Die Belastung sei da, „gar keine Frage“. Doch er beurteilt die Verdi-Pläne skeptisch. Bisher habe man gemeinsam versucht, die Politik zu einer besseren Finanzierung zu bewegen … Solange sich nichts ändere, „ist es ein Problem, auf die Arbeitgeber Druck zu machen, obwohl sie keine finanziellen Spielräume haben, mehr in Personal zu investieren“.« Insofern deutet sich hier für die Gewerkschaftsseite ein Dilemma an, das durchaus zahlreiche Parallelen hat zu dem letzten großen Streik der Beschäftigten in den Sozial- und Erziehungsdiensten (umgangssprachlich verkürzend als „Kita-Streik“ bezeichnet).

2.) Eine zweite Dimension berührt die Frage des Organisationsgrades der Gewerkschaft ver.di im Bereich der Pflegekräfte in den Krankenhäusern (und in den anderen Pflegeeinrichtungen). Immer wieder geistern hier Zahlen um und über 10 Prozent durch die Landschaft – damit hätte die Gewerkschaft natürlich ein echtes Problem, das sie und wir auch aus anderen Feldern vor allem im Dienstleistungsbereich kennen, man denke hier nur an den Einzelhandel. Es fehlt oftmals schlichtweg die kritische Masse, die man braucht, um einen für den Arbeitgeber auch spürbaren und damit wirkungsvollen Arbeitskampf androhen und – wenn es nicht anders geht – auch führen zu können.

Praktisch versucht ver.di, dieses Problem konzeptionell so zu adressieren: Man will zunächst Schwerpunktkrankenhäuser ins Visier nehmen, wo die Gewerkschaft „gute Kontakte zur Belegschaft hat“. »Von dort aus soll mit „Teamdelegierten“ oder „Tarifberatern“ das Netzwerk ausgebaut werden. Diese Freiwilligen an der Spitze der Bewegung sollen die Beschäftigten informieren, organisieren und mobilisieren. Dann folgen die Aktionen: Am 21. Februar soll es etwa eine bundesweite Pausenaktion in den Kliniken geben, um das Thema ins Bewusstsein zu rücken. Am 12. Mai soll es einen Tag der Pflegenden geben.«

3.) Und die dritte Dimension wäre die Zersplitterung der Träger- und damit der Arbeitgeberlandschaft im Krankenhausbereich. Dazu wieder der Blick ins Saarland. »Kolleginnen sollen keine Nacht allein arbeiten«, so ist ein am 27. Dezember 2016 veröffentlichtes  Interview überschrieben mit Michael Quetting von ver.di, der uns ja schon in dem Artikel vom 12. Januar 2016 begegnet ist. »Ver.di ruft 21 Kliniken im Saarland zu Tarifverhandlungen auf. Am Ende sollen Regelungen stehen, die mehr Personal garantieren.« So weit, so bekannt. Dann aber erläutert er die handfesten Schwierigkeiten, das auch zu organisieren und umzusetzen: Die Gewerkschaft wolle im Saarland mit 21 Krankenhäusern verhandeln. Und dann:

»Die sind nicht alle in einem Verband, wir rufen also jedes einzelne zu Gesprächen auf. Würden wir uns völlig durchsetzen, hätten wir rein formal 21 Verträge. Wollen wir bei allen Häusern streiken, müssen wir darüber 21 Urabstimmungen abhalten lassen. Das wird sehr schwierig. Einen solchen Kampf hat in der Pflege noch niemand geführt.«

Hinzu kommt mit Blick auf das Druckmittel Arbeitskampf, dass dieses dann noch nicht einmal dem Grunde nach in allen Krankenhäusern angedroht, geschweige denn auch eingesetzt werden kann, denn die konfessionell gebundenen Kliniken laufen im Korsett des „dritten Weges“, der Streikaktionen schlichtweg nicht zulässig werden lässt. Die vielen Pflegekräften in den Krankenhäusern in konfessioneller Trägerschaft könnten den Konflikt nur als Zaungäste beobachten bzw. – mit viel Phantasie vorstellbar – über „kreative“ Formen des Arbeitskampfes „im Kleinen“ zu begleiten versuchen.

Man muss sich nur diese drei Dimensionen anschauen und auf sich wirken lassen, um zu erkennen, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit einer wirklich größeren, bundesweit angelegten Arbeitskampfaktion in der Pflege derzeit mit nur sehr gering bis gar nicht vorhanden bewertet werden muss.

Und das angesichts der unabweisbaren Notwendigkeit, einen großen Konflikt in der Pflege (und um die Komplexität och zu steigern – auch in der Altenpflege) androhen und wenn es nicht anders geht auch tatsächlich realisieren zu müssen, ansonsten wird man keine wirklich fundamentalen Verbesserungen erreichen können aufgrund der komplexen Mechanik des Systems. Es sei an dieser Stelle mit Blick auf die Ärzte nur erinnert an den Ärztestreik im Jahr 2006. Damals legten an deutschen Universitätskliniken und kommunalen Krankenhäusern angestellte Ärzte die Arbeit nieder, gegen die aus ihrer Sicht unzumutbaren Arbeitsbedingungen und für bessere Bezahlung. Es war der erste Ärztestreik in Deutschland seit über dreißig Jahren und der erste Streik der angestellten Ärzte überhaupt. Während der Verhandlungen kam es zum Bruch des Ärzteverbandes Marburger Bund mit der Gewerkschaft ver.di, die die nichtärztlichen Krankenhausangestellten vertritt. Die Position der Ärzte hat sich nicht nur, aber auch aufgrund dieser Streikaktion damals in den Folgejahren deutlich verbessert.

Aber man muss mit Blick auf die Pflege realistisch sein und konstatieren, dass es sich um einen Arbeitskampf handeln würde, der auch und wenn man ehrlich ist vielleicht sogar primär faktisch politische Ziele verfolgen müsste, unabhängig von der rechtlichen Beurteilung einer solchen Ausrichtung. Denn im Kern steht die Frage der Personalausstattung der Pflege. Und an dieser Stelle muss man zur Kenntnis nehmen, dass wir mit einem Systemversagen konfrontiert sind (was auch zur Folge hat, dass selbst einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen gegenüber „willige“ Arbeitgeber das Problem haben, dass sie angesichts der Budgetierung gar nicht umsetzen könnten, was sie selbst als notwendig erachten würden.)

An dieser Stelle kann man dann auch wieder den Artikel Ein Streik wie keiner zuvor vom 2. Januar 2016 aufrufen, in dem wie beschrieben über entsprechende Überlegungen auch einen Arbeitskampf betreffend im Saarland berichtet wurde:

»Sind die Klinikträger überhaupt der richtige Adressat des Protests, wenn der Schlüssel für die Krankenhaus-Finanzen (und damit für mehr Personal) doch bei der Politik liegt? Die Träger klagen selbst über den Personalmangel, haben im vergangenen Jahr zusammen mit Verdi zu Protesten für eine bessere Krankenhausfinanzierung aufgerufen. „In diesem Punkt sind wir nah bei den Gewerkschaften“, sagt der Geschäftsführer der Saarländischen Krankenhausgesellschaft (SKG), Thomas Jakobs. Was Verdi vorhat, wäre demnach ein politischer Streik, nach dem Motto: Wenn es gelingt, eine Entlastung der Mitarbeiter durchzusetzen, wäre die Politik unter Zugzwang, diese auch finanziell zu ermöglichen.«

Das angesprochene Systemversagen kann nur verstanden und schlussendlich aufgelöst werden, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass wir hier konfrontiert werden mit den eben systembedingten Folgen der seit Anfang des Jahrtausends eingeführten neuen Krankenhausfinanzierung in Deutschland – und das in Kombination mit einer fehlenden gesetzlichen Normierung von Mindestpersonalbestimmungen für die Pflege, die man nicht unterschreiten darf, sowie darüber hinausreichend einer nicht vorhandenen aufwandsadäquaten Personalbemessung, die Standards guter Arbeit abzubilden vermag, so meine Hinweise in dem Beitrag Rückblick und Blick nach vorne: Die Mühen der Ebene – auf dem tariflichen Weg zu mehr Pflegepersonal im Krankenhaus? vom 28. Dezember 2015.

Man kann nun versuchen, innerhalb des Fallpauschalensystems für Änderungen dergestalt zu sorgen, dass der tatsächliche pflegerische Aufwand besser abgebildet wird. Das aber würde (noch) nicht das Problem lösen, dass den Krankenhäusern das Geld insgesamt überwiesen wird und sie entsprechende Freiheitsgrade bei der konkreten Verteilung auf die einzelnen „Kostenstellen“ (besser wäre hier: Leistungsstellen) haben, was ja auch im Grunde angesichts der dabei zum Ausdruck kommenden unternehmerischen Autonomie nicht schlecht sein muss – wenn es nicht systembedingt auf Kosten der Pflege gehen würde. Mithin wäre eine gesetzliche Personalbemessung die logische Konsequenz, die man ziehen muss und die bislang gescheut wird wie das Weihwasser vom Teufel. Denn das wäre nicht wirklich neu, sondern man hat in der Vergangenheit bereits kurzzeitig Erfahrungen sammeln können mit diesem Instrumentarium, das unter dem Kürzel PPR geführt wird: PPR ist eine Abkürzung für die „Regelung über Maßstäbe und Grundsätze für den Personalbedarf in der stationären Krankenpflege (Pflege-Personalregelung)„. Die Pflege-Personalregelung wurde 1993 eingeführt, um die Leistungen der Pflege transparenter zu machen und eine Berechnungsgrundlage für den Personalbedarf zu haben. Experten gingen damals davon aus, dass sich durch konsequente Anwendung der PPR bundesweit ein Personalmehrbedarf im fünfstelligen Bereich ergeben würde. Als sich abzeichnete, dass die daraus resultierenden Mehrkosten nicht zu tragen sind, wurde die Pflege-Personalregelung flugs ausgesetzt.
Immer wieder stößt man auf diese Dimension (vgl. beispielsweise auch den Beitrag Pflegenotstand – und nun? Notwendigkeit und Möglichkeit von Mindeststandards für die Ausstattung der Krankenhäuser mit Pflegepersonal vom 8. September 2014).

Alles äußerst schwierige Rahmenbedingungen für die Vorbereitung, Entwicklung und schrittweise Umsetzung des Konzepts „großer Pflegestreik“. Zugleich aber wird man zuspitzend in den Raum stellen müssen, dass die Profession Pflege diesen harten, steinigen Weg wird gehen müssen, um als relevanter Machtfaktor in der Gesundheitspolitik überhaupt eine Rolle spielen zu können. Manchmal ist es an der Zeit, dem Konflikt nicht mehr auszuweichen und sich nicht abfinden und ruhig stellen zu lassen mit den ewig warmen Worten.

Altenpflege: Sehenden Auges weiter rein in den großen Pflegekräftemangel?

An Zustandsbeschreibungen, Studien, Szenerien und Modellrechnungen hinsichtlich des Bedarfs an Pflegekräften besteht nun wahrlich kein Mangel. Unabhängig von der Tatsache, dass der Blick in die Zukunft immer unsicher sein muss, ist die Forschungslage zur Altenpflege ziemlich eindeutig: Wir marschieren seit längerem – kaum gebremst – in einen voluminösen Pflegekräftemangel hinein, der weit größere Ausmaße haben wird als das, was heute schon in den Einrichtungen und Diensten als Personalmangel erlebt werden muss (vgl. dazu auch den Beitrag Pflege & Co. auf der Rutschbahn des Mangels vom 23.11.2016).

Auch der BARMER GEK Pflegereport 2016, der heute veröffentlicht wurde, bestätigt den kritischen Blick auf die vorhandene, vor allem aber auf die zukünftige Entwicklung des Personals in der Altenpflege.

Die BARMER GEK hat ihre Pressemitteilung zum neuen Pflegereport so überschrieben: Postleitzahl beeinflusst Art der Pflege in Deutschland: »Wie Menschen in Deutschland gepflegt werden, hängt vom Wohnort der Pflegebedürftigen ab … Demnach sind die massiven regionalen Unterschiede in der Pflege die Konsequenz des Angebots vor Ort. Je mehr Pflegedienste oder Pflegeheime es gibt, desto mehr Betroffene werden von ihnen betreut.« Die Unterschiede bei der Art der Versorgung von Pflegebedürftigen sind schon auf der Ebene der Bundesländer erheblich: In Berlin und Brandenburg ist nicht einmal ein Viertel in Heimen untergebracht. In Schleswig-Holstein sind es mehr als 40 Prozent, so Rainer Woratschka in seinem Artikel Brandenburg hat die wenigsten Heimbewohner. Generell ist das Angebot an ambulanten Diensten in den Stadtstaaten und Ostdeutschland höher, dafür gibt es im Westen mehr Heimplätze. »Beeinflusst werde die Form der Pflege aber auch vom Einkommen und den familiären Strukturen, heißt es in der Studie. Wer weniger Geld habe, komme wegen der privaten Zuzahlungen seltener ins Heim.«

Der Studie zufolge wird sich die Zahl der Pflegebedürftigen nach heutiger Definition bis zum Jahr 2060 dann von derzeit knapp 2,8 Millionen auf mehr als 4,5 Millionen erhöht haben. Die Art der Versorgung und die zu erwartende Zahl an Pflegebedürftigen sind natürlich wichtige Einflussfaktoren bei der Bestimmung des zukünftigen Personalbedarfs in der stationären und ambulanten Pflege. Und der soll in diesem Beitrag im Mittelpunkt stehen, wobei angemerkt werden muss, dass der Bericht

Heinz Rothgang, Thomas Kalwitzki, Rolf Müller, Rebecca Runte und Rainer Unger (2016): BARMER GEK Pflegereport 2016. Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse, Band 42, Siegburg, November 2016

viele weitere hilfreiche Informationen und Daten zum Thema Pflege enthält, die hier gar nicht ansatzweise gewürdigt werden können.

Das Wissenschaftler-Team um Heinz Rothgang, das den neuen Pflegereport erarbeitet hat, beschäftigt sich auch mit der „Versorgungslücke in der ambulanten und stationären Versorgung im Jahre 2030“ (S. 120 ff.). Es geht also um die Bestimmung, wie viele Pflegekräfte möglicherweise fehlen werden. Einige Rahmenbedingungen für die Vorhersage:

Der deutliche Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen führt für das gesamte Bundesgebiet zu höheren Fallzahlen, die für das Jahr 2030 etwa 3,5 Mio. Pflegebedürftige (+850.000 gegenüber 2013) im Sinne des derzeit geltenden Pflegebedürftigkeitsbegriffs erwarten lassen.

Derzeit sind 704.000 Vollzeitäquivalente in der Altenpflege beschäftigt, der technische Begriff Vollzeitäquivalente (VZÄ) sei hier – wo wir doch von Menschen sprechen – entschuldigt, aber dahinter steht das Problem, dass man bei den vielen Teilzeitkräften die unterschiedlichen Arbeitszeiten auf einen – vergleichbar gemachten – Nenner bringen muss. Das bedeutet aber auch, dass gerade angesichts des hohen Teilzeitanteils aufgrund der hohen Frauenquote in der Pflege die Zahl der Beschäftigten insgesamt höher ausfällt, also mehr Köpfe gezählt werden.
Bei gleichen Versorgungsquoten wie heute resultiert aus den Einflussfaktoren ein zusätzlicher Bedarf an Beschäftigten in der Pflege von 267.000 Vollzeitäquivalenten (insgesamt also 981.000 im Jahr 2030).

Jetzt wird es spannend und noch schwieriger, denn man muss abschätzen, wie viele denn angebotsseitig zur Verfügung stehen werden. Auch dafür muss man Annahmen treffen, die man wie alle natürlich auch sehr kritisch diskutieren kann. Die Pflegereport-Verfasser gehen so vor:
Wird unterstellt, dass der Anteil der Erwerbstätigen in der Pflege an allen Erwerbstätigen konstant bleibt, reduziert sich gleichzeitig das Arbeitskräfteangebot in der Pflege aufgrund des demografisch bedingt sinkenden Erwerbspersonenpotentials. Insgesamt entsteht so eine Versorgungslücke an Beschäftigten in der Pflege, die auf insgesamt 352.000 Vollzeitäquivalente (99.000 im ambulanten Bereich und 253.000 im stationären Bereich) beziffert werden kann.

Bei regionaler Differenzierung nach den einzelnen Bundesländern ergeben sich aufgrund unterschiedlicher Pflegeprävalenzen in den jeweiligen Bundesländern und regional unterschiedlicher Geschwindigkeiten in der Alterung in den Bundesländern auch regional unterschiedliche Versorgungslücken in der ambulanten und stationären Pflege. Die Abbildung am Anfang des Beitrags visualisiert diese bundesländerspezifischen Versorgungslücken für das Jahr 2030. Die Anordnung der Bundesländer beginnt bei dem Bundesland, bei dem es relativ gesehen, also hier bezogen auf die Beschäftigung in der Altenpflege im Jahr 2013, der die 2030 vermutlich fehlenden (Vollzeit-)Pflegekräfte als Anteilwert gegenübergestellt werden. Bei dieser Relativierung ergibt sich, dass in Brandenburg zwar in absoluten Zahlen der Mangel nicht groß erscheint (7.000 VZÄ fehlen in der ambulanten, 11.000 VZÄ in der stationären Pflege), diese Zahlen aber gesehen werden müssen vor dem Hintergrund, dass sie vom Volumen her erschreckend daherkommen, den die relative Versorgungslücke in Brandenburg beläuft sich auf über 75 Prozent der 2013 tätigen Pflegekräfte – während die Lücke am anderen Ende, in Hamburg, mit „nur“ 22,4 Prozent fast schon überschaubar daherkommt.

Wie hat man die Versorgungslücke berechnet? Dazu Rothgang et al. (2016: 120 f.):

»Für die Berechnung der Versorgungslücken wurden zunächst die Zahlen der Vollzeitäquivalente (bezogen auf alle Beschäftigten in der Pflege) für das Jahr 2030 geschätzt, die sich aufgrund des Rückgangs des Erwerbspersonenpotentials der 20-64-Jährigen ergeben (dieser Rückgang beläuft sich auf Bundesebene auf 10,8 %). Anschließend wurden die Zahlen der zusätzlichen Pflegebedürftigen bis zum Jahr 2030 mit dem Versorgungsschlüssel in der ambulanten und in der stationären Pflege (Vollzeitäquivalent pro pflegebedürftiger Person) des Jahres 2013 multipliziert. Die Berechnungen erfolgten zunächst auf Kreisebene und wurden dann auf die Länder-, bzw. Bundesebene hochaggregiert.«

Fazit: Sollten die Annahmen die Wirklichkeit annähernd abbilden, dann müssen wir davon ausgehen, dass uns 2030 von den dann notwendigen 981.000 Pflegekräften 352.000 fehlen könnten – wobei die Zahl der Personen aufgrund der Teilzeit nochmals deutlich höher liegen müsste.
Das sind Dimensionen, die ein massives Gegensteuern erfordern. Das bezieht sich nicht nur auf einen entsprechenden Schub bei der Ausbildung und der Umschulung, sondern greift bis in die individuellen Arbeitszeitarrangements der Pflegekräfte hinein im Sinne einer anzustrebenden bzw. zu fördernden Ausweitung teilzeitiger Beschäftigung. Vor allem aber muss man natürlich auch die Rahmenbedingungen der Arbeit attraktiver gestalten, was eine deutliche Verbesserung der Vergütung angeht, aber auch – da beißt sich die Katze in den Schwanz – eigentlich mehr Personal, das man jetzt zu den Rechenergebnissen, die hier präsentiert wurden, addieren müsste. Eine herkulische Aufgabe.