Bei einer Hommage an die Paketzusteller darf der Blick in die Glaskugel nicht fehlen

In wenigen Stunden ist sie vorbei, die große Auslieferungswelle für die vielen Paketboten in unserem Land. Dann kehrt wieder Normalität ein, wobei diese keine Konstante ist, sondern ein bewegliches Ziel nach oben. Seit Jahren steigt die Menge der auszuliefernden Pakete kontinuierlich an, die „Amazonisierung“ unserer Gesellschaft schlägt sich hier nieder in Zuwachsraten für die Paketdienste, die sich im zweistelligen Prozentbereich bewegen. Aber in den Wochen vor dem Weihnachtsfest war und ist es am heftigsten – und das wird auch so bleiben. In dieser Zeit macht der Einzelhandel einen großen Teil seiner Umsätze und immer davon werden per Klick und Anlieferung über das Internet geordert.  Um so bedeutsamer werden die Paketdienste zwischen Handel und Kunden, zuweilen und immer öfter werden sie auch zum Nadelöhr. Kunden beschweren sich – zunehmend – über Qualitätsprobleme bei der Zustellung der bestellten Waren, entnervte Paketzusteller wissen nicht mehr ein und aus.

Und manche Politiker glauben, in dieser Gemengelage auch noch billig Punkte zu machen, in dem sie mitsurfen auf der Welle der „Ich-reg-mich-auf-Kunden“ – die mittlerweile von der Verbraucherzentrale sogar eine eigene Website für ihre Beschwerden zur Verfügung gestellt bekommen (www.paket-ärger.de). Beispielsweise der Verbraucherschutzminister Heiko Maas (SPD), der es dann zu solchen Artikeln bringt: Minister Maas kritisiert „Geschenke, die erst zu Ostern kommen“: »Verbraucher- und Justizminister Heiko Maas hat kurz vor den Feiertagen klare Worte an die Paketdienstleister gerichtet. Die Verbraucher hätten ein Recht auf pünktliche und zuverlässige Auslieferung.« Das hört sich gut und energisch an. „Die Rechte von Verbrauchern müssen gewahrt werden“, wird er zitiert. Insbesondere vor den Weihnachtstagen sei es besonders wichtig, sich auf die Zusteller verlassen zu können. Das mag dem einzelnen Kunden gefallen – aber kein Wort zu den möglichen strukturellen Ursachen für die tatsächlich überall zunehmende Unzufriedenheit mit den Paketdiensten, bei deren Arbeit sich die Mängel tatsächlich häufen. Im schlimmsten Fall bleibt hängen, dass die Paketzusteller ihre Arbeit nicht (mehr) richtig machen.

Aber damit würde man sich auf eine völlig unzulässige Verkürzung dessen einlassen, was tatsächlich in diesem Bereich passiert. Wenn man schon nach einer halbwegs zutreffenden Adresse für Kritik oder gar Vorwürfe sucht, dann müsste man sowohl die Paketunternehmen adressieren wie auch den auftraggebenden Versandhandel. In diesem Blog wurde bereits mehrfach über die sich erheblich verschlechternden Arbeitsbedingungen der Paketzusteller berichtet. Das wird auch an anderer Stelle aufgegriffen, beispielsweise in diesem Artikel: Vier Minuten pro Teil – wie Paketboten vor dem Fest schuften.

»Vier Minuten. Das ist die Grenze, die Martin S. sich selber setzt. Wenn er nur vier Minuten oder weniger braucht für jedes Paket, dann erreicht der Hermesbote die Prämienzone. Dann verdient er mehr als den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro. In diesen Tagen teilt ihm das Lager gern mal 160 Pakete zu – ein Drittel mehr als üblich. Und auch diese Menge schafft Martin S., selbst wenn er bis 21 oder 22 Uhr treppauf, treppab spurtet, sechs Tage die Woche, ohne echte Mittagspause, die Weihnachtszeit nur ein Rauschen aus Parkplatzsuche, Treppenhäusern und flüchtigen Gesichtern.«

 Weihnachten geht den „Männern der letzten Meile“ auf die Knochen:

»„Weinkisten sind das größte Übel“, sagt der 51-jährige S., der seinen Job eigentlich als „ein Fitnesstraining“ betrachtet. Vor zwei Jahren aber, zur Weihnachtszeit, hat er doch gemerkt, dass sein Körper nicht mehr wollte. Das Knie schmerzte so höllisch, dass er nicht mehr die Kupplung treten konnte. Also fuhr ein Freund den Transporter, Martin S. humpelte die Pakete zur Tür. Damals war er noch selbstständig – Subunternehmer des Depots mit mehreren angestellten Fahrern. Hätte er die festgeschriebene Menge an Paketen nicht bewältigt, hätte Hermes eine Spezialtruppe geschickt – mit immensen Kosten für Martin S.«

Hier wird auch das weit verbreitete unselige Subunternehmer-System angesprochen, das eine wichtige Rolle spielt in der Ausbeutungshierarchie, an deren Spitze die großen Konzerne stehen, die durchaus erhebliche Gewinne einstreichen können, während sich unten, an der Ende der Nahrungskette, die oftmals sehr kleinen (schein)selbständigen Subunternehmen mit ihren angestellten Paketzustellern befinden und wo der Preis- bzw. spiegelbildlich Kostendruck so enorm ist, dass das voll auf die Arbeitsbedingungen der letzten in der Kette, also bei den Zustellern, durchschlägt. Und zwar derart heftig, dass man immer öfter da unten keine mehr findet, die das machen und zunehmend zurückgreift auf rumänische oder bulgarische Paketzusteller, die dann für Hungerlöhne und unter völlig unakzeptablen Lebensbedingungen hier bei uns schuften (müssen).

Nur so viel den Nörglern untern den Kunden oder den hier Stimmen sammelnden Ministern, die nur das Roß, nicht aber den Reiter nennen: Wenn man derart miese Arbeitsbedingungen geschaffen hat, dass man sogar osteuropäische Billigstarbeiter für die Paketzustellung einsetzen muss, dann darf man sich nicht wundern, wenn es Probleme gibt bei der Zustellung. Aber dieses strukturelle Problem pflanzt sich nach oben fort: Wenn sich die Deutsche Post DHL  selbst auf die Rutschbahn nach unten setzt und Billigtöchter (DHL Delivery) ausgegründet, dann darf sich der Kunde nicht wundern, wenn ständig wechselnde Zusteller Probleme haben, sich zu orientieren und vielleicht auch nicht wirklich eine Bindung zu „ihrem“ Zustellbezirk aufbauen (können), wie das oftmals vorher in der „alten“ DHL-Welt der Fall war.  „Flexibilisierung“ und „billiger“ haben eben ihren Preis in Form sinkender Qualität – und genau das erleben wir jetzt. Zugespitzt formuliert: Wir können und dürfen uns eher darüber wundern, dass das immer noch so funktioniert.

Wie immer sind es die am Ende der Verwertungskette, die den zunehmenden Druck am stärksten zu spüren bekommen. Und die dann auch für Verbesserungen, die vielen Kunden gefallen, den Preis zahlen müssen. Man denke hier an den Service, dass man genau nachvollziehen kann, wo das eigene Paket gerade unterwegs ist. Nette Dienstleistung. Aber für die Paketzusteller bedeutet das: mehr Stress und Druck, so Benedikt Müller in seinem Artikel Der Bote wird gläsern. Und diese Entwicklung ist weniger eine Nettigkeit an die Kunden, sondern – wir nähern uns schon dem bereits bespielten Feld vor der Glaskugel – ein Ergebnis der Tüftelei der Paketdienste an einer effizienteren Zustellung.

„Alle Paketdienstleister versuchen, ihre Kosten auf der letzten Meile zu senken“, sagt Sonja Thiele vom Wissenschaftlichen Institut für Infrastruktur und Kommunikationsdienste. Deshalb wollen die Firmen möglichst genau vorhersagen, wann ein Päckchen ankommt – und ihre Daten besser auswerten. Sie könnten die Zustellung etwa weiter in den Abend legen, weil dann mehr Empfänger zu Hause sind. Schön für die Kunden. Für die Paketboten jedoch erhöht sich der Stress noch weiter, so Müller in seinem Artikel.

Wie jede Medaille zwei Seiten hat, so werden wir auch hier mit einer Schattenseite konfrontiert. Denn das umfängliche Tracking der Pakete geht einher mit einer lückenlosen Überwachung der Paketzusteller und damit natürlich auch dem, was sie (nicht) tun.

Werfen wir mit Müller einen Blick auf den angeblichen „Innovationsführer“ dieser Entwicklung, dem Unternehmen DPD:

»Wer ein Paket … erwartet, kann im Internet auf einer Karte nachschauen, wo die Sendung gerade steckt: Am Tag der Zustellung sieht der Empfänger in Echtzeit, an welcher Straßenecke der zuständige Bote zuletzt haltgemacht hat.
Seit diesem Monat erfasst DPD weitere Daten zu seinen Sendungen: Nachdem ein Paket angekommen ist, kann der Adressat per App oder Online-Formular bewerten, wie gut er den Service fand … Wenn der Adressat nur einen oder zwei Sterne vergibt, hakt das Unternehmen nach: Hat es zu lange gedauert? War der Bote unfreundlich?«

Nicht wirklich überraschend: Die Gewerkschaft sieht das Schreckensszenario eines Bewertungssystems ante portas, das dem Arbeitgeber Rückschlüsse auf den einzelnen Zusteller zulässt. Wenn das nicht aufgehalten werden kann, dann wird es auch dazu kommen. Als Zwischenetappe benennt DPD dieses Ziel, das zugleich verdeutlicht, wohin die Reisen gehen wird:

»DPD verspricht, die Rückmeldungen der Empfänger nicht gegen einzelne Boten zu verwenden. Allenfalls breche man die Daten auf einzelne Standorte herunter, um regionale Probleme besser erkennen zu können. Das bedeutet: Der Konzern sieht, welches Depot und welche Gruppe von Boten welche Schwierigkeiten haben – den Einzelnen trifft das vielleicht nicht, das verantwortliche Boten-Team müsste sich dann aber wohl rechtfertigen.«

Bei den weiteren Gedankengängen nähern wir uns dann der berühmten Glaskugel, aber die Überlegungen sind nicht unplausibel: Die verstärkten Investitionen in das Tracking der Pakete wird nicht nur Auswirkungen haben auf den Umgang mit den Beschäftigten, sondern es wird auch neue Entwicklungsschritte auslösen:

»Die Empfänger wollen nicht nur wissen, wann ein Päckchen wohl ankommen wird. Sie wollen auch spontan veranlassen können, dass der Bote flexibel reagiert und auf einen anderen Ort ausweicht: auf das Büro, eines Tages gar vielleicht auf das geparkte Auto. Der Zusteller könnte dann mit einem übermittelten Code den Kofferraum öffnen und das Paket hinterlegen.«

Und auch durch andere Entwicklungen wird der Druck steigen, die bisherige Organisation der Paketzustellung – die allein schon aufgrund der stetig steigenden Sendungsmenge rein quantitativ an Systemgrenzen stößt – fundamental umzubauen. Man muss an dieser Stelle sehen, dass nicht nur der „klassische“ Paketdienstbereich enorm expandiert, sondern das diese Entwicklung auch noch angereichert wird durch neue, zusätzliche Lieferdienste (beispielsweise im Lebensmittelbereich), die sich zumindest in den Städten ausbreiten und ebenfalls die rein logistischen Grenzen zu spüren bekommen werden.

Wir leben mithin in einer Übergangsphase, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die bestehende Art und Weise der Paketzustellung im Kontext des brutalen Wettbewerbs zu einer stetigen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen führen muss, die man so lange ausreizen wird, bis die damit untrennbar verbundenen Qualitätsverluste so groß werden, dass sich das gegen die Paketdienste selbst richtet. Dann werden sich technisch-organisatorische Umbauten durchsetzen lassen.
Korbinian Eisenberger hat darauf in dem Artikel Die Last mit der Last hingewiesen. Dort wagt man auch einen Blick ganz weit in die Zukunft, unter besonderer Berücksichtigung der neuen Lieferdienste, die sich derzeit ausbreiten – und die (noch?) auf „klassische“ Strategien des Lohndumpings setzen, wie man sie auch bei den herkömmlichen Paketdiensten beobachten muss (»In aller Regel sind die Männer und Frauen Freiberufler, bis vor Kurzem arbeiteten viele für fünf Euro brutto die Stunde. Seit der Einführung des Mindestlohns Anfang des Jahres müssen jedoch auch Lieferanten 8,50 Euro Stundenlohn bekommen. Seitdem kommen Firmenchefs auf die skurrilsten Ideen, um das Gesetz zu umgehen, etwa Klauseln, dass mit der Vergütung Überstunden und der Anspruch auf bezahlten Urlaub abgegolten sind. Nach wie vor basiert das System der Lieferdienste auf Einwanderern …, von denen viele die Not zwingt, zweifelhafte Verträge zu unterschreiben.«):

„In fünf bis zehn Jahren wird Zustellung und Abholung das normale Einkaufen für einen Großteil der Bevölkerung ersetzen“, sagt Christoph Wenk-Fischer, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands für E-Commerce und Versandhandel Deutschland (bevh), … Wenk-Fischer prognostiziert, dass künftig immer mehr Lebensbereiche von den Lieferdiensten abgedeckt werden, Firmen wie Lockbox hätten dann eine zentrale Rolle im System. „Supermarktketten werden sich zusammenschließen“, sagt Wenk-Fischer. „Sie müssen gemeinsame Modelle entwickeln, wie sie ihre Ware zum Kunden bringen.“
Und auch die Städte werden sich verändern, glaubt er. Denkbar seien flächendeckende Lieferzonen und immer mehr standardisierte Wohnungseinrichtungen. Etwa, damit ein Lieferant bei einem Stopp gleich in mehreren Wohnungen den Pulvertank für Waschmaschinen auffüllen kann. „Es reicht nicht, dass es für den Kunden bequem ist“, sagt Wenk-Fischer. „Für die Anbieter muss es auch effizient sein.“

Und mit Blick auf die normalen Pakete (wobei man ehrlich fragen muss: Was ist heute eigentlich noch normal, wenn sich die Leute Kompostanlagen in den dritten Stock eines Hauses liefern lassen, wie ein Paketzusteller berichtet hat) wird die Entwicklung einer ganz bestimmten, uns allen gut bekannten Linie folgen:  So viel Arbeit wie möglich auf die Kunden selbst zu verlagern. Paketstationen gibt es bereits, Paketboxen werden sich jetzt ausbreiten. Ein Teil der Kunden wird als „Teilzeit-Paketfahrer“ eingespannt werden, was immer noch deutlich billiger kommt als mit festem Personal arbeiten zu müssen. Der Phantasie sind hier keine Grenzen gesetzt.

Bis dahin aber bleibt: Eine „umgekehrte“ Hommage an die vielen Paketzusteller, nicht nur aufgrund dessen, was sie in den vergangenen Wochen geleistet haben. „Umgekehrt“ ist die Hommage deswegen, weil von der Herkunft unter einer Hommage die „Huldigung des Vasallen“ gegenüber dem „Lehnsherrn“ verstanden wird, ein öffentlicher Ehrenerweis, meist auf eine berühmte Persönlichkeit, der man sich verpflichtet fühlt. Hier geht der Ehrenerweis an die Vasallen, die sich krumm machen für uns alle. Die Paketzusteller sind nicht berühmt, sie werden oftmals gerade nicht als Persönlichkeit behandelt, sondern im Gegenteil wie ein Werkstück, das zu funktionieren hat. Gerade deswegen verdienen sie einen Ehrenerweis weitaus mehr als die Schönen und Reichen, die das ansonsten immer einheimsen.

Arbeit in der Paketzustellung: Verheddert im System der organisierten Unverantwortlichkeit

Der Höhepunkt des Jahres steht bevor, also für die Paketdienste in diesem Land: das Weihnachtsgeschäft. Auch wenn das Business das ganze Jahr über immer lauter und damit besser brummt, bleibt die Zeit vor Weihnachten der absolute Aktivitätsgipfel, vor allem für diejenigen, die das ganze Zeug zu den Kunden bringen müssen: die Paketzusteller.

Und deren Arbeitsbedingungen waren in der Vergangenheit schon regelmäßig im Fokus einer kritischen Berichterstattung in den Medien, auch mit angetrieben durch die Under cover-Recherchen des umtriebigen Günter Wallraff vor einiger Zeit, der sich selbst als Paketzusteller verdingt und eindrucksvolle Erfahrungen gesammelt hat. Berichte darüber findet man auch in dem von ihm herausgegebenen Band Die Lastenträger. Arbeit im freien Fall – flexibel schuften ohne Perspektive (zu DHL, GLS & Co. S. 167 ff.). Aber trotz der medialen Skandalisierung ist die Lage offensichtlich nicht besser geworden, teilweise sogar ganz im Gegenteil. Zunehmend werden beispielsweise osteuropäische Wanderarbeiter eingesetzt, um noch billiger arbeiten zu lassen, mit mehr als skandalösen Bedingungen, denen die Menschen aus Rumänien und Bulgarien ausgesetzt sind. Zugleich muss man beobachten, dass auch viele der Subunternehmer, an denen das gesamte Geschäftsmodell der Paketdienste hängt, in den existenziellen Abgrund gestoßen werden und ihren Ausflug in die „Selbständigkeit“, die sich in der Realität als perfide Form der Scheinselbständigkeit entpuppt, mit einer Schuldenfalle bezahlen, für die es dann nur noch den Exit Privatinsolvenz gibt.
Vor diesem Hintergrund war es Zeit, das Thema wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Die Gewerkschaft ver.di Rheinland-Pfalz/Saarland (in Kooperation mit der GUV-Fakulta,  dem Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen, der TBS gGmbH Rheinland-Pfalz sowie der Regionalstelle für Arbeitnehmer- und Betriebsseelsorge Mainz) hat deshalb am 31.10.2015 in Mainz ein Tribunal Arbeit in der Paketzustellung veranstaltet, bei dem im Rahmen einer fingierten Gerichtsverhandlung die Branche angeklagt und die Vorwürfe vor einem „Gericht“ verhandelt wurden. Neben vielen Zeugen, vor allem Betroffenen aus der Branche, wurden als Sachverständige für die Befragung des „Gerichts“ Günter Wallraff und ich geladen.

Eine gute Zusammenfassung der Veranstaltung findet sich in dem Artikel „Arbeit in der Paketzustellung“: Betroffene berichten in Mainz, wie sie in einer boomenden Branche leiden – Unter ihnen: Günter Wallraff von Carina Schmidt. Die Zeugen, die „Gerichtspräsidentin“ und Moderatorin Margarete Ruschmann im voll besetzen Unterhaus befragte, boten ein erschütterndes Bild durch ihre Aussagen. Es herrscht ein unglaublicher Druck auf die Subunternehmer, was ein ehemaliger DPD-Niederlassungsleiter bestätigte. „Die Auftraggeber geben den Subunternehmern alles vor, also die Zeiten, die Anzahl der Pakete und den Betrag“, bestätigte Giovanni Berardi, Geschäftsführer vom Interessenverband selbstständiger Subunternehmer im Transportgewerbe (ISSiT).
Die Subunternehmen geben diesen Druck oft weiter an ihre Beschäftigte.

»Wie Gewerkschaftsekretärin Tanja Lauer informierte, würden die Subunternehmer überwiegend Geringfügigbeschäftigte anstellen: „Sie werden nicht nach Tarif bezahlt, sodass ihr Lohn knapp unter dem Mindestlohn liegt. Viele werden auch in eine Scheinselbstständigkeit gedrängt.“ Die Beschäftigten würden zu einem großen Teil aus Osteuropa stammen, die unter falschen Versprechungen über Lohn und Arbeitszeit nach Deutschland gelockt werden.«

Und da sind wir schon angekommen bei einem Teil des Tribunals, wo selbst diejenigen, die sich professionell mit den Arbeitsbedingungen in unserem Land beschäftigen (müssen), mehr als „beeindruckt“ waren – eine Zeugenaussage von zwei rumänischen Paketzustellern, die geschildert haben, wie ihre Arbeits- und Lebensbedingungen hier bei uns in Deutschland aussehen und die auch Opfer geworden sind der von Tanja Lauer beschriebenen falschen Versprechungen, die man ihnen in Rumänien gemacht haben. Dazu Carina Schmidt in ihrem Artikel:

»Zwei Männer aus Rumänien … waren auf eine solche Masche reingefallen. „Unser Arbeitsalltag besteht aus 15 Stunden-Schichten ohne Pausen und einer Sechstagewoche und das bei einem Gehalt von 500 bis 700 Euro“, berichteten sie. Die Unterkunft werde vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt, wobei das Zimmer pro Person 250 Euro koste. Wie sie von dem übrigen Geld überhaupt leben könnten? „Von meinen Ersparnissen“, schilderte der Ältere. „Meine Eltern unterstützen mich“, sagte der Jüngere. Dabei sei das eigentlich mal umgekehrt gedacht gewesen.«

Hier noch eine Ergänzung von meiner Seite zu den Aussagen der beiden Rumänen: Ihnen wurde in Rumänien von – man muss sie so nennen – Menschenhändlern „Versprechungen“ gemacht, die so aussahen: Eine Tätigkeit in der Paketzustellung in Deutschland, von 4 Uhr morgens bis maximal 17 Uhr an fünf Tagen in der Woche und netto 1.400 Euro. Davon ist nicht viel übrig geblieben. Zur Unterkunft: Zur Zeit sind mehr als 20 Rumänen bei dem Subunternehmer beschäftigt, der sie in einer Pension untergebracht hat auf einem Dorf außerhalb der Stadt, die Pension gehört offensichtlich einem Freund des Unternehmers, der daran kräftig verdient. Denn sie müssen 250 Euro pro Monat und Person Miete zahlen, obgleich sie oft zu zweit oder dritt auf einem Einzelzimmer sind. „Wie in einer Höhle“ seien sie untergebracht, so einer der beiden Zeugen. Sie haben dort auch kein Telefon, kein Internet – offensichtlich werden sie abgeschottet und isoliert. Essen bekommen sie nicht gestellt, sie müssen versuchen, irgendwo in der nächst größeren Ortschaft hin und wieder einzukaufen und sie haben eine Küche für alle Bewohner der Pension.

Hinzu kommt: Selbst der karge Lohn für die Sklavenarbeit, die sie machen auf dem deutschen Paketmarkt, wird ihnen oft vorenthalten. 20 andere Rumänen sind schon wieder zurück in ihrer Heimat, ohne dass sie den ihnen zustehenden Lohn vom Arbeitgeber erhalten haben. Wir reden hier über ganz üblen Lohnklau, den wir leider auch in anderen Bereichen immer wieder feststellen müssen, wenn es um osteuropäische Wanderarbeiter geht: in der Fleischindustrie und vor allem auf dem Bau, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Natürlich fragen sich viele, warum die das trotzdem machen, warum schmeißen sie das nicht hin? Auch hier muss man wieder eintauchen in die Realität des Manchester-Kapitalismus auf deutschem Boden im Jahr 2015: Wenn sie von sich aus kündigen würden, dann gibt es so genannte „Vertragsstrafen“ für die Nicht-Erfüllung der vereinbarten Leistung.

Das alles ist schon unglaublich skandalös. Aber es gibt einen zweiten Skandal hinter diesem Skandal. Und in der Addition dessen, was von Gewerkschaftsseite dazu berichtet wurde, muss man von einem echten „Systemversagen“ des Staates sprechen:

Der Gewerkschaftssekretär Sigurd Holler sagte vor dem Tribunal aus, dass er in einer vergleichbaren Angelegenheit, also der Beschäftigung von Rumänen bei einen Subunternehmer, der für DPD fährt und der mittlerweile andere Subunternehmer verdrängt, weil er billiger ist, Politiker, Verbände und vor allem staatliche Stellen informiert hat über die skandalösen Arbeit- und Lebensbedingungen der Wanderarbeiter. Das bisherige Ergebnis: Von der Gewerbeaufsicht bekam er die Antwort, man könne derzeit keine Außenprüfungen mehr machen, weil der Landesrechnungshof ausgeführt hat, dort können weitere Stellen abgebaut werden, so dass man sparen müsse. Das Bundesamt für Güterverkehr (BAG) erklärte sich nur für den Verkehr (auf Autobahnen) zuständig. Vom Zoll habe es überhaupt kein Lebenszeichen, das Arbeitsministerium in Rheinland-Pfalz zeigte sich betroffen, hat auch nachgefragt, seitdem aber hat sich noch nichts getan. Und die Staatsanwaltschaft argumentiert, dass sie nur tätig werden könne, wenn ein Betroffener individuell Klage erhebe und am besten die Beweise gegen den Arbeitgeber gleich mitbringen würde. Auch GLS und DPD wurden informiert, von GLS gab es wie immer keine Reaktion und vom DPD die Aussage, man „prüfe“ das.

Was wir hier sehen ist das Ergebnis eines fatalen Zusammenspiels individueller Nicht-Zuständigkeiten, das sich im Kollektiv zu einem großen Systemversagen des Staates potenziert. Das wissen auch die Täter in der Branche und deshalb muss man von einer Mittäterschaft auf den Ebenen der Auftraggeber und der der staatlichen Kontrollbehörden sprechen.

Ich selbst habe in meiner „Aussage“ beim Tribunal versucht, das, was in dieser Branche passiert, systematisch einzubetten. Denn natürlich muss man die Frage stellen und zu beantworten versuchen, ob das nicht alles einige wenige „bedauerliche Einzelfälle“ sind oder ob dahinter ein System steckt, Strukturen erkennbar sind. Generell an dieser Stelle der Hinweis auf die Beiträge, die zum Thema Paketdienste und was da hinter der Fassade passiert, auf dieser Seite schon veröffentlicht worden sind.

„Das System lässt sich als eine organisierte Unverantwortlichkeit beschreiben. Denn durch die Subunternehmen können die Auftraggeber Druck ausüben und gleichzeitig ihre Hände in Unschuld waschen“, erklärte er. Branchenführer sei die Deutsche Post DHL (mit Delivery). Hinzu kämen aber noch UPS, GLS, DPD und Hermes, so Carina Schmidt in ihrem Artikel.

Das ist die eine Dimension. Wir sind konfrontiert mit einer pyramidalen Organisationsstruktur der Branche, wo die großen Konzerne an der Spitzen stehen und sich zahlreicher Subunternehmer bedienen, die wiederum den Druck weitergeben (müssen) an die bei ihnen Beschäftigten. Die obere Ebene kann im wahrsten Sinne des Wortes ihre Hände immer in Unschuld waschen und darauf verweisen, man habe sich doch von den Subunternehmen unterschreiben lassen, dass die sich an Recht und Gesetz halten. Die Subunternehmen selbst versuchen, auf dem Weg der (Selbst-)Ausbeutung den Kostendruck irgendwie zu bewältigen. Diese Konstruktionsprinzipien führen im Ergebnis dazu, dass am Ende keiner der Akteure der vorgelagerten Stufen noch zuständig erscheint, das Risiko und die Verantwortung wird einfach nach ganz unten, letztendlich bis zum einzelnen Fahrer runter gedrückt. Die andere Dimension, die wir zur Kenntnis nehmen müssen, ist die Rutschbahn nach unten, auf der sich die ganze Branche befindet. Wir haben (noch) eine „Mehr-Klassen-Gesellschaft“ innerhalb der Branche. An der Spitze stehen die Paketzusteller der Deutschen Post DHL, ausgestattet mit Arbeitsverträgen aus der „alten“ Tarifvertragswelt der Post, die aber leider mittlerweile als Auslaufmodelle bezeichnet werden müssen, denn die „neue“ Welt ist die der Billigtöchter der Deutschen Post DHL, also die Delivery-GmbHs, von denen es mittlerweile 49 gibt (übrigens nur in 7 gibt es überhaupt einen Betriebsrat und aufgrund der Zersplitterung in 49 rechtlich selbständige GmbHs kann es auch keinen Gesamtbetriebsrat geben – neben den deutlichen Gehaltseinbußen im Vergleich zur DHL „alt“ sind die Beschäftigten also auch mit einer deutlichen Schwächung der betrieblichen Mitbestimmung konfrontiert). Die Subunternehmen stehen ganz unten, am Ende der Nahrungskette.

Übrigens – das, was wir hier studieren müssen am Beispiel der Paketdienste, ist ja keine Singularität dieser Branche, sondern bettet sich leider ein in eine branchenübergreifende Entwicklungslinie: Das, was die Deutsche Post DHL Group mit den Delivery-Gesellschaften macht, erleben wir derzeit bei der Lufthansa mit dem Eurowings-Konzept, also dem Ausbau der Billigflieger-Schiene im Konzern. Wir erleben das seit der Aufhebung der Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags im Jahr 2000 im Einzelhandel in Form von Tarifflucht der Arbeitgeber und Lohndumping bei den Beschäftigten. Oder man denke an den Öffentlichen Personen-Nahverkehr (ÖPNV), wo es früher kommunale Verkehrsunternehmen gab und mittlerweile zahlreiche Strecken privatisiert wurden und von privaten Busunternehmen betrieben werden (zu häufig deutlich schlechteren Konditionen für die Beschäftigten).

Aber abschließend wieder zurück zu den Beschäftigten in den Paketdiensten. Sie bewegen sich auch deshalb in einer Boom-Branche, weil es eine sich entsprechend entwickelnde Nachfrage gibt. Insofern darf man die Kunden, also wir alle, nicht aus der Betrachtung und letztendlich Mitverantwortung entlassen. Ein wesentlicher Antreiber des Booms der Paketdienste ist die „Amazonisierung“ unserer Gesellschaft. Wenn man eine holzschnittartige Zusammenfassung bestimmter Trends auf der Kundenseite machen muss, dann könnte eine solche Gleichung rauskommen:

Online-Bestell-Boom + Billigmentalität und dann auch noch + tagsüber immer öfter keiner zu Hause, wohin aber bestellt wird = logistische Probleme der Paketzustellunternehmen und vor allem = Probleme für die Paketzusteller

Während die Paketzustellunternehmen versuchen, zum einen bei den Kunden oder einem Teil von ihnen, vor allem im Bereich der Städte, den „Do-it-yourself“-Trend zu verstärken (z.B. Paketboxen), sind die Auswirkungen der Entwicklung auf Seiten der Zusteller, also bei denjenigen, die die Arbeit machen, doppelt problematisch: Zum einen mehr Pakete pro Zusteller, zum anderen immer schwerere Pakete, denn anders als früher wird mittlerweile fast alles per Paketzustellung bestellt und versendet.

Es wird dringend Zeit, hier Ordnung zu schaffen, vorrangig im Interesse der Beschäftigten, aber auch vieler Subunternehmer, die als faktisch Scheinselbständige nur kleine Bausteine im großen Spiel der Konzerne sind. Dazu gehört neben Kontrollen und der Verfolgung der Missstände in der Branche eine Debatte über die Tarifverträge bis hin zur Allgemeinverbindlichkeit.

Aber auch die Auftraggeber können und müssen in die Verantwortung genommen werden bzw. sie können, das zeigt das folgende Beispiel, selbst aktiv Verantwortung übernehmen:

Den Beschäftigten der Stadt Kopenhagen ist es ab sofort untersagt, für Dienstreisen den Billigflieger Ryanair zu benutzen. Die Begründung: Das Lohndumping beim Konzern sei eine „Schweinerei“.
Es geht hier nicht um irgendeine kleine Kommune, sondern: Mit 45.000 Beschäftigten ist die Stadt Kopenhagen der größte Arbeitgeber des Landes. Wie begründet die Stadt diesen Schritt? Kopenhagen stelle gegenüber allen seinen Lieferanten die Bedingung, dass diese ihren Angestellten „anständige Lohn- und Arbeitsbedingungen garantieren“. Ansonsten würden diese bei Ausschreibungen und Lieferverträgen nicht berücksichtigt, erklärte der sozialdemokratische Oberbürgermeister der dänischen Hauptstadt, Frank Jensen. Selbst wenn der Billigflieger Ryanair das preisgünstigste Angebot unterbreiten solle, disqualifiziere er sich selbst, solange er sich bei seinen Anstellungsverhältnissen nicht an dänische Arbeitsmarktvorschriften halte – zumindest für von Dänemark ausgehende Flüge.
Acht weitere dänische Kommunen haben einen ähnlichen Schritt wie Kopenhagen angekündigt oder bereits umgesetzt.

Wie ich das finde? Gut so! Man muss sein eigenes Arbeitsmarktmodell nicht mit Füßen treten lassen.

Die gnadenlose Effizienzmaschine hinter Amazon wird gefeiert und beklagt. Und in Polen spürt man die handfesten Folgen, wenn man ein kleines Rädchen in der großen Maschine ist

Amazon wurde vor genau zwanzig Jahren – natürlich stilgerecht in einer kalifornischen Garage – gegründet und ist heute ein Megakonzern mit über 150.000 Mitarbeitern und einem weltweiten Nettoumsatz von 89 Mrd. US-Dollar, 11,9 Mrd. davon in Deutschland. Während in vielen Zeitungen Artikel erschienen sind, in denen der Aufstieg des Unternehmens teils aus skeptischer Distanz, nicht selten aber auch voller Bewunderung für die aggressive Unternehmensphilosophie behandelt wurde (vgl. als nur ein Beispiel von vielen den Kommentar Service-Monster aus Seattle von Caspar Busse), hat Michael Merz sein Geburtstagsständchen überschrieben mit Kein Tag zum Feiern.
Seine kompakte Sichtweise auf die Unternehmensgeschichte verdeutlicht der folgende Passus:

»Vor genau 20 Jahren verkaufte der Amazon-Patriarch Jeff Bezos das erste Buch via Internet. Ursprünglich wollte er seine Firma »Relentless« (englisch für gnadenlos, unerbittlich) nennen, womit er wohl für mehr Authentizität gesorgt hätte. Denn rücksichtslose Expansion kennzeichnen zwei Dekaden Amazon: Westeuropäische Erlöse wurden jahrelang in Luxemburg versteuert, Autoren und Verleger mit schlechten Konditionen geknechtet, etliche Buchläden aufgrund des Preiskampfs in den Ruin getrieben.«

Der Verdrängungswettbewerb werde auch auf dem Rücken der Mitarbeiter ausgetragen, so die Perspektive der Gewerkschaft ver.di. Und über die Arbeitsbedingungen bei Amazon wurde in den zurückliegenden Jahren in den Medien durchaus kritisch berichtet.

Seit zwei Jahren befinden sich Beschäftigte im Arbeitskampf um einen Tarifvertrag. Immer wieder kommt es zu Streiks an den neun deutschen Standorten. Bislang allerdings haben diese Aktionen nicht wirklich Wirkung entfaltet (bzw. aufgrund der Bedingungen vor Ort nicht entfalten können). Ver.di will Verträge nach den Konditionen des Einzel- und Versandhandels durchsetzen. Diese werden weiterhin verwehrt. Das Unternehmen beharrt darauf, in Anlehnung an den schlechteren Logistik-Tarif zu vergüten. Lediglich kleine Verbesserungen gibt es: dezentrale Pausenräume, Klimaanlagen, Wasserspender.

Auf der anderen Seite wird von denjenigen, die Amazon weniger kritisch sehen, immer wieder darauf hingewiesen, dass in den deutschen Logistikzentren – in denen es mittlerweile überall Betriebsräte gibt – der niedrigste Einstiegslohn (in Leipzig) bei 9,75 Euro liegt und damit deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn – und das Amazon tatsächlich relativ vorbehaltlos auch bislang langzeitarbeitslosen Menschen eine Chance gibt. Wenn sie funktionieren, denn die Arbeit der „Picker“ und „Packer“ ist hart und die Leistungsanforderungen hoch und die Beschäftigten werden einem rigiden Controlling unterworfen. Das erklärt teilweise auch die erheblichen Schwierigkeiten der Gewerkschaft, einen Fuß in die Tür der Belegschaft zu bekommen, nicht nur, weil viele befristet arbeiten müssen, sondern gerade die vorher längere Zeit der Arbeitslosigkeit ausgelieferten Mitarbeiter von Amazon sind froh überhaupt wieder eine Beschäftigung bekommen zu haben.

Aber das Unternehmen plant vor und will zum einen gerüstet sein, wenn die Kollektivierungstendenzen in Deutschland stärker werden, vor allem aber, wenn die Kosten weiter gedrückt werden können und müssen, denn das ist in der Unternehmens-DNA von Amazon eingebrannt: Also hat man beispielsweise in der Nähe von Breslau neue Logistikzentren errichtet, die überwiegend in Deutschland lebende Kunden von Amazon bedienen und deren Beschäftigte deutlich „günstiger“ sind als die in Deutschland.

Amazon in Polen (und der Tschechei) – was da nicht was? Bereits  am 25. November 2013 konnte man in diesem Blog eine Aussicht auf das, was jetzt genauere Formen annimmt, lesen: Von „Work hard. Have fun. Make history“ bei Amazon zur Proletarisierung der Büroarbeit in geistigen Legebatterien. Streifzüge durch die „moderne“ Arbeitswelt, so ist der damalige Beitrag überschrieben worden. Dort konnte man den folgenden Passus lesen:

»Eines ist ganz sicher – die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di nervt Amazon mit ihrer impertinenten Forderung nach einem Tarifvertrag für die Beschäftigten in den deutschen Warenverteilzentren des Weltkonzerns. Deshalb lässt Amazon ja auch schon mal sicherheitshalber neue Logistik-Zentren in der Tschechei und Polen errichten – „natürlich“ auf gar keinen Fall mit der Absicht, die Arbeit dann aus dem für Arbeitgeber „anstrengenden“ Deutschland in die angenehmer daherkommenden Ostländer zu verlagern und die Standorte in Deutschland auszudünnen oder gar aufzugeben. Was natürlich nicht für die Belieferung des deutschen Marktes gilt, denn der ist richtig wichtig für Amazon, hier wird Marge gemacht und dass soll auch so bleiben – bereits 2012 hat Amazon in Deutschland 6,4 Milliarden Euro umgesetzt und damit seit 2010 um 60 Prozent zugelegt. Und geliefert werden kann auch aus Polen und der Tschechei.«

Und in einem Beitrag am 10. August 2014 musste dann nachgelegt werden: Amazon mal wieder. Ab in den Osten und zurück mit dem Paketdienst: »Und jetzt, im August 2014, wird klar, dass es bei den neuen Logistik-Zentren in unseren Nachbarstaaten natürlich nicht um die Belieferung des osteuropäischen Marktes geht bzw. wenn, dann nur sekundär, sondern um eine strategische Alternative zu diesen unbotmäßigen und übergriffigen Arbeitnehmern bzw. Gewerkschaften in den deutschen Standorten. Amazon verlangt von deutschen Verlagen, dass sie Bücher verstärkt über ausländische Versandzentren schicken, um als ein Ergebnis daraus die potenziell streikgefährdeten deutschen Logistikstandorte umgehen zu können … Dass der Versender durch seine Umgehungstaktik mittelfristig massiv Arbeitsplätze an seinen deutschen Standorten gefährdet, liegt auf der Hand. Die Löhne in Polen und Tschechien liegen teilweise um mehr als die Hälfte niedriger als in Deutschland.«
Hinsichtlich des letzten Punktes, also des Lohnkostengefälles, muss der damalige Beitrag korrigiert bzw. präzisiert werden. Denn mittlerweile wissen wir mehr über die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort, zumindest in Polen, denn dort beginnt man auf der einen Seite zu begreifen, wofür man gebraucht wird und zugleich sprießen erste Pflänzchen der Kollektivierung auch dort.

Darüber berichtet Jörg Winterbauer in seinem Artikel Die „Versklavung“ der polnischen Amazon-Mitarbeiter: »13 Zloty pro Stunde verdienen die Arbeiter: drei Euro. Stühle gibt es nicht, dafür unbezahlte Überstunden. In Polen bekommt Amazon jetzt Ärger mit staatlichen Prüfern – und den eigenen Angestellten.«

Wie immer ist man mit großen Hoffnungen gestartet: »Als Amazon Ende 2014 seine Versandzentren in Polen eröffnete, war die Freude groß. Janusz Piechocinski, der Wirtschaftsminister, bezeichnete die Investitionen als einen „Meilenstein“ für die Wirtschaft Polens. Und Amazon kündigte an, Tausende neue Jobs zu schaffen – in Polen, einem Land mit einer Arbeitslosenquote von etwa zwölf Prozent, wurde diese Nachricht sehr positiv aufgenommen.« Und für das Unternehmen Amazon sind Breslau und Posen ideale Standorte, denn die Kombination aus unmittelbarer geografischer Nähe zu dem riesigen Markt Deutschland und sehr niedrigen Löhnen gibt es so sonst nur noch in Tschechien.
Und hier gleich die Korrektur bzw. Präzisierung des Lohngefälles aus meinem Beitrag vom 10. August 2014:

»Amazon findet in Polen Angestellte für die überwiegend sehr einfachen Tätigkeiten, die in den Amazon-Logistikzentren zu verrichten sind, zu einem Viertel des deutschen Preises: 12,50 Zloty bekommt ein einfacher Lagerarbeiter brutto in Breslau und 13 Zloty in Posen – das sind etwa drei Euro.«

Doch jetzt, nach der Eröffnung und Inbetriebnahme der drei Logistik-Zentren in Polen zeigt sich, dass Amazon Probleme mit staatlichen Behörden und unzufriedenen Angestellten bekommt. Die Staatliche Arbeitsinspektion (PIP), die in Polen die Einhaltung des Arbeitsrechts in den Betrieben kontrolliert, hat eine große Anzahl an Verstößen in Breslau aufgedeckt. Überstunden wurden nicht bezahlt oder bei Abwesenheit wegen Krankheit oder Schwangerschaft wurde – entgegen den gesetzlichen Vorschriften – kein Lohn gezahlt.

Auch »die Gewerkschaften haben unter den Angestellten von Amazon Mitglieder gewonnen und erheben ihre Forderungen. Bei Amazon in Breslau ist vor allem die Gewerkschaft Solidarnosc (Solidarität) aktiv.« Von dieser Seite wird nicht nur die – gerade im Vergleich zu Deutschland – extrem niedrige Bezahlung kritisiert, sondern auch, »dass die Hälfte der Arbeiter bei Amazon über Zeitarbeitsfirmen angestellt seien, die ihre Angestellten „wie Sklaven behandeln“.«

Und der folgende Passus verdeutlicht, dass die neuen Zentren entgegen der Unternehmenspropaganda sehr wohl in einem funktionalen Zusammenhang gesehen werden müssen mit den gewerkschaftlichen „Umtrieben“ in Deutschland und zugleich kann man aber auch eine positive Botschaft der Solidarisierung entnehmen:

»Am 24. und 25. Juni wurden die Schichten für die Arbeiter von zehn auf elf Stunden verlängert, berichtet die PIP. Zu dieser Zeit streikten Angestellte der meisten deutschen Amazon-Versandzentren. In der Nachtschicht vom 24. auf den 25. Juni gab es einen Spontan-Protest in Posen: Ein Teil der Belegschaft verlangsamte die Arbeit in der elften Stunde, um seine Unzufriedenheit mit den Arbeits- und Lohnbedingungen und die Solidarität mit den deutschen Amazon-Angestellten auszudrücken.«

Denjenigen, die mit guten Gründen die Arbeitsbedingungen bei Amazon kritisieren, mag es kein Trost sein sehen zu müssen, dass es den Beschäftigten, auch denen aus der Verwaltung bis zum Management in den USA nicht wirklich besser zu gehen scheint, was vielleicht auch mit erklären kann, warum die Forderungen von ver.di für dieses amerikanische Unternehmen „mysteriös“ daherkommen. So berichtet Christian Rickens in seinem Artikel Wie ein Unternehmen uns alle verändert hat:

»… trotz seiner Größe hat sich Amazon viel von einem Start-up bewahrt. Ein ehemaliger Mitarbeiter spottet sogar, das Unternehmen vereine von beiden Welten das Schlechteste: das Chaos, die langen Arbeitstage und die fehlenden Gewinne eines Start-ups mit der Knickerigkeit und der Bürokratie eines Konzerns.
Noch immer hausen in der Amazon-Zentrale in der Innenstadt von Seattle viele Manager in fensterlosen Arbeitsboxen, die aus rohen Spanplatten zusammengezimmert sind – Verpackungsabfälle aus den Amazon-Logistikzentren. Und weil es hier noch immer keine Kantine gibt, stauen sich um die Mittagszeit die Food Trucks zwischen den Büroklötzen. Von Gratis-Sushi wie bei Google können die Amazon-Mitarbeiter nur träumen. Flüge in der Business Class? Bei Amazon ebenso verpönt wie Powerpoint-Präsentationen.
Vielleicht trägt diese Käfighaltung der Amazon-Mitarbeiter dazu bei, dass das Unternehmen auch nach 20 Jahren nichts von seinem Wettbewerbsgeist verloren hat.«

Aber Amazon hat nicht nur hinsichtlich der Beschäftigungsbedingungen ein dickes Fragezeichen verdient, auch die Auswirkungen des Geschäftsmodells auf den stationären Einzelhandel, auf die vielen Online-Händler, die sich auf dem Amazon-Marktplatz als Heerschar kleiner Handelsameisen verdingen bis hin zu den Kunden, die die Monopolisierung wichtiger Teilbereiche des Online-Handels irgendwann einmal bezahlen werden müssen. Hinzu kommt der Boom der Paketdienste und der enorme Preisdruck, den solche „Mega-Kunden“ wie Amazon hier ausüben kann und das auch tut.

»Dass Jeff Bezos es ernst meint, wenn er, wie er einmal sagte, Geschäftspartner wie »kranke Gazellen« jagt, musste zuletzt die Deutsche Post erfahren. Am Mittwoch wurde kolportiert, Amazon sei dabei, einen eigenen Lieferservice zu installieren – für die Post wäre das ein schwerer Schlag«, so Michael Merz in seinem Artikel.

Hinsichtlich des Kampfes der Gewerkschaft ver.di kann man sich informieren über deren Sicht auf das Unternehmen Amazon auf einer eigenen Webseite unter http://amazon-verdi.de.

Ansonsten sei hier die folgende Reportage aus der Sendereihe ZDFzoom empfohlen, die einen besonderen und kritischen Blick wirft auf das „Ausbeutungssystem“ gegenüber den vielen kleinen Händlern, die sich Amazon unterwerfen (müssen):

ZDFzoom: Die Macht von Amazon. Günstig, aber gnadenlos? (17.06.2015): »Der Online-Handel boomt, allen voran: Amazon. Schon heute wird etwa ein Viertel des gesamten deutschen Onlinehandels von Amazon organisiert. Auch kaum ein Verkäufer kommt am US-Konzern vorbei. Der Grund: Amazon fährt eine Niedrigpreisstrategie, ist Preisbrecher für den Verbraucher. Doch was die Kunden freut, ist für Verkäufer bitter.«