Elfenbeinturm gegen altes Zunftdenken? Zur Debatte über Teilqualifizierungen für Flüchtlinge

Man könnte es für eine dieser typischen und oftmals entnervenden, weil nicht wirklich weiterführenden reflexhaften Debatten halten: Aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft kommt ein Vorschlag zum Umgang mit einem drängenden gesellschaftlichen Problem – und die etablierten Akteure gehen sofort in Abwehrstellung und fahren mit der „Geht auf gar keinen Fall“-Planierraupe über das zarte Gewächs. Unter gegenseitigen, zuweilen öffentlichkeitswirksam inszenierten Vorwürfen im Spektrum von irrlichternde Theoretiker und eigennutzoptimierende Besitzstandwahrer verschwindet dann das Thema des Streits von der Bildfläche. Aber zuweilen macht man dann die Erfahrung, dass Teile dessen, über das gestritten wurde, zu einem späteren Zeitpunkt dann doch Eingang finden in die Gesetzgebung, natürlich in bearbeiteter, also modifizierter Form. Und hin und wieder erkennt man an dem Streit auch Grundsatzprobleme unserer gesellschaftlichen Konfiguration, die auch scheitern kann an einer sich verändernden Wirklichkeit. Diese einführenden Hinweise sollen für ein Thema sensibilisieren, dessen Behandlung in der öffentlichen Arena immer buntere Blüten treibt, was nicht verwunderlich ist angesichts der ganz handfest-praktischen Probleme des „Handlings“, wie aber auch der vielen Erwartungen – und das dann noch garniert mit einer enormen Emotionalisierung innerhalb der Bevölkerung, was wiederum die Politiker nervös werden lässt.
Es ist unschwer zu erraten, dass es hier um Flüchtlinge geht, konkreter um einen Teil der Flüchtlinge betreffend, die (möglichst schnell) in den Arbeitsmarkt integriert werden sollen.

Was ist passiert? Aus dem ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München unter (Noch-)Leitung des  umtriebigen Hans-Werner Sinn ist hinsichtlich der von allen sicher gewollten Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen ein Vorschlag gekommen, wie man diese ermöglichen und beschleunigen könne. Schon für die erste Stufe, die gezündet wurde, hat man sich des politisch (und auch innerhalb der Wissenschaft) höchst kontrovers diskutierten Reizthemas „Mindestlohn“ angenommen. In einem Artikel mit der knackigen Überschrift Ohne Abstriche beim Mindestlohn finden viele Zuwanderer keine Arbeit doziert er: »Viele Migranten sind schlecht qualifiziert und haben Sprachprobleme. Damit sie trotzdem eine Arbeit finden, bedarf es einer stärkeren Lohnspreizung in Deutschland.«
Der neue Vorstoß kommt nun von Ludger Wößmann, den Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik. Der hat ausgeführt:

„Bei der beruflichen Qualifikation dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben“, sagt Wößmann. Ein großer Teil der Flüchtlinge komme mit geringen Qualifikationen. „Deshalb brauchen wir jetzt pragmatische Lösungen, um möglichst vielen Flüchtlingen eine Chance auf eine schnelle Integration in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen.“

Da kann man mitgehen. Aber die Frage ist natürlich immer, was versteht man unter pragmatischen Lösungen, wie sieht das konkret aus. Wößmann versucht das zu leisten, folgt man dem Artikel Flüchtlinge brauchen schnellen Zugang zu Kitas, Schulen und Berufsausbildung auf der ifo-Website:

»Dazu gehöre die einjährige Aussetzung von Hemmnissen wie Wartefristen und Vorrang-Prüfungen und die Gleichsetzung von Flüchtlingen mit Langzeit-Arbeitslosen bei der Ausnahmeregelung vom Mindestlohn, damit Unternehmen bereit sind, Flüchtlinge einzustellen. Für junge erwachsene Flüchtlinge sollten ein- bis zweijährige teilqualifizierende Berufsausbildungen kurzfristig massiv ausgebaut werden. „Wir können nicht alle Flüchtlinge zu Mechatronikern ausbilden, aber für teilqualifizierte Landschaftsgärtner oder Helfer in der Alten- und Krankenpflege könnte es am deutschen Arbeitsmarkt viel Potenzial geben“, sagt Wößmann.«

Das ist eine Steilvorlage für die Gewerkschaften, wie man sich vorstellen kann. Der DGB hat auch prompt reagiert: Keine „Schmalspur-Ausbildung“ für Flüchtlinge. Offensichtlich ist man im Gewerkschaftslager ziemlich angefressen, was die harsche Formulierung der stellvertretenden DGB-Vorsitzende Elke Hannack erklären mag:

„Was beim Mindestlohn nicht gelungen ist, versuchen arbeitgebernahe Bildungsforscher nun bei der Ausbildung durchzusetzen: Wichtige soziale Standards sollen geschliffen werden, um Flüchtlinge als billige Arbeitskräfte auszubeuten. Flüchtlinge dürfen keine Auszubildenden zweiter Klasse werden. Die Folgen einer solchen Sonderregelung wären fatal: Unterhalb einer vollwertigen Ausbildung gäbe es dann noch einen parallelen Markt mit Häppchen-Ausbildungen, die die Menschen auf schlechte Arbeit in prekären Verhältnissen vorbereiten. Echte Perspektiven entstehen für Flüchtlinge so nicht. Zudem könnten ’normale‘ Ausbildungsplätze durch die Billig-Variante verdrängt werden.“

Aber die Gewerkschaften bleiben nicht allein in ihrer Ablehnung der Wößmann’schen Vorschläge. Sie bekommen Geleitschutz von der Arbeitgeber-Seite, kann man dem Artikel Teilqualifizierung für Flüchtlinge: Kritik vom ZDH und DGB entnehmen:

»Auch der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) hält eine Teilqualifizierung von Flüchtlingen nicht für sinnvoll. „Die berufliche Ausbildung mit dem Ziel des Gesellenabschlusses ist eine ganzheitliche Ausbildung, die über die Dauer von in der Regel drei Jahren Theorie und Praxis umfassend miteinander verzahnt“, erläutert Hans Peter Wollseifer, Präsident des ZDH. Am Ende ihrer Lehrzeit seien die jungen Menschen fit für das Berufsleben. „Teilausbildungen können dies nicht leisten“, betont der Handwerkspräsident. Auch der ZDH ist der Meinung: Jungen Flüchtlingen wäre mit Teilqualifizierungen vor allem im Hinblick auf eine spätere Berufstätigkeit nicht geholfen. Zwar könnten im Vorfeld erbrachte Leistungen berücksichtigt und die Lehrzeit damit gegebenenfalls verkürzt werden. Wollseifer: „Für junge Flüchtlinge dürfte das aber nur in Ausnahmen der Fall sein, da hier in der Regel erst einmal die für einen guten Ausbildungsabschluss erforderlichen Deutschkenntnisse erworben werden müssen.“«

Da sind wir bei einem zentralen Punkt angekommen. Der Flaschenhals für eine gelingende Integration in den Arbeitsmarkt wird die Sprache sein. Und hier muss man sich zwei elementaren Herausforderungen stellen: Zum einen ist das Angebot an Sprachkursen angesichts der Menge an Flüchtlingen und damit der eigentlichen Bedarfe völlig unterdimensioniert, aber auch die Fachkräfte dafür lassen sich nicht per Knopfdruck produzieren. Zum anderen muss man sehen, dass diese unverzichtbare Vorbereitung für die meisten sich daran anschließenden Qualifizierungsbemühungen nicht nur (erst einmal) Geld kostet, sondern vor allem auch Zeit, die eine schnelle Integrationsperspektive doch arg eintrüben muss. Deutsch ist eine schwere Sprache und für viele Flüchtlinge eine besonders schwere. Wir mögen uns alle einfach mal spiegelbildlich vorstellen, wir würden in arabische Länder gehen (müssen) und sollten dann deren Sprache erlernen.

Man kann es drehen und wenden wie man will: Natürlich ist es so, dass wir Zeit und erhebliche Investitionen aufbringen müssen, um einen Großteil der Flüchtlinge, die bleiben werden, vorzubereiten und schrittweise in Lohn und Brot zu bringen. Wir reden hier über mehrjährige Zeiträume. Natürlich wird es immer auch Branchen oder einzelne Tätigkeitsfelder geben, wo man Flüchtlinge, die keine oder nur marginale Deutsch-Kenntnisse haben, arbeiten lassen kann. Um nur ein Beispiel zu Illustration zu nennen: Man kann sich schon vorstellen, dass es eine solche Konstellation geben kann in einer Großküche eines Caterina-Unternehmens. Dort gibt es Arbeiten, für die man nicht wirklich Deutsch sprechen muss. Wenn man dort Flüchtlinge einstellen und beschäftigen würde, könnte und müsste man das sogar verbinden mit Sprachkursen, die parallel zur Arbeit zu absolvieren wären, ähnlich wie bei einer dualen Berufsausbildung die Praxisphasen im Betrieb und die Zeiten in der Berufsschule abwechselnd den Arbeits- und Lernalltag der Auszubildenden bestimmen.

Zugleich kann man sich aber auch vorstellen, was es bedeutet, wenn man hier aus scheinbar plausiblen Flexibilitätsüberlegungen die Anforderungen absenkt oder auf begleitende Qualifizierungsmaßnahmen sogar ganz verzichtet, denn die Betroffenen haben dann ja einen Job. Und wenn dann die Flüchtlinge, von denen sicherlich sehr viel hoch motiviert und bereit sind, jede Beschäftigung anzunehmen, auch noch „billiger zu haben“ wären, weil man bei ihnen den Mindestlohn ausgesetzt hat, dann wird klar, in welche Richtung aus einer nachvollziehbaren betriebswirtschaftlichen Logik heraus die Auswahlentscheidung der Unternehmen beispielsweise im Vergleich mit anderen Arbeitslosen ausfallen wird, was wiederum faktisch den Konkurrenzdruck in den unteren Etagen des Arbeitsmarktes nach oben treiben wird.

Wir sind erst am Anfang einer langen Wegstrecke und man sollte neben allen Versuchen, im Einzelfall schnell und unbürokratisch vorzugehen und den einen oder anderen in Arbeit zu bringen, den Blick auf das Ziel einer nachhaltigen Integration nicht aus den Augen verlieren. Welche unterschiedlichen Maßnahmen eigentlich ergriffen werden müss(t)en, verdeutlicht beispielsweise die Auflistung in diesem Positionspapier des DGB: DGB Bundesvorstand: Teilhabechancen eröffnen. Zugänge in Bildung, Ausbildung, Studium und Qualifizierung für junge Flüchtlinge schaffen, Berlin, 14.09.2015.

Und der Beitrag soll beendet werden mit einem Blick auf die als zentrale Gelingensbedingung für eine erfolgreiche Integration in Arbeit von allen Seiten herausgestellten Sprachkurse. Hier erreicht uns eine frohe Botschaft:
„Sprachförderung als Basis für Integration in Arbeit“ – wer kann da nicht zustimmen? So ist eine Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit überschrieben. Und dann erfahren wir: Der Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit (BA) hat beschlossen, Sprachkurse für Flüchtlinge schnell und flächendeckend anzubieten. Gerade die sind dringend erforderlich, um überhaupt erst mal die Voraussetzungen zu schaffen für eine mögliche Integration in den Arbeitsmarkt. Viele Medien werden die frohe Botschaft unter die Leute bringen.

Da ist man fast geneigt, von einer kritischen Kommentierung abzusehen, nur um das Glück nicht zu stören. Aber dieser Impuls verblasst nach einem kurzen Moment. Eine kritische Anmerkung sollte wenigstens gemacht werden.

Um die einordnen zu können, zuvor ein Blick auf das, was da beabsichtigt ist:
Der Verwaltungsrate hat entschieden, dass die BA ihr Engagement bei der Sprachförderung »einmalig« ausweiten wird. Denn eigentlich ist das nicht ihre Aufgabe. Grundlage »dafür ist die geplante Rechtsänderung im SGB III im Rahmen des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes. Diese Änderung ermöglicht es der BA, zeitlich begrenzt Sprachkurse für Flüchtlinge zu fördern, wenn diese Kurse bis zum 31. Dezember 2015 beginnen.«

Annelie Buntenbach vom DGB-Bundesvorstand, derzeit Vorsitzende des Verwaltungsrats, wird mit diesen Worten zitiert:

„Wichtig dabei ist: Es handelt sich bei der Förderung um zusätzliche Mittel, die wir aus unserer Interventionsreserve im Haushalt freigeben. Damit entstehen auch keine Nachteile in der Förderung für andere Arbeitsuchende.“

Bei so einer Argumentation nach dem Muster der Vorwärtsverteidigung könnte der Berufsskeptiker aus dem Stand-by-Modus erwachen und die Frage stellen, was sind denn das für Mittel und woher kommen die?

»Es wird erwartet, dass bis zu 100.000 Menschen von dieser ersten Sprachförderung profitieren können. Ziel ist es, erste Kenntnisse der deutschen Sprache zu vermitteln. Die voraussichtlichen Kosten der Förderung werden zwischen 54 Millionen und 121 Millionen Euro liegen – je nach Ausgestaltung der Maßnahmen und nach der Teilnehmerzahl, die in diesem Jahr erreicht werden kann.«

Eine ordentliche Summe, aber angesichts des Bedarfs und was man damit machen kann, sicher eine sinnvolle Ausgabe. Denn die Sprachförderung der Flüchtlinge ist eine ganz zentrale gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sie ist ja nicht nur für die Aufnahme irgendeines Jobs eine wichtige Voraussetzung, auch andere wichtige Aspekte einer von den meisten Menschen angestrebten (und zunehmend von vielen Politikern auch immer stärker eingeforderten) Integration der Flüchtlinge in unsere Gesellschaft setzen Sprachkenntnisse voraus.

Wenn das so ist, dann muss dieses Angebot – das unbedingt noch deutlich stärker ausgebaut werden muss, um das hier unmissverständlich zu formulieren – aus Steuermitteln finanziert werden.
Jeder, der weiß, was sich hinter dem Begriff „Verschiebebahnhof“ verbirgt, ahnt, was jetzt kommt. Die Millionen fließen nicht aus der Schatulle des Bundesfinanzministers, die sich aus Steuereinnahmen speist, sondern es handelt sich um Beitragsmittel der Arbeitslosenversicherung. Diese werden für eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe – sagen wir es ruhig in der alten ordnungspolitisch fundierten Terminologie – zweckentfremdet. Für etwas, das gefälligst über Steuermittel finanziert werden müsste, sollte, hätte …

Aber haben wir nicht eben lesen können, dass es sich um zusätzliche Mittel handelt, also keine Nachteile für Arbeitslose entstehen?

Die Auflösung liegt in dem Begriff „Interventionsreserve“. Hierbei handelt es sich um Beitragsmittel der Versicherten, die man zurückgelegt hat, um im Falle einer neuen Krise auf dem Arbeitsmarkt über Geldreserven zu verfügen. Denn einen Bundeszuschuss gibt es für die BA nicht mehr, der wurde abgeschafft.

Man nimmt also Geld aus dem Sparschwein der Arbeitslosenversicherung, nur um den Bundesfinanzminister seine Glücksgefühle über die hingerechnete „schwarze Null“ nicht zu versauen, die sein Lebenswerk krönen soll.

Auch wenn Ordnungspolitik verstaubt und muffig daherkommt – das ist keine korrekte Finanzierung, wieso sollen nur die Beitragszahler für Sprachkurse zahlen? Und mal in die Zukunft gedacht: Wenn man die Reserven der Arbeitslosenversicherung plündert, wird man den Beitragssatz bei einer schlechteren Arbeitsmarktlage schneller erhöhen müssen. Wetten, dass dann wieder bitterlich geklagt wird über die steigenden „Lohnnebenkosten“, deren Anstieg „natürlich“ dringend über „Reformen“ abgebremst werden muss, damit die Arbeitgeber nicht „überlastet“ werden?

Lidl erobert den britischen Markt – und jetzt auch die Herzen der Niedriglöhner. Löhne rauf statt runter

In der deutschen Diskussion über Arbeitsbedingungen im Einzelhandel geht es seit Jahren um Lohndumping, beispielsweise durch unbezahlte Überstunden und generell ein „hartes“ Arbeitsklima. Unzählige kritische Berichte sind in den vergangenen Jahren dazu ausgestrahlt worden und fast alle Unternehmen tauchen dabei mehr oder weniger oft auf. Der Discounter Netto ist so ein Fall für eine sehr häufige negative Medienpräsenz, ohne dass das bislang zu größeren Verhaltensänderungen geführt hat. Aber auch Edeka taucht in letzter Zeit öfter auf. Und der eine oder andere wird sich erinnern – vor einigen Jahren war Lidl im Visier der kritischen Beobachter. Dem Artikel Die Ohnmacht der Beschäftigten von Martin Kempe aus dem Jahr 2014 können wir die folgende Erinnerung entnehmen:

»(Am) 10. Dezember 2004, dem „Tag der Menschenrechte“, hat die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di eine breit angelegte Kampagne in einem Unternehmen gestartet, das – ähnlich wie Amazon – allgemein bekannt ist und dessen Geschäftsmodell durch den Slogan „Billig auf Kosten der Beschäftigten“ zutreffend beschrieben wurde.
Auf einer gut besuchten Pressekonferenz stellte Verdi das „Schwarzbuch Lidl“ vor: Ein medialer Paukenschlag. Nahezu die gesamte Tagespresse berichtete an prominenter Stelle über die skandalösen Arbeitsbedingungen, über systematische Schikanen, aufgezwungene unbezahlte Mehrarbeit sowie Druck und Drohungen gegen Beschäftigte, die ihr Recht auf die Wahl eines Betriebsrats wahrnehmen wollten.
Rund zwei Jahre später legte der Journalist Andreas Hamann, der zusammen mit anderen das Schwarzbuch recherchiert und verfasst hatte, mit dem „Schwarzbuch Lidl Europa“ nach: Sogar in den Billiglohnländern Süd- und Osteuropas profilierte sich der „Schwarz-Konzern“ (nach dem Lidl- und Kaufland-Eigentümer Dieter Schwarz) als Lohndrücker und Billigkonkurrenz für einheimische Einzelhändler.«

Die Lidl-Kampagne kann man rückblickend als eine große Erfolgsstory der Gewerkschaft ver.di bezeichnen, an die man später immer wieder anzuknüpfen versuchte. Das Unternehmen kam erheblich unter Druck und hat seitdem tatsächliche oder zumindest proklamatorische Veränderungen vorgenommen, um sich aus der Kritiklinie zu nehmen. Auf der anderen Seite ist es »nicht gelungen, eine nennenswerte Anzahl von Betriebsräten zu installieren, die als gewerkschaftliche Organisationskerne hätten fungieren können. Es gab zwar im Verlauf der Kampagne einen deutlichen Mitgliederzuwachs unter den Lidl-Beschäftigten, aber eine effektive gewerkschaftliche Gegenmacht innerhalb des Unternehmens konnte nicht aufgebaut werden«, so Kempe in seinem Rückblick.

Der Konzern hingegen hat seine Öffentlichkeitsarbeit professionalisiert. In den ersten Wochen und Monaten des Jahres 2015 diskutierte man (über)aufgeregt über die am Jahresanfang erfolgte Scharfstellung des gesetzlichen Mindestlohnes in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde für alle, die nicht unter Ausnahmeregelungen fallen. Gut platziert in diese Zeit wurde dann die folgende frohe Botschaft unters Volks gestreut: »Die Discount-Kette Lidl erhöht den intern bezahlten Mindestlohn für die Mitarbeiter in Deutschland zum 1. Juni auf 11,50 Euro … Die 11,50 Euro seien ein Einstiegsentgelt, das auch dann bezahlt werde, wenn der tarifliche Lohn niedriger sei – auch bei geringfügiger Beschäftigung«, berichtete Susanne Preuss in ihrem Artikel Lidl erhöht den internen Mindestlohn. Es gab – wie erwartet und geplant – große Aufmerksamkeit und Zustimmung in den Medien. Nun ist er damit verbundenen Anstieg nicht wirklich besonders sensationell, denn man muss wissen, dass seit knapp zwei Jahren die Lidl-Beschäftigen durchweg mindestens 11 Euro die Stunde verdienen. Was ist diese Anhebung des Mindestlohns von 4,5 Prozent (die ja auch nur einen Teil der Belegschaft überhaupt betrifft) gegen eine durchschnittliche Anhebung der Löhne um 14 Prozent. Um die Größenordnung geht es bei Lidl. In Großbritannien.

Genau. Großbritannien. Die meisten Menschen bei uns verbinden Lidl (nur) mit Deutschland, dabei handelt es sich um einen international aufgestellten und vor allem auch international wachsenden Konzern. Nur zwei Zahlen: In Deutschland hat Lidl im Jahr 2014 einen Umsatz in Höhe von 18,6 Milliarden Euro erzielt, weltweit waren es 59 Milliarden Euro. Und gerade in Großbritannien können wir mitverfolgen, was es bedeutet, wenn die deutschen Discounter von „Expansion“ sprechen.

Sebastian Borger bringt es auf den martialischen Punkt: Aldi und Lidl erobern die Insel. »In Großbritannien eilen die deutschen Discounter Lidl und Aldi Süd von einem Erfolg zum anderen. Der Siegeszug scheint unaufhaltsam.« Aldi, genauer: Aldi Süd, wagte 1990 den Sprung über den Kanal, Lidl folgte vier Jahre später. Anfangs waren die beiden nur ganz kleine Anbieter, aber seit 2008 explodiert die Erfolgsgeschichte der deutschen Discounter im Vereinigten Königreich. Lidl hat derzeit knapp 600 Filialen auf der Insel, die auf 1.200 verdoppelt werden sollen. Derzeit »liegt Aldi auf Platz sechs mit einem Marktanteil von 5,6 Prozent, Lidl (4,1 Prozent) nimmt Platz acht ein. Damit sind die Deutschen weit entfernt von etablierter Konkurrenz wie Wm Morrison (10,8), dem traditionsreichen Sainsbury-Konzern (16,6) oder der Walmart-Tochter Asda (16,6), vom Marktführer Tesco (28,3) ganz zu schweigen«, so Sebastian Borger. Aber sie wachsen und wachsen. Festzuhalten bleibt: Die deutschen Diskonter Lidl und Aldi führen seit Jahren einen aggressiven Preiskrieg und haben die Supermarkt-Landschaft in Großbritannien erheblich in Aufruhr versetzt. Alle großen Ketten wie Tesco und Sainsbury schrumpfen und verlieren Kunden, während Aldi und Lidl sprunghafte Wachstumsraten verzeichnen.

Und um zu expandieren, kann man nun versuchen, noch etwas billiger zu werden wie die Konkurrenz, die dann aber meistens sofort nachzieht, um das auch zu erreichen. Offensichtlich geht man aber bei Lidl in Großbritannien einen anderen Weg: Nicht die Löhne drücken, sondern im Gegenteil – Löhne rauf. Denn dadurch kann man sich natürlich ein positives Image verschaffen.

Das ist dann der Hintergrund für so einen Artikel: Lidl to pay 9,000 staff the full living wage. Der aufmerksame Leser wird sofort darauf gestoßen sein, dass hier nicht etwa vom „national minimum wage“, also dem Mindestlohn, die Rede ist, sondern vom „full living wage“. Das ist nicht nur semantisch ein Unterschied, der sich für die Betroffenen auszahlt. Lidl UK hat angekündigt, ab dem kommenden Monat 9.000 seiner 17.000 Mitarbeiter rund 1.200 Pfund (1.647 Euro) pro Jahr mehr zu bezahlen als bislang. Der Lidl-Mindestlohn pro Stunde steigt mit dem Schritt auf 8,20 Pfund in weiten Teilen Großbritanniens und auf 9,35 Pfund in der Hauptstadt London. Derzeit zahlt Lidl 7,30 Pfund außerhalb Londons und 8,03 Pfund in der Metropole. Mit der neuen Lohntabelle liegt Lidl um fast ein Pfund pro Stunde über der Konkurrenz. Vgl. dazu auch die Meldung Lidl zahlt britischer Belegschaft freiwillig mehr.

Der staatliche Mindestlohn liegt derzeit bei 6,50 Pfund und die konservative Regierung hat eine Anhebung auf 7,20 Pfund ab April 2016 angekündigt. Bis 2020 soll er dann auf 9 Pfund ansteigen, allerdings beide Erhöhungen nur für die über 25-Jährigen. Die Anhebung des Lidl-Mindestlohns gilt hingegen für alle, auch jüngere Beschäftigte.

Lidl folgt mit der Erhöhung einer Empfehlung der Living Wage Foundation, die den „living wage“ berechnet und kalkuliert. Lidl hat bereits angekündigt, dass das Unternehmen Anpassungen der ausgewiesenen Pfund-Beträge nach oben entsprechend an das eigene Personal weitergeben würde. Für die „living wage“-Kampagne ist die Lidl-Entscheidung ein großer Durchbruch und von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Damit wird natürlich der ganze Lebensmitteleinzelhandel unter Druck gesetzt, sich nun auch in diese Richtung zu bewegen.

Es tut doch gar nicht weh … Gewerkschaften zwischenbilanzieren den – natürlich erfolgreichen – Mindestlohn und die Gegenseite greift auf Flüchtlinge zurück, um es noch mal zu versuchen

Heute ist das Tag der Zwischenbilanz. Aber nicht über die potenziellen und tatsächlichen Fortschritte beim angeblich im Bau befindlichen Berliner Flughafen BER, sondern die Gewerkschaften versuchen eine Bilanz des gesetzlichen Mindestlohnes und es wird sicherlich nicht überraschen, dass die aus deren Sicht mehr als positiv ausfällt. Löhne rauf, Aufstocker runter, Entwarnung bei Jobs und Preisen, so zackig ist die entsprechende Pressemitteilung des DGB überschrieben. Das wird dann so begründet:

»Zahlen der Bundesbank belegten, dass insbesondere Un- oder Angelernte in Ostdeutschland vom Mindestlohn profitierten, so DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell: „Es gab Lohnsteigerungen von bis zu 9,3 Prozent, das ist doppelt bis dreifach so viel wie in höheren Gehaltsgruppen.“

Positiv wertete Körzell auch die Entwicklung bei den so genannten Aufstockern. Die Bundesagentur für Arbeit gehe davon aus, dass die Zahl der Menschen, deren Lohn so niedrig ist, dass sie zusätzlich Arbeitslosengeld-II-Anspruch haben, im laufenden Jahr um rund 60.000 sinken werde. „Der Mindestlohn kostet auch keine Jobs“, so Körzell. Im Frühjahr 2015 seien beispielsweise im Handel und im Gastgewerbe mehr Beschäftigte gemeldet gewesen als ein Jahr zuvor. Auch die Preise seien nur moderat gestiegen.« Dazu – vor allem zu den angesprochenen Daten der Bundesbank – vgl. bereits meinen Beitrag Der Mindestlohn läuft, bestimmte Arbeitnehmer dürfen sich monetär freuen und die Zahlen sprechen für sich vom 21. August 2015.

Passend zum heutigen Tag hat man dann auch gleich ein ganzes Buch mit verschiedenen Beiträgen veröffentlicht: Stefan Körzell, Claudia Falk (Hg.): Kommt der Mindestlohn überall an? Eine Zwischenbilanz, VSA, Hamburg 2015. Darin auch der Beitrag „Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns – eine erste Zwischenbilanz“ von Thorsten Schulten vom WSI und Claudia Weinkopf vom IAQ. Dazu eine zusammenfassende Darstellung unter der Überschrift Mindestlohn: Keine negativen Arbeitsmarkteffekte, Verbesserungen bei Durchsetzung und Kontrolle nötig. Einige Aspekte daraus:

»Unter dem Strich hat der Mindestlohn in Deutschland bislang keine negativen Arbeitsmarkteffekte gebracht. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist spürbar gestiegen, und zwar gerade in traditionellen Niedriglohnbranchen. Zurückgegangen ist lediglich die Zahl oft sehr niedrig bezahlter und schlecht abgesicherter Minijobs.«

Sicher nicht überall Freude wird dieser Punkt auslösen:

Die beiden »sehen trotzdem noch Nachbesserungsbedarf: Kontrolle und Durchsetzbarkeit des Mindestlohns sollten gestärkt werden, empfehlen die Wissenschaftler.«

Da war doch was? Genau, die Debatte über das „Bürokratiemonster“ Mindestlohn beispielsweise.
Schauen wir uns die Anmerkungen und Vorschläge der beiden einmal genauer an:

»So gehe aus dem Gesetz nicht eindeutig hervor, welche Vergütungsbestandteile bei der Berechnung von Stundenlöhnen berücksichtigt werden dürfen. Zahlreiche Anrufe bei den Hotlines des Bundesarbeitsministeriums und des Deutschen Gewerkschaftsbundes belegten, dass dies zu Unsicherheit bei Betrieben und Beschäftigten geführt hat.
Die Kritik von Arbeitgeberverbänden und Unionsparteien an der Verpflichtung zur Dokumentation von Arbeitszeiten halten Schulten und Weinkopf dagegen für unberechtigt. Zum einen sei die Aufzeichnung von Arbeitszeiten in vielen Bereichen ohnehin schon immer üblich gewesen und denkbar unaufwändig. Zum anderen seien ohne entsprechende Dokumentationen „wirksame Kontrollen der Mindestlohneinhaltung schlichtweg unmöglich“. Darauf, betonen die Forscher, habe auch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit als zuständige Kontrollbehörde bereits mehrfach hingewiesen.
Die Kontrolleure des Zolls müssten zahlenmäßig möglichst rasch aufgestockt werden, empfehlen die beiden Wissenschaftler. Zudem sollten Beschäftigte dabei unterstützt werden, ihre Mindestlohnansprüche gegenüber unwilligen Arbeitgebern durchzusetzen. „Die Last der Klage darf nicht alleine bei den einzelnen Beschäftigten liegen.“ So sei es sinnvoll, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden ein Verbandsklagerecht einzuräumen, um wirksam gegen Mindestlohnverstöße vorzugehen.«

Die parallel geführte Debatte über das Arbeitszeitgesetz wird leider nicht erwähnt, denn dahinter steckt durchaus ein Problem, weniger mit der Höhe des Mindestlohnes als mit der Tatsache, dass die Stundenvorgaben des Gesetzes durchaus knolligeren mit tatsächlichen Arbeitsarrangements in bestimmten Branchen, die bislang auch schon gegen das Gesetz verstoßen haben, aber kaum oder gar nicht von irgendeinem verfolgt wurden, nunmehr aber gleichsam im Windschatten der Mindestlohnkontrollen zum Problem werden können. Vgl. dazu ausführlicher den bereits am 18. Mai 2015 veröffentlichten Beitrag Die Aufregung über den gesetzlichen Mindestlohn scheint langsam hinter den Kulissen zu verschwinden. Ein besonderer Grund, erneut hinzuschauen.

Ach, die Kontrollen. Möglicherweise erledigt sich das Thema von selbst. Denn schon vor der Einführung und nach der Einführung wurde immer wieder kritisiert, dass die Zahl der Kontrolleure beim dafür zuständigen Zoll viel zu niedrig sei, man das viel früher hätte aufstocken müssen, denn die fallen ja nicht vom Himmel, sondern brauchen eine ordentliche Ausbildung und außerdem gibt es ja auch noch andere Aufgaben, die von denen zu erledigen sind. Und auch ungeplante Verschiebungen kommen hinzu, beispielsweise die Abordnung des Personals für andere, als dringlicher eingestufte Tätigkeiten. Dazu der Beitrag Flüchtlingsbetreuung sticht Mindestlohn-Kontrolle. Der Zoll muss umverteilen – und es trifft vor allem die Mindestlohn-Kontrolleure. Dort wurde auch angesprochen, dass die – wohlgemerkt: die an sich schon unterbesetzte und jetzt auch noch weiter ausgedünnte – Finanzkontrolle Schwarzarbeit in Zukunft auch noch die für den Herbst geplante Neuregelung bei den Werkverträgen kontrollieren soll. Das wird so nicht klappen können, da muss man nicht viel rechnen.

Ein Fazit nach den ersten Monaten Mindestlohn – gerade auch im Lichte der Untergangsszenarien und der aufgeregten Debatten vor und kurz nach der Einführung des Mindestlohnes: Das wird sich alles schon einwickeln und wenn erst einmal klar wird, dass die Lohnuntergrenze wirklich eine solche ist und kein Arbeitnehmer darüber bereit ist zu verhandeln, dann werden wir uns anderen Themen zuwenden können.

Um aber überhaupt zu diesem Punkt kommen zu können, braucht man neben vielen anderen Dingen vor allem zwei Rahmenbedingungen: Die Ausnahmen von dieser Lohnuntergrenze müssen äußerst begrenzt gehalten werden und man darf die Grenze an sich nicht mit Blick auf größere Gruppen am Arbeitsmarkt (wieder) in Frage stellen. Aber genau dieser Versuch passiert derzeit im Windschatten des alles beherrschenden Themas Flüchtlinge.

Denn mit Blick auf die anstehende Mega-Aufgabe einer auch arbeitmarklichen Integration der Flüchtlinge wird deren schwierige Situation sogleich verknüpft mit der Infragestellung der Gültigkeit des Mindestlohns für sie. Vorreiter mal wieder Hans-Werner Sinn. Ex cathedra verkündet er: Ohne Abstriche beim Mindestlohn finden viele Zuwanderer keine Arbeit. Punkt und aus. Die (sicher nicht nur) Sinn’sche Logik geht so:

»Um die neuen Arbeitskräfte in den regulären Arbeitsmarkt zu integrieren, wird man den gesetzlichen Mindestlohn senken müssen, denn mehr Beschäftigung für gering Qualifizierte gibt es unter sonst gleichen Bedingungen nur zu niedrigerem Lohn. Nur bei einem niedrigeren Lohn rutschen arbeitsintensive Geschäftsmodelle über die Rentabilitätsschwelle und finden sich Unternehmer, die bereit sind, dafür ihr Geld einzusetzen.«

Über diese Schiene wird die nächste Angriffswelle gegen den gesetzlichen Mindestlohn laufen.