Rein in den Normalbetrieb? Wie für alle anderen auch – plus Sprachkurse. Der Sachverständigenrat für Integration und Migration zur Flüchtlingspolitik 2017

Der Sachverständigenrat für Integration und Migration veröffentlicht jeweils im Frühjahr sein jährliches Gutachten. Das Jahresgutachten 2017 steht unter der Überschrift Chancen in der Krise: Zur Zukunft der Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa. Mit dem neuen Gutachten unterbreitet das Gremium »Vorschläge zur Weiterentwicklung der EU-Flüchtlingspolitik, die auf eine neue Verantwortungsteilung innerhalb der EU zielen. Ein Kernelement für die faire Verteilung von Flüchtlingen sind EU-weite Freizügigkeitsrechte, die anerkannte Flüchtlinge unter bestimmten Voraussetzungen erhalten könnten. Zudem geht es um Möglichkeiten und Grenzen bei der Zusammenarbeit mit Transit- und Erstaufnahmestaaten, u. a. dem ‚EU-Türkei-Deal‘. In einem zweiten Teil analysiert der SVR die Neuregelungen zur Integration von Flüchtlingen in Deutschland, vor allem in den Bereichen Unterbringung, Bildungs- und Arbeitsmarktintegration sowie Wertevermittlung.«

Angesichts der Tatsache, dass anders als noch vor einigen Monaten in den Medien kaum und nur noch sehr punktuell über das Thema Flüchtlinge berichtet wird, lohnt ein Blick in das Gutachten des Sachverständigenrats, der von deutschen Stiftungen ins Leben gerufen wurde.

Andrea Dernbach hat ihre Wahrnehmung der Ausführungen des Sachverständigenrats unter die knackig daherkommende Überschrift Für ein Ende der Flüchtlingsprogramme gestellt: »Experten empfehlen, Arbeit und Bildung für Geflüchtete zu fördern wie für alle anderen – plus Sprachkurse.«

»Raus aus dem Krisenmodus, hinein in den Normalbetrieb: Das empfiehlt der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) in seinem am Dienstag veröffentlichten Jahresgutachten nach zwei Jahren „Flüchtlingskrise“. Insbesondere auf dem Arbeitsmarkt und in den Schulen sollten Sonderprogramme für Geflüchtete vermieden oder heruntergefahren und stattdessen die Mittel klassischer Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik genutzt werden, die für alle da sind.«

Für die minderjährigen Flüchtlinge, die in den vergangenen beiden Jahren nach Deutschland gekommen sind, sei die Schule „die zentrale Integrationsinstanz“. Gerade in den Schulen müsse ethnische und soziale Trennung vermieden werden, was bedeutet, die Kinder so rasch wie möglich in den Regelunterricht zu nehmen. Denn auch wenn sogenannte Willkommensklassen „einen Schutzraum“ böten, dürften sie geflüchtete Kinder nicht nachhaltig isolieren.
Auch was den Arbeitsmarkt angehe, sehe man „Sondermaßnahmen für Flüchtlinge eher skeptisch“, heißt es im Gutachten.

Schauen wir im Original nach – und der Sachverständigenrat hat als Kurzfassung des Jahresgutachtens Neun Kernbotschaften veröffentlicht.

1.) „Die Krise der europäischen Flüchtlings- und Asylpolitik als Anlass für Reformen nutzen: beim Verfahrensvollzug ‚mehr Europa‘ wagen“ – so ist der erste, auf die europäische Ebene zielende Punkt benannt. Der Rat sieht bei allen Umbrüchen und offensichtlichen Widerständen die »Chance, dass wichtige politische Akteure in Europa und zumindest einigen Mitgliedstaaten ihre Anstrengungen (wieder) bündeln, um das Gemeinsame Europäische Asylsystem weiterzuentwickeln.« Und der Rat »begrüßt grundsätzlich die Europäisierung, die die Europäische Kommission derzeit im Bereich des Verfahrensvollzugs vorantreibt: Die Grenzschutzagentur Frontex und das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) werden aufgewertet, und Richtlinien werden durch Verordnungen ersetzt, um die Verfahren stärker zu vereinheitlichen. Dennoch ist hier eine gewisse Skepsis angezeigt. Denn nicht zuletzt die Erfahrungen mit der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise haben gezeigt, dass auch ein ausgefeiltes europäisches Regelwerk ins Leere läuft, wenn gemeinsam beschlossene Regeln nicht in allen Mitgliedsländern umgesetzt werden.« Wohl wahr.

Der Rat legt den Finger auf eine offensichtliche Wunde: Die bisherige Praxis, den Ländern an den EU-Außengrenzen die alleinige Verantwortung für die Durchführung der Verfahren, die Rückführung abgelehnter und die Integration anerkannter Asylbewerber zuzuweisen, kann als ursächlich für den kalten Boykott des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems seitens der Erstaufnahmestaaten angesehen werden. So wurden bei der Aufnahme und den Asylverfahren die festgelegten Standards nicht erfüllt, und die Flüchtlinge konnten zum Teil unkontrolliert weiterziehen.

Was sollte man also tun?

2.) „Verantwortung innerhalb Europas verteilen, flexible Solidarität ermöglichen, konditionierte Freizügigkeit gewähren“. In Brüssel wird das Problem gesehen und diese Variante ins Spiel gebracht: Die Kommission schlägt eine zentralistisch ausgerichtete und staatlich verwaltete ‚Umverteilungshydraulik‘ vor: Sobald die Aufnahme von Flüchtlingen in einem Land einen bestimmten Grenzwert überschreitet, werden automatisch Flüchtlinge aus diesem Land in solche mit einem niedrigeren Grenzwert umverteilt. Nun wird selbst der EU-geneigte Leser an dieser Stelle angesichts der erfahrenen Widerstände in einigen Mitgliedsstaaten der EU gegen die Aufnahme auch nur eines Flüchtlings mit großer Skepsis dem Plan aus Brüssel lauschen. Auch der Rat sieht natürlich das flüchtlingspolitische Gefälle innerhalb der EU und vor allem die relative Machtlosigkeit der Staatengemeinschaft gegenüber einzelnen Mitgliedsstaaten. Der vom Rat präsentierte Ansatz geht so:

»Der SVR schlägt dagegen vor, Weiterwanderungsabsichten von Flüchtlingen als Beitrag zu deren Verteilung innerhalb Europas zu nutzen. Dafür sollen Personen, die als schutzberechtigt anerkannt wurden, unter bestimmten Bedingungen gewisse Freizügigkeitsrechte erhalten. Dabei sind unterschiedliche Varianten einer Konditionalisierung solcher Rechte denkbar, beispielsweise über eine enge Rückkopplung an den Arbeitsmarkt des Ziellands oder durch die Einführung sozialrechtlicher Karenzzeiten. Denkbar wäre auch, solche konditionalisierten Freizügigkeitsrechte für anerkannte Flüchtlinge mit einem (solidarischen) EU-weiten Mechanismus des finanziellen Aus- gleichs zu verbinden: Sowohl den Erstaufnahmeländern als auch den Ländern, in die viele anerkannte Flüchtlinge weiterwandern, würde darüber zumindest ein Teil der Integrationskosten erstattet, die ihnen aus der Zuwanderung entstehen.«

Aber auch das setzt voraus, dass sich alle Mitgliedsstaaten zu der konditionierten Freizügigkeit bekennen.
Und auch ein weiteres heißes Eisen wird angesprochen:
3. ) „Kooperationen mit Transitstaaten sind trotz Dilemmata ein wichtiger Schritt“. Hier geht es vor allem die EU- Türkei-Erklärung, die landläufig als ‚Deal‘ bezeichnet wird. In der öffentlichen Diskussion überwiegen kritische Aspekte, durchaus nicht unberechtigt. Dennoch hält es der Rat für falsch, den mit der EU-Türkei-Erklärung eingeschlagenen Weg pauschal zu verdammen. »Denn er bricht mit einer perversen Logik: Nach dem gegenwärtigen Flüchtlingsrecht können nur diejenigen ihr Recht auf Schutz in Anspruch nehmen, die auf irregulären Wegen nach Europa kommen; diejenigen, die diesen Weg nicht einschlagen (können), bleiben im wahrsten Wortsinn ‚außen vor‘.« Man muss, so der Rat, die EU-Türkei-Erklärung gewissermaßen als Umsetzungsbaustein einer an sich schon älteren Idee verstehen: »die Asylpolitik der EU stärker auf das Territorium außerhalb Europas zu verlagern.« Erwogen wird u. a., jenseits der EU-Grenzen Aufnahmezentren einzurichten und Asylverfahren dort durchzuführen. Als mögliche Kooperationspartner für solche Aufnahmezentren rücken vor allem die Länder Nordafrikas in den Blick. Der Rat erkennt hier durchaus Chancen:

»Schutzbedürftige könnten dann auf sicherem Weg legal in die EU einreisen; das würde die Zahl der irregulären, gefährlichen und nicht selten tödlich endenden Fahrten über das Mittelmeer spürbar verringern. Über Resettlement könnten jene ausgewählt werden, die einen Schutz in Europa am meisten benötigen, z. B. verfolgte Frauen, alleingelassene Minderjährige, Kranke und Alte – damit bliebe Schutz nicht jenen vorbehalten, die physisch am stärksten sind oder die meisten Ressourcen aufbringen können.«

Was natürlich voraussetzt, dass man wem auch immer überhaupt die Möglichkeit eröffnet, aus den Aufnahmelagern im nördlichen Afrika legal in die EU zu kommen. Schon da kann man Fragezeichen anbringen. Und dann gibt es eine weitere (völlig berechtigte, aber angesichts der Realitäten hinsichtlich einer Verwirklichung mehr als fragwürdige) Forderung: »Eine Durchführung von Asylverfahren in solchen Aufnahmezentren müsste natürlich europäischen Menschenrechtsstandards entsprechen.« Natürlich. Aber selbst der Rat kann die Wahrscheinlichkeiten an fünf Fingern abzählen und formuliert etwas verdruckst: »Solche Zentren zu errichten und ordnungsgemäß zu betreiben wäre ein mittel- bis langfristiges Projekt, es ließe sich nicht von heute auf morgen umsetzen.« Und selbst wenn man das weiter verfolgen würde, sieht der Rat neue Fragen am Horizont (wer betreibt und kontrolliert solche Asylzentren, wer trägt die rechtliche Verantwortung und stellen solche Asylzentren nicht auch einen (Fehl-)Anreiz für jene dar, die es einmal austesten wollen, legal und risikoarm nach Europa zu gelangen?). Dennoch, eine grundsätzliche Ablehnung dieses Ansatzes ist beim Rat nicht zu erkennen und das wird den einen oder anderen in der Szene sicher überraschen und treffen.

Und das nächste heiße Eisen folgt auf dem Fuße:

4.) „Freiwillige Rückkehr fördern, Abschiebungen menschenwürdig und rasch vollziehen“. Wenn schon abgeschoben werden muss, dann sollte nicht zu viel Zeit vergeht. Die Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern wird oft dadurch erschwert, dass die Herkunftsstaaten nicht bereit sind, ihre Staatsbürger zurückzunehmen. Hier fragt der Rat, »warum gerade in diesem Bereich nicht stärker europäisch zusammengearbeitet wird«, um die betroffenen Staaten zur Kooperation zu bewegen.

5.) „Rechtlich ‚in der Spur‘ bleiben: Asyl- und Arbeitsmigration nicht vermengen“. Hier positioniert sich der Rat deutlich:

»Gerade das Asylrecht sollte nicht verwässert werden und Fehlanreize setzen, indem die Einwanderungspolitik z. B. einen ‚Spurwechsel‘ vom Asyl zur Erwerbsmigration ermöglicht. Es kann sinnvoll sein, Asylbewerbern eine Erwerbsarbeit zu gestatten, wenn ihr Verfahren ohne ihre Schuld sehr lange dauert. Wenn ein ‚Spurwechsel‘ aber ganz allgemein und frühzeitig ermöglicht wird, setzt das unweigerlich falsche Anreize. Außerdem hat Asyl einen besonderen, menschenrecht- lich abgesicherten Stellenwert. Wird es zu eng mit dem Arbeitsmarkt gekoppelt, könnten sich die öffentliche Meinung und die Akzeptanz der Flüchtlingszuwanderung umkehren, wenn ein Überangebot von Arbeitskräften entsteht: Dann würde möglicherweise argumentiert, dass weniger Asyl gewährt werden soll, weil es im Land so viele Arbeitsuchende gibt.«

Das innenpolitisch bekanntlich heftig umstrittene Instrument, bestimmte Länder zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, wird angesichts der Signalfunktion gegenüber den Zuwanderungswilligen, dass Asyl nicht für alle der richtige Kanal ist, vom Rat unterstützt. Auch der Vorschlag, eine gemeinsame, EU-weit gültige Liste sicherer Herkunftsländer zu erarbeiten, word ausdrücklich unterstützt – auch, um »eine ‚Schutzlotterie‘ … (zu) vermeiden, dass ein Asylbewerber aus dem Land A im EU-Mitgliedstaat X als Staatsbürger eines sicheren Herkunftslands behandelt wird und im EU-Mitgliedstaat Y nicht.« Allerdings wird darauf hingewiesen, dass man die tatsächliche Wirkung dieses Instruments nicht überschätzen sollte, die liegt eher im symbolischen Bereich.

Und was machen wir mit denen, die schon bei uns sind und von denen viele bleiben werden?

6.) „Flüchtlingskinder möglichst rasch in schulische Regelstrukturen integrieren, berufliche Bildung flexibler gestalten“. Der Rat warnt generell davor, zur Beschulung von Flüchtlingen eine spezielle Infrastruktur zu schaffen. In der beruflichen Ausbildung wird für eine stärkere Modularisierung plädiert. Entsprechende Reformen sollen jungen Flüchtlingen ermöglichen, niedrigschwellig ins System beruflicher Bildung einzusteigen und die erforderlichen Kompetenzen stufenweise aufzubauen. Nach Auffassung des Rats »könnte erwogen werden, … berufliche Ausbildungsgänge zumindest versuchsweise aufzugliedern in eine Basisausbildung und eine daran anschließende Spezialisierungsphase … Eine solche Modularisierung erzeugt traditionell starke Widerstände und birgt zweifellos auch gewisse Risiken. Allerdings würde eine Flexibilisierung dieser Art nicht nur Flüchtlingen zugutekommen, sondern z. B. auch jungen Langzeitarbeitslosen.«

7.) „Für Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen Regelstrukturen nutzen, informelle Qualifikationen stärker anerkennen“. Auch hier werden Sondermaßnahmen für Flüchtlinge eher skeptisch gesehen. »Vielmehr sollte in diesem Bereich das bewährte Portfolio der Arbeitsmarktpolitik, die in den letzten Jahren grundlegend reformiert wurde, ausgeschöpft werden. Deutschland ist in aktiven wie in passiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen gut aufgestellt.« Das nun ist eine vorsichtig formuliert sehr naive Sichtweise auf das Feld der Arbeitsmarktpolitik und der tatsächlichen Probleme, die wir dort gerade im „Regelbetrieb“ haben. Aber offensichtlich ist das kein Kompetenz-Schwerpunkt dieses Sachverständigenrats.

Und schon sind sie wieder bei einem weiteren Thema:

8.) „Wohnsitzauflage ,in der Stadt‘ und ,auf dem Land‘ nutzen“. Nach Auffassung des Rats verschafft die Wohnsitzauflage mit ihrer Begrenzung auf drei Jahre eine Atempause, die man nutzen sollte, denn »nach Ablauf der zeitlichen Befristung ein noch nicht genauer zu bestimmender Anteil aufmachen und dorthin ziehen, wo Angehörige jetzt bereits wohnen, und das sind meistens die großen Städte des Landes. Wenn in den Wohngebieten und daran gekoppelt auch im gesellschaftlichen Bereich Segregation verhindert werden soll (Stichwort ‚Parallelgesellschaft‘), sollten die Städte – auch aus integrationspolitischen Gründen – rechtzeitig Maßnahmen ergreifen, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.« Da werden sich die besonders betroffenen Großstädte aber sicher für bedanken, für diese wohlfeile Überlegung.

Und zum Schluss:

9.) „Werte zu vermitteln ist wichtig; Werteübernahme erfordert aber gemeinsame Praxis und soziale Teilhabe“. Bei der Reform der Integrationskurse wurde der Orientierungsteil dieser Kurse von 60 auf 100 Stunden aufgestockt. »Der SVR unterstützt dies, warnt aber gleichzeitig davor, die Wirkung auf den ‚Wertehaushalt‘ von Flüchtlingen zu überschätzen, die diese Stundenerhöhung entfalten kann. Ohne Zweifel ist es wichtig, die Werte des Grundgesetzes und die deutsche Rechtsordnung zu vermitteln und dafür nachdrücklich zu werben. Es ist auch legitim zu fordern, dass sie eingehalten werden. Eine echte Übernahme dieser Werte lässt sich aber nicht erzwingen.«
Dann wird noch darauf hingewiesen, dass sich die Aufnahmegesellschaft bemühen muss bei Teilhabe und Integration, dass sich aber auch die Menschen, die zu uns gekommen sind, anstrengen müssen. Das bleibt auf einer sehr allgemeinen Ebene, der man nicht widersprechen kann.

Einkommensarmut von Kindern und Jugendlichen steigt durch Zuwanderung. Am Ende geht es wieder einmal um den Arbeitsmarkt

Die Zahl armer Kinder steigt neuen Zahlen zufolge – in erster Linie, weil Kinder von Flüchtlingen in prekären Verhältnissen leben. Aber auch unter einheimischen Kindern gibt es besonders gefährdete Gruppen. So beginnt Florian Diekmann seinen Artikel Zuwanderung lässt Kinderarmut steigen, in dem er über eine neue Untersuchung des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) berichtet.

»Im Jahr 2015 lebten demnach im Schnitt 2,55 Millionen Mädchen und Jungen in Deutschland in Familien mit so wenig Geld, dass sie als arm oder armutsgefährdet gelten. Das entspricht einem Anteil von 19,7 Prozent aller Minderjähriger – im Jahr zuvor waren es noch 19,0 Prozent und damit 77.000 Kinder weniger.« Ein genauerer Blick auf die Daten ergibt hinsichtlich der Frage, woher dieser Anstieg kommt, einen interessanten Befund: »Demnach lässt sich der gesamte Anstieg der relativen Kinderarmut in den vergangenen Jahren mit der Zuwanderung von Flüchtlingen erklären, die ab 2012 deutlich anstieg, im Jahr 2015 einen Höhepunkt erreichte und seitdem stark rückläufig ist.« Der WSI-Kinderarmutsbericht ist Teil des WSI-Verteilungsmonitors.

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Das Arbeitsangebot wird kleiner werden – auch wenn mehr Zuwanderer nach Deutschland kommen (sollten). Also wahrscheinlich, nach einer neuen Studie des IAB

Mit den Vorhersagen, generell, aber vor allem die demografische Entwicklung betreffend, ist das ja so eine Sache. Auf der einen Seite wurde und wird „die“ demografische Entwicklung immer sehr gerne instrumentalisiert für eigentlich ganz andere Zwecke, beispielsweise den Sozialabbau (weil wir uns das angeblich wegen des demografischen Wandels nicht mehr leisten können). Besonders beliebt ist das im Bereich der Alterssicherung und dabei vor allem der umlagefinanzierten Rentenversicherung. Immer mehr Rentner (von denen dann auch noch viele ziemlich langlebig sind, was gut ist für die Menschen, aber schlecht für die Rentenversicherung, die bis zum Ende zahlen muss) stehen immer weniger Menschen gegenüber, die mit ihrer Erwerbsarbeit die Renten erwirtschaften müssen. Das wäre eine wahrlich eigenes Thema, vor allem, was die in der Regel nicht diskutierten Alternativen beispielsweise auf der Finanzierungsseite angeht.

Aber die demografische Entwicklung hat unbestreitbar auch Auswirkungen auf die Arbeitsmarktentwicklung. Das kann jeder nachvollziehen, der heute einen Blick wirft auf ganz normale Belegschaften. Deren Durchschnittsalter liegt in den meisten Unternehmen bei über 50 Jahre, was auch nicht verwundert, wenn man sich verdeutlicht, dass heute die geburtenstarken Jahrgänge, die sogenannten „Baby-Boomer“, die Mehrheit stellen und mithin entsprechend auch unter den Beschäftigten den zahlenmäßigen Ton angeben. Noch und in den nächsten Jahren, bis sie in den Ruhestand wechseln.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit hat nun eine Studie veröffentlicht, in der die Wissenschaftler unterschiedliche Szenerien gerechnet, bzw. manche würden sagen einen tiefen Blick in die Glaskugel geworfen haben, wie sich denn das Arbeitsangebot in unserer Volkswirtschaft in den vor uns liegenden Jahren entwickeln wird.

Johann Fuchs, Doris Söhnlein und Brigitte Weber (2017): Projektion des Erwerbspersonenpotenzials bis 2060: Arbeitskräfteangebot sinkt auch bei hoher Zuwanderung. IAB-Kurzbericht, 06/2017, Nürnberg 2017

Auch bei einer Nettozuwanderung von 200.000 Personen jährlich sinkt das Arbeitskräfteangebot bis 2060 auf unter 40 Millionen – so hat das IAB die zugehörige Pressemitteilung überschrieben: »Liegt die jährliche Nettozuwanderung in den nächsten Jahrzehnten mit rund 200.000 im Bereich des langjährigen Durchschnitts in Deutschland, würde das Arbeitskräfteangebot vom heutigen Stand mit rund 46 Millionen bis zum Jahr 2060 auf unter 40 Millionen sinken. Die voraussichtlich weiter steigende Erwerbsbeteiligung der Frauen und der Älteren ist dabei schon berücksichtigt. Um das Arbeitskräfteangebot bis 2060 auf dem heutigen Niveau zu halten, wäre eine jährliche Nettozuwanderung von 400.000 Personen erforderlich.«

Wie immer bei solchen Vorausberechnungen ist alles eine Frage der Annahmen, die man zugrundelegen muss. Hinsichtlich der Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials, also die dem Arbeitsmarkt grundsätzlich zur Verfügung stehenden Personen, ist die Zuwanderung nach Deutschland sicher eine, wenn nicht die schwierigste Komponente in der Rechnung. Die Wissenschaftler schreiben selbst in ihrer Studie mit Blick auf die zurückliegenden Jahre: »Die Zahl der Zuzüge nach Deutschland überwog die der Fortzüge in den letzten fünf Jahren, also seit 2011, um fast 2,8 Mio. Dieser Wanderungsüberschuss sowie die seit Kurzem steigenden Geburtenziffern wecken die Hoffnung, dass damit der demografisch bedingte Abwärtstrend des Erwerbspersonenpotenzials gebremst, vielleicht sogar gestoppt wird.« Im weiteren Gang der Untersuchung zeigen sie aber, dass diese Hoffnung nicht bestätigt werden kann, wenn man ihren Rechenergebnissen vertraut.

Die Forscher arbeiten mit unterschiedlichen Szenarien und begründen das auch, was wichtig ist vor dem Hintergrund, dass man den Vorhersagen der Vergangenheit – rückblickend ist man immer schlauer – vorwerfen kann, dass die Zuwanderungen nach Deutschland zu niedrig angesetzt waren:

»Weil Wanderungen kaum prognostizierbar sind, wurde der Einfluss der Zuwanderung mit unterschiedlichen jährlichen Wanderungsannahmen modelliert. Eine hypothetische Variante „ohne Wanderungen“ berücksichtigt nur die Einflüsse der Alterung und der natürlichen Bevölkerungsbewegung (Geburten und Sterbefälle), also überhaupt keine Wanderungen. Die Varianten, die Wanderungsbewegungen einschließen, gehen ab 2018 von jeweils konstant 100.000, 200.000, 300.000 oder 400.000 Personen Nettozuwanderung pro Jahr aus.«

Die Abbildung aus der IAB-Studie mit den Auswirkungen der drei dort dargestellten Szenarien hinsichtlich der Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials verdeutlicht, wie stark die erwartbaren Werte streuen, vor allem bei Berücksichtigung von Zuwanderung.

Die Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials  lässt sich in die Einflussfaktoren Demografie, Verhalten (Erwerbsquoten) und Migration zerlegen:

(1) Die demografische Komponente umfasst die Veränderungen, die sich ergeben, wenn Jüngere ins Erwerbsalter hineinwachsen und Ältere aus dem Erwerbsleben ausscheiden.

(2) Die Verhaltenskomponente bezieht sich auf die Erwerbsbeteiligung nach Altersgruppen und Geschlecht. Das muss dann auch noch differenziert werden nach Deutschen und Ausländern, weil es hier erfahrungsgemäß Unterschiede gibt. In ihren Berechnungen gehen die Wissenschaftler von einem Anstieg der Erwerbsquoten bei Frauen und Älteren aus. Bei den Älteren ist der angenommene Anstieg vor allem eine Folge der Rentengesetzgebung, insbesondere der sogenannten „Rente mit 67“.

(3) Der Migrationseffekt hängt entscheidend vom Zuwanderungssaldo ab. Bei dem in der Studie angenommenen jährlichen Wanderungssaldo von 200.000 Personen würde bis 2030 ein Plus von 2,4 Mio. Erwerbspersonen aufgebaut.

Ein zentrales Ergebnis lautet: »Aus der Komponentenzerlegung wird die überragende Bedeutung der Demografie für die künftige Entwicklung des Arbeitskräfteangebots deutlich: Eine höhere Erwerbsbeteiligung und – aus heutiger Sicht – erwartbare Wanderungsannahmen können die demografischen Effekte nicht mehr kompensieren.«

Fuchs/Söhnlein/Weber (2017: 7) bilanzieren die Ergebnisse ihrer umfangreichen Berechnungen so:

»Das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland wird voraussichtlich sinken. Selbst Szenarien mit optimistischen Annahmen zeigen, wie schwer es wird, diesen Trend zu verlangsamen. Die hohe Nettozuwanderung der vergangenen fünf Jahre von insgesamt fast 2,8 Mio. Personen hat zwar die Ausgangsbasis verbessert, aber bei weitgehend unveränderten demografischen Rahmenbedingungen werden sich die vorgegebene Altersstruktur und die weiterhin zu niedrigen Geburtenraten mittel- und längerfristig durchsetzen. Bei Wanderungsströmen, wie sie über einen längeren Zeitraum in der Vergangenheit zu beobachten waren, nimmt das Erwerbspersonenpotenzial bis 2030 zwar „nur“ um 3 Prozent ab; bis 2050 sind es aber weitere 8 Prozent. Im Jahr 2060 könnte das Erwerbspersonenpotenzial auf unter 40 Mio. Erwerbspersonen gesunken sein, wobei höhere Erwerbsquoten von Frauen und Älteren eingerechnet wurden.«

Und langfristig hohe Zuwanderungssalden sind nicht leicht aufrechtzuerhalten und noch höhere (die man quantitativ brauchen würde) kaum herstellbar. Die Autoren der Studie verweisen darauf, dass die aktuell hohe Zuwanderung aus EU-Staaten künftig abflachen wird, vor allem weil die Geburtenraten in den meisten Ländern der EU zu niedrig sind. Das gilt gerade für die osteuropäischen Länder.

Was die Autoren an dieser Stelle nicht sagen: Natürlich könnte man sich höhere Zuwanderungszahlen vorstellen, aber eben nicht aus europäischen Ländern, sondern vor allem aus den Maghreb-Staaten und aus Afrika. Das würde rechnerisch für sehr hohe Zuwanderungszahlen reichen, aber es ist relativ klar, dass es kaum einen ernstzunehmenden Politiker gegen wird, der den Menschen hier eine Nettozuwanderung von jährlich 500.000 Menschen aus Afrika vorschlagen wird. Die gesellschaftlichen Implikationen sind vielschichtig und hochgradig konfliktär, um das vorsichtig auszudrücken.

Und eine weitere wichtige Anmerkung, die als Ergänzung, nicht aber als Kritik an der Studie zu verstehen ist, deren Leistung in einer quantitativen Abschätzung besteht: Selbst wenn man eine rechnerische Kompensation erreichen würde durch Zuwanderung bedeutet das noch lange nicht, dass damit auch eine Passungsfähigkeit hinsichtlich der erforderlichen Qualifikationsprofile auf dem Arbeitsmarkt vorhanden ist. Wir erleben gerade bei der überaus schwierigen Aufgabe der Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge, wie lange man für eine Irgendwie-Integration in den Arbeitsmarkt benötigt und dass es einen nicht kleinen Anteil geben wird, die auch nach vielen Jahren kein Fuß haben fassen können in der Erwerbsarbeitswelt.

Und wenn man bedenkt, dass derzeit und vor allem mit Blick auf die Baby-Boomer-Generation in den vor uns liegenden Jahren zahlreiche gut qualifizierte Arbeitnehmer/innen aus dem sogenannten „mittleren Qualifikationsbereich“ (also Handwerker und Facharbeiter beispielsweise) altersbedingt den Arbeitsmarkt verlassen, dann wird in Umrissen erkennbar, welchen gewaltigen Qualifizierungsbedarf wir selbst bei einer ordentlichen Zuwanderung hätten, nur um den Ersatzbedarf abdecken zu können. Eigentlich, so die zentrale arbeitsmarktpolitische Schlussfolgerung, hätte schon längst eine massive Qualifizierungsoffensive anlaufen müssen. Nur ein Beispiel, um nicht immer auf Zuwanderer zu hoffen oder von ihnen enttäuscht zu werden: Wir haben über 1,2 Million Menschen zwischen 20 und 30 Jahre, die keinen Berufsabschluss haben. Viele von ihnen sind früher, als es „zu viele“ Ausbildungsplatzbewerber und „zu wenig“ Ausbildungsplätze gegeben hat, durch den Rost gefallen. Wenn es uns gelingen würde, durch ein attraktives Angebot diese nun schon lebensälteren Arbeitnehmer zum Nachholen eines Berufsabschlusses zu bewegen, in dem man beispielsweise – was es Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre schon mal gegeben hat – den Betroffenen ein Unterhaltsgeld von bis zu 90 Prozent ihres letzten Nettoentgelts zahlen würde, dann könnte wir den absehbaren Fachkräftemangel mit Sicherheit deutlich abschwächen. Das allerdings setzt politische Entscheidungen voraus, die mit einer weiten Perspektive hinterlegt sind. Daran mangelt es ganz erheblich.

Zu hoffen, eine große Zuwanderung wird uns arbeitsmarktlich retten, das zeigt die neue Studie im Detail, wird sich als eine große Enttäuschung erweisen.