Der neue Armutsbericht als Thema? Das machen alle. Deshalb ein Ausflug in den Keller des Arbeitsmarktes mit richtig harter Armut

Eigentlich müsste man heute über den der Öffentlichkeit präsentierten „Armutsbericht 2017“ des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und andere Organisationen berichten, der eigentlich aber ein Bericht für das Jahr 2015 ist, denn auf dieses Jahr beziehen sich die Zahlen, die man in diesem Report finden kann. Diese allerdings sind nun keine Neuigkeit oder gar eine eigene Erhebung des Wohlfahrtsverbandes, sondern man kann die seit Jahren in aller Ausführlichkeit und Differenzierung auf der Seite www.amtliche-sozialberichterstattung.de einsehen, die von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder bestückt wird. Der Paritätische Wohlfahrtsverband veröffentlichte den neuen Armutsbericht mit einer begleitenden Pressemitteilung, die man unter diese Überschrift gestellt hat: Armutsbericht 2017: Anstieg der Armut in Deutschland auf neuen Höchststand. Verbände beklagen skandalöse Zunahme der Armut bei allen Risikogruppen und fordern armutspolitische Offensive: »Die Armut in Deutschland ist auf einen neuen Höchststand von 15,7 Prozent angestiegen … Als besondere Problemregionen identifiziert der Bericht im Zehn-Jahres-Vergleich die Länder Berlin und Nordrhein-Westfalen. Unter Berücksichtigung der Bevölkerungszahl, der Bevölkerungsdichte und der längerfristigen Trends müssten das Ruhrgebiet und Berlin als die armutspolitischen Problemregionen Deutschlands angesehen werden. Bei allen bekannten Risikogruppen habe die Armut im Vergleich zum Vorjahr noch einmal zugenommen: Bei Erwerbslosen auf 59 Prozent, bei Alleinerziehenden auf 44 Prozent, bei kinderreichen Familien auf 25 Prozent, bei Menschen mit niedrigem Qualifikationsniveau auf 32 Prozent und bei Ausländern auf 34 Prozent. Alarmierend sei im Zehn-Jahres-Vergleich insbesondere die Armutsentwicklung bei Rentnerinnen und Rentnern. Ihre Armutsquote stieg zwischen 2005 und 2015 von 10,7 auf 15,9 Prozent und damit um 49 Prozent.«

Darüber wird natürlich landauf und landab berichtet – und es überrascht nicht, dass sofort auch wieder gegen die „skandalisierende“ und „instrumentalisierende“ Armutsberichterstattung des Wohlfahrtsverbands gewettert wird – um nur zwei Beispiele zu zitieren: Diese Armuts-Rechnung ist einfach nur skurril meint Daniel Eckert. Heike Göbel überschlägt sich schon in der Überschrift ihrer Kommentierung mit Marktschreier der Armut.

Wie bereits gesagt, die reinen Zahlen das „Einkommensarmutsrisiko“ betreffend, so die ganz korrekte Bezeichnung dessen, was da übrigens nach seit Jahrzehnten bestehender internationaler Konvention am Median der Einkommensverteilung eines Landes gemessen wird, sind auf den amtlichen Seiten verfügbar. Interessant an dem mittlerweile ja alljährlich vorgelegten Armutsbericht sind die einzelnen Kapitel zu besonderen Personengruppen und Problemlagen, von den Alleinerziehenden, Jugendlichen, der Armut im Alter, den psychisch Kranken, den Menschen mit Behinderungen oder den Flüchtlingen. Oder auch Armut und Gesundheit. Zu den Ausführungen in diesem Kapitel beispielsweise der Bericht Reiche leben bis zu zehn Jahre länger: »Der Untersuchung zufolge haben arme Männer eine Lebenserwartung von 70,1 Jahren, wohlhabende Männer von 80,9 Jahren. Bei Frauen liegen die Zahlen bei 76,9 Jahren und 85,3 Jahren.« Doch warum ist das so? Als Gründe für die immensen Unterschiede wird oft ein riskanteres Gesundheitsverhalten in Bezug auf Ernährung, Bewegung, Rauchen und Alkohol vorgetragen. Dies erkläre jedoch nur die Hälfte des Unterschieds. Das hat natürlich neben der individuellen Dimension auch sozialpolitische Konsequenzen. Und über diesen erheblichen Unterschied bei der Lebenserwartung unten und oben sowie den möglichen Konsequenzen beispielsweise in der Rentenpolitik wurde bereits in dem Beitrag Rente mit 70(+)? Warum die scheinbar logische Kopplung des Renteneintrittsalters an die steigende Lebenserwartung unsinnig ist und soziale Schieflagen potenziert vom 22. April 2016 berichtet.

Wer sich das alles im Original anschauen möchte, der kann den neuen Armutsbericht hier downloaden: Der Paritätische Gesamtverband (Hrsg.) (2017): Menschenwürde ist Menschenrecht. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2017, Berlin, März 2017.

Alles wird erneut einmünden in einen Streit über die Zahlen – und beide Seite beteiligen sich offensichtlich mit größter Freude an diesem Spiel, die einen proklamieren eine skandalöse Entwicklung, die anderen negieren den Tatbestand der Armut oder wollen Armut offensichtlich reduzieren auf die Untergruppe derjenigen, die von „multiplen Einschränkungen“ betroffen sind, was natürlich die Zahl deutlich schrumpfen lässt.

Zugleich wird oftmals – ob unbewusst in den Köpfen vieler Menschen oder bewusst als politische Strategie –  das Bild hochgehalten, dass die „wirklich“ armen Menschen wenn, dann eher bei Obdachlosen oder anderen Randgruppen der Gesellschaft anzutreffen sind und das Arbeit der beste Schutzfaktor vor Armut sei. Dann muss es natürlich „weh tun“, wenn es hart arbeitende Menschen gibt, die mit richtig harter Armut trotz der Arbeit konfrontiert sind.

Ausbeutung und Ausbeutungsstrukturen auf dem Bau sind nicht neu, aber man kann nicht oft genug darauf hinweisen, dass das tagtäglich in unserem Land passiert. Und wenn jeder einmal versucht, mit offenen Augen an den vielen Baustellen in unserem Land vorbeizugehen, dann dürfte nicht verborgen bleiben, wie viele Bauarbeiter aus Osturopa auf den Baustellen unterwegs sind.

Lohnausfälle und unentlohnte Überstunden: Hunderte südosteuropäische Arbeiter werden ausgebeutet, so ist ein Bericht der „Hessenschau“ überschrieben, der sich auf das Rhein-Main-Gebiet rund um Frankfurt bezieht.

Die »Probleme für Arbeiter, gerade aus Rumänien, aber auch Bulgarien oder dem ehemaligen Jugoslawien in der Rhein-Main-Region sind immens. „Lohnausfälle, unentlohnte Überstunden, Löhne weit unter dem Tarif, keine bezahlten Krankheitstage – nur wenn die Leute Glück haben, dürfen sie im Krankheitsfall überhaupt zuhause bleiben – keine Anmeldung bei der Krankenkasse, kein bezahlter Urlaub, kein Urlaubsgeld…“, zählt Letitia Türk auf. Türk berät seit zweieinhalb Jahren Wanderarbeiter aus Südosteuropa für „Faire Mobilität“.«

»Johannes Schader von der IG Bau Rhein-Main sagt: „Die Leute kriegen zum Teil Arbeitsverträge vorgelegt, die mit unseren Bedingungen nichts zu tun haben – ein Stundenlohn von 6,50 Euro zum Beispiel. In anderen Fällen gibt es zwar den Tariflohn von 11,25 Euro, aber dann werden eben nur 80 statt 200 Stunden bezahlt. Und dann ziehen die Auftraggeber noch Kosten ab für das Wohnheim oder für Fahrten, oder sie berechnen Darlehen, die die Leute nicht bekommen.“«

Der Gewerkschafter schätzt, dass „mindestens 2.000 Leute“ in Frankfurt davon betroffen sind.

»Für Offenbach vermutet Matthias Schulze-Böing, Leiter des Amts für Arbeitsförderung, Statistik und Integration, „einige Hundert, die am Rand oder sogar mitten in einer solchen Situation stecken“. Und das führt dann zu Begleiterscheinungen, die nicht mehr nur die Arbeiter selbst betreffen: „Überbelegte Wohnungen, Scheinselbstständigkeit, Arbeitsstrich…“, nennt Schulze-Böing als Beispiele.«

Ausbeutungsstrukturen gibt es auch bei Reinigungen oder – fast schon klassisch – in der Fleischindustrie. „Aber am schlimmsten trifft es meiner Erfahrung nach fast immer die Bauarbeiter“, wird Schulze-Böing zitiert.

Die Betroffenen geraten in einen Teufelskreis: Sie haben kaum oder keine Möglichkeiten, »sich ausreichend zu informieren. Dadurch kennen sie ihre Rechte nicht – und auch nicht ihre Pflichten. „Sie wissen zum Beispiel nicht, dass sie sich ohne Arbeit als arbeitssuchend melden müssen, um weiter Versicherungsschutz zu erhalten, oder dass sie auf Post der Krankenkassen reagieren müssen. Dann müssen sie über Monate ihre Krankenversicherung selbst zahlen, da entstehen schnell mal Schulden von 4.000 Euro oder mehr“, sagt Türk. Das sind Schulden, die zu einem schlechten Schufa-Eintrag führen, wodurch die Betroffenen keine Wohnung finden, wodurch die Abhängigkeit vom Auftraggeber noch größer wird.«

Und natürlich ist das alles auch und vor allem eine Frage der Margen, die man hier machen kann:

»Warum es so schwierig ist, Ausbeutern das Handwerk zu legen, erklärt Schulze-Böing vom Amt für Arbeitsförderung, Statistik und Integration: „Wir verfolgen Schwarzarbeit, aber das ist ein endloser Prozess. Das Grundproblem ist: Die Beträge, die in dem Bereich mit Betrug zu verdienen sind, sind viel zu groß.“«

Möglicherweise gut gemeint, aber mit einem sehr problematischen Ergebnis: Die geplante EU-Dienstleistungskarte

Man kennt das in der Politik zur Genüge: Eigentlich (manchmal auch nur angeblich) will man etwas verbessern und in der Folge des eingeschlagenen Weges wird es dann schlimmer und das Ergebnis schlechter als vorher. Nehmen wir als Beispiel die Freizügigkeit in der EU, die eben auch Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie die Freizügigkeit der Selbständigen bedeutet. Dazu hat die Kommission Anfang des Jahres Vorschläge veröffentlicht: Neue Impulse für eine europäische Dienstleistungswirtschaft. Damit sollen bürokratische Hürden für Unternehmer und Freiberufler abgebaut werden. Und eine Komponente der Vorschläge ist die neue „Elektronische Europäische Dienstleistungskarte“. Eigentlich soll die EU-Dienstleistungskarte für bessere Arbeitnehmer-Freizügigkeit sorgen und es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus einem EU-Land vereinfachen, in anderen EU-Staaten zu arbeiten.  Hört sich nach einem guten Unterfangen an und dann wird man vom Deutschen Gewerkschaftsbund mit so einer Meldung konfrontiert: Wie die EU-Kommission deutsche Arbeitsstandards gefährdet. Wie das? Um das zu verstehen, muss man sich in einem ersten Schritt auseinandersetzen mit zwei grundsätzlich divergierenden Prinzipien – dem „Ziellandprinzip“ versus „Herkunftslandprinzip“.

Das erläutert der DGB mit Blick in die Vergangenheit so: » Eigentlich soll in der EU bei Arbeitnehmern, die grenzüberschreitend tätig sind, das so genannte Ziellandprinzip gelten. Heißt: Wer in Deutschland arbeitet, für den gelten die deutschen Arbeitsstandards – zum Beispiel der deutsche Mindestlohn. Beim Streit um die EU-Dienstleistungsrichtlinie vor rund zehn Jahren konnten die Gewerkschaften dieses Ziellandprinzip durchsetzen und verhindern, dass das „Herkunftslandprinzip“ eingeführt wurde. Das hätte bedeutet, dass heute etwa für Arbeitnehmer aus der Slowakei, Portugal oder Bulgarien, die in Deutschland arbeiten, slowakische, portugiesische, beziehungsweise bulgarische Standards (wie etwa die dortigen Mindestlöhne) gegolten hätten.«

Also ist doch alles gut aus Sicht des Landes, in dem dann die Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten tätig sind. Oder doch nicht? Die Gewerkschaften befürchten nun, dass es mit der neuen EU-Dienstleistungskarte faktisch zu einer Aushöhlung des Ziellandprinzips kommen könnte. Der DGB formuliert seine Bedenken so:

»Der DGB befürchtet jetzt, dass mit der Dienstleistungskarte de facto das Herkunftslandprinzip durch die Hintertür eingeführt werden soll. Denn: Die Dienstleistungskarte wird im Heimatstaat des Unternehmens ausgestellt, bei dem ein Arbeitnehmer beschäftigt ist.  Sie soll bescheinigen, dass das Unternehmen die notwendigen Voraussetzungen erfüllt, in einem anderen Land tätig zu werden und die dortigen Arbeitsstandards einhält. Kontrollieren und bestätigen sollen das Behörden im Herkunftsland. Doch woher soll beispielsweise eine bulgarische Behörde wissen, ob ein bulgarisches Unternehmen für seine bulgarischen Beschäftigten in Deutschland den geltenden Arbeits- und Gesundheitsschutz einhält? Oder die korrekten Mindestlöhne zahlt?«

Eine solche Prüfung und Kontrolle der deutschen Standards sei für ausländische Behörden „kaum möglich“, wird DGB-Vorstand Körzell zitiert. Schlimmer noch: Der „ausländische Dienstleistungserbringer“, also das ausländische Unternehmen, werde so „von der Verpflichtung befreit, dem Zielland nachzuweisen, dass er die dortigen Regeln einhält. Die Behörde im Zielland muss stattdessen verstärkt und unter engem Zeitdruck nachweisen, dass der Antragsteller die Regeln nicht einhält.“ Den Krieg haben die schon am Anfang verloren.

Auch aus Österreich kommt Kritik, über die beispielsweise dieser Artikel informiert: Baugewerkschaft warnt vor EU-Deregulierung: »Die österreichische Gewerkschaft Bau, Holz (GBH) hat die geplante Einführung einer elektronischen EU-Dienstleistungskarte kritisiert. »Sollte die EU-Dienstleistungskarte für Selbständige so kommen, werden es ausländische ›schwarze Schafe‹ in Zukunft noch leichter haben, österreichische Unternehmen vom Markt zu verdrängen«, sagte der GBH-Chef Josef Muchitsch. Mit der Einführung der Karte sei eine Deregulierung des Arbeitsmarktes verbunden. Die Unternehmer würden es bei deren Ausstellung nur mit den Behörden ihres jeweiligen Landes zu tun haben, österreichischen Stellen seien die Hände gebunden. »Ein Heer von ›Einzelunternehmern‹ würde mit Dumpingkonditionen jeden seriösen Wettbewerb zerstören«, so Muchitsch.«

An dieser Stelle kommt auch vom deutschen Handwerk Kritik, wie man diesem Artikel entnehmen kann: Handwerk ärgert sich über Brüssel. Die Handwerker zitieren nicht die Gewerkschaften, sondern die beiden Vorsitzenden des „Parlamentskreises Mittelstand Europe“ der CDU/CSU- Gruppe in der Europäischen Volkspartei, Markus Pieper (CDU) und Markus Ferber (CSU), die in dem vorgeschlagenen Dienstleistungspaket einen „weiteren Schritt in Richtung Deregulierung reglementierter Berufe“ – wie bei Architekten und Ingenieuren sowie beim Handwerk- sehen. Zur geplanten EU-Dienstleistungskarte wird – die Bedenken der Gewerkschaften stützend – ausgeführt:

»Kritisch äußerten sie sich auch zu dem Vorschlag für eine Dienstleistungskarte. Sie soll es Dienstleistern ermöglichen, mit einem lediglich im Herkunftsland ausgestellten Dokument dem Aufnahmeland die für das Anbieten der Dienstleistung notwendigen Informationen mitzuteilen. Dieses System soll vorerst im Baugewerbe zur Verfügung stehen. „Die Idee, grenzüberschreitendes Arbeiten zu entbürokratisieren, ist zu begrüßen. Dennoch liegen die Ursachen des geringen grenzüberschreitenden Dienstleistungsangebots in der Baubranche in natürlichen Hindernissen wie Sprache oder unterschiedlichen technischen Ausstattungen“, erläuterten die EU-Politiker. Die Dienstleistungskarte würde nach ihrer Einschätzung diese Hindernisse nicht beheben. Stattdessen fürchten sie, dass die Dienstleistungskarte die Aufsicht der Behörden aushebeln könnte. „Gerade in Bereichen, die für unsere Sicherheit derart wichtig sind wie dem Bau, dürfen wir unsere hohen Standards nicht für mehr Angebot und Wettbewerb riskieren“, so Piper und Ferber.«

Das wird allerdings offensichtlich unter den Unionspolitikern nicht einheitlich so gesehen: »Die Dienstleistungskarte könne hilfreich sein, um administrative Auflagen einzubremsen und für eine schnelle Abwicklung der Formalitäten zu sorgen, sagte dagegen der Sprecher der EVP-Fraktion im Binnenmarktausschuss des Europaparlaments, Andreas Schwab (CDU).«

Die Schlecker-Welt ist Geschichte, aber die Klage über schlechte Arbeitsbedingungen nicht. Die Drogeriemarktkette Rossmann und das neue alte Problem: Werkvertrag oder – illegale – Leiharbeit?

Das Thema Werkverträge und der Grenzbereich zur illegalen Arbeitnehmerüberlassung ist mal wieder ans Tageslicht befördert worden. Schon seit Jahren ein Thema und auch derzeit Teil der gesetzgeberischen Aktivitäten einer „Reform“ der Leiharbeit, konkret des AÜG (vgl. hierzu weiterführend Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze, am 17. Oktober 2016 wird im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages eine Sachverständigenanhörung zum Gesetzentwurf stattfinden). Eigentlich ist der Unterschied simpel: Wenn sich ein Unternehmen Personal entleiht von einem Leiharbeitsunternehmen, dann kann es diese Mitarbeiter in seinem Unternehmen so verwenden, als wären sie seine „normalen“ Beschäftigten, er hat dann auch das Direktionsrecht gegenüber den entliehenen Arbeitnehmern. Wenn das Unternehmen hingegen ein Subunternehmen beauftragt, einen Werkvertrag zu erledigen, dann dürfen die Mitarbeiter im Werkvertrag nicht eingegliedert werden in die normale Belegschaft und das Werkvertragsunternehmen muss als „Betrieb im Betrieb“ fungieren. Es schuldet dem Auftraggeber ein vereinbartes Werk (oder beim Dienstvertrag eine vereinbarte Dienstleistung).

Und nun erreichen uns wieder einmal Berichte aus dem Drogeriemarktbereich, den viele immer noch mit der untergegangenen Welt von Schlecker assoziieren. Oder mit dm – oder mit Rossmann. Und um das letzte Unternehmen geht es konkret und damit um den „Vorzeigeunternehmer“ Dirk Roßmann.

Das Politikmagazin „Report Mainz“ hat sich nun mit einem Beitrag in die Öffentlichkeit begeben, der allerdings eher auf das Gegenteil verweist: Der Vorzeigeunternehmer Rossmann steht erneut in der Kritik, so ist der überschrieben: Mitarbeiter von Fremdfirmen in „Rossmann“-Filialen klagen über schlechte Arbeitsbedingungen und Bezahlung.

»Dirk Roßmann gilt als Vorzeigeunternehmer. Er hat das Firmenimperium mit mehr mit als 3.000 Filialen und einem Umsatz von fast 8 Milliarden Euro aufgebaut. In der Öffentlichkeit sieht er sich gern in der Rolle des stets um seine Mitarbeiter bemühten Firmenpatriarchen.
Gemeinsame Recherchen des Magazin stern und von REPORT Mainz zeigen allerdings, dass es neben den relativ gut bezahlten Rossmann-Mitarbeitern auch tausende Billiglöhner in den Filialen gibt. Sie sind Mitarbeiter einer Fremdfirma, mit der Rossmann einen so genannten Werkvertrag geschlossen hat. Doch ob diese Konstruktion juristisch in diesem Fall wirklich legal ist, daran bestehen erhebliche Zweifel. Würde sich stattdessen der Verdacht der illegalen Arbeitnehmerüberlassung bestätigen, hätte das gravierende Folgen für die Firma Rossmann.«

Der stern berichtet unter der Überschrift: Verdacht illegaler Arbeitnehmerüberlassung bei Rossmann. Dort findet man diese Hinweise:

»Beim Einsatz von Werkvertragsarbeitern in Filialen der Drogeriekette Rossmann könnten rechtliche Regeln gebrochen worden sein … Rossmann setzt für Einräumarbeiten in seinen Filialen tausende Mitarbeiter des Subunternehmens Promota.de auf Basis von Werkverträgen ein. Interne Firmenunterlagen, Filmaufnahmen aus Rossmann-Filialen und Aussagen von Mitarbeitern und legen jedoch den Verdacht nahe, dass Angestellte des Subunternehmens und Rossmann-Stammbeschäftigte in den Filialen enger zusammenarbeiten, als dies nach den Regeln für Werkverträge zulässig ist.«

Rossmann und Promota.de haben solche im Raum stehenden Vorwürfe bisher stets mit Verweis auf bestandene Überprüfungen durch den Tüv Rheinland zurückgewiesen. Nun allerdings haben die recherchierenden Journalisten Material bekommen, das diesen Beleg für ordentliches Verhalten fragwürdig erscheinen lässt, angereichert um Filmaufnahmen:

»Nach einer internen Schulungsunterlage der Promota.de-Tochter Tempus vom Frühjahr 2016 verändert das Subunternehmen seine Arbeitsabläufe jedoch offenbar gezielt dann, wenn die Tüv-Prüfer in den Rossmann-Filialen erscheinen. So sollen die Einräumer „während des Audits“ spezielle „Besonderheiten“ beachten und Regale nicht gleichzeitig mit Rossmann-Mitarbeitern einräumen. „Die Ausübung der gleichen Tätigkeit“ von Mitarbeitern der Drogeriekette und des Subunternehmens „zur gleichen Zeit ist ein Indiz für ‚verdeckte Arbeitnehmerüberlassung‘ und gefährdet den Werkvertrag“, ermahnte das Unternehmen seine Teamleiter. Sind keine Tüv-Prüfer im Haus, sei es hingegen vollkommen normal, dass die Werkarbeiter die Regale zeitgleich mit Rossmann-Mitarbeitern einräumen, bestätigten Promota.de-Mitarbeiter dem stern. Das gleiche Bild zeigte sich auf Filmaufnahmen aus Rossmann-Filialen in verschiedenen deutschen Städten, die „Report Mainz“ vorliegen.«

Peter Schüren, Professor für Arbeitsrecht an der Universität Münster und ein ausgewiesener Kenner der Werkvertragsproblematik, wird zitiert mit den Worten, dass es angesichts des Materials „ernsthafte Verdachtsmomente, die für eine illegale Arbeitnehmerüberlassung sprechen“, geben würde. Seiner Auffassung nach sollten hier die Behörden aktiv werden, die für die Bekämpfung von Scheinwerkverträgen zuständig sind: „Das ist ein Fall für den Zoll.“

In dem Fernsehbeitrag von „Report Mainz“ »klagen mehrere Mitarbeiter der Fremdfirmen zudem über schlechte Arbeitsbedingungen und miese Bezahlung. Sie empfinden die Arbeit als „Ausbeutung“ und „erniedrigend“ angesichts der Tatsache, dass sie im Vergleich zu „Rossmann“-Mitarbeitern viel weniger verdienten. Fahrten zwischen verschiedenen Einsatzorten würden nicht als Arbeitszeit bezahlt. Vielfach müsse umsonst gearbeitet werden, um zeitliche Vorgaben zu erfüllen.«

Und wir erfahren auch – nicht wirklich überraschend bei solchen Konstruktionen: „Rossmann“ ist zu 49 Prozent an der Firma „Promota.de“ beteiligt.

Aber der eine oder andere wird sich erinnern – Rossmann, da war doch schon mal was? Und schreiben nicht auch die Redakteure von „Report Mainz“, dass das Unternehmen „erneut“ in der Kritik stehe?

Genau, schon im Mai 2012 erschien im Handelsblatt ein hervorragend recherchierte Artikel von Massimo Bognanni unter der Überschrift Die verborgene Seite des Rossmann-Reiches. Im Lichte der neuen Vorwürfe gegen das Unternehmen lohnt der Blick in diesen Artikel: Statt auf Stammpersonal setzt der Drogeriekonzern Rossmann auf billige Arbeitskräfte ausländischer Subunternehmen – und die Insider werden nicht wirklich überrascht sein, dass in der Beschreibung der konkreten Umsetzung des Lohndumping die Werkverträge auftauchen. Bognanni beschrieb das Konstrukt damals so:

„Was die meisten Kunden nicht ahnen: Nicht alles bei Rossmann ist besser als bei Schlecker. Es gibt auch eine dunkle, verborgene Seite des Rossmann-Reiches. Handelsblatt-Recherchen werfen erstmals Licht auf ein Geflecht aus Subunternehmen mit englischen Namen und polnischen Töchtern.
Nicht ohne Grund arbeiten die Subunternehmen im Verborgenen. Ihre Beschäftigten befüllen bei Rossmann die Regale, erledigen Inventuren, sitzen an der Kasse. Sie sind Billiglöhner, verdienen deutlich weniger, als es die Einzelhandelstarife vorgeben.

Die Potsdamer „Instore Solution Services GmbH“ (ISS) ist so ein dunkler Fleck. Dirk Roßmanns Investitionsfirma ist an der ISS mit 49 Prozent beteiligt. So steht es im Jahresabschluss der „Rossmann Beteiligungs GmbH“ vom Sommer 2011. Knapp 32 Millionen Euro Umsatz machte die ISS 2010 und 1,27 Millionen Euro Gewinn. Zahlen, über die sich Dirk Roßmann freuen dürfte.
Mitarbeiter und Teamleiter der ISS haben hingegen weniger zu lachen. Sie berichten dem Handelsblatt, wie das System Rossmann funktioniert: In den frühen Morgenstunden rücken sie an. Auf Palettenwagen stehen die Shampoo-Flaschen, Baby-Gläschen und Deko-Kerzen, die sie in die Regale räumen. Ein Sortiment von über 17 000 Produkten. Bis neun Uhr, wenn die Läden öffnen, sollen die ISS-Leute fertig sein. Brauchen sie länger, verdienen sie für die Überstunden meist nichts, klagen Beschäftigte.

Der Drogerieunternehmer profitiert indes doppelt von den billigen Arbeitskräften: durch seine Beteiligung an der ISS einerseits, durch die gedrückten Löhne andererseits. Der Verdi-Tarifvertrag in Niedersachsen sieht für das Wareneinräumen einen Stundenlohn von mindestens 9,86 Euro vor. Doch bei Rossmann gibt es eine andere Lösung: den Werkvertrag. Damit überträgt Rossmann das Regaleinräumen von der Stammbelegschaft auf die ISS. Und das ist deutlich billiger.
Denn die Werkvertragler haben einen eigenen Tarifvertrag. Dieser, unterzeichnet vom Arbeitgeberverband „Instore und Logistik Services“ und der Gewerkschaft DHV, sieht im Westen einen Stundenlohn von 6,63 Euro vor, in Ostdeutschland sind es 6,12 Euro. Ersparnis im Vergleich zum Verdi-Vertrag: 33 Prozent. Und die Werkverträge haben weitere Vorzüge: Im Gegensatz zu der Zeitarbeit muss der Betriebsrat einer Auslagerung an Werkvertragler nicht zustimmen. „Für uns sind die ISS-Beschäftigten die einzige Möglichkeit, an der Personalkostenschraube zu drehen“, erklärt ein Rossmann-Bezirksleiter.

Wie viele der ISS-Werkvertragler für die Drogeriekette arbeiten, verrät Rossmann auch nicht. Nur so viel: Die ISS-Arbeiter befüllen in jeder zweiten Filiale Regale der Drogeriekette, in über 800 Märkten.

Eine weitere Investition der Rossmann’schen Beteiligungsgesellschaft ist die „Instore Solutions Personell GmbH“ (ISP). An der Leiharbeitsfirma hält Roßmann 22,5 Prozent. ISP-Leiharbeiter sitzen in Filialen an der Kasse. „Ich habe in Märkten gearbeitet, in denen ISP-Leiharbeiter kassierten, ISS-Leute die Regale befüllten. Nur noch ein Kollege arbeitete direkt für Rossmann – und das war der Filialleiter“, berichtet ein Werkvertrages.

Auch bei den Inventuren setzt die Firma auf ein Subunternehmen. In Rossmann-Filialen zählen Billiglöhner der polnischen Firma „Invent“ die Bestände. Invent ist als Tochter der „ISS Polska“ mit der Potsdamer ISS verbunden. 250 Zloty, umgerechnet 59,42 Euro, bekommt ein polnischer Inventurhelfer brutto am Tag. Die Schichten dauern bis zu neun Stunden – das macht einen Stundenlohn von 6,60 Euro. In Niedersachsen sieht der Tarifvertrag für Inventurhelfer einen Stundenlohn von 7,73 Euro vor.“

Sollten sich die neuen Vorwürfe gegen das Unternehmen erhärten, dann hätten wir es also mit einem „Wiederholungstäter“ zu tun. Man wird abwarten müssen, ob Ermittlungen aufgenommen werden und was die rechtlich verwertbar zu Tage fördern (können), denn das ist eines der zentralen Probleme beim Kampf gegen die missbräuchliche Verwendung von Werkverträgen: Der gerichtsverwertbare Nachweis.

Und wenn wir schon im Themenfeld Werkverträge und Abgrenzung zur Leiharbeit sind, kann man an dieser Stelle auch mit Blick auf einen Bericht, der vor mehreren Jahren einen Moment lang die mediale Aufmerksamkeit bekommen hat, folgendes berichten:

Manche werden sich noch erinnern an das Frühjahr 2013, als die SWR-Reportage Hungerlohn am Fließband über Werkverträge und Leiharbeit beim Premium-Hersteller Daimler im ARD-Fernsehen ausgestrahlt wurde. Im Anschluss wurde das Thema bei „Hart aber fair“ aufgegriffen. Der SWR-Journalis Jürgen Rose hatte undercover beim Daimler gearbeitet und gefilmt. Der Konzern war not amused (um das mal vornehm auszudrücken) und hat den SWR mit Klagen überzogen, um die weitere Ausstrahlung zu verhindern. Ganz klar ging es auch darum, den Medien ein deutliches Signal zu senden, dass man rigoros gegen jeden Nachahmer vorzugehen gedenkt und Journalisten die Finger davon lassen sollten, weil sie mit Klagen überzogen werden. In mehreren Instanzen ist Daimler aber mit diesem Ansinnen gescheitert. Und Ende September 2016 kommt nun endlich diese erfreuliche Botschaft von ganz oben: Daimler scheitert mit Beschwerde vor dem BGH. In der letzten Instanz hat der Automobilbauer nun verloren:

»Die Niederlage des Autobauers Daimler im Streit mit dem Südwestrundfunk (SWR) über eine Undercover-Reportage zu Niedriglöhnen ist endgültig besiegelt. Eine Beschwerde von Daimler wegen Nichtzulassung zur Revision sei abgewiesen worden, sagte eine Sprecherin des Bundesgerichtshofs (BGH) am Mittwoch in Karlsruhe (Az.: VIZR427/15).
Das Berufungsverfahren vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht (OLG) hatte Daimler 2015 verloren. Auch wenn bei dem Filmdreh das Hausrecht des Konzerns verletzt worden sei, rechtfertige der aufgedeckte Missstand den Eingriff in die Rechte der Firma, hatte das OLG 2015 entschieden.«

Allerdings kann es der Konzern nicht lassen, für die Zukunft zu drohen – und die Zielgruppe ist klar:
Eine Daimler-Sprecherin sagte, die in den Fall involvierten Gerichte hätten „bloße Einzelfallentscheidungen“ getroffen. „Vergleichbare Aktivitäten würden wir wieder ebenfalls gerichtlich klären lassen.“