Flüchtlinge: Ein Kinder- und Jugendsegen. Zugleich sollen und müssen die in Kitas und Schulen. Und das ist nicht nur eine Frage des Geldes und des Personals

Die Zukunft legt keine Pause ein im Angesicht der Not des Augenblicks. Immer neue Flüchtlinge gelangen – noch – nach Deutschland. Während die Mühlen der großen Systeme langsam mahlen und Schritt für Schritt auf dem komplizierten internationalen Parkett eine weitreichende Abschottung Europas angestrebt wird (vgl. dazu die Verhandlungen mit der Türkei als „Vorposten“ der EU oder EU-Innenminister senden Botschaften der Härte aus), sind zahlreiche Menschen aus den Krisen- und Kriegsgebieten hier bei uns und auch wenn derzeit die Akteure in einem gespenstisch daherkommenden Zustand der Notsteuerung und dabei oftmals schon am Limit sind, bei der es primär darum geht, überhaupt irgendwelche Unterkünfte zu organisieren, darf und sollte man nicht den Blick auf die nun vor uns liegenden Aufgaben verlieren, zu denen neben der vieldiskutierten Frage der Arbeitsmarktintegration eines Teils der Flüchtlinge auch gehört, den Kindern und Jugendlichen einen Zugang in unsere Bildungssysteme zu ermöglichen. Folglich stehen auch die vor einer gleichsam herkulischen Aufgabe.

Dazu muss man sich nur die Dimension der zusätzlichen Aufgaben verdeutlichen, die auf die Kitas und vor allem auf die Schulen zukommen: Gewerkschaft rechnet mit 300.000 neuen Schulkindern – wohlgemerkt in den kommenden zwölf Monaten bundesweit. Dazu seien zusätzliche 24.000 Lehrkräfte notwendig, die Gewerkschaft kalkuliert dabei mit einer Größenordnung von 8.000 Lehrkräften je 100.000 Schüler, die notwendig seien, so die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe. Hinsichtlich der Kitas »erwartet die GEW bis zu 100.000 zusätzliche Kinder. Hierfür sind laut Tepe 14.000 zusätzliche Erzieherinnen nötig.«

Wobei man darauf hinweisen muss, dass diese Zahlen Schätzungen sind – nichts genaues weiß man nicht, was ja derzeit ein Wesensmerkmal des Fahrens auf Sicht ist. Wir haben es ganz offensichtlich mit einem mehrfach beweglichen Ziel zu tun, zum einen quantitativ (und hier noch mal gedoppelt in dem Sinne, dass man nicht weiß, wie viele werden es denn werden und zum anderen hinsichtlich der Tatsache, dass sich die dann zu versorgenden Kinder und Jugendlichen ja nicht gleichverteilen über das Land, also hier in wenigen Einzelfällen und dort in sehr großer Zahl aufschlagen), aber auch qualitativ in potenzierter Form, denn es sind nicht nur ganz unterschiedliche Nationalitäten, Kulturen und religiöse Hintergründe, sondern auch Traumatisierungen und andere persönliche Belastungen, die mit den einzelnen Kindern und Jugendlichen einhergehen können.

Das bedeutet mit Blick auf die, die das in den Bildungseinrichtungen stemmen müssen, dass es nicht „nur“ ein Organisationsproblem ist, die zusätzlichen Angebote zur Verfügung zu stellen, was in Wirklichkeit schon oft eine echte Heraus-, wenn nicht Überforderung darstellt. An dieser Stelle liegen bereits zahlreiche Konflikte. Beispiel Berlin: Kitaplatz-Mangel verschärft sich wegen Flüchtlingskindern, so ist ein Artikel überschrieben. Auch Flüchtlingskinder haben einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz. »Fast die Hälfte der minderjährigen Flüchtlinge, die derzeit täglich in Berlin ankommen, sind unter sechs Jahren. Also im besten Kita-Alter.« Zur Zeit besucht etwa jedes drittes Flüchtlingskind eine Kita. »Zusätzliche Mittel dürften nicht nur in den Ausbau der Kapazitäten gegeben werden, sagte Christa Preissing vom Berliner Kita-Institut für Qualitätsentwicklung. Es sei noch weiteres Geld nötig, um den Personalschlüssel für Krippenkinder unter drei Jahren zu verbessern.«

Aber ein richtig großer Brocken wird den Schulen hingeworfen, denn die meisten Kinder und Jugendlichen sind im Schulalter. Zwei Drittel der neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen benötigen Schulplätze an weiterführenden Schulen – genau so ist auch eine Pressemitteilung des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Fremdsprache überschreiben, in der auf eine neue Studie hingewiesen wird, die das Institut gemeinsam mit dem Zentrum für LehrerInnen-Bildung an der Universität Köln erstellt hat:

Mona Massumi et al.: Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem. Bestandsaufnahme und Empfehlungen. Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache und Zentrum für LehrerInnenbildung der Universität zu Köln, 2015

Im Jahr 2014 sind knapp 100.000 Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter neu nach Deutschland zugewandert. Die Zahl hat sich seit 2006 vervierfacht  – und insofern scheint sich das einzureihen in die vielen Meldungen dieser Tage, die eine (bevorstehende) Überforderung des ganzen Systems anzuzeigen scheinen. Da ist dann auch diese Zahl von Bedeutung: Der Anteil neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher im Verhältnis zur Gesamtschülerschaft bei einem Prozent.

Die Studie gibt einen bundesweiten Überblick über die schulische Situation neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher und bezieht sie nicht nur auf geflüchtete Kinder und Jugendliche, sondern berücksichtigt alle 6- bis 18-Jährigen, die neu nach Deutschland zuwandern.
Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache, wird so zitiert:

»Die Frage, wie neu zugewanderte Kinder und Jugendliche im Bildungssystem aufgenommen werden können, ist jahrelang vernachlässigt worden. Jetzt fehlen die nötigen Informationen, Konzepte sind in Vergessenheit geraten. Mit den Berechnungen dieser Studie liegen erstmals fundierte Annäherungswerte vor. Sie zeigen: Die Zahl wächst mit großer Geschwindigkeit und gerade diese Schnelligkeit stellt die Schulen und Lehrkräfte vor große Herausforderungen.«

Erkennbar werden erhebliche Defizite im Wissen über die, die schon da sind, denn die Studie hat ergeben, dass in vielen Bundesländern nicht systematisch erhoben wird, wie viele neu zugewanderte Kinder und Jugendliche ohne Deutschkenntnisse tatsächlich an den Schulen sind. Ohne diese Planungsgrundlage ist es jedoch kaum möglich, den Bedarf an Lehrkräften und weiteren Ressourcen rechtzeitig einzuschätzen.
Mehr als zwei Drittel der neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen zwischen zehn und 18 Jahre alt – sie benötigen einen Schulplatz an einer weiterführenden Schule, insbesondere an berufsbildenden Schulen sind zusätzliche Kapazitäten erforderlich.

Und wieder werden wir mit den Untiefen des deutschen Föderalismus konfrontiert:

»Großer Nachholbedarf besteht hinsichtlich der Schulpflicht: Nur in Berlin und im Saarland gilt die gesetzliche Schulpflicht für alle Kinder und Jugendlichen uneingeschränkt von Anfang an. In allen anderen Bundesländern gilt sie nicht automatisch für Kinder und Jugendliche ohne Aufenthaltsstatus oder vor Beginn des Asylverfahrens.«

Da sich die Verfahren teilweise über viele Monate hinziehen, sind die Kinder und Jugendlichen häufig faktisch vom Schulbesuch ausgeschlossen, obgleich sie ein Recht auf Schulbesuch haben. Und die föderale Vielfalt lässt sich auch bei der Frage nach der Organisation des Schulbesuchs besichtigen, denn:

»Die Studie hat fünf Modelle identifiziert, nach denen neu zugewanderte Kinder und Jugendliche unterrichtet werden. Das Spektrum reicht von integrativem Unterricht in der normalen Klasse ab dem ersten Tag bis zur Einrichtung parallel geführter Klassen, in denen die Schülerinnen und Schüler zunächst Deutsch lernen und später sogar einen Schulabschluss erwerben können. Alle Modelle sind darauf angelegt, möglichst schnell den Übergang in eine Regelklasse bzw. Berufsausbildung zu ermöglichen. Die Stadtstaaten Berlin und Hamburg verfahren vergleichsweise einheitlich, in den meisten Bundesländern sind jedoch mehrere Modelle im Einsatz, abhängig von der Region, Schülerzahlen und der Schulform.«

»Die Kinder der Geflüchteten besuchen an den Schulen meist zunächst so genannte Willkommensklassen. Das sind Lerngruppen, in denen die Kinder möglichst schnell so viel Deutsch lernen sollen, damit sie bald die regulären Schulklassen mit einheimischen Kindern besuchen können. Die Klassen heißen in allen Bundesländern anders, in Bayern spricht man von Übergangsklassen, in Nordrhein-Westfalen von internationalen Klassen«, berichtet Christian Füller in seinem Artikel In welche Klasse soll Akilah, die kein Deutsch spricht?  Und weiter: „Willkommensklassen sind jeden Tag wie eine Wundertüte – man weiß nie, wer alles kommt“, wird Ursula Huber, Lehrerin für Deutsch als Zweitsprache an der Carl-Kraemer-Grundschule in Berlin, zitiert. Manche Kinder seien noch nicht einmal alphabetisiert, nicht wenige haben traumatische Erlebnisse hinter sich. Manche verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind – weil sie wieder abgeschoben werden.

Vergessen werden sollte auch nicht die enorme Altersspanne. Wenn ein sehr junges Kind, das nach Deutschland kommt und in eine ordentliche Kita geschickt wird, hat es sehr gute Chancen in unserer Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt, denn die lernen „en passant“ die Sprache des gastgebenden Landes. Aber es gibt auch die anderen, die älteren Flüchtlinge.

Wie sieht es beispielsweise mit dem Alter zwischen 16 und 25 Jahren aus? Nicht nur in Deutsch, sondern auch in Mathe punkten, so ist ein Artikel dazu überschrieben.

»Seit ihrer Gründung im Februar 2000 hat diese besondere Bildungseinrichtung, die sogenannte SchlaU-Schule, rund 1500 Flüchtlinge im Alter zwischen 16 und 25 Jahren betreut. Michael Stenger gründete die Schule, nachdem er merkte, dass die Sprachkurszertifikate, die Flüchtlinge für die Teilnahme an seinen Deutschkursen bekamen, nicht für den Eintritt in den Arbeitsmarkt reichten. Das lag weniger an den Deutschkenntnissen als an fehlendem Unterricht in Fächern wie Mathematik, Ethik und Naturwissenschaften.«

Die Schlau-Schule – Schlau steht für schulanaloger Unterricht – war laut Melanie Weber, der stellvertretenden Schulleiterin, die erste in Deutschland, die ausschließlich Flüchtlinge auf staatliche Schulabschlüsse vorbereitet. Die Schüler müssen mindestens 16 Jahre als sein und dürfen höchstens 25 Jahre sein.

»Die 38 Lehrerinnen und Lehrer der Münchner Schlau-Schule und ihrer Tochterschule Isus (Integration durch Sofortbeschulung und Stabilisierung) sind nicht verbeamtet und werden von der Stadt München und dem Freistaat Bayern bezahlt. Alle haben eine Qualifizierung in Deutsch als Zweitsprache oder Deutsch als Fremdsprache. Es arbeiten auch sieben Sozialarbeiter und Schulpsychologen an den beiden Schulen. Man versucht, das Selbstwertgefühl der Schüler zu stärken, die seelische Anspannung zu lindern und gesellschaftliche Orientierung zu ermöglichen. Schulträger ist der Verein Trägerkreis Junge Flüchtlinge …«

Auch interessant: Die Finanzierung dieses Schulangebots wird durch Stiftungen und Privatspender unterstützt. Der Anteil der öffentlichen Finanzierung betrug knapp 70 Prozent. 80 Prozent der Absolventen gingen im vergangenen Jahr in Ausbildungsberufe, die anderen 20 Prozent auf Realschulen und Gymnasien.

Dies mag nur ein Beispiel sein – aber es kann zeigen, welche enorme Spannweite an ganz unterschiedlichen Maßnahmen und Angeboten erforderlich sein wird, um die Aufgaben stemmen zu können.

Abbildung: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Fremdsprache

Da war doch noch was: Ein Arbeitskampf => ein Schlichtungsergebnis => dessen Ablehnung von unten => neue Verhandlungen nach der Wiederwahl des Vorsitzenden => eine Wiederauferstehung des Schlichtungsergebnisses, garniert mit kosmetischen Korrekturen

Dieses Jahr wird sicher einen besonderen Platz im Archiv der Geschichte der Arbeitskämpfe bekommen – nicht nur wegen der Streiks der Lokführer und den zwischenzeitlich wieder auf dem Boden aufgeschlagenen Arbeitskampfaktionen der Piloten der Lufthansa, sondern auch wegen einer Serie von Kopfnüssen, die seitens der Gewerkschaft Verdi wegzustecken waren. Gemeint ist hier zum einen der Arbeitskampf bei der Deutschen Post DHL, der sich vor allem und am Ende erfolglos gegen eine Verlagerung der Paketzustellung in Billigtöchter gerichtet hat. Und zum anderen – angesichts seiner grundsätzlichen Bedeutung besonders schmerzhaft – der Streik im Sozial- und Erziehungsdienst, in der Öffentlichkeit immer verkürzend als „Kita-Streik“ tituliert, was aber unvollkommen ist, denn es ging (und geht) auch um die Beschäftigten in der Jugendhilfe, der Behindertenhilfe und anderen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit, die aber irgendwie immer untergehen in der Berichterstattung.

Die Fachkräfte des Sozial- und Erziehungsdienstes in kommunalen Einrichtungen wurden im Frühjahr – nicht nur von Verdi, sondern auch von der GEW – in einen unbefristeten Arbeitskampf geschickt mit der Forderung nach einer strukturellen Aufwertung ihrer Berufe im Tarifgefüge. Es handelte sich also nicht um eine „normale“ Lohnrunde, sondern um die Durchsetzung des Ziels, die Fachkräfte hinsichtlich ihrer Eingruppierung nach oben zu heben. Damit sollte den gestiegenen Anforderungen und der Bedeutung ihrer Arbeit endlich auch spürbar Tribut gezollt werden. Die Forderungssumme der strukturellen Verbesserungen beliefen sich alles in allem auf gut zehn Prozent. Es soll an dieser Stelle gar nicht um die taktisch-strategische Bewertung gehen, ob man damit die Trauben nicht zu hoch gehängt hat. Zweifel an der Sinnhaftigkeit angesichts der realen Bedingungen gab es durchaus auch im Gewerkschaftslager vor dem Arbeitskampf, beispielsweise auf Seiten der GEW, die sich eher ein Stufen-Modell gewünscht hätte.

Der zentrale Punkt hinsichtlich der besonderen Bedeutung des letztendlich ausgerufenen unbefristeten Arbeitskampfes muss darin gesehen werden, dass es um einen Bereich geht, bei dem ein Erfolg von Streikaktionen ganz erhebliche Folgewirkungen auch auf andere Felder personenbezogener Arbeit haben würde – gerade die Pflegekräfte haben den Streik sehr intensiv beobachtet (und viele sicher auch die Daumen gedrückt), denn sie haben das gleiche Problem wie streikende Erzieher/innen oder Sozialarbeiter: Der Arbeitskampf trifft nicht unmittelbar ein oder mehrere Unternehmen, deren Produktion lahmgelegt wird, sondern erst einmal diejenigen, die den Fachkräften anvertraut sind – also Kinder, Behinderte oder eben Pflegebedürftige. Und da fällt streiken schon mal per se sehr schwer, denn es ist verständlicherweise nicht einfach, hilflose und sorgebedürftige Menschen im wahrsten Sinne des Wortes „liegen zu lassen“.

Insofern hätte man diesen Weg mehr als intensiv vorbereiten müssen – nicht nur angesichts der Tatsache, dass die, gegen die der Arbeitskampf gerichtet war, also die kommunalen Arbeitgeber, anders als „normale“ Unternehmen, bei denen sich Streikfolgen sofort in der eigenen Schatulle schmerzhaft bemerkbar machen, nicht unmittelbar getroffen werden (können), sondern primär die Kinder und deren Eltern. Die Arbeitgeber – und das haben sie auch in extensio gemacht – können sich erst einmal zurücklehnen und abwarten, haben sie doch keinen unmittelbaren Schaden (vor allem nicht, wenn sich nach einer gewissen Dauer die wachsende Wut der unmittelbar Betroffenen fast ausschließlich gegen die Streikenden richtet). Ganz im Gegenteil, durch die Streiktage können sie sogar noch Geld sparen, weil das die von ihnen zu tragenden Personalkosten reduziert (hat). Insofern hätte man neben einer sorgfältig vorbereiteten Streikwelle (auch durch die Einbindung der anderen Gewerkschaften als Unterstützer und gewissermaßen Schutzschild) vor einem unbefristeten Arbeitskampf die scheinbar nicht einfache und logische Frage stellen müssen: Halten wir das auch durch, wenn das mediale Sperrfeuer nach anfänglicher Sympathie einsetzt?

Hinzu kommt eine weitere erhebliche Restriktion des Agierens über einen Arbeitskampf: Im Kita-Bereich sind lediglich ein Drittel der Plätze und Einrichtungen in kommunaler Trägerschaft, der große Rest hingegen wird von „freien Trägern“ betrieben, unter denen die konfessionell gebundenen Träger die große Mehrheit stellen. Aber bei denen gibt es kein Streikrecht für deren Mitarbeiter (die dort als „Dienstnehmer“ bezeichnet werden). Auch wenn die Erzieher/innen dieser Einrichtungen gerne mitkämpfen wollen, sie können es nicht, ihre Rolle beschränkt sich auf die eines Zaungastes, der nur die Daumen drücken kann.

Dennoch ist man in einen unbefristeten Streik eingetreten. Der Ablauf ist bekannt. Nach einigen Wochen wurde der Arbeitskampf unterbrochen, da eine Schlichtung einberufen wurde. Am 23. Juni 2015 gab es eine Einigungsempfehlung der Schlichtungskommission. Die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) schreibt dazu auf ihrer Webseite: »Die beiden Schlichter in den Tarifverhandlungen für den Sozial- und Erziehungsdienst, Georg Milbradt und Herbert Schmalstieg, haben am 23. Juni 2015 ihren einvernehmlichen Schlichterspruch in Bad Brückenau vorgestellt. Inhalt: Differenzierte Erhöhungen für die unterschiedlichen Gehaltsgruppen, aber keine Steigerung um die von den Gewerkschaften geforderten durchschnittlichen zehn Prozent.«
Die Gewerkschaften, deren Verhandler der Schlichtungsempfehlung zugestimmt hatten, haben dann ihre Basis diskutieren und im Sommer abstimmen lassen über dieses Ergebnis – mit fatalen Folgen, denn eine große Mehrheit hat den Schlichterspruch abgelehnt. Damit gerieten die Gewerkschaften, vor allem aber die federführende Organisation Verdi, in eine überaus unangenehme Situation, mussten sie doch nach diesem Votum in erneute Verhandlungen mit den kommunalen Arbeitgebern eintreten und zugleich die Möglichkeit erneuter Streikaktionen vorbereiten – wohl wissend, dass es diesmal noch schwerer werden würde, über Streiks etwas erreichen zu können, das spürbar über der Schlichtungsempfehlung liegen würde, was offensichtlich von der Basis erwartet wurde. Das alles wurde in diesem Blog bereits dargestellt und auch kommentiert, so in dem Beitrag Zwischen „ausgelaugter Gewerkschaft“ und dem Nachtreten derjenigen, die das Streikrecht schleifen wollen vom 10. August 2015 sowie kurz vorher Die Gewerkschaftsspitze allein zu Haus? Das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum Schlichtungsergebnis im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste und das „Fliegenfänger“-Problem der Verdi-Führungsebene vom 8. August 2015.

Aber die Arbeitgeberseite war gnädig – man vertagte die neue Runde an Verhandlungen bis nach der Wiederwahl von Frank Bsirske als Vorsitzender der Gewerkschaft Verdi und gab dann einige kleinere kosmetische Verbesserungen an die aus ihrer Sicht schon längst ausgehandelte Angelegenheit. Ergebnis dieser Verhandlungsrunde war dann die Tarifeinigung für die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst vom 30. September 2015. Interessierte Leser mögen einfach mal die beiden Papiere mit den neuen Tabellenwerten nebeneinander legen.

Nach monatelangem erbittertem Tarifstreit sieht der neue Kompromiss zwischen Gewerkschaften und kommunale Arbeitgeber bei der Bezahlung im Sozial- und Erziehungsdienst vor, dass die rund 240.000 dort Beschäftigten rückwirkend zum 1. Juli durchschnittlich 3,73 Prozent mehr Gehalt bekommen sollen – wenn denn die Gewerkschaftsmitglieder nun endlich zustimmen, die Erklärungsfrist für die Gewerkschaften läuft noch bis Ende Oktober 2015. Die Schlichtungsempfehlung aus dem Juni dieses Jahres beinhaltete Gehaltserhöhungen von durchschnittlich 3,19 Prozent.

Andreas Wyputta hat seinen Artikel zu den neuen Ergebnissen unter die Überschrift gestellt: Umverteilung unter Arbeitnehmern. Er kommt gleich im Untertitel seines Beitrags zu der zentralen Bewertung: Die kommunalen Arbeitgeber haben sich durchgesetzt. Der Präsident der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA), Thomas Böhle, sieht sich als „klarer Sieger“ und wird mit diesen Worten zitiert:

»Der Kompromiss mit den Gewerkschaften entspreche „im Wesentlichen dem Schlichterspruch“. Mit 315 Millionen Euro zahlten Städte und Gemeinden nur 9 Millionen Euro mehr als von den Schlichtern vorgesehen.«

Um der missmutigen Gewerkschaftsbasis das neue Ergebnis schmackhaft zu machen, hat man zu einem nicht unbekannten Dreh gegriffen: Die oberen Lohngruppen bekommen eine geringe Gehaltserhöhung, untere sehen dafür mehr Geld. Man hat also ordentlich umverteilt, nicht aber das Volumen deutlich erhöht:

»Während die Schlichter Lohnerhöhungen zwischen 33 und 161 Euro vorsahen, haben die Arbeitnehmervertreter diese Spanne nun auf 98 bis 138 Euro kleinverhandelt. SozialarbeiterInnen im Allgemeinen Sozialdienst, denen zunächst eine Nullrunde gedroht hatte, sollen nach dem nun vorliegenden Kompromiss zwischen 30 und 80 Euro brutto mehr im Monat erhalten.«

Dass das jetzt am Ende bestätigt wird, dafür sorgt wahrscheinlich diese Besonderheit:

»Die Gewerkschaftsbasis wird in einer Urabstimmung bis Ende Oktober über den Kompromiss beraten … Um dem neuen Tarifvertrag Geltung zu verschaffen, müssen nur 25 Prozent der Gewerkschafter zustimmen – und nicht 50 wie bei der Mitgliederbefragung.«

Diese Erfahrungen werden bei der einen oder dem anderen Ernüchterung auslösen. Auf der anderen Seite muss man in der Tarifpolitik auch verlieren können, vor allem, wenn die Rahmenbedingungen so sind, wie sie sind. Man sollte das dann aber wenigstens nicht auch noch als „Eigentlich-Erfolg“ verkaufen. Glaubwürdigkeit schafft man anders.

Nachtrag am 07.10.2015: Das neue Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute ist unter dem Titel Deutsche Konjunktur stabil – Wachstumspotenziale heben veröffentlicht worden. In dem Artikel Das raten die Wirtschaftsforscher der Bundesregierung findet man diesen aufschlussreichen Passus:

„Moderne Volkswirtschaften wachsen in abnehmendem Maße durch Investitionen in Beton und in zunehmendem Maße durch Investitionen in Köpfe“, betonen die Forscher. „Hier gilt es, Wachstumspotenziale zu heben.“ Konkret wird vorgeschlagen, nicht nur die Zahl der Kita-Plätze zu erhöhen, sondern auch die Qualität der Betreuung zu erhöhen – vor allem für sozial benachteiligte Kinder.

Ein entleerter, weil folgenloser Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz, wenn das Um-die-Ecke-Denken mancher Richter so bleibt, wie es vom Oberlandesgericht Dresden verkündet wurde

Manche werden sich noch erinnern an die aufgeheizten
Diskussionen im Vorfeld des Scharfstellens des Rechtsanspruchs auf einen
Betreuungsplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr des Kindes zum 1. August
2013. Da wurde der „Kita-Notstand“ oder gar das „Kita-Chaos“ beschworen und
viele Debatten drehten sich um die Befürchtung so mancher Kommune, dass es zu
massenhaften Klagen auf Schadensersatz seitens der Eltern gegen die Träger der
öffentlichen Jugendhilfe, die für die Umsetzung des Rechtsanspruchs zuständig
sind, kommen könnte, weil man schlichtweg nicht genügend Angebote hatte (und
hat), um die jeweilige Nachfrage auch bedienen zu können.

Skeptiker haben bereits damals darauf hingewiesen, dass es
wahrscheinlich keine Klagewelle seitens der Eltern geben wird, denn diese sind
zwar sehr viele, aber sie sind zugleich atomisiert, auf sich selbst gestellt,
ohne eine kollektive und schlagkräftige Interessenorganisation und sie tun das,
was sie immer tun als System Familie – sich irgendwie arrangieren mit den
Verhältnissen, das Beste aus der Situation zu machen versuchen, zu überbrücken,
Lücken zu stopfen und auf Sicht zu segeln.
Dabei hat allein die Angst in nicht wenigen Kommunen vor
möglichen Schadensersatzforderungen seitens der Eltern bei Nicht-Erfüllung des
Rechtsanspruchs sicherlich erheblich dazu beigetragen, dass es in den vergangenen
Jahren einen erheblichen Ausbauschub gegeben hat, der in vielen Regionen die
Angebotssituation deutlich verbessert hat.

Darüber hinaus sollte man meinen, dass ein individueller
Rechtsanspruch in einem ordentlichen Staat wie Deutschland immer auch damit
verbunden sein muss, dass man gegen seine Nicht-Erfüllung bei gewünschter
Inanspruchnahme mit dem scharfen Schwert der Klage und der möglichen
Schadensersatzpflichtigkeit der Gegenseite agieren kann.

Genau so haben wohl auch drei Mütter aus Leipzig gedacht. Sie
hatten geltend gemacht, dass sie länger zu Hause bleiben mussten, weil ihnen
die Stadt Leipzig keinen Platz für ihr Kind anbieten konnte. Sie wollten für
ihren Verdienstausfall insgesamt 15.000 Euro Schadenersatz plus Zinsen. Eine
Art Vorläufer-Verfahren hatte es bereits gegeben, allerdings mit einem
entscheidenden Unterschied zu dem Verlangen auf Entschädigung für den
Verdienstausfall, wie er jetzt von den drei Müttern aus Leipzig vorgetragen
wurde:

»Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits entschieden, dass
in solchen Fällen Eltern eine private Betreuung in Anspruch nehmen können, die
meist teurer ist. Die Mehrkosten muss dann grundsätzlich die zuständige Stadt
übernehmen. Das Bundesverwaltungsgericht hatte im September 2013 die Stadt
Mainz zu 2.200 Euro Schadenersatz verurteilt. Die Mutter musste ihre Tochter
damals monatelang in einer privat organisierten Elterninitiative unterbringen,
obwohl sie ihre Tochter rechtzeitig für einen Kita-Platz angemeldet hatte«,
kann man dem Artikel Herber
Rückschlag für Mütter
von Ursula Knapp entnehmen.

Die Fallkonstellation, die nun zu dem Urteil des OLG Dresden
geführt hat, war aber eine andere als im Mainzer Fall, denn: »Die drei Familien
hatten nämlich keinen privaten Betreuungsplatz in Anspruch genommen, nachdem
ihre Kinder leer ausgegangen waren. Vielmehr waren die Mütter länger zu Hause
geblieben. Für diesen Verdienstausfall wollten sie nun Schadenersatz von der
Stadt Leipzig.«

Diesem Anliegen wurde am Anfang des Musterprozesses auch
entsprochen: In der ersten Instanz hatte das Landgericht Leipzig die Stadt
verurteilt, 15.000 Euro plus Zinsen an die Familien zu zahlen. (Az.: 1 U
319/15, 1 U 320/15, 1 U 321/15). Mit Blick auf die beklagte Stadt muss man
wissen: In Leipzig fehlten nach Angaben der Stadtverwaltung in diesem Sommer
noch knapp 1.200 Kita-Plätze, so der Artikel Fehlende
Kitaplätze – Städte müssen keinen Schadensersatz zahlen
. Wir reden hier
also nicht über Einzelfälle.
Nun aber die gegenteilige Entscheidung des OLG in Dresden.
Mit welcher Begründung wurde diese Kehrtwende vollzogen? Da muss man wie so oft
bei Urteilen mindestens einmal um die Ecke denken:
Das OLG hat nun entschieden, dass die Stadt zwar ihre
Amtspflicht verletzt habe, den Eltern rechtzeitig einen Betreuungsplatz zur
Verfügung zu stellen. Dem Argument der Stadt, bei den privaten Trägern habe es
bauliche Verzögerungen gegeben, die die Stadt nicht zu verantworten habe,
folgten die Richter nicht. Diese Amtspflichtverletzung der Stadt führe aber nun
nicht dazu, dass ein Elternteil seine Gehaltseinbußen einklagen könne. Warum
nicht? Ziel des Gesetzes sei aber die frühkindliche Förderung. Die bessere
Vereinbarkeit von Familie und Beruf sei lediglich die Folge des Gesetzes,
teilte das OLG mit. Deswegen könnten die Eltern keinen Schadensersatz verlangen.
»Die Begründung wörtlich: „Den Klägerinnen selbst steht kein
Anspruch auf einen Platz für ihr Kind in einer Kindertagesstätte zu.
Anspruchsinhaber sei alleine das Kind.“ Die bessere Vereinbarkeit von Beruf und
Familie für die Eltern sei nur eine Folge des Anspruchs des Kindes. „Mittelbare
Schäden der Eltern, wie der Verdienstausfall, sind hier nicht inbegriffen“, so
der 1. Zivilsenat in Dresden. (Aktenzeichen: OLG Dresden 1 U 319/15, 1 U
320/15, 1 U 321/15)«, so Ursula Knapp in ihrem Artikel.
Die richtigen Worte zu dieser Entscheidung findet Heribert
Prantl in seinem Kommentar Kita-Anspruch
wird degradiert
: » Die Richter in Dresden haben aus dem Recht auf einen
Kita-Platz einen hohlen Spruch gemacht. Ihre Argumentation ist vermeintlich
logisch, aber realitätsblind.«
Und weiter:

»Die Richter haben geurteilt: Wenn es keinen Kitaplatz gibt,
wenn also der ansonsten berufstätige Vater oder die berufstätige Mutter
deswegen zu Hause beim Kind bleiben müssen, dann folgt daraus – nichts. Kein
Schadenersatzanspruch für den Verdienstausfall, keine Entschädigung, kein müder
Euro. Die Richter gestehen zwar zu, dass die saumselige Kommune ihre
Amtspflicht verletzt hat; aber auch daraus folgt angeblich – nichts.«

Nach Prantl verkennen die Dresdner Richter den
Lebenszusammenhang. Der Verdienstausfall der Eltern ist ein Folgeschaden der
Amtspflichtverletzung. Vor dem Hintergrund, dass Revision zugelassen wurde,
hofft Prantl, dass der »Bundesgerichtshof … hoffentlich in letzter Instanz
das Dresdner Urteil wieder korrigieren (wird). Es entfällt sonst ein
Druckmittel der Eltern, das Recht ihres Kindes auf einen Kita-Platz auch
durchzusetzen.« Wohl wahr.
Es handelt sich hier keineswegs um einen lokalen Einzelfall,
wie ein Blick in den Artikel Quälendes
Warten auf einen Krippenplatz
von Melanie Staudinger zeigen kann, die sich
mit der Situation in München beschäftigt hat. Die Bilanzierung des Geschehens
in München ist für Eltern nicht wirklich vielversprechend, ganz im Gegenteil:

»Die Prozess-Statistik des Bildungsreferats zählt insgesamt
106 Verfahren von 83 Klägern und Antragstellern. Verloren hat die Stadt bisher
kein einziges davon. Ganz im Gegenteil: In 63 Fällen hat sie gewonnen, die
Klagen sind zurückgenommen oder für erledigt erklärt worden – oft erhalten
Eltern noch im Gerichtssaal ein Angebot vom Bildungsreferat. Die restlichen 43
Verfahren sind noch offen, dürften aber ähnlich ausgehen wie bisher.«

In der Münchner Prozess-Statistik sind die drei
Hauptklagegründe enthalten:

»Die meisten Eltern, die klagen, wollen lediglich den
Rechtsanspruch durchsetzen (etwa 60 Prozent der Fälle), also einen Krippenplatz
haben, der ihnen vor einem Prozess dann meist noch angeboten werden kann. Der
Rest will …, dass die Stadt ihnen den Differenzbetrag zwischen ihrer teureren
Kindertagesstätte und einer städtischen Einrichtung erstattet. Oder aber Eltern
wollen, dass das Bildungsreferat ihren Verdienstausfall begleicht, weil sie
erst später einen Kita-Platz bekamen und nicht wie geplant arbeiten konnten.«

Besonders ärgerlich aus Sicht der betroffenen Eltern ist
eine Erfahrung, die man in München hat sammeln müssen mit der Argumentation der
Stadt, der sich die Richter offensichtlich angeschlossen haben: Gesetzlich sei
nur wichtig, dass ein Platz offeriert wurde, selbst ein verspätetes Angebot
reiche aus. Damit laufen auch die Klagen ins Leere, die nicht wie die drei
Leipziger Mütter auf Schadensersatz für den Verdienstausfall klagen, sondern „nur“
um die Erfüllung des Rechtsanspruchs, denn den meisten wird spätestens im
Verfahren irgendein Angebot organisiert, dass ihnen dann aber vor Gericht den
Wind aus den Segeln nimmt.
Irgendwie hat man den Eindruck, dass die Geschichte mit David gegen Goliath auch anders ausgehen kann, als sie überliefert ist.