Die Kinder und die Armut ihrer Eltern. Natürlich auch Hartz IV, aber nicht nur. Sowie die Frage: Was tun und bei wem?

Kinderarmut nimmt in Deutschland wieder zu. Unter dieser Überschrift berichtet Thomas Öchsner, dass die »Zahl der armen Kinder in Deutschland wächst: Mehr als 1,6 Millionen Jungen und Mädchen unter 15 Jahren leben von Hartz IV.« Das wurde sofort aufgegriffen: In einem der reichsten Länder der Welt steigt die Zahl von Kindern in Armut, berichtet Spiegel Online in einem Beitrag, der die gleiche Überschrift trägt wie der Artikel von Öchsner. Die FAZ hingegen scheint etwas verschnupft ob der neuen Zahlen: »Jahrelang lebten in Deutschland immer weniger Kinder von Hartz IV, weil ihre Eltern Arbeit fanden. Doch dieser Trend ist jetzt gestoppt« und stellt das unter die Überschrift Etwas mehr Kinder in Hartz IV, irgendwie etwas beleidigt daherkommend und zugleich mit der Aussage, bislang sei die Zahl der Kinder mit Hartz IV-Bezug gesunken, weil ihre Eltern eine Arbeit gefunden hätten, eine These aufstellend, die einfach in den Raum gestellt wird, denn es kann dafür auch noch andere Gründe geben.

Zwei Vorbemerkungen sind besonders relevant für eine Einordnung dessen, was hier diskutiert wird:

1. Zum einen wird „Kinderarmut“ fokussiert auf den Tatbestand des Hartz IV-Bezugs. Das kann man, wenn einem an einer Beschwichtigung des Themas gelegen wäre, damit relativieren, dass es sich beim Grundsicherungsbezug doch um „bekämpfte Armut“ handelt, denn angeblich werde hier das soziokulturelle Existenzminimum der Menschen gesichert. Aber eine andere Perspektive ist viel wichtiger: Die tatsächliche Dimension der Einkommensarmut, von der Kinder betroffen sind, ist weitaus größer als es die Zahl der Kinder in Hartz IV-Haushalten nahelegt, beispielsweise wenn man die Einkommensarmutsschwellen der EU zugrundelegt. An einem Beispiel kann man das aufzeigen: In Deutschland gibt es das Instrument des Kinderzuschlags, dass Eltern bekommen können, um zu vermeiden, dass sie ansonsten durch die Existenz des Kindes bzw. der Kinder zu Hartz IV-Empfänger werden würden. Man vermeidet also temporär den offiziellen Status Grundsicherungsempfänger, insofern tauchen die Kinder auch nicht in den Zahlen auf, die jetzt diskutiert werden, trotzdem sind diese Kinder knapp oberhalb der gegebenen Hartz IV-Sätze von Einkommensarmut betroffen, wenn man das nach den etablierten Standards der Armutsforschung bemessen würde.

2. Es ist keine Begriffsakrobatik, wenn man darauf insistiert, dass es „Kinderarmut“ eigentlich nicht gibt, sondern die Einkommensarmut, denen die Kinder ausgesetzt sind, ist eine „abgeleitete“ Armut der Eltern. Die Kinder sind – im positiven wie im negativen Sinne – immer eingebettet in den familialen Kontext und insofern ist es richtig und notwendig, wenn man über die gleichsam „vorgelagerte“ Einkommensarmut der Eltern spricht, wenn es um die Kinder gehen soll.

Und letztendlich geht es bei der aktuellen Debatte um die Eltern, denn die Zahlen, die von Öchsner berichtet werden, stammen aus einer neuen Analyse des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), »die der DGB-Arbeitsmarktexperte Wilhelm Adamy vorgelegt hat. Darin schlägt der DGB ein Aktionsprogramm für Eltern vor, die zusammen mit ihren Kindern schon länger von Hartz IV leben müssen.«

Laut der DGB-Studie erhalten derzeit mehr als 1,2 Millionen unter 15-Jährige seit mindestens einem Jahr Hartz IV. 642 000 dieser Kinder sind sogar seit vier Jahren oder länger auf die staatliche Hilfe angewiesen. Vor allem bei den Jüngeren sei davon auszugehen, „dass sie direkt in Hartz-IV-Verhältnisse hineingeboren wurden. Damit ist das Risiko einer dauerhaften, quasi vererbten Hilfsbedürftigkeit hoch“.

Und dann wird der DGB deutlicher, wo jetzt angesetzt werden sollte:

»Die Gefahr sei auch erheblich, dass die Eltern als Vorbilder ausfallen, schreibt DGB-Experte Adamy. Keine Arbeit zu haben, könne „eine Abwärtsspirale von sinkendem Selbstwertgefühl, Sinnkrise und mangelnder sozialer Teilhabe in Gang setzen“. Viele Eltern schaffen es dann nicht mehr, sich um die Kinder ausreichend zu kümmern.«

Aber was kann bzw. soll man tun? Hierzu findet man in dem Artikel von Öchsner Hinweise, was zumindest der DGB fordert:

»Der DGB fordert deshalb ein Sonderprogramm gegen Kinder- und Familienarmut. Es soll sich zunächst auf die 450.000 Eltern konzentrieren, die arbeitslos gemeldet sind, Kinder im Haushalt haben, Hartz IV nicht mit einem Zusatzjob aufstocken und an keiner Maßnahme eines Jobcenters teilnehmen.
Solche Eltern müssten „eine neue berufliche Perspektive erhalten, auch um ihre Vorbildrolle gegenüber ihren Kindern zu stärken“, verlangte Buntenbach. Dem DGB schwebt dabei vor, mehr geförderte Arbeitsplätze zu schaffen, „sofern eine Beschäftigung anders nicht möglich ist“. Das Programm müssten Jobcenter, Kommunen, der Bund, Wohlfahrtsverbände und Vereine gemeinsam tragen.«

Die vom DGB genannte Größenordnung von 450.000 deckt sich erstaunlich gut mit dem Ergebnis einer Quantifizierung des „harten“ Kerns an Langzeitarbeitslosen im Grundsicherungssystem, die potenziell für eine öffentlich geförderte Beschäftigung in Frage kommen und die im vergangenen Jahr vom Institut für Bildungs- und Sozialpolitik der Hochschule Koblenz (IBUS) in einer Studie veröffentlicht wurde. Bei dieser Studie ging es darum, die Größenordnung derjenigen abzuschätzen, die seit langem keiner Erwerbsarbeit mehr nachgehen konnten und die mehrere so genannte „Vermittlungshemmnisse“ aufweisen, wie sie von der BA definiert werden – ungeachtet der immer gebotenen Infragestellung und kritischen Diskussion solcher Konstruktionen ging es darum, potenzielle Kandidaten für eine öffentlich geförderte Beschäftigung zu identifizieren, bei denen man mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit vorhersagen kann, dass sie mittel- und auch langfristig so gute wie keine „normale“ Chance auf Vermittlung in irgendeine Erwerbsarbeit haben werden. Die Studie kam zu den folgenden Ergebnissen hinsichtlich der Größenordnung:

»Über 609.000 beschäftigungslose Menschen in Deutschland haben mindestens vier Vermittlungshemmnisse.
Als „arbeitsmarktfern“ stufen wir die Menschen ein, die 2011 beschäftigungslos und in den letzten 36 Monaten mehr als 90 Prozent der Zeit ohne Beschäfti- gung waren und zudem mindestens vier „Vermittlungshemmnisse“ aufweisen.
Nach unserem Messkonzept zählen 435.178 Menschen zu den arbeitsmarktfernen Personen, die für Maßnahmen der öffentlich geförderten Beschäftigung in Frage kommen – auf Grundlage der restriktiven Bestimmung der möglichen Zielgruppe, wie sie der Gesetzgeber vorgegeben hat. In den Haushalten mit diesen 435.178 Personen leben über 305.000 Kinder unter 15 Jahren, die besonders von der Situation ihrer Eltern betroffen sind und die von einer teilhabeorientierten öffentlich geförderten Beschäftigung ihrer Eltern unmittelbar und mittelbar profitieren würden, was angesichts der bekannten zerstörerischen Effekte von Langzeitarbeitslosigkeit auch und gerade auf das System Familie einen eigenen Wert darstellt, der für die Nutzung des Instruments öffentlich geförderte Beschäftigung spricht.« (Obermeier/Sell/Tiedemann 2013: 3)

Die gesamte Studie hier im Original:

Obermeier, Tim; Sell, Stefan und Tiedemann, Birte: Messkonzept zur Bestimmung der Zielgruppe für eine öffentlich geförderte Beschäftigung. Methodisches Vorgehen und Ergebnisse der quantitativen Abschätzung (= Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 14-2013), Remagen, 2013).

Nun muss man allerdings anmerken, dass gerade die Angebote öffentlich geförderter Beschäftigung in den Jahren seit 2010 massiv zurückgefahren worden sind, schon bei einer rein quantitativen Betrachtung. Wir sprechen hier von Rückgängen von 50% und mehr in wenigen Jahren. Zugleich aber wurde auch die (mögliche) Qualität der öffentlich geförderten Beschäftigung nach unten gedrückt, da der Gesetzgeber das Förderrecht in den vergangenen Jahren systematisch derart verengt hat, dass nunmehr im Wesentlichen nur noch die Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung (umgangssprachlich als „Ein-Euro-Jobs“) bezeichnet, übrig geblieben sind und zugleich müssen die Tätigkeiten, um angebliche Konkurrenzen zum ersten Arbeitsmarkt zu verhindern, so künstlich ausgestaltet werden, dass man erhebliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit vieler dieser Tätigkeiten haben muss.

Wenn also die an sich schlüssige Forderung des DGB wirklich mit sinnvollen Leben gefüllt werden soll, dann müsste ein solches „Sonderprogramm gegen Kinder- und Familienarmut“ voraussetzen, dass a) nicht nur mehr Gelder zur Verfügung gestellt werden, b) die Teilnahme an einem solchen Programm für die Betroffenen auf dem Prinzip der Freiwilligkeit basieren sollte, sondern c) vor allem bei der anstehenden SGB II-Reform dafür Sorge getragen wird, dass das völlig kontraproduktive Förderrecht hinsichtlich der öffentlich geförderten Beschäftigung derart umfassend entschlackt und neu ausgerichtet wird, dass man überhaupt sinnvolle Beschäftigungsangebote organisieren könnte. Das ist derzeit nicht gegeben.

Wenn diese Rahmenbedingungen geschaffen bzw. ermöglicht werden, dann ist das im Grunde ein Ansatz von zentraler Bedeutung, die weit über die Einkommensfrage hinausgeht. Denn tatsächlich ist es so, dass man gar nicht unterschätzen kann, was für eine gesellschaftspolitisch verheerende Wirkung lang andauernde Arbeitslosigkeit auf die betroffenen Menschen wie auch auf die Gesellschaft insgesamt hat. Und auf die Kinder sowieso.

Aber die Signale aus der Politik stimmen angesichts der Größenordnung des Problems nicht gerade vielversprechend. Für den Herbst dieses Jahres hat die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles ein neues Programm für die öffentlich geförderte Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen in Aussicht gestellt. » Das Arbeitsministerium will Langzeitarbeitslose mit einem neuen ESF-Bundesprogramm in Betrieben unterbringen, die hierfür Lohnkostenzuschüsse erhalten. Betriebsakquisiteure sollen geeignete Arbeitgeber finden und Coaches die Teilnehmer sozialpädagogisch betreuen. Die Arbeitsmarktfernsten könnten aber kaum profitieren. Das geht aus einem Entwurf der Förderbedingungen hervor«, so der Artikel Arbeitsmarktpolitik für Langzeitarbeitslose: Details zum neuen ESF-Bundesprogramm auf O-Ton Arbeitsmarkt. Die Kritik richtet sich vor allem gegen zwei Punkte: Zum einen soll das neue Programm 30.000 Teilnehmer erreichen (wenn die denn überhaupt erreicht werden) – viel zu gering dimensioniert angesichts der quantitativen Herausforderungen. Darüber hinaus sind die Förderstrukturen des geplanten Programms so schlecht, dass man sich eher auf ein Scheitern in der Praxis einstellen sollte:

»Neu ist die Idee, Langzeitarbeitslose mittels Lohnkostenzuschüssen in der Privatwirtschaft unterzubringen, nicht. Mit dem Beschäftigungszuschuss (BEZ) bzw. dem Nachfolgeinstrument der Förderung von Arbeitsverhältnissen (FAV) gibt es seit Jahren die Möglichkeit, Löhne für schwer vermittelbare Arbeitslose staatlich zu subventionieren. Hinzu kommt: Bei der FAV ist ein Zuschuss von 75 Prozent für die gesamte bis zu 24-monatige Förderdauer möglich. Beim neuen Bundesprogramm hingegen erhalten die Arbeitgeber umgerechnet auf die gesamte Förderdauer etwas mehr als 40 Prozent Zuschüsse für die regulär geförderten und 63 Prozent für die intensiv geförderten Teilnehmer (bei einer dreijährigen Förderung).«

Wieder einmal beschleicht einen das Gefühl, dass hier seitens der Politik Aktivitätssimulation betrieben werden soll. Wenn man wirklich in die Richtung marschieren wollte, wie sie der DGB anmahnt, dann muss da noch einiges an Substanz nachgereicht werden.

Aus den Untiefen einer kleingeschredderten Sozialpolitik: Das „Bildungs- und Teilhabepaket“ und ein einsames Cello

Insgesamt ist für die zurückliegenden Jahre in vielen Bereichen der Sozialpolitik die fortschreitende Tendenz hin zu einer „Playmobil“-Sozialpolitik zu diagnostizieren – ob wir hierfür den putzigen „Pflege-Bahr“ anführen, also die sensationellen 5 Euro Steuergeld, die man monatlich bekommen kann, um sich zusätzlich privat für den Pflegefall abzusichern, das „Betreuungsgeld“ in Höhe von 100 bzw. demnächst 150 Euro zur Herstellung von „Wahlfreiheit“ für junge Eltern als neueste Kreation dieses Ansatzes einer „modernen“ Sozialpolitik oder auch das hier besonders interessierende „Bildungs- und Teilhabepaket“ im Gefolge der – an sich – wegweisenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 zur Verfassungswidrigkeit der Regelleistungen im Grundsicherungssystem (vgl. hierzu „Regelleistungen nach SGB II (‚Hartz IV- Gesetz‘) nicht verfassungsgemäß“ sowie die Entscheidung im Original: BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010). Man darf an dieser Stelle daran erinnern, dass das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung festgestellt hat, dass insbesondere Ausgaben für Bildung und Teilhabe als Bestandteile des soziokulturellen Existenzminimums im Regelsatz von Kindern und Jugendlichen nicht adäquat berücksichtigt werden. Der eigentlich konsequente Schritt wäre gewesen, auf der Basis dieser Feststellung die Regelleistungen für die Kinder und Jugendlichen zu erhöhen – bekanntlich aber entwickelte sich mit dem Ziel der Abwehr einer solchen Maßnahme eine skurrile Debatte über den Grad der Alkohol-, Tabak- und Flachbildfernseh-Nutzung der Eltern der betroffenen Kinder und der Kollektivhaftung aller „Hartz IV“-Eltern für eine angebliche missbräuchliche Inanspruchnahme der ihren Kindern zustehenden Gelder. Im Ergebnis der erfolgreichen Abwehr der Erhöhung der Regelleistungen für alle Betroffenen wurde dann das „Bildungs- und Teilhabepaket“ ins Leben gerufen, sicher wohlwissend, dass die Ausgaben bei einer antragsabhängigen, bedürfigkeitsgeprüften Sonderleistung schon mal per se niedriger ausfallen, als wenn man den betroffenen Haushalten die Regelleistungen angehoben hätte.

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