Willkür, Hilflosigkeit und Ohnmacht. Von den Erfahrungen mit der kafkaesken Seite der Jobcenter, die für den Einzelnen zu einer Existenzbedrohung mutieren kann

In diesen Tagen stehen wir erneut vor gesetzgeberischen Veränderungen in einem sozialpolitischen Kernbereich unseres Landes, der Grundsicherung. Und wieder einmal werden wir Zeugen einer Entwicklung, dass man am Anfang – und sei es wenigstens proklamatorisch – mit einer guten Absicht gestartet ist, nämlich die Bürokratie in den Jobcentern abzubauen und das komplizierte Rechtsgebilde SGB II zu vereinfachen. Wer kann etwas dagegen haben? Nach zwei Jahren unzähliger  Bund-Länder-Gesprächsrunden und parteipolitischen Scharmützeln hat zwischenzeitlich der Berg gekreißt und ein Gesetzentwurf das Licht der Welt erblickt, der im Ergebnis nicht nur völlig enttäuschend ist hinsichtlich des ursprünglich gesetzten Ziels, Bürokratie in einem Umfang abzubauen, der über molekulare Mengen hinausgeht (vgl. dazu bereits Entbürokratisierung des SGB II und mehr Luft für die Jobcenter? Von Luftbuchungen, Mogelpackungen und einem trojanischen Pferd vom 14. Februar 2016 sowie Ein zorniger Brief von Jobcenter-Mitarbeitern an die Bundesarbeitsministerin vom 15. Februar 2016).

Es kommt sogar noch weitaus schlimmer, denn mittlerweile muss man das als „Rechtsvereinfachungsgesetz“ euphemistisch betitelte Paragrafenwerk korrekter als ein „Rechtsverschärfungsgesetz“ bezeichnen, zumindest aus der Perspektive der betroffenen Menschen.
Dabei sind die heute schon nicht selten mit einer kafkaesk daherkommenden Seite der Jobcenter und der sie bestimmenden rechtlichen Gemengelage konfrontiert, die aber nur für den Betrachter von außen wie „Das Schloss“ von Franz Kafka erscheinen. Denn es geht hier nicht (nur) um die (Un)Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns, sondern um existentielle Fragen bis hin zu dem Wegziehen des letzten Bodens für ein menschenwürdiges Dasein. Dazu aktuelle Beispiele aus dem „Hartz IV-Land“.

Da wäre beispielsweise das Jobcenter Börse in Sachsen-Anhalt. Susan Bonath berichtet in ihrem Artikel „Reine Willkür“ über den folgenden Sachverhalt:

»Jahrelang hatte sich Malte S. (Name geändert) als Leiharbeiter durchgeschlagen. Nach der letzten Kündigung suchte er jedoch vergeblich eine neue Stelle. Er scheute jedoch den Gang zum Amt, hoffte weiter auf einen Job – bis er seine Wohnung verlor, seine Krankenversicherung nicht mehr zahlen konnte, ohne Konto und Geld dastand. Kurz vor Pfingsten beantragte er beim Jobcenter Börde (Sachsen-Anhalt) also doch das ihm eigentlich seit Monaten zustehende Arbeitslosengeld II. Weil er völlig mittellos war, bat er zudem um einen Vorschuss. Er befinde sich in einer Notlage, es gehe um Essen und Trinken, erläuterte er. Doch die Behörde wies ihn ab. Bares zur Überbrückung gebe es nicht, hieß es.«

Die Sachbearbeiterin in der Leistungsabteilung versprach, seinen Antrag „noch heute“ fertig zu machen. »Weil das Jobcenter in seinem Fall allerdings einen Scheck mit der Post schicken müsse, könne er erst in einer Woche, nach dem langen Pfingstwochenende, mit Geld rechnen. Auf Nachfrage, wie er denn solange ohne Geld überleben solle, räumte sie ein: »Wenn es wirklich nicht anders geht, könnte ich Ihnen maximal einen 20-Euro-Gutschein mitgeben.« Ob dieser auch von Märkten in dem Ort akzeptiert wird, wo Malte S. vorübergehend bei einem Familienmitglied untergekommen war, konnte sie nicht sagen.«

Warum nicht einfach ein Betrag von seinem Regelsatz abgezogen und ihm in bar ausgehändigt wurde, versteht der Betroffene nicht.

In der Leistungsabteilung hieß es, eine interne Anweisung verbiete dies den Mitarbeitern. Behördensprecher Carsten Werner bestritt am Dienstag die Darstellung: »Im Jobcenter Börde liegt keine derartige Dienstanweisung vor.« Tags darauf erklärte er aber auf Nachfrage der Tageszeitung junge Welt, Barzahlung sei »grundsätzlich nicht vorgesehen«.

Für Notfälle vorgesehen sei »die Überbrückung durch Gutscheine des Anbieters Sodexo, einer international agierenden Unternehmensgruppe, die vor allem durch Kantinenbetriebe bekannt ist.«
Und dann ein weiterer Tiefschlag:

»Der Antragsteller habe außerdem »durch sein freundliches und dankbares Auftreten nicht den Eindruck« erweckt, »dass er mit dem Verfahren nicht einverstanden ist«, sagte der Pressesprecher.«

Dabei kann man das ganz anders sehen: »Die frühere Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann, die heute Abgeordnete der Linkspartei in der Hamburger Bürgerschaft ist, hält dieses Vorgehen für »reine Willkür«. »Jedes Jobcenter kann einen vorläufigen Bescheid ausstellen und ein Darlehen in bar auszahlen«, sagte sie am Donnerstag im Gespräch mit jW. Das Geld werde von der später ausgezahlten Monatsleistung abgezogen. Geregelt sei das im Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II). Im SGB I heißt es zudem, Vorschüsse seien auf Antrag zu gewähren. Bestehe ein Anspruch auf Leistungen, habe der Träger die Höhe der Vorabzahlung nach »pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen«, wenn die Feststellung der Leistungshöhe länger dauere.«
Und der Betroffene?

»Malte S. wartet inzwischen seit einer Woche auf seinen Postscheck. »Hätte ich keine Familie oder Freunde, die mich auf eigene Kosten mitversorgen, müsste ich betteln oder stehlen«, sagte er.«

Zuweilen hilft nur die Beteiligung der Presse, um in einem dieser vielen Einzelfälle etwas in Bewegung zu bringen. Nächstes Beispiel Wuppertal: Ärger mit Jobcenter: „Hilflos und ohnmächtig“, so ist ein Artikel überschrieben: »Nach einem Bandscheibenvorfall beantragte Andreas Böhm Leistungen beim Jobcenter Bachstraße und erlebte ein Existenz bedrohendes Fiasko.« Erst als sich die Wuppertaler Rundschau einschaltet, reagiert die Spitze des Jobcenters schnell.

»Was war passiert? Bis zur Arbeitsunfähigkeit arbeitete der gelernte Schreiner sieben Jahre monatlich 80 Stunden bei einer Immobilienverwaltung. Da er von 450 Euro Krankengeld sein Leben nicht finanzieren kann, beantragt Andreas Böhm in November 2015 beim Jobcenter Bachstraße ergänzende Leitungen. Die werden rasch bewilligt. Kurze Zeit später, im Dezember 2015, erhält der 37-Jährige 500 Euro, aber keinen Bescheid. Damit begann der Ärger …«

Man ahnt schon, was jetzt kommt. Der Betroffene wird in eine Umlaufbahn gehievt und die immer existenzbedrohend daherkommenden Dinge nehmen ihren Lauf:

»Als in der Folgezeit trotz vollständig eingereichter Unterlagen und mehrmaliger persönlicher und telefonischer Rücksprache weitere Zahlungen ausbleiben und Böhm seine Miete nicht mehr begleichen kann, schaltet er einen Anwalt ein.
Dessen Intervention bügelt das Jobcenter mit der Begründung, Andreas Böhm hätte sich nicht um die Fortführung der Leistungen bemüht, ab. Dass abgestempelte Dokumente eindeutig das Gegenteil belegen, wird vom Jobcenter schlicht ignoriert. Während sich der Rechtsstreit ohne Erfolg hinzieht, wird die Situation für den Schreiner brenzlig: Als auch im Mai noch die Miete ausbleibt, droht der bisher sehr verständnisvolle Vermieter mit der Kündigung.«

Für den Betroffenen ist das ein Albtraum: „Unverschuldet arbeitslos zu werden und dann eine solche Behandlung seitens des Jobcenters erleben zu müssen, hilflos und mit einem bitteren Gefühl der Ohnmacht, das zu erleben wünsche ich keinem“, wird Andreas Böhmin dem Artikel zitiert. Und weiter: „Ich bin nicht nur körperlich, sondern auch psychisch am Ende.“

Gut in diesem Fall, dass eine Zeitung dabei war.

Von der Rundschau mit dem Vorfall konfrontiert, handelt Jobcenter-Chef Thomas Lenz umgehend – und teilt drei Tage später mit: „Hier liegt eine sehr unglückliche Kommunikation vor. Wir haben den Fall nochmals geprüft. Mit dem Ergebnis, dass die Leistungen von Januar bis April bewilligt und umgehend ausgezahlt werden. Der Antragsteller wird wieder in den Bezug aufgenommen.“

Aber kann es das wirklich sein? Dass Zufälle, wie das Interesse und das Engagement von Medien helfen kann? Was ist in den vielen anderen Fällen?

Wohlgemerkt, das waren nur zwei aktuelle Beispiele von vielen.

Aber es sind nicht nur die unmittelbaren Geldleistungen, die man zum Überleben braucht. Auch die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt bzw. die fehlenden Substitute werden immer wieder und völlig zu Recht als Problem aufgerufen. Auch dazu ein Beispiel: Langzeitarbeitslos: Über Leben und Mehrwert, so ist ein Artikel dazu überschrieben. Es geht um die jenarbeit, das Jobcenter der Stadt Jena.

Dort gibt es das Reaktivierungsprogramm „ReSet“.

»Sie will die Unsichtbaren sichtbar machen. Sie versucht, die Verlorengegangenen zu finden, die Ungreifbaren zu fassen. Daniela Brunn ist Projektleiterin von „ReSet“, einem Programm, das von Jenarbeit finanziert wird, um Langzeitarbeitslose zu „reaktivieren“, das heißt, die Menschen aus einer langen Phase der gesellschaftlichen Passivität zurück ins gemeinschaftliche Leben zu holen – im besten Falle wieder auf den Arbeitsmarkt zu bringen … Daniela Brunn konnte mit ihrem Konzept überzeugen und führt seit Juli 2014 ein fünfköpfiges multiprofessionelles Team an, das innerhalb der vergangenen zwei Jahre mehr als 80 Fälle von Jenarbeit zugewiesen bekam. Jeweils 18 bis 20 Arbeitslose im Alter zwischen 18 und 58 Jahren wurden in Gruppen betreut – vier Tage die Woche, mindestens 15 Wochenstunden mussten die Teilnehmer ableisten.«

„Ein Prozent derer, die hier teilnehmen, haben eine Chance, auf den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren“, wird Daniela Brunn in dem Artikel zitiert. Da werden viele und auf den ersten Blick auch völlig zu Recht den Kopf schütteln – eine solche „Erfolgsquote“, kann man das wirklich fortführen? Dazu Daniela Brunn:

»Ihre Erfolge sind andere: „Die meisten Klienten haben keinerlei soziale Anbindung, keine Familie, keine Freunde, teilweise sind sie obdachlos. Sie erfahren keinerlei Wertschätzung, keine Anerkennung. Bei vielen spielt Alkohol eine große Rolle, Drogen, psychische und physische Beeinträchtigung, einige haben kognitive Störungen, manche waren bereits in Haft, haben einen ambulanten oder gerichtlichen Betreuer, die meisten kommen bereits aus einem Elternhaus, in dem es Drogenmissbrauch gab oder Gewalt und viele waren bereits in anderen Zwangsmaßnahmen, in denen sie Stigmatisierungen erfahren haben. Wenn wir es schaffen, diesen Menschen ein bisschen Selbstwertgefühl zu geben und sie sozial wieder anzubinden, beispielsweise an einen Verein, dann ist das für mich durchaus ein Erfolg … Vor allem mit Jenas Subkultur versuchte Daniela Brunn zusammenzuarbeiten. Es entstanden Theaterprojekte, man kochte für Flüchtlinge oder half beim Aufbau des interkulturellen Gartens in Lobeda. „Viele unserer Klienten hatten rassistische Einstellungen. Sie waren gegen Flüchtlinge, auch deshalb war mir die Arbeit mit Asylbewerbern wichtig. Ich denke, dadurch haben wir es geschafft, die Vorbehalte und falschen Vorstellungen aus den Köpfen zu bekommen. Auch das sehe ich als einen Erfolg an.“«

Aber dafür so eine Maßnahme – natürlich befristet? »Das Projekt ReSet läuft im Juli aus. Es wird vermutlich ein neues Reaktivierungsprogramm geben: „Reset 2“. Wie sich dieses gestaltet, ist noch nicht klar. Daniela Brunn ist sich nicht sicher, ob sie das Projekt weiterbetreuen darf, kann oder will. „Wenn es darum geht, eine Wiedereinstiegsquote festzulegen, dann kann ich das Projekt nicht mehr leiten. Den Erfolg kann man nicht daran messen, wie viele Menschen wieder auf den ersten Arbeitsmarkt kommen. Ich bin froh und stolz auf das, was wir in den zwei Jahren erreicht haben. Einige unserer Klienten haben wir wieder verloren, sie werden nicht mehr auftauchen und in der Unsichtbarkeit verschwinden, aber einigen konnten wir etwas mitgeben: eine neue Wohnung, ein gesünderes Leben, Erfahrungen, Wertschätzung, Wissen oder Kraft.“«

Die Projektleiterin legt den Finger auf eine klaffende offene Wunde der derzeitigen Arbeitsmarktpolitik:

»Auf dem zweiten Arbeitsmarkt hätten vielleicht 50 Prozent unserer Klienten eine Chance. Der aber existiert faktisch gar nicht. Es gibt kaum ABM-Stellen oder Ein-Euro-Jobs. Im besten Fall hat unsere Arbeit bei ReSet dazu geführt, dass unsere Klienten wieder Gespräche mit Jenarbeit aufnehmen“, sagt Daniela Brunn.«

Wir brauchen für solche Menschen – und wir reden hier bundesweit nicht von einigen wenigen, sondern von Hunderttausenden – ganz andere Angebote der öffentlich geförderten Beschäftigung und damit Teilhabe am Erwerbsleben, wenn man denn Teilhabe als einen substantiellen Aspekt im Leben der meisten Menschen begreifen würde. Aber die dafür notwendigen gesetzgeberischen Aktivitäten stehen derzeit mal wieder und leider nicht auf der Agenda der da in Berlin.

Sanktionen im Hartz IV-System in Zahlen und vor Gericht sowie der Blick auf ein „Skandalurteil“ aus Österreich

Sanktionen im Grundsicherungssystem (SGB II) sind ein brisantes Thema. Zum einen geht es bei den Leistungen im Hartz IV-System um die Sicherstellung des „sozio-kulturellen Existenzminimums“, also einem – eigentlich – nicht unterschreitbaren unterstem Niveau dessen, was man einem Menschen für die Existenzsicherung ermöglichen muss. Oder in den Worten des Bundesverfassungsgerichts in der wegweisenden Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2010 über die (teilweise, weil auf die Festsetzung des kinderspezifischen Bedarfs bezogene) Verfassungswidrigkeit der damaligen Regelleistungen im Hartz IV-System (BVerfG, Urteil vom 09. Februar 2010 – 1 BvL 1/09): »Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind … Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden.«

Dennoch gibt es Fälle, in denen diese Untergrenze des sozialstaatlich Existenziellen durch eine Kürzung der Leistung unterschritten wird bzw. am extremen Rand dessen, was unter dem Oberbegriff der „Sanktionen“ passiert, Fälle, in denen sogar gar nichts mehr gezahlt wird – das nennt man dann „Vollsanktionierung“. Die Bundesagentur für Arbeit schreibt dazu: „Bei vollsanktionierten Personen übersteigt die Höhe des Sanktionsbetrags die Höhe des laufenden Leistungsanspruchs …, d.h. es liegt eine komplette Leistungskürzung vor.“ Dieser Erläuterung der BA kann man zugleich entnehmen, dass das im vergangenen Jahr, also 2015, im Jahresdurchschnitt bei fast 7.000 Menschen der Fall war – davon die Hälfte junge Menschen unter 25 Jahre, für die es im SGB II ein gegenüber den „normalen“ Leistungsberechtigten „verschärftes“ Sanktionsregime gibt, mit anderen Worten: sie werden schneller und härter und beobachtbar wesentlich häufiger sanktioniert. So lag die jahresdurchschnittliche Sanktionsquote für alle erwerbsfähigen Leistungsberechtigten 2015 bei 3,0 Prozent und die der unter 25jährigen Personen bei 4,1Prozent.

Diese und weitere Zahlen kann man der Veröffentlichung Zeitreihe zu Sanktionen nach Ländern. Januar 2007 bis Dezember 2015 der Bundesagentur für Arbeit (BA) entnehmen. Die BA hat dazu eine Pressemitteilung veröffentlicht unter der Überschrift: Grundsicherung für Arbeitsuchende: Zahl der Sanktionen sinkt auf unter eine Million:

»Im Jahr 2015 wurden insgesamt 980.100 Sanktionen gegenüber erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in der Grundsicherung (Hartz IV) ausgesprochen. Das sind 21.000 (2,1 Prozent) weniger als 2014. Die Zahl der Sanktionen ist damit das erste Mal seit 2011 wieder unter die Marke von einer Million gesunken.«

Die erste Abbildung visualisiert die Entwicklung der neuen Sanktionen sowie der neu sanktionierten erwerbsfähigen Leistungsberechtigten im Hartz IV-System seit 2007. Man kann erkennen, dass die Zahl der neuen Sanktionen im Jahr 2012 mit über eine Million ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat und seitdem etwas sinkt. Dies spiegelt sich auch in der Sanktionsquote, die ebenfalls im Jahresdurchschnitt 2012 ihren bisherigen höchsten Wert erreicht hatte mit 3,4 Prozent und bis 2015 auf 3,0 Prozent zurückgegangen ist.

Nun denken ob bewusst oder unbewusst viele Menschen beim Stichwort Sanktionen gegen Hartz IV-Empfänger an Arbeitsverweigerung als Auslöser für diese Maßnahme. Also die Ablehnung einer aus Sicht der Jobcenter „zumutbaren“ Arbeit. Oder die Verweigerung der Teilnahme an einer Maßnahme. Aber die Realität sieht völlig anders aus, was man den Zahlen der BA entnehmen kann. Die Abbildung verdeutlicht zugleich die Entwicklung der wichtigsten Ursachen für die Verhängung einer Sanktion und damit einhergehend einer Leistungskürzung bis hin zur vollständigen Leistungseinstellung für die Jahre 2007 bis 2015. Man erkennt, dass der überwiegende Teil, nämlich 76 Prozent aller Sanktionen, durch „Meldeversäumnisse“ zustande kommt, wenn also beispielsweise Leistungsbezieher unentschuldigt einen Termin beim Jobcenter verstreichen lassen. Die BA selbst schreibt zu dem erkennbaren Rückgang der Sanktionen insgesamt: »Der Rückgang ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass weniger Sanktionen wegen der Ablehnung einer Arbeit, Ausbildung oder beruflichen Weiterbildung ausgesprochen wurden.« Deren Anteil lag 2007 bei 23,4 Prozent und ist mittlerweile auf nur noch 10,2 Prozent geschrumpft.

Das ist auch deshalb von Bedeutung, weil ein „Meldeversäumnis“ auch für Befürworter von Sanktionen eine andere Qualität haben muss als die Verweigerung einer angebotenen Arbeit, mit der man möglicherweise die Hilfebedürftigkeit beenden oder vermindern könnte. Dabei wäre bei einer genaueren Analyse die Heterogenität der Leistungsberechtigten zu berücksichtigen, es wird aus der Praxis beispielsweise immer wieder berichtet, dass es Menschen im SGB II gibt, die ihre Post nicht mehr öffnen, weil sie völlig überschuldet sind und Angst vor weiteren Mahnungen haben oder Menschen, die als funktionale Analphabeten gar nicht in der Lage sind, eine zumeist komplex formulierte Aufforderung, zu einem bestimmten Termin zu erscheinen, lesen und verstehen zu können.
Aber hier soll auf einen anderen Aspekt hingewiesen werden: Nur weil eine Sanktion seitens des Jobcenters verhängt worden ist, heißt das noch lange nicht, dass diese auch gerechtfertigt ist. Dass es hier offensichtlich Probleme gibt, kann man der Berichterstattung in den Medien entnehmen. So überschreibt beispielsweise die Rheinische Post einen Artikel kurz und bündig so: Hartz-IV-Sanktionen oft zu Unrecht: »Knapp 40 Prozent der Klagen von Betroffenen sind erfolgreich«, so Eva Quadbeck in  ihrem Beitrag:

»Wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion hervorgeht, wurde im vergangenen Jahr in rund 18.600 von 51.000 Fällen eingelegten Widersprüchen ganz oder teilweise stattgegeben. Bei den 5.867 Fällen, die 2015 vor Gericht landeten, waren die Betroffenen in 2.325 Fällen erfolgreich.«

Man kann es drehen und wenden wie man will: Die hohe Anzahl der teilweise und gänzlich erfolgreichen Widersprüche von über 36 Prozent und der erfolgreichen Klagen gegen Sanktionen von fast 40 Prozent zeigt an, dass es erhebliche Probleme innerhalb der Sanktionspraxis der Jobcenter gibt. Solche Werte sind nicht nur grundsätzlich ein Problem mit Blick auf die offensichtlich in Teilbereichen eklatant falsche Verwaltungspraxis, sondern in diesem Kontext hier ist das ganz besonders begründungsbedürftig, denn wir sprechen hier von Sanktionen im Bereich der sozialstaatlich gebotenen Sicherstellung des Existenzminimums.

An dieser Stelle nur eine kleine Anmerkung zum diskussionsbedürftigen Selbstverständnis der BA: In der Pressemitteilung zu den neuen Sanktionszahlen teilt uns Nürnberg mit Blick auf den Rückgang der Sanktionen mit: »Auch die gute Lage am Arbeitsmarkt und die intensivere Betreuung der Kunden im Jobcenter haben zu den sinkenden Sanktionszahlen beigetragen.« Der aufmerksame Beobachter wird bei diesem – offensichtlich austauschbaren – Erklärungsansatz stutzen, denn das kommt einem bekannt vor: In der Presseinformation der Bundesagentur für Arbeit (BA) vom 10. April 2013 zu den „Sanktionen in der Grundsicherung“ schrieb die gleiche Behörde unter der Überschrift „Vorsicht bei der Interpretation der Zahlen“ angesichts des damaligen Anstiegs der Sanktionen im Jahr 2012 auf über eine Million: „Zurückzuführen ist der Anstieg der Sanktionen auf die gute Lage auf dem Arbeitsmarkt und eine intensivere Betreuung in den Jobcentern.“ Die „intensivere Betreuung“ seitens der Jobcenter kann also offensichtlich beides ohne Probleme. Auf diesen Aspekt hat Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) in einer kurzen Notiz am 11.04.2016 hingewiesen: Weniger als eine Million Sanktionen: BA stellt Begründung auf den Kopf!

Die höchst umstrittene Frage der Sanktionen im Grundsicherungssystem wird uns in diesem Jahr an mindestens zwei Stellen noch grundsätzlich beschäftigen: Um einen kritisieren viele die anstehenden Änderungen im SGB II im Zuge des euphemistisch als „Rechtsvereinfachungsgesetz“ genannten Vorhabens der Bundesregierung. Nicht nur wird hier aufgrund des Widerstands aus Bayern und der CSU keine von eigentlich allen anderen im Vorfeld geforderte Abschaffung des besonderen und schärferen Sanktionsregimes für die unter 25jährigen Leistungsberechtigten stattfinden, sondern – gleichsam als Treppenwitz der Gesetzgebungsgeschichte – wird es sogar zu einer partiellen Verschärfung des Sanktionsrechts im SGB II kommen, wenn denn der Gesetzentwurf so verabschiedet wird, wie er derzeit im Bundestag diskutiert wird. Beispiel: Künftig könne der Regelsatz auch nach der dreimonatigen Sanktionsfrist weiter gekürzt oder einbehalten und für die Vergangenheit sogar zurückgefordert werden. Vgl. dazu den Artikel Hartz: Kritik an Verschärfung der Sanktionen.

Zum anderen wird die Frage der grundsätzlichen Zulässigkeit von Sanktionen verfassungsrechtlich auf den Prüfstand gestellt aufgrund einer Vorlage aus den Reihen der Sozialgerichtsbarkeit beim Bundesverfassungsgericht, das sich in diesem Jahr – voraussichtlich, noch steht kein festes Datum – damit befassen muss (vgl. dazu bereits den Blog-Beitrag Hartz IV: Sind 40% von 100% trotzdem noch eigentlich 100% eines „menschenwürdigen Existenzminimums“? Ob die Sanktionen im SGB II gegen die Verfassung verstoßen, muss nun ganz oben entschieden werden vom 27. Mai 2015).

Aber auch die Österreicher beschäftigen sich mit dem Thema Sanktionen im Bereich der Existenzsicherung und angesichts eines neuen Urteils dort soll das hier nicht unerwähnt bleiben.
In Österreich gibt es die „Mindestsicherung“. Die bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS) wurde am 1. September 2010 eingeführt. Sie hat die bislang je nach Bundesland unterschiedlich geregelte Sozialhilfe ersetzt. Sie besteht aus einer Bargeldleistung und einer unentgeltlichen Krankenversicherung. Im Gegensatz zur alten Sozialhilfe wird der Bezug der bedarfsorientierten Mindestsicherung von der Arbeitsbereitschaft der Bezieher abhängig gemacht, was auch die Teilnahme an Schulungsmaßnahmen und Wiedereingliederungsmaßnahmen des Arbeitsmarktservices umfasst sowie Beratungs- und Betreuungsmaßnahmen. Man ahnt schon, was jetzt kommt – denn wie bei Hartz IV auch stellt sich sogleich die Frage, was das bedeutet, wenn man eine Nichterfüllung dieser Voraussetzung feststellt bzw. behauptet. Wie bei uns wird das ein Fall für die Gerichte.

Vor diesem Hintergrund registriert man dann Schlagzeilen aus dem Bereich der Arbeitslosen-Initiativen, in diesem Fall der Gruppe „Aktive Arbeitslose Österreich„, die mit Blick auf eine neue Entscheidung des Österreichischen Verwaltungsgerichtshofs ihre Stellungnahme so überschrieben haben: Skandalurteil: Verwaltungsgerichtshof gibt der Bürokratie die Lizenz zum Verhungern lassen kranker Menschen. Da wird offensichtlich schweres Geschütz abgefeuert. Was treibt die Aktivisten dazu, von einem „Skandalurteil“ zu sprechen?

»Der österreichische Verwaltungsgerichtshof agiert dabei wesentlich kaltblütiger als Hartz IV Deutschland: Es verschwendet nicht einen Satz damit, dass es so etwas wie Menschenrechte gibt und dass die Behörden – so wie in Deutschland auch – verpflichtet wären, wenigstens mit Sachleistungen das Überleben der auf die „letzte Existenzsicherung“ angewiesenen Menschen zu sichern.«

Vor diesem Vorwurfs-Hintergrund lohnt der Blick in die Entscheidung selbst: Der Österreichische Verwaltungsgerichtshof hat seine Pressemitteilung dazu so überschrieben: Salzburger Mindestsicherungsgesetz: Mindestsicherung kann bei beharrlicher Arbeitsverweigerung bis auf null gekürzt werden. Daraus kann man folgende Erläuterungen entnehmen:

»Nach der Mindestsicherungs-Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern können Leistungen gekürzt werden, wenn trotz schriftlicher Ermahnung keine Bereitschaft zu einem zumutbaren Einsatz der Arbeitskraft besteht. Zwar darf die Kürzung grundsätzlich nur stufenweise und maximal bis 50 % erfolgen, eine weitergehende Kürzung oder ein völliger Entfall ist aber in besonderen Fällen zulässig … Der Verwaltungsgerichtshof hat nun klargestellt, dass diese Kürzung bis zu einem völligen Entfall der Leistung gehen kann.«

Wie immer ist es bei solchen Entscheidungen erforderlich, sich den Sachverhalt genauer anzuschauen. Dazu erfahren wir:

»Ein in Salzburg aufhältiger Obdachloser hatte seit 2012 Leistungen aus der Mindestsicherung bezogen. Obwohl ihm bereits zuvor Leistungen gekürzt worden waren, weigerte er sich, an Maßnahmen zur Eingliederung in das Erwerbsleben teilzunehmen. Mit Bescheiden des Salzburger Bürgermeisters wurde ihm daraufhin die Leistung aus der Mindestsicherung um 99 % gekürzt.
Das Landesverwaltungsgericht Salzburg reduzierte die Kürzung auf 87,5 %. Es vertrat die Auffassung, dass eine weitergehende Kürzung im Salzburger Mindestsicherungsgesetz – anders als in Mindestsicherungsgesetzen anderer Bundesländer, in denen ein Entfall ausdrücklich vorgesehen ist – nicht gedeckt sei.«

Der Österreichische Verwaltungsgerichtshof hat die Entscheidung des Salzburger Landesverwaltungsgerichts nun als rechtswidrig aufgehoben.

Auch vor dem Hintergrund der deutschen Diskussion höchst interessant kommt dann ein Satz seitens des Gerichts, den man angesichts der Klarheit wie auch Deutlichkeit in aller Ruhe durchdenken sollte:

»Würde man – wie das Landesverwaltungsgericht – die Kürzung nur bis zur Höhe von 12,5 % des Mindestsatzes zulassen, so käme dies einem bedingungslosen Grundeinkommen in dieser Höhe gleich, das aber vom Gesetzgeber nicht gewollt wurde.«

Damit wären wir an einem Punkt angekommen,  der auch ein Grundproblem im deutschen Kontext adressiert: Ein Grundsicherungssystem, das auf die Erfüllung definierter Bezugsvoraussetzungen abstellt und deren Verweigerung als Auslöser für Leistungskürzungen versteht, die über Sanktionen administriert werden, würde Hartz IV seinen heutigen Charakter als ein zugespitzt formuliert eben „nicht-bedingungsloses Grundeinkommen“ verlieren. Genau darum wird es auch bei uns in dem kommenden Monaten bis hin zu der anstehenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gehen (müssen).

Ein zorniger Brief von Jobcenter-Mitarbeitern an die Bundesarbeitsministerin sowie Hinweise aus den Jobcentern zum Umgang mit denen, die zu ihnen kommen werden

In den vergangenen Tagen wurde mal wieder über die Jobcenter, diese letzten Außenposten des Sozialstaats in unserem Land, berichtet. Zum einen anlässlich der Inaussichtstellung einer Entrümpelung des Leistungsrechts im SGB II (vgl. hierzu den Beitrag Entbürokratisierung des SGB II und mehr Luft für die Jobcenter? Von Luftbuchungen, Mogelpackungen und einem trojanischen Pferd vom 14.02.2016) sowie der Forderung der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) nach 450 Mio. Euro mehr Geld, um damit Arbeitsgelegenheiten für Flüchtlinge finanzieren zu können (vgl. dazu den Beitrag Die Bundesarbeitsministerin fordert „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge. Aber welche? Und warum eigentlich sie? Fragen, die man stellen sollte vom 13.02.2016). Nun haben sich die Betroffenen auf unterschiedlichen Ebenen zu Wort gemeldet.

Die grüne Bundestagsabgeordnete Brigitte Pothmer berichtet unter der Überschrift Jobcenter-Personalräte kritisieren Pläne zur Rechtsvereinfachung: »Bundesministerin Nahles hat versprochen, dass ihr Gesetz zur Rechtsvereinfachung die Arbeit der Jobcenter nachhaltig erleichtern soll. Das sehen die Personalräte der Jobcenter offensichtlich ganz anders. Mit Blick auf den Entwurf der Ministerin fürchten sie sogar noch mehr Arbeit.« Entnommen hat sie das einem Brief der Arbeitsgemeinschaft der Jobcenter-Personalräte an die Ministerin.  Darin findet man den Hinweis, dass es in den Belegschaften eine große Erwartungshaltung gab in Bezug auf die angekündigten Rechtsvereinfachungen und die Reform des SGB II.

Die Personalräte beschreiben einige Beispiele, warum es nicht zu erwarteten Entlastung der Jobcenter kommen kann. Dabei wird auch das bestätigt, was hier bereits in dem Beitrag über den Rechtsvereinfachungsentwurf als Rosstäuscherei beschrieben wurde:

»Der Erfüllungsaufwand wird sich durch die Verlängerung des Regelbewilligungszeitraums auf zwölf Monate in den gemeinsamen Einrichtungen in keiner Weise verringern. Seit der Einführung des Leistungsfachverfahrens Allegro, die am 18.08.2014 begonnen hat und seit dem 30.06.2015 offiziell beendet wurde, werden die Leistungen in der Regel bereits für zwölf Monate bewilligt.«

Dieser Punkt wird hier deshalb erneut aufgerufen, weil sich in dem Papier der Jobcenter-Personalräte ein interessanter Hinweis findet auf einen weiteren bereits benannten Kritikpunkt, dass der Gesetzentwurf selbst hinsichtlich der Sparsumme einen Betrag nennt, der noch nicht einmal ein Prozent der Verwaltungsausgaben umfasst:

»Besonders interessant ist die Angabe zur Reduzierung des Erfüllungsaufwandes der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende in Höhe von rund 39 Millionen Euro jährlich. Zum einen entspricht dies nämlich nur ca. 0,86% allein des Bundesanteils der Verwaltungskosten der 408 Jobcenter (die zweite Tranche der für die Flüchtlinge noch zurückgehaltenen Haushaltsmittel ist dabei nicht einmal eingerechnet). Zum anderen entfallen in der Berechnung dieser 39 Millionen Euro jährlich rund 38 Millionen auf die Verlängerung des Regelbewilligungsabschnittes auf zwölf Monate. Dieser Effekt kann sich jedoch gar nicht einstellen, da zumindest in den 303 gemeinsamen Einrichtungen bereits seit 18.08.2014 in der Regel für zwölf Monate bewilligt wird.«

Das ist nun wirklich nichts anderes als eine Luftbuchung.

In der FAZ vom 15.02.2016 wurde über diesen Brief der Personalräte berichtet unter der Überschrift „Nahles-Gesetz erzürnt Personalräte der Jobcenter“. Darin findet man die Bewertung, »das geplante Vereinfachungsgesetz, das Anfang Februar vom Kabinett beschlossen wurde, kommt ausgerechnet bei den Mitarbeitern nicht gut an. Es sei „in keiner Weise geeignet, Personalressourcen freizusetzen, die dann in die aktive Arbeitsvermittlung umgeschichtet werden könnten“, heißt es in einem Rundschreiben der Jobcenter-Personalräte … Bei dem von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) vorgelegten Entwurf handele es sich „um keine Reform, noch nicht einmal ein Reförmchen und in der Summe auch nicht um Rechtsvereinfachungen“.«

Und auch zu dem zweiten Thema, der Forderung der Bundesarbeitsministerin nach mehr Geld für Arbeitsgelegenheiten für Flüchtlinge, was hier ebenfalls kritisch analysiert wurde, haben sich Vertreter der Jobcenter zu Wort gemeldet. Das „Bundesnetzwerk Jobcenter“ – ein bundesweiter Zusammenschluss von Leitern von gemeinsamen Einrichtungen gem. § 44a SGB II und kommunalen Jobcentern – hat sich Anfang 2016 mit diesem Papier in die Debatte eingebracht: Flüchtlinge in den deutschen Arbeitsmarkt integrieren – Aufgabe der Jobcenter. Positionen des Bundesnetzwerks Jobcenter. Einige Punkte aus diesem Papier:

Die Jobcenter in Deutschland werden ab 2016 zu den wichtigsten Anlaufstellen der Flüchtlinge, die das Anerkennungsverfahren mit dem Ergebnis eines gesicherten Aufenthalts durchlaufen haben. Das IAB rechnet für 2016 damit, dass bedingt durch Flüchtlingsbewegungen im Rechtskreis SGB II 90.000 zusätzliche Arbeitslose und 230.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte zu registrieren sein werden. Dies ist als sehr vorsichtige Schätzung anzusehen. Im politischen Raum wird zum Teil mit wesentlich größeren Zuwächsen im System des SGB II gerechnet.

Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) bietet mit § 5 die Möglichkeit, Arbeitsgelegenheiten einzurichten. Dieses Instrument sollte intensiv genutzt werden. Die Konzeption der Arbeitsgelegenheiten nach dem AsylbLG sollte durch die zuständigen Träger vor Ort möglichst eng mit den Jobcentern abgestimmt werden, um die ggf. bei positivem Ausgang des Asylverfahrens anschließende Förderung im SGB II vorzubereiten. Auch betriebliche Praktika schon während des Asylverfahrens können sinnvoll sein.

So ist seit Jahren bekannt, dass die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlingen (BAMF) geförderten Integrationskurse nur sehr bedingt geeignet sind, die Arbeitsmarktintegration wirksam zu unterstützen. Es gibt zu wenige Kurse, die Wartezeiten vor dem Start sind viel zu lang. In diesen Wartezeiten müssen Qualifizierung und Arbeitsintegration oft ruhen, da die dafür erforderlichen Sprachkenntnisse nicht vorhanden sind. Zudem sind die Kurse oft nicht so angelegt, dass lernungewohnte Erwachsene motiviert und erfolgreich teilnehmen. Sehr oft werden die Lernziele nicht erreicht. Die Sprachkompetenzen der Teilnehmer bleiben hinter den Anforderungen des Arbeitsmarktes zurück … Zu erwägen wäre, die Bewirtschaftung der Mittel für Integrationskurse und deren Steuerung ganz vom BAMF in die Hände der Jobcenter zu verlagern. Dadurch könnte auch in diesem Bereich das Prinzip der „Hilfe aus einer Hand“ umgesetzt werden.

Da für viele Flüchtlinge und Neuzuwanderer eine schnelle Integration in den Arbeitsmarkt nicht möglich sein wird, ist es wichtig, sinnstiftende und betreute Arbeitsmöglichkeiten im öffentlichen Interesse zu schaffen, die aber gleichwohl qualifizierenden Charakter haben und für den Arbeitsmarkt relevante Arbeitserfahrungen ermöglichen. Dafür bietet es sich an, das Instrument der Arbeitsgelegenheiten nach § 16d SGB II weiterzuentwickeln. Die durch Änderungen im SGB II immer restriktiveren Einsatzbedingungen sollten wieder stark gelockert werden. Insbesondere sollte die Durchführung von Arbeitsgelegenheiten ermöglicht werden, die sowohl praktische als auch qualifizierende Elemente enthalten. Erfahrungen zeigen, dass auch Sprachkenntnisse wesentlich wirksamer vermittelt werden können, wenn Lernen eng mit der praktischen Anwendung im Arbeitskontext verbunden werden kann (Konzept „Sprache und Arbeit“). Dafür müssen Arbeitsgelegenheiten wieder flexibilisiert und vor Ort umfassend gestaltbar gemacht werden. Den Jobcentern sollte die Möglichkeit gegeben werden, Arbeitsgelegenheiten je nach den örtlichen Bedingungen mit Qualifizierungsbausteinen zu verbinden und dies mit Trägern in einem integrierten Konzept für Arbeit, Qualifizierung und Sprachtraining zu vereinbaren.

Man sieht an den beiden Beispielen – es fehlt nicht an Stellungnahmen derjenigen, die vor Ort arbeiten und Verantwortung tragen.

Eine andere Frage ist, ob sie denn auch Gehör finden.

Entbürokratisierung des SGB II und mehr Luft für die Jobcenter? Von Luftbuchungen, Mogelpackungen und einem trojanischen Pferd

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles will die Bürokratie in den Jobcentern abbauen. Die sollen Spielraum bekommen, damit sie sich besser um Langzeitarbeitslose und Flüchtlinge kümmern können. Den Jobcentern soll „mehr Luft“ bleiben für die Vermittlung der Hartz IV-Empfänger. So die Tonlage in vielen Artikeln, in denen über ein Gesetzentwurf aus dem Hause Nahles berichtet wurde. Es geht um das „Neunte Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung“, so heißt das Vorhaben ganz korrekt im Amtsdeutsch. Die Koalition stellt Bürokratieabbau in Jobcentern in Aussicht, so ist einer der vielen Artikel überschrieben, die nicht nur begrifflich Hoffnung säen, denn Hand aufs Herz: Wer kann gegen Bürokratieabbau sein? Das ist per definitionem eine gute Sache. Einige Journalisten haben sich gar dazu hinreißen lassen, die Option einer „Entbürokratisierung“ durch das neue Gesetz in greifbare Nähe zu rücken, so beispielsweise Uwe Ritzer: »Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) will die Jobcenter entbürokratisieren«, schreibt er in seinem Artikel Wie Nahles die Jobcenter-Bürokratie zerschlagen will. Da wird man vor dem Hintergrund dessen, was wir über das Bürokratiemonster, mit denen die Jobcenter heute konfrontiert sind, fast schon elektrisiert und man muss unbedingt einen genaueren Blick darauf werfen, was denn da für eine – angeblich – formidable Gesetzesvereinfachung vorgelegt worden ist.

Beginnen wir ganz formal mit einigen Anmerkungen zum Stand der Dinge, wie sich das bei gesetzgeberischen Vorhaben so gehört: Der Gesetzentwurf wurde am 3. Februar 2016 vom Bundeskabinett verabschiedet, soll am 18.03.2016 erstmals im Bundesrat beraten und am 14.04.2016 in erster Lesung dem Bundestag vorgelegt werden. Nach derzeitiger Planung soll das Gesetz am 09.06.2016 im Zuge der zweiten und dritten Lesung beschlossen und am 08.07.2016 dem Bundesrat zur Entscheidung vorgelegt werden. In Kraft treten sollen die SGB-II-Änderungen nach dem Willen des Ministeriums für Arbeit und Soziales zum 01.08.2016. Nun muss man wissen, dass dieser Entwurf eine längere Vorgeschichte hat.

Bereits im November 2012 hatte die Konferenz der Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales (ASMK) die Einrichtung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Vereinfachung des passiven Leistungsrechts im SGB II beschlossen. Diese AG Rechtsvereinfachung gab es von Juni 2013 bis Juni 2014 und sie hat eine ganze Reihe an Vorschlägen erarbeitet, von denen nun ein Teil vom Gesetzgeber umgesetzt werden soll. Es wurden 124 Vorschläge in die AG eingebracht und letztendlich hat man sich auf 36 verständigen können (vgl. Bericht über die Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Vereinfachung des passiven Leistungsrechts – einschließlich des Verfahrensrechts – im SGB II (AG Rechtsvereinfachung im SGB II) vom 02. Juli 2014, Seite 2).

Die Materialien zum Gesetzgebungsprozesses, also vom Bericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe über die Referenten- und Gesetzentwürfe bis hin zu dem Kabinettsbeschluss findet man hier. Zu den konkreten Inhalten gibt es eine detaillierte Übersicht und Kommentierung von Bernd Eckhardt: Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung. Geplante Rechtsänderungen im SGB II – Regierungsentwurf vom 3.2.2016. Eine erste Darstellung und Kommentierung, in: Sozialrecht Justament, Heft 1/2016, S. 5-32.

Wenn man sich mühsam durch die im Entwurf normierten Änderungen am SGB II durcharbeitet, dann wird man – von wenigen kleinteiligen Verbesserungen abgesehen – durchaus die Bewertung von Bernd Eckhardt teilen müssen: Der Gesetzentwurf atmet überall den Geist der „Krämerseele“, so hat er das ausgedrückt (S. 31): »Hier werden 15,33 Euro Werbungspauschale gestrichen, da wird der Mehrbedarf Behinderter in BVB-Maßnahmen gestrichen, dort werden Aufrechnungen auf 30 % der Höhe nach begrenzt, aber zur Dauereinrichtung.«

Nein, die Beschäftigten in den Jobcenter (und damit natürlich die betroffenen Hilfeempfänger) dürfen sich keine Hoffnung machen, dass es wirklich zu dem kommen wird, was als Ziel der Öffentlichkeit vorgegaukelt wurde und wird – also endlich mehr Ressourcen in den heute schon völlig überlasteten Jobcentern freizumachen für eine Betreuung und Vermittlung der erwerbsfähigen Hartz IV-Empfänger. Und der vielen neuen „Kunden“, die ab dem Sommer in das Grundsicherungssystem kommen werden, also aus den Reihen der Flüchtlinge, wenn deren aufenthaltsrechtliche Klärung den Übergang in die Zuständigkeit des SGB II und damit der Jobcenter auslöst. Die hier seitens der Regierung genannten ursprünglich mal 200.000 sind mittlerweile auf 300.000 bis 420.000 zusätzlichen Hilfeempfängern angewachsen, die man erwartet. Aber – gewissermaßen eine zynische Randnotiz – je schneller das BAMF die Asylentscheidungen hinbekommt, was ja von ihr erwartet wird, um so größer wird die Zahl der Neukunden für die Jobcenter.

Dabei zeigen die immer wieder in den Medien vorgetragenen Beispiele aus den Tiefen und Untiefen des Leistungsrechts mehr als eindrücklich die Absurdität eines hypertrophiert daherkommenden Systems. Als Beispiel sei hier Uwe Ritzer zitiert, der in seinem Artikel schreibt:

»Da ist zum Beispiel die Sache mit dem Warmwasserboiler. Hartz-IV-Empfänger, die sich getrennt von ihrer Heizung mit Warmwasser versorgen, erhalten dafür seit Jahresbeginn monatlich zu ihrem Regelsatz von 404 Euro obendrauf 9,29 Euro. Das gilt für Erwachsene, Kinder und Jugendliche erhalten weniger. Der Boiler-Zuschlag ist in sechs Staffeln aufgesplittet. Kinder bis zu sechs Jahren erhalten 1,90 Euro pro Monat. Am siebten Geburtstag erhöht sich der Satz auf 3,24 Euro. Für diese zusätzlichen 1,34 Euro muss das zuständige Jobcenter eigens einen Bescheid erlassen … Pausenlos kommen neue, immer pedantischere Vorschriften hinzu, die sie beachten müssen. Mal geht es um einen Sonderaufschlag für orthopädische Hausschuhe, mal um Wandfarbe extra für die Wohnungsrenovierung, um Tapetenkleister, Umstandskleidung oder zwei Euro mehr pro laufendem Meter Fußleisten, wenn diese in einer Wohnung fehlen. Die durchschnittliche Akte eines Hartz-IV-Empfängers umfasst 650 Seiten.«

Und man könnte noch viele weitere Beispiele nennen und beklagen. Damit nähern wir uns dem eigentlichen Kern des Problems, der aber nicht mal ansatzweise durch den neuen Gesetzentwurf adressiert wird: Das System Hartz IV ist ins Leben gerufen worden unter dem Dach einer Philosophie der Pauschalierung, schon damals unter dem Primat einer angeblichen effektivitäts- und effizienzsteigernden Wirkung im Sinne einer Entbürokratisierung, teilweise verbunden mit dem Ziel, die Betroffenen durch die „Einpreisung“ der meisten damaligen einmaligen Leistungen in die neue Pauschale davon zu „befreien“, wegen jeder Kleinigkeit zum Sozialamt zu müssen, um das dort dann zu beantragen.

Dazu Ritzer: »Statt viele an den jeweiligen Fall angepasste Einzelleistungen aus unterschiedlichen Sozialhilfe-Töpfen sollte es eine pauschale Grundsicherung geben. Sie sollte alle Ansprüche abdecken, übersichtlich sein für die Betroffenen, aber auch einfach für die mit ihrer Bewilligung befassten Mitarbeiter. Sie sollten schließlich mehr Zeit dafür haben, Hartz-IV-Empfänger in Arbeit zu bringen, anstatt nur ihre Fälle zu verwalten. So war der Plan.«

Mit den Plänen ist das ja immer so eine Sache. Letztendlich – aus der Perspektive einer angestrebten umfassenden Pauschalierung – ist Hartz IV als Tiger gesprungen und ziemlich krachend als Bettvorleger gelandet. Wenn man ausgehend von den beiden extremen Endpunkten, also vollständige Pauschalierung hier und einzelfallbezogene Leistungsgewährung auf der anderen Seite, das SGB II heute bewerten muss, dann passt das in diese Formel: Nicht Fisch, nicht Fleisch. Auf der einen Seite tatsächlich mehr Pauschalierung als in der alten Sozialhilfewelt des BSHG, aber zugleich immer mehr Sonderregelungen, auch durch eine einzelfallbezogene Rechtsprechung der Sozialgerichte bedingt.

Die Anerkenntnis dieses nicht-auflösbaren Dilemmas verweist dann auch auf das, was man eigentlich tun müsste, um wirklich einen befreienden Sprung nach vorne machen zu können: Wenn man wirklich eine spürbare Entbürokratisierung hinbekommen wollte, dann müsste man radikal pauschalieren, mit nur ganz wenigen Ausnahmen für besondere begründungspflichtige Einzelfälle – wenn man das aber tun würde, dann müsste die Pauschale großzügig bemessen sein, um möglichst viele abweichende Fallkonstellationen darüber auch einfangen zu können.

Das nun wiederum fürchtet die Politik wie der Teufel das Weihwasser, denn eine großzügiger bemessene Regelleistung im SGB II-System hätte enorme Mehrausgaben im Haushalt zur Folge, wobei nicht nur die höheren Leistungen relevant wären, sondern auch Auswirkungen bis in das Steuerrecht hinein in Rechnung zu stellen wären, beispielsweise beim steuerfrei zu stellenden Existenzminimum.

Aus dieser – institutionenegoistisch durchaus nachvollziehbaren – Verweigerungshaltung (und wir haben noch gar nicht die polit-psychologischen Widerstände gegen höhere Hartz IV-Leistungen einbezogen) resultiert aber leider auch zugleich eine Potenzierung des zentralen Problems des Hartz IV-Systems: Gemeint ist hier der faktische Charakter der Grundsicherung als ein eben nicht-bedingungsloses Grundeinkommen, zumindest für viele Betroffene. Die Illusion vieler Beteiligter bei der Konstruktion dessen, was dann als Hartz IV über uns gekommen ist, war die Annahme, dass ein Verbleib in diesem System nur von vorübergehender Natur sein würde, wobei durch den professionellen Einsatz des Waffenarsenals des „Forderns und Förderns“ die Zeitspanne bis zu einem Ende der Hilfsbedürftigkeit immer kürzer werden würde.

Nun reden wir aber über ein System, aus dem derzeit fast 4,3 Mio. erwerbsfähige Hilfeempfänger sowie mehr als 1,7 Mio. Kinder unter 14 Jahren Leistungen erhalten. Und nicht wenige beziehen seit vielen Jahren diese Leistungen und bei vielen ist auch nicht absehbar, ob und wann sie jemals vollständig aus dem Grundsicherungssystem katapultiert werden können. Wenn wir aber über ein letztes Auffangnetz in unserer Gesellschaft reden, auf das Millionen Menschen eben nicht nur für eine begrenzte, überschaubare Zeit angewiesen sind, sondern möglicherweise auf Dauer, dann wird natürlich die Unterdimensionierung der Pauschale, aus dem die laufenden Kosten des Lebensunterhalts gedeckt werden müssen, für die Betroffenen zu einem richtig großen Problem.

Aber an diese Kernproblematik geht man schlichtweg nicht ran. Der vorliegende Gesetzentwurf würde im Ergebnis – das ist gleichsam eine doppelte Dramatik – nicht nur nicht die versprochene Entbürokratisierung für die Jobcenter bringen, er führt, wie gleich noch zu zeigen sein wird, quasi über die Hintertür einen Mechanismus ein, der die Schlinge um den Hals der von einer an sich schon fragwürdig niedrig bemessenen Grundsicherungsleistung bereits geplagten Hilfeempfänger weiter anzuziehen in der Lage ist. Gemeint ist die Sanktionierung mit der Folge einer Absenkung des eigentlich als Existenzminimums deklarierten Geldbetrages.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung wird keine spürbaren positiven Auswirkungen auf die Arbeit in den Jobcenter haben – dieser Aspekt wurde auch schon in einigen kritischen Presseberichten vorgetragen, beispielsweise in dem Artikel Verloren im Dschungel der Paragrafen von  Bernhard Walker oder in dem Beitrag Ein bisschen weniger Bürokratie von Peter Hermann. Aber warum können die Mitarbeiter in den Jobcenter nicht auf eine deutliche Entlastung hoffen? Man könnte diese bei den Betroffenen sicher drängende Frage mit einem Verweis auf den Gesetzentwurf abtötend beantworten: Im Kabinettsentwurf für das sogenannte „Rechtsvereinfachungsgesetz“ findet sich ganz vorne eine mehr als entlarvende Formulierung: »Der Erfüllungsaufwand der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende reduziert sich durch die Neuregelungen um rund 39 Millionen Euro jährlich.« Das offenbart die ganze Fragwürdigkeit des Unterfangens – denn gerade mal um ein Prozent (!) der gegenwärtigen Verwaltungskosten würden die Jobcenter entlastet werden. Dafür überhaupt ein Gesetzgebungsverfahrens auf die Schiene zu setzen ist an und für sich ein Fall für den Rechnungshof.

Wie es zu dieser katastrophal niedrigen Entlastungssumme kommen kann, lässt sich an einem Beispiel (von vielen) illustrieren: In vielen Medienberichten wurde als konkrete Maßnahme für eine Entlastung der Jobcenter darauf hingewiesen, dass man in Folge der Gesetzesänderung statt alle sechs Monate nur noch einmal im Jahr eine Bewilligung verschicken müsse. Prima. Nun sollte man wissen, dass es hier um die Regelung des Regelfalls geht, von dem auch bislang schon abgewichen werden konnte. Was die meisten Jobcenter längst tun. Beispiel Jobcenter Leipzig: Dort wurden bisher schon 80 Prozent aller Bewilligungen für ein Jahr ausgesprochen. So viel zum „großen Wurf“. Das muss man eine Luftbuchung nennen. Insgesamt haben wir es mit einer echten Mogelpackung zu tun.

Allerdings werden wir nicht mit einer Mogelpackung konfrontiert, wenn es um weitere Restriktionen für die „Kunden“ des Jobcenters geht. Hier nur ein Hinweis, eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Thematik ist einem eigenen Blog-Beitrag vorbehalten: Gemeint sind die Kürzungen der Leistungen in Folge von Sanktionen. Dazu muss man rückblickend wissen, dass ein ursprünglicher Vorschlag darauf zielte, bei den hoch umstrittenen Sanktionen eine Verbesserung herzustellen, in dem die heute gegebene Situation eines deutlich schärferen Sanktionsregimes für die Unter-25jährigen im SGB II durch eine Gleichstellung mit den Sanktionsvorschriften für die Erwachsenen für die betroffenen jungen Menschen etwas zu entschärfen. Aber die CSU als Verfechterin einer „schwarzen Pädagogik“ hat das kategorisch verweigert, so bleibt es bei dem Sanktionsgefälle. Insofern eine Niederlage vor allem der SPD, die eine Entschärfung gefordert hat. Aber damit nicht genug. Gleichsam über die Hintertür wird jetzt für alle eine Verschärfung der Sanktionsfolgen in das Gesetz gehoben, das ja ein sozialdemokratisch geführtes Ministerium zu verantworten hat. Man hat offenbar ein trojanisches Pferd in den Gesetzesentwurf eingeschmuggelt.

Dazu beispielsweise der Artikel Bundesregierung will Hartz-IV-Sanktionen verschärfen. Und das soll so gehen: Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher, die eine Arbeit aufgeben oder nicht antreten, können sich über einen Zeitraum von vier Jahren erstrecken. Konkret geht es um Ersatzansprüche bei »sozialwidrigem Verhalten«. Man achte auf die Terminologie.

»Wer etwa aus personenbezogenen Gründen gekündigt wird, soll nicht nur mit der bisher üblichen dreimonatigen Zahlungssperre belegt werden, sondern auch einen Kostenersatz leisten »wegen sozialwidrigem Verhalten für eine unbestimmte Zeit für alle gezahlten SGB II Leistungen«, wie der Sozialrechtler Harald Thomé in seiner Stellungnahme schreibt.«

Fabian Lambeck hat diesen Aspekt in seinem Artikel Hartz holt auch noch das Letzte raus vertieft. Bislang gilt bei Ablehnung einer Arbeit oder einer Kündigung aus personenbezogenen Gründen eine einmalige Sanktion für drei Monate. Wer sich unauffällig verhält, der bekommt danach wieder den vollen Regelsatz. Mit der vorgesehenen Neuregelung würde, so Harald Thomé, faktisch eine zusätzliche Sanktion eingeführt. Es geht also um das angesprochene „sozialwidrige Verhalten“, ein an sich mehr als diskussionsbedürftiger Terminus aus alten Zeiten. Bislang galt hier eine Ersatzpflicht nur in Ausnahmefällen, etwa bei kriminellen Handlungen. Neu wäre ein erhebliche Ausweitung dieser Ersatzpflicht, etwa bei »Erhöhung oder Aufrechterhaltung der Hilfebedürftigkeit«, zum Beispiel durch selbst verschuldeten Jobverlust.

Was sagt das Ministerium dazu? Lambeck zitiert einen Sprecher des BMAS,  der auf den entsprechenden Paragrafen 34 SGB II verwies. Dort steht tatsächlich, dass vom Amt ein Erstattungsanspruch geltend gemacht werden kann, »wenn eine Beschäftigung ohne wichtigen Grund abgelehnt wird und dadurch die Hilfebedürftigkeit aufrechterhalten bleibt oder in denen der Wechsel in eine günstigere Steuerklasse verweigert wird«.

Und wenn wir schon dabei sind, dann gibt es noch einen oben drauf:

»Die Ausweitung des Ersatzanspruches gilt auch für Sachleistungen, also Lebensmittelgutscheine, die Sanktionierte vom Jobcenter erhalten, damit sie nicht hungern müssen. Würde der Änderungsvorschlag aus dem Bundesarbeitsministerium umgesetzt, dann wäre so ein Lebensmittelgutscheine »nicht mehr geschenkt, sondern muss dem Amt durch großzügige Aufrechnung von 30 Prozent des Regelbedarfes zurückgezahlt werden«, wie Thomé schreibt.«

Auch aus den Reihen der Wohlfahrtsverbände gibt es (nicht nur) hier deutliche Kritik, so seitens des Paritätischen in der Pressemitteilung Kürzungen und Sanktionen: Massive Kritik des Paritätischen an Hartz-IV-Verwaltungsreform vom 03.02.2016 – zugleich wird hier darauf hingewiesen, dass es nach der „Reform“ sogar zu mehr Sozialgerichtsverfahren kommen wird als bislang schon:

»Bei den Wohnkosten sind weitere Verschlechterungen absehbar. Entgegen der ursprünglichen Intention, Sanktionen zu entschärfen, sollen nun sogar zusätzliche Möglichkeiten der Verhaltenskontrolle und Sanktionierung eingeführt werden, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes … Der Verband kritisiert insbesondere die völlig unpraktikable Pauschalierung der Heizkosten. „Bereits 2014 blieben Hartz-IV-Bezieher bundesweit auf 620 Millionen Euro Wohnkosten sitzen, die nicht übernommen wurden. Dies ist einer der Hauptgründe der großen Zahl von Widersprüchen und Klagen vor den Sozialgerichten. Mit der zusätzlichen Pauschalierung der Heizkosten wird die Zahl der Klagen mit Sicherheit zunehmen“, prognostiziert Schneider. Den gleichen Effekt sagt der Verband bei der Einführung so genannter „Ersatzansprüche“ bei sozialwidrigem Verhalten voraus … „Die Sozialgerichte werden ordentlich zu tun bekommen.“

Es sollte deutlich geworden sein, was von diesem Reförmchen statt Reform zu halten ist. Nichts.

Die Bundesarbeitsministerin fordert „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge. Aber welche? Und warum eigentlich sie? Fragen, die man stellen sollte

Wieder einmal werden wir Zeuge einer dieser bedenklichen Ausformungen von Berichterstattung in mehrfacher Hinsicht. Da gibt die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ein Interview, stellt eine Forderung in den öffentlichen Raum, alle schreiben das schnell ab und andere reagieren sofort mit Pressemitteilungen darauf, aber keine stellt einige notwendige Fragen. Ob und wie das denn eigentlich passt, was da gefordert wird. Und ob es möglicherweise ganz andere Beweggründe geben könnte für das, worauf sich jetzt alle stürzen. Und in vielen aus der Hüfte abgeschossenen Stellungnahmen ist ein schwerwiegendes Nicht-Wissen über die arbeitsmarktpolitischen Instrumente und ihrer Wirkungen identifizierbar.

Aber der Reihe nach: Ausgangspunkt ist ein Interview, das unter dieser Überschrift veröffentlicht worden ist: Arbeitsministerin Nahles fordert halbe Milliarde Euro mehr für Flüchtlinge. In diesem Interview geht es insgesamt um die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Im Verlauf des Gesprächs macht sie dann diese Ansage: »Wir brauchen … ein Integrationsfördergesetz. Wir haben ja nicht nur über eine Million Flüchtlinge, sondern auch über eine Million Langzeitarbeitslose. Ich werde nicht zulassen, dass die beiden Gruppen gegeneinander ausgespielt werden.« Ein offensichtlich ehrenwertes Unterfangen, denn natürlich steckt da sozialer Sprengstoff drin, wenn das so wäre bzw. ist. Und dann fährt sie fort: »Aus dem laufenden Haushalt meines Ressorts für Arbeitsmarktpolitik sind die zusätzlichen Aufgaben nicht zu bewältigen. Wir können das Geld nicht bei den Langzeitarbeitslosen wegnehmen. Sonst entsteht ein Verdrängungswettbewerb, der Ängste schürt, statt sie abzubauen. Wir brauchen deshalb zusätzliche Gelder für die Integration der Flüchtlinge.«
Und dann wird sie konkreter – und dieser Passus wurde dann von allen anderen aufgegriffen:

»Ich möchte zum Beispiel 100.000 Arbeitsgelegenheiten für Flüchtlinge schaffen. Bisher sitzen die Menschen manchmal zwölf Monate herum, ohne etwas tun zu können. Das löst auf allen Seiten Spannungen aus. Wir müssen so früh wie möglich ansetzen, das kann ich aber nur mit Unterstützung des Finanzministers. Es geht hier um 450 Millionen Euro zusätzlich im Jahr.«

Genau an dieser Stelle sollte man schon einmal innehalten und sich die zugegeben komplexe Zuständigkeitsfrage in Erinnerung rufen.

Denn für die Flüchtlinge am Anfang ist das SGB II, also das Hartz IV-System und mit ihm die Jobcenter, gar nicht relevant. Die Flüchtlinge schlagen erst dann im Hartz IV-System auf, wenn sie als Asylberechtigte anerkannt sind. Am Anfang sind bzw. wären sie theoretisch Asylbewerber – theoretisch deshalb, weil viele von ihnen  Monate warten müssen, bis sie überhaupt einen Asylantrag stellen können beim BAMF, bis dahin sind sie noch nicht einmal Asylbewerber. Da gilt dann aber das Asylbewerberleistungsgesetz. Und für die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge beispielsweise in den Erstaufnahmestellen und vor Ort in den Unterkünften sind die Bundesländer und Kommunen zuständig, wobei der Bund an der Finanzierung beteiligt ist, da er den Bundesländern dafür Gelder zur Verfügung stellt, die diese dann in ganz unterschiedlicher Form und Umfang an die Kommunen weiterleiten (sollen).

Wenn also die Bundesarbeitsministerin als Begründung für die an ihren Finanzminister-Kollegen gerichtete Forderung nach einer zusätzlichen halben Milliarde Euro für die Flüchtlinge ausführt: »Bisher sitzen die Menschen manchmal zwölf Monate herum, ohne etwas tun zu können«, dann muss man an dieser Stelle die Frage stellen, wer ist denn eigentlich für einen anderen Umgang mit den betroffenen Menschen an dieser Stelle zuständig? Auf alle Fälle nicht die Jobcenter (mit ihren Arbeitsgelegenheiten, die umgangssprachlich, aber inhaltlich falsch als „Ein-Euro-Jobs“ bezeichnet werden), sondern es sind die Kommunen.

Aber auch die können, wenn sie es denn wollen, auf das Instrument der Arbeitsgelegenheit zurückgreifen. Nehmen wir mal den optimistischen Fall, dass der Flüchtling unter das Asylbewerberleistungsgesetz fällt. Dann gibt es da den § 5 AsylbLG. Der ist lapidar überschrieben mit: Arbeitsgelegenheiten (AGH).

Das Asylbewerberleistungsgesetz verpflichtet in seinem § 5 zu gemeinnütziger Arbeit in einer AGH. Diese Stellen gibt es teilweise schon seit vielen Jahren. Falls jetzt jemand auf die durchaus naheliegende Frage kommen sollte, wie viele von solchen AGH nach § 5 AsylbLG es denn gibt, dann muss hier geantwortet werden: Das weiß schlichtweg keiner. Von hier Existenz weiß man nur in der jeweiligen Einrichtung und vielleicht noch in der jeweils zuständigen Kommune. Aber gesammelt werden diese Informationen nicht. Wie viele Menschen darüber beschäftigt werden, ist also nicht bekannt. Allerdings weiß das Statistische Bundesamt, wie viel Geld dafür ausgegeben wurde: 2014 waren es angeblich 8,75 Millionen Euro, etwa je zur Hälfte in Einrichtungen und außerhalb (Quelle: EFAS – Informationsdienst Nr. 1/2016, S. 3). Keine große Summe, vor allem nicht, wenn man von den heutigen Zahlen an Flüchtlingen ausgeht.

Denn der Einsatz von Arbeitsgelegenheiten für Flüchtlinge gerade am Anfang ihres Aufenthalts kann sehr wohl Sinn machen. Dies nicht nur angesichts der von der Ministerin angesprochenen Tatsache, dass es nicht wirklich integrationsförderlich ist, wenn die betroffenen Menschen monatelang zum Nichtstun verdammt sind. Sondern auch, weil die AGH nach dem AsylbLG einen entscheidenden Vorteil haben gegenüber den AGH nach § 16 d SGB II, also den „normalen Ein-Euro-Jobs“ für die Langzeitarbeitslosen im Hartz IV-System: Während die durch das immer restriktiver ausgestaltete Förderrecht nicht nur zusätzlich und im öffentlichen Interesse, sondern auch „wettbewerbsneutral“ sein müssen, was im Ergebnis bedeutet, dass man entweder legal gar keine Beschäftigung organisieren  kann oder wenn, dann nur solche Tätigkeiten, das ganz weit weg sind von dem, was auf dem normalen Arbeitsmarkt getan wird, gelten diese Einschränkungen für die AGH nach dem AsylbLG nicht.

Das hat dazu geführt, dass derzeit dieses Instrumentarium von aktiven Kommunen innovativ genutzt wird, beispielsweise im Sinne einer Verknüpfung von Beschäftigung und Qualifizierung, was bei den „normalen“ AGH schlichtweg nicht zulässig ist. Das eröffnet notwendige Spielräume, um die Flüchtlinge nicht nur irgendwie zu beschäftigen, sondern die Zeit zu nutzen, sie in Verbindung mit Sprachschulung und Qualifizierungsbausteine fit zu machen für daran anschließende Schritte zur Arbeitsmarktintegration, beispielsweise eine von vielen geforderte Berufsausbildung nach deutschem Muster.

Der Wahnsinn des zerfledderten rechtlichen Zuständigkeitsrahmen wird in diesem Jahr so richtig an die Oberfläche gespült werden. Man kann sich das so illustrieren: Viele Flüchtlinge, die sich noch unter dem Schirm des AsylbLG befinden, werden im Sommer und Herbst in die Zuständigkeit der Jobcenter und des SGB II-Systems wechseln. Anfangs hieß es, man rechne mit 200.000 zusätzlichen Menschen im Hartz IV-System, mittlerweile sind wir da schon bei einer Größenordnung von 300.000 bis 420.000 angekommen. Es könnten auch noch mehr werden. Unabhängig von den enormen Herausforderungen, die das für die heute schon im Überlast-Modus agierenden Jobcenter bedeutet, kann dann folgende Situation entstehen: Ein „neuer Kunde“ der Jobcenter hat bereits mit einer innovativen AGH begonnen, also gekoppelt mit Sprachförderung und passgenauen Qualifizierungsbausteinen versehen, die in der Kommune organisiert worden ist. Nun kann diese Maßnahme beim Übergang in das SGB II-System nicht einfach fortgeführt werden – denn förderrechtlich ist hier vieles nicht zulässig, was vorher möglich war.

Zu was das führen kann? Die Jobcenter plädieren aus ihrer Sicht verständlich mit Blick auf die angesprochene mögliche Konfliktkonstellation dafür, dass die Maßnahmen vor ihrer Zuständigkeit „ganz eng“ mit ihnen abgestimmt wird – was aber unter den herrschenden Bedingungen bedeuten würde, dass man deutlich weniger bis gar nicht mehr innovativ vorgehen könnte, damit eine mögliche Anschlussförderung nicht gefährdet wird. Man richtet sich also im Vorfeld an den schlechteren Bedingungen des Förderrechts nach SGB II aus und vergibt damit möglicherweise große Chancen.

Bei allem Verständnis für diejenigen, die nur (noch) kurze Texte lesen können/wollen/dürfen – es geht einfach nicht anders, als in diesem Umfang. Man muss versuchen, zu durchschauen, wie und wo die unterschiedlichen Systeme derzeit nicht gut zueinander passen.

Aber wieder zurück zur Bundesarbeitsministerin Nahles. Warum fordert sie denn nun 450 Mio. Euro und verbindet das mit dem Argument, man dürfe die „eigenen“ Langzeitarbeitslosen nicht „leiden“ lassen an der Integration der Flüchtlinge? Wenn es ihr um die Flüchtlinge geht, die noch gar nicht im Hartz IV-System sind, dann müsste sie diese halb Milliarde Euro an die Kommunen weiterleiten lassen, denn die müssen die AGH für die „Noch-nicht-Hartz IV-Flüchtlinge“ organisieren und finanzieren, zusammen mit den Bundesländern und dem Bund.

Aber vielleicht – wer kann schon so genau in den Kopf einer Ministerin schauen – geht es gar nicht darum, sondern um ein zusätzliches Druckmittel für die anstehenden Gespräche mit dem Herrn des Geldes, also dem Bundesfinanzminister Schäuble (CDU). Dann geht es aber auch nicht um die Flüchtlinge jetzt und in den vor uns liegenden Monaten, denn verhandelt wird bis Ostern über die Eckpunkte für den Haushalt des Jahres 2017. Also für das kommende Jahr. Und wir haben erst Februar. Dass das so ist, bestätigt die Ministerin in dem Interview selbst, wenn sie sagt: »Die Verhandlungen laufen ja jetzt schon und für das kommende Jahr.« Auch Karl Doemens stützt in seinem Artikel Nahles fordert Ein-Euro-Jobs für Flüchtlinge diesen Verweis auf das Jahr 2017, wenn er zitierend schreibt: »Im Finanzministerium wird betont, es gebe noch keine Entscheidung. Derzeit laufe das Verfahren zur Etataufstellung 2017. Bis Ostern sollen die Eckwerte stehen, sagte ein Sprecher: „Wir müssen die Gespräche abwarten.“«

Vor diesem Hintergrund wird die Forderung natürlich auch verständlicher, denn im kommenden Jahr braucht die Bundesarbeitsministerin zusätzliche Mittel, um die dann im Hartz IV-System befindlichen Flüchtlinge mit entsprechenden Maßnahmen versorgen zu können. Nur kann und muss man an dieser Stelle anmerken: Schon in der Vergangenheit hat die Ministerin offensichtlich schlecht, sehr schlecht mit dem Bundesfinanzminister verhandelt. Erst vor kurzem wurde bekannt, dass sie aus den Mitteln für Fördermaßnahmen für Langzeitarbeitslose, die bereits seit 2010 erheblich eingedampft worden sind, Gelder zur Deckung der Verwaltungskosten der Jobcenter verschoben hat (vgl. hierzu ausführlicher den Beitrag Skelettöse Umverteilung: Aus dem Topf der völlig unterfinanzierten Eingliederungsmittel die auch unterfinanzierten Verwaltungskosten der Jobcenter mitfinanzieren vom 30.01.2016).

Schaut man sich die Entwicklung der Arbeitsgelegenheiten im SGB II in den vergangenen Jahren an, dann wird eindeutig erkennbar: Die Langzeitarbeitslosen haben die Flüchtlinge nicht wirklich zu befürchten, denn der Kahlschlag wurde bereits vor der großen Flüchtlingswelle seitens der Bundesregierung organisiert, seit 2010 haben wir einen massiven Einbruch der AGH zu verzeichnen, denn durch die Einsparungen vor allem bei der öffentlich geförderten Beschäftigung musste der Großteil der Einsparungen im Haushalt des Bundes realisiert werden, die man dem BMAS damals aufgegeben hatte. Die konnten sich nur an diesen Ermessensleistungen vergreifen. Allerdings ist klar – und das treibt Frau Nahles heute sicher an: Wenn die an sich schon völlig unterfinanzierte Förderlandschaft so bleibt wie es ist und gleichzeitig mehrere hunderttausend neue Kunden in das Grundsicherungssystem eintreten, dann wird der Verteilungsk(r)ampf noch größer.

In der medialen Rezeption der Nahles-Forderung spielen diese Hintergründe keine Rolle, wegen Nicht-Wissens oder schlichter Ignoranz. Zwei Beispiele dafür:
Von Seiten der linken Kritik an der Arbeitsmarktpolitik sei hier auf den Artikel Nahles’ Ein-Euro-Integration von Susan Bonath verwiesen. Sie beginnt mit einer steilen These:

»Sie schönen die Arbeitslosenstatistik und ersparen klammen Kommunen Personalkosten. Fast nie ermöglichten sie Betroffenen den Sprung in entlohnte Beschäftigung: Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung, sogenannte Ein-Euro-Jobs. Deshalb wurde ihre Zahl seit 2010 von über einer halben Million auf etwa die Hälfte reduziert.«

Nein, das was 2010 wirklich nicht der Grund, dass man die Zahl der AGHs heruntergefahren hat, sondern das Sparprogramm der damaligen Bundesregierung. Das Gerede von den „problematischen“ AGH entspringt dann gerade nicht einer wirklich fundierten Auseinandersetzung mit diesem höchst ambivalenten arbeitsmarktpolitischen Instrument (die es seit Jahren gibt und die eben nicht per se das Instrument verdammt, sondern auf die Art und Weise des Einsatzes abstellt), sondern der Legitimation für die eigentliche Zielsetzung, Mittel zu kürzen.

Ein zweites Beispiel für Bewertungen von Leuten, die nur über einen begrenzten Sachverstand verfügen, kann man diesem Artikel entnehmen: Ein-Euro-Jobs für Flüchtlinge behindern Integration: »Führende Wirtschaftsforscher kritisieren die Nahles-Idee, 500 Millionen Euro für Beschäftigungsmaßnahmen für Flüchtlinge auszugeben. Stattdessen solle in die Qualifikation investiert werden.« Aus diesem Artikel nur zwei Beispiele:

»“Durch Ein-Euro-Jobs würden Flüchtlinge vom regulären Arbeitsmarkt wegsubventioniert“, sagte Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) der „Rheinischen Post“. Flüchtlinge bräuchten keine Beschäftigungstherapie, sondern Qualifizierung.«

»Der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Straubhaar verwies mit Blick auf die Ein-Euro-Jobs auf „nicht unbedingt gute Erfahrungen“ im Zuge der Hartz-IV-Gesetzgebung. „Ich bin überzeugt, dass man hier keine zusätzliche öffentliche Beschäftigung oder neue bürokratische Maßnahmen braucht“, sagte der frühere Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts.«

Zu Schäfer: Gerade bei den AGH nach dem AsylbLG kann man – wenn man denn will – innovative Modelle der Beschäftigung und Qualifizierung realisieren, weil sie gerade nicht derart restriktiv ausgestaltet werden müssen, wie die „normalen“ AGH nach dem SGB II. Dazu müsste man aber die Unterschiede kennen.

Und zu Straubhaar: Die Kritik an den AGH wird seit Jahren von den Praktikern und nicht-ideologisch arbeitenden Experten vorgetragen, aber nicht, weil das Instrument AGH an sich sinnlos ist (beispielsweise macht es bei bestimmten Personengruppen oder nach einer langen Erwerbslosigkeit durchaus Sinn, mit einer AGH zu starten, wenn man denn noch andere Instrumente zur Verfügung hat, die man darauf aufbauend einsetzen kann). Sinnlos ist nur die Reduzierung der öffentlich geförderten Beschäftigung auf dieses eine Instrument, dann auch noch versehen mit den förderrechtlichen Restriktionen, die wir heute beklagen müssen.

Vielleicht, um den Beitrag zu schließen, sind wir letztendlich auch hier konfrontiert mit einem hoch komplexen Dilemma, dessen Kern in dem folgenden Beispiel erkennbar wird:
Überall wird über „die“ Flüchtlinge gesprochen und immer wieder kommt die Frage, wie man „die“ Flüchtlinge in „den“ Arbeitsmarkt möglichst schnell integrieren kann.
Nun sollte jedem klar sein, dass es „die“ Flüchtlinge nicht gibt und eben auch nicht „den“ Arbeitsmarkt – was nicht nur, aber auch eine Quelle für die Nicht-Möglichkeit der Beantwortung der eingangs zitierten Frage ist.

Was man aber machen kann und was eine Menge Erkenntnisse über die Möglichkeiten wie auch die Hindernisse in der wirklichen Wirklichkeit eröffnet, ist die exemplarische Begleitung real existierender Flüchtlinge auf ihrem Weg durch die Instanzen.

Genau das ist der Ansatz von Nadine Bös von der FAZ, die über die Erfahrungen des syrischen Flüchtlings Modar Rabbat auf seiner Jobsuche berichtet, denn sie begleitet ihn seit längerem.
Der erste Bericht ist am 13. Januar 2016 erschienen unter der Überschrift Es ist toll, dass ich mich hier sicher fühlen kann. Nun folgt der zweite Bericht, der unter der weniger verheißungsvollen Überschrift Baustelle Arbeitserlaubnis steht. Man kann die Lektüre nur empfehlen, nicht nur, aber auch weil man lernen muss, dass ein Happy End möglich ist, aber dann doch zu einem Opfer der deutschen Regelwerke werden kann. Denn der junge Mann hat ein Unternehmen gefunden, das ihn einstellen will. Und dann meldet sich das Amt und stoppt die scheinbare Erfolgsstory: Keine Arbeitserlaubnis.

Es ist halt alles irgendwie viel komplizierter als man denkt und hofft.