Vor dem zweiten „Asylpaket“: Erbsenzähler und verdruckste Buchhalter unterwegs. Es geht mal wieder um Kosten

Sortieren wir uns zuerst einmal: Immer wieder wird die Erkenntnis vorgetragen, dass die Vermittlung der deutschen Sprache (und darüber hinaus der in unserer Gesellschaft vorhandenen Werte) von zentraler Bedeutung ist für eine gelingende Integration. Und hinsichtlich des Spracherwerbs ist nun eigentlich allen klar, dass man so schnell wie möglich damit anfangen muss, den Menschen einen Zugang zu eröffnen – selbst wenn der eine oder andere nicht hier bleiben kann/darf. Die Sprache ist nun wirklich nachgewiesenermaßen der Flaschenhals für viele weitere Folgeprozesse, wenn man Integration will, beispielsweise die Aufnahme einer Ausbildung oder Beschäftigung.

Vor diesem Hintergrund kann man beim folgenden Sachverhalt nur zu dem Eindruck gelangen: die Erbsenzähler und Korinthenkacker, die verdrucksten Buchhalter sind wieder unterwegs. Und das wäre noch die „nette“ Interpretationsvariante.

Es geht – wie kann es anders sein – wieder einmal um Kosten. Um die Kosten der Sprachkurse für Flüchtlinge.

Der Bundesfinanzminister Schäuble (CDU) will den Flüchtlingen „einen Kostenbeitrag von 36 Euro im Monat“ von den Asylbewerberleistungen abziehen. Damit stellt sich das Finanzressort gegen eine Absprache zwischen dem Innen-, dem Justiz- und dem Arbeitsministerium. Sie wollen Asylbewerbern für Sprachkurse nur 1,39 Euro pro Monat in Rechnung stellen, berichtet die FAZ: Schäuble beharrt auf Kürzung bei Flüchtlings-Leistungen.
Die Bundesregierung will das zweite Asylpaket, in dem das geregelt werden soll, in einer Sondersitzung des Kabinetts am kommenden Montag verabschieden. Damit soll die Vereinbarung der Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD vom 5. November umgesetzt werden. Darin enthalten war der grundsätzliche Beschluss, Asylbewerber an den Kosten von Sprachkursen zu beteiligen. Die Höhe blieb offen.

Nun wird sich der eine oder andere fragen: Wie um alles in der Welt kommen die auf entweder 1,39 Euro bzw. 36 Euro?

Hier die „Auflösung“ des Zahlenrätsels:

Der Kostenbeitrag von 1,39 Euro monatlich: »Das entspricht bei den Asylbewerberleistungen ähnlich wie bei Hartz IV dem rechnerischen Bedarf für Bildungsausgaben.«

Und wieso kommt der Bundesfinanzminister auf einen vielfach höheren Betrag? Jetzt mal aufgepasst, auf so eine Begründung muss man erst einmal kommen:

»Das Finanzministerium dagegen will auch die monatlichen Anteile für „Freizeit, Unterhaltung, Kultur“ einbehalten. Der Spracherwerb schaffe erst „die elementare Voraussetzung dafür (…), im späteren Verlauf auch andere Angebote in Anspruch zu nehmen“. Das Ministerium veranschlagt daher 0,60 Cent pro Unterrichtsstunde. Bei einem 15-Wochenstunden-Kurs entspreche das monatlich 36 Euro.«

Die müssen sich „Freizeit, Unterhaltung, Kultur“ erst einmal sprachlich erarbeiten, dann brauchen sie auch solange kein Geld dafür bis das fluppt mit der Sprache.

Man kann nur hoffen, dass es sich lediglich um einen Versuch handelt und das wieder beseitigt wird, bevor das ins Parlament geht.

Selbst in der Regierungskoalition kommt man zu dieser Bewertung: »Schäubles Vorschlag in Höhe von 36 Euro laufe darauf hinaus, Flüchtlinge zu bestrafen, die mit einem Sprachkurs Anstrengungen zur raschen Integration unternähmen.«

Und wenn wir schon dabei sind: Hat irgendeiner mal vorher ausgerechnet, was eine Anrechnung von 1,39 Euro bei den Asylbewerbern, die einen Sprachkurs absolvieren, an Verwaltungsaufwand kostet? Könnte es sein, dass das ein Vielfaches wäre?

Und überhaupt – hat jemand mal bedacht, welche enormen Folgekosten entstehen, wenn der Spracherwerb bei denen, die länger hier bleiben werden, gar nicht oder verspätet gefördert wird? Dagegen sind die Kosten für Sprachkurse nun wirklich von molekularer Größenordnung.
Aber vielleicht geht es dem Bundesfinanzminister ja in Wirklichkeit um was ganz anderes bei diesem Thema. Der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt.

„Mit Quickies kommen wir nicht weiter“. Flüchtlinge, Jobcenter und der Arbeitsmarkt

Nach Ansicht der Ökonomen wird 2016 die lange Phase sinkender Erwerbslosigkeit enden. Das liegt vor allem an den hohen Flüchtlingszahlen, so Stefan Sauer in seinem Artikel mit der harten Überschrift Konkurrenz um Billigjobs nimmt wegen Flüchtlingen zu. Der erwartete Anstieg resultiert vor allem aus den vielen Flüchtlingen, die meist ohne Sprachkenntnisse und kaum kompatibler Berufsausbildung zunächst in der Arbeitslosigkeit landen. Höchstens zehn Prozent der anerkannten Asylbewerber im Erwerbsalter werden in kurzer Zeit eine Stelle finden,  prognostizieren Arbeitsmarktexperten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und des Instituts  für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), so Sauer. Daran anknüpfend hat sich eine – typische – Ökonomen-Debatte entwickelt, die vor allem von Befürwortern einer neuen Deregulierungswelle vorangetrieben wird: »Ihr Kernargument lautet: Nur wenn gesetzliche Hürden abgebaut werden, haben Flüchtlinge Aussichten auf baldige Einstellung.« Da verwundert es nicht, dass in diesem Kontext sogleich eine der letzten Regulierungsschritte auf dem deutschen Arbeitsmarkt – also die Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Januar 2015 – teilweise bzw. auch ganz wieder zur Disposition gestellt wird.

Der Deutsche Landkreistag regte unlängst an, in den ersten drei Monaten nach der Anstellung sollten Firmen Flüchtlinge weniger als die gesetzlich vorgeschrieben 8,50 Euro pro Stunde zahlen dürfen (vgl. Landkreistag fordert zeitlich begrenzte Ausnahmen vom Mindestlohn für Flüchtlinge). Der Wirtschaftsrat der CDU sprach sich ebenfalls für befristete Ausnahmen beim Mindestlohn aus. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) plädiert dafür, den Mindestlohn in Einstiegs- und Qualifizierungsphasen auszusetzen (vgl. Haseloff fordert Ausnahmen vom Mindestlohn für Flüchtlinge).

Am konsequentesten argumentiert mal wieder Hans-Werner Sinn vom ifo-Institut in München. Schon am 14. September ließ er uns wissen: Ohne Abstriche beim Mindestlohn finden viele Zuwanderer keine Arbeit. Er bleibt in der klassischen Denkweise, die schon im Vorfeld des Mindestlohngesetzes dazu geführt hat, dass er und sein Institut vehement gegen den gesetzlichen Mindestlohn argumentiert haben. Man bewegt sich im idealtypischen Modell von Angebot und Nachfrage, die durch den Preisbildungsmechanismus schon zum Ausgleich gebracht werden. Und wenn wir nach dieser Logik mit einem (Arbeits)Angebotsüberschuss an schlecht bis gar nicht qualifizierten Flüchtlingen konfrontiert sind, dann muss man eben deren Preis absenken, um die Nachfrage nach ihnen zu erhöhen. Im Original liest sich das dann so:

»Auch wenn die Produktivität vieler Asylsuchender wegen der Sprachprobleme und der eher schlechten Ausbildung vorläufig noch gering ist, ist sie doch keineswegs null … Um die neuen Arbeitskräfte in den regulären Arbeitsmarkt zu integrieren, wird man den gesetzlichen Mindestlohn senken müssen, denn mehr Beschäftigung für gering Qualifizierte gibt es unter sonst gleichen Bedingungen nur zu niedrigerem Lohn. Nur bei einem niedrigeren Lohn rutschen arbeitsintensive Geschäftsmodelle über die Rentabilitätsschwelle und finden sich Unternehmer, die bereit sind, dafür ihr Geld einzusetzen.«

Dass der Arbeitsmarkt eben nicht so einfach tickt, wie es sich die Anhänger dieses – nun ja – vulgärokonomischen Modells zu denken scheinen, soll hier gar nicht diskutiert werden. Aber an einem Punkt muss man Sinn durchaus zustimmen, wenn man sich auf seine Logik einlässt: Er argumentiert in neueren Veröffentlichungen, z.B. im Handelsblatt vom 20. Oktober 2015, dass es keinen Sinn macht, den Mindestlohn nur für Flüchtlinge abzusenken, denn dann würde eine neue Verzerrung zuungunsten der Nicht-Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt und bei den Einstellungsentscheidungen produziert werden.

»Die billigeren ausländischen Arbeitskräfte würden einheimische Arbeitnehmer, die weiterhin mit 8,50 Euro zu entlohnen wären, allzu häufig in die Arbeitslosigkeit verdrängen. Die Gesamtbeschäftigung im Segment der Niedrigqualifizierten bliebe weiterhin durch den zu hohen Mindestlohn fixiert«, schreiben Michele Battisti und Gabriel Felbermayr in ihrem die Position von Sinn stützenden Artikel Migranten im deutschen Arbeitsmarkt: Löhne, Arbeitslosigkeit, Erwerbsquoten (S. 46).

Also muss der Mindestlohn für alle weg. Wenn schon, denn schon.

Offensichtlich bewegen wir uns hier auf verminten Gelände. Die nächste Welle der Deregulierung steht bevor, so haben Christoph Deutschmann und Roland Springer ihren Artikel dazu überschrieben. Obgleich die beiden sehr skeptisch sind, was die Erwartungen der Arbeitsmarktintegrationsoptimisten angeht – sie gehen davon aus, dass »der gegenwärtige (und der politisch gewollte künftige) Bevölkerungszustrom eine Situation (schaffen wird), in der ein begrenztes Angebot an Arbeitsplätzen im niedrig qualifizierten Industrie- und Dienstleistungssektor auf eine stark zunehmende Nachfrage stößt. Selbst prekäre Jobs und Ausbildungsplätze werden wie nie zuvor gefragt sein, weil viele Migranten alles tun werden, um einen Fuß in die Tür des deutschen Arbeitsmarktes zu bekommen. Die Konkurrenz zwischen Einheimischen – inklusive der hier ansässigen Migranten, die viele Randarbeitsplätze ja schon besetzen – und Zuwanderern wird sich dann fühlbar verschärfen, nicht nur am Arbeits-, sondern auch am Wohnungsmarkt.«
Darüber hinaus:

»Für Arbeitgeber ergibt sich daraus eine Traumkonstellation: Nicht nur ist oft mit einer im Vergleich zu den Einheimischen höheren Leistungsbereitschaft vieler Migranten zu rechnen, wie auch die Erfahrungen in älteren Einwanderungsländern lehren. Auch die Löhne werden sinken und der Mindestlohn als Vorzeigeprojekt der SPD könnte bald zur Disposition stehen, wenn es um die Frage geht, ob 8,50 € Stundenlohn nicht die Beschäftigung von Flüchtlingen behindern.«

Bei einer solchen Konfiguration macht es natürlich gar keinen Sinn, wenn man die Abschaffung des Mindestlohns nur auf die Flüchtlinge begrenzen würde, denn zum einen würde dies deren „Wettbewerbsvorteil“ beispielsweise gegenüber einheimischen Langzeitarbeitslosen durch die Bereitschaft, (fast) alles zu tun, nochmals potenzieren und zum anderen würde das Sinn’sche Ziel, durch eine generelle Abschaffung der staatlich gesetzten Lohnuntergrenze die Arbeitsnachfrage im Niedrigstlohnbereich auszudehnen, nicht erreicht werden können.

Nun kann man ja den ganzen Ansatz von Sinn & Co. durchaus kritisch sehen. So auch der Arbeitsmarktforscher Karl Brenke vom DIW, den Stefan Sauer in seinem Artikel so zu Wort kommen lässt:

„Kein Gastwirt wird die Geschirrspülmaschine abschaffen, um Flüchtlinge als Tellerwäscher einzustellen, nur weil er für sie den Mindestlohn nicht zahlen müsste.“  Zum zweiten seien die massenhaften Jobverluste, die etwa Ifo-Chef Sinn vor Einführung des Mindestlohns vorausgesagt hatte, ausgeblieben.  „Daraus lässt sich ableiten, dass umgekehrt auch ein Aussetzen des Mindestlohns keine großen Effekte haben wird und also keine zusätzlichen Jobs entstehen.“

Und wie sieht es derzeit wirklich aus, soweit man das angesichts der in mehrfacher Hinsicht unklaren Gefechtslage überhaupt genau beschreiben kann? Das IAB der Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht regelmäßig einen Zuwanderungsmonitor, der einen Zahleneindruck vermitteln kann. Die Oktober-Ausgabe ist zusammengefasst in dem Artikel Flüchtlinge haben schlechte Jobchancen. Daraus einige interessante Punkte:
Das IAB rechnet für dieses Jahr mit 324.000 Asylbewerbern im erwerbsfähigen Alter, im Jahr 2016 mit 610.000. Die Forscher unterstellen dabei für beide Jahre einen Zustrom von jeweils einer Million Flüchtlingen. Für 2016 geht das IAB von einem Anstieg der Arbeitslosigkeit um 130.000 aus – man muss wohl anfügen: der registrierten Arbeitslosigkeit, der Hartz IV-Bezug wird deutlich größer ausfallen.

»IAB-Untersuchungen haben ergeben, dass im ersten Jahr im Schnitt lediglich acht Prozent der 15 bis 64 Jahre alten Flüchtlinge in Deutschland eine Arbeit gefunden haben. Und selbst nach fünf Jahren hatte nur jeder zweite Flüchtling einen Job, nach zehn Jahren waren es 60 Prozent und nach 15 Jahren knapp 70 Prozent. Immerhin, so betonen die Arbeitsmarktforscher, haben Flüchtlinge langfristig ähnlich gute Jobchancen in Deutschland wie Inländer – wenn sie nur ausreichend lang in Deutschland leben.«

Auch die Beschäftigungssegmente, in denen sich die Flüchtlinge konzentrieren, sind nicht überraschend:

»Branchenbezogenen unterscheiden sich die Beschäftigungschancen von Migranten aus Kriegs- und Krisenländern deutlich von denen der übrigen Beschäftigten. Jeder vierte Flüchtling aus einem Krisenland stammende Beschäftigte arbeitet in Hotels und der Gastronomie. Jeder fünfte ist als Lagerist, Fahrer oder im Handel beschäftigt. Auch einfachere Tätigkeiten etwa als Gebäudereiniger oder Wachmann werden im Vergleich zu deutschen Beschäftigten weitaus häufiger von Flüchtlingen ausgeübt.«

Die vergleichsweise geringe Qualifikation, aber auch die Sprachprobleme vieler Flüchtlinge wird dafür verantwortlich gemacht. Auch von dieser Seite muss man also skeptisch an die Frage herangehen, ob eine nennenswerte Arbeitsmarktintegration zu nicht massiv verzerrenden Bedingungen schnell möglich sein wird. Das wird dauern. Und nur anteilig gelingen, wenn das zentrale Nadelöhr – also die Sprachkenntnisse – so schnell und intensiv wie möglich angegangen wird und daran anschließend möglichst viele gerade der jungen Flüchtlinge in eine ordentliche Ausbildung gebracht werden. Das aber wird zusammengenommen gut und gerne mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Denn auch die von manchen Beschleunigern in die Diskussion geworfenen Kurzzeit-Ausbildungen müssen als Irrweg betrachtet werden (vgl. dazu den Artikel „Sie hätten auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance“ von Florian Diekmann über Kurzausbildungen für Flüchtlinge).

Und wir sollten an dieser Stelle nicht vergessen, dass viele der Flüchtlinge im kommenden Jahr in großer Zahl im Hartz IV-System und damit in den Jobcentern, aufschlagen werden. Hierzu ein aufschlussreiches Interview mit Thomas Lenz, dem Vorstandsvorsitzenden des Jobcenters Wuppertal: „Sie sind alle hochmotiviert“. Das Gespräch verdeutlicht auch, was an zusätzlichen Belastungen auf die Jobcenter – die ja schon bislang enorm unter Druck waren und sind – zukommen wird. Auf die Frage, um wie viele Menschen es in Wuppertal geht, antwortet Lenz:

»Rund 900 so genannte geduldete Personen, deren Asylantrag bereits abgelehnt worden ist, die aber aus humanitären Gründen bleiben dürfen. Dazu kommen monatlich zwischen 200 und 400 anerkannte Asylbewerber, die meisten von ihnen sind Syrer. Im Oktober 2014 waren bei uns 460 Syrer registriert, jetzt sind es 1.448 alleine aus dieser Personengruppe und die Zahl wird weiter ansteigen. Denn wer anerkannt ist, darf seine Familie nachholen. Wir laufen uns gerade erst warm, denn wenn das Asylverfahren beschleunigt wird, kommen pro Jahr 2.000 bis 4.000 dazu.«

Damit einher geht eine enorme Verschiebung dessen, womit sich die Jobcenter auseinandersetzen müssen: Früher »kamen vielleicht eine Handvoll Menschen, die aber meist schon lange in Deutschland lebten, die Sprache beherrschten und in einem sozialen Umfeld eingebunden waren. Heute sind es traumatisierte Menschen, die zum Teil schreckliche Erfahrungen auf der Flucht gemacht haben, die Angst um ihre Familien haben, mit denen wir uns kaum verständigen können, trotz Dolmetscher, da viele nur bestimmte Dialekte beherrschen.«

Was das für die Arbeitsmarktpolitik bedeutet bzw. bedeuten müsste, kann man der folgenden Aussage entnehmen: Hinsichtlich der schulischen und beruflichen Qualifikation der neuen „Kunden“ der Jobcenter berichtet Lenz:

»… klar gibt es den syrischen Architekten oder die Ärztin, aber das ist die Ausnahme. Viele Flüchtlinge sind noch sehr jung. Diese Menschen haben die letzten Jahre unter Kriegsbedingungen gelebt, in Syrien gibt es kein funktionierendes Ausbildungs- oder Schulsystem mehr. Wer einen Abschluss oder einen Beruf erlernt hat, dem fehlen die Nachweise, die auf der Flucht verloren gegangen sind. Diese Klientel ist nicht nach einem Bewerbungstraining fit für den Arbeitsmarkt, dafür brauchen wir langfristige Maßnahmen und Sprachkurse.«

Das ist der Punkt und Lenz wird hier deutlich, als er nach geplanten Qualifizierungsmaßnahmen gefragt wird: „Mit Quickies kommen wir nicht weiter“. Und weiter: »Bei den Weiterbildungsmaßnahmen bauen wir Sprachmodule ein, wir wollen diese Menschen nicht parken, bis sie einen Platz in einem Sprachkurs finden.« Auf die naheliegende Frage, warum denn das Jobcenter nicht selbst das Nadelöhr Sprachkenntnisse mit Sprachkursen angeht, bekommt man eine Antwort, die wieder einmal verdeutlicht, was sich endlich ändern muss: »Wir dürfen es nicht. Bisher sieht man den klassischen Arbeitslosen als einen Menschen an, der vorübergehen seinen Job verloren hat. Mit einigen Qualifizierungsmaßnahmen sollen wir ihn wieder fit für den ersten Arbeitsmarkt machen. Das funktioniert jedoch in vielen Fällen nicht.«

So ist das. Bleibt noch anzumerken: Obwohl wir wissen, dass im kommenden Jahr mehrere hunderttausend Flüchtlinge im Hartz IV-System aufschlagen werden, wissen die Jobcenter, von denen bereits heute bei vielen Land unter ist, noch nicht einmal, wie viel Geld und Personal im kommenden Jahr zur Verfügung stehen wird. Es gibt eine Menge Baustellen, auf denen man schon längst was tun könnte und müsste. Irgendwie erinnert einen das an viele Baustellen auf unseren Autobahnen, so bitter das klingen mag.

Flüchtlinge: Ein Kinder- und Jugendsegen. Zugleich sollen und müssen die in Kitas und Schulen. Und das ist nicht nur eine Frage des Geldes und des Personals

Die Zukunft legt keine Pause ein im Angesicht der Not des Augenblicks. Immer neue Flüchtlinge gelangen – noch – nach Deutschland. Während die Mühlen der großen Systeme langsam mahlen und Schritt für Schritt auf dem komplizierten internationalen Parkett eine weitreichende Abschottung Europas angestrebt wird (vgl. dazu die Verhandlungen mit der Türkei als „Vorposten“ der EU oder EU-Innenminister senden Botschaften der Härte aus), sind zahlreiche Menschen aus den Krisen- und Kriegsgebieten hier bei uns und auch wenn derzeit die Akteure in einem gespenstisch daherkommenden Zustand der Notsteuerung und dabei oftmals schon am Limit sind, bei der es primär darum geht, überhaupt irgendwelche Unterkünfte zu organisieren, darf und sollte man nicht den Blick auf die nun vor uns liegenden Aufgaben verlieren, zu denen neben der vieldiskutierten Frage der Arbeitsmarktintegration eines Teils der Flüchtlinge auch gehört, den Kindern und Jugendlichen einen Zugang in unsere Bildungssysteme zu ermöglichen. Folglich stehen auch die vor einer gleichsam herkulischen Aufgabe.

Dazu muss man sich nur die Dimension der zusätzlichen Aufgaben verdeutlichen, die auf die Kitas und vor allem auf die Schulen zukommen: Gewerkschaft rechnet mit 300.000 neuen Schulkindern – wohlgemerkt in den kommenden zwölf Monaten bundesweit. Dazu seien zusätzliche 24.000 Lehrkräfte notwendig, die Gewerkschaft kalkuliert dabei mit einer Größenordnung von 8.000 Lehrkräften je 100.000 Schüler, die notwendig seien, so die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe. Hinsichtlich der Kitas »erwartet die GEW bis zu 100.000 zusätzliche Kinder. Hierfür sind laut Tepe 14.000 zusätzliche Erzieherinnen nötig.«

Wobei man darauf hinweisen muss, dass diese Zahlen Schätzungen sind – nichts genaues weiß man nicht, was ja derzeit ein Wesensmerkmal des Fahrens auf Sicht ist. Wir haben es ganz offensichtlich mit einem mehrfach beweglichen Ziel zu tun, zum einen quantitativ (und hier noch mal gedoppelt in dem Sinne, dass man nicht weiß, wie viele werden es denn werden und zum anderen hinsichtlich der Tatsache, dass sich die dann zu versorgenden Kinder und Jugendlichen ja nicht gleichverteilen über das Land, also hier in wenigen Einzelfällen und dort in sehr großer Zahl aufschlagen), aber auch qualitativ in potenzierter Form, denn es sind nicht nur ganz unterschiedliche Nationalitäten, Kulturen und religiöse Hintergründe, sondern auch Traumatisierungen und andere persönliche Belastungen, die mit den einzelnen Kindern und Jugendlichen einhergehen können.

Das bedeutet mit Blick auf die, die das in den Bildungseinrichtungen stemmen müssen, dass es nicht „nur“ ein Organisationsproblem ist, die zusätzlichen Angebote zur Verfügung zu stellen, was in Wirklichkeit schon oft eine echte Heraus-, wenn nicht Überforderung darstellt. An dieser Stelle liegen bereits zahlreiche Konflikte. Beispiel Berlin: Kitaplatz-Mangel verschärft sich wegen Flüchtlingskindern, so ist ein Artikel überschrieben. Auch Flüchtlingskinder haben einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz. »Fast die Hälfte der minderjährigen Flüchtlinge, die derzeit täglich in Berlin ankommen, sind unter sechs Jahren. Also im besten Kita-Alter.« Zur Zeit besucht etwa jedes drittes Flüchtlingskind eine Kita. »Zusätzliche Mittel dürften nicht nur in den Ausbau der Kapazitäten gegeben werden, sagte Christa Preissing vom Berliner Kita-Institut für Qualitätsentwicklung. Es sei noch weiteres Geld nötig, um den Personalschlüssel für Krippenkinder unter drei Jahren zu verbessern.«

Aber ein richtig großer Brocken wird den Schulen hingeworfen, denn die meisten Kinder und Jugendlichen sind im Schulalter. Zwei Drittel der neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen benötigen Schulplätze an weiterführenden Schulen – genau so ist auch eine Pressemitteilung des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Fremdsprache überschreiben, in der auf eine neue Studie hingewiesen wird, die das Institut gemeinsam mit dem Zentrum für LehrerInnen-Bildung an der Universität Köln erstellt hat:

Mona Massumi et al.: Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem. Bestandsaufnahme und Empfehlungen. Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache und Zentrum für LehrerInnenbildung der Universität zu Köln, 2015

Im Jahr 2014 sind knapp 100.000 Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter neu nach Deutschland zugewandert. Die Zahl hat sich seit 2006 vervierfacht  – und insofern scheint sich das einzureihen in die vielen Meldungen dieser Tage, die eine (bevorstehende) Überforderung des ganzen Systems anzuzeigen scheinen. Da ist dann auch diese Zahl von Bedeutung: Der Anteil neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher im Verhältnis zur Gesamtschülerschaft bei einem Prozent.

Die Studie gibt einen bundesweiten Überblick über die schulische Situation neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher und bezieht sie nicht nur auf geflüchtete Kinder und Jugendliche, sondern berücksichtigt alle 6- bis 18-Jährigen, die neu nach Deutschland zuwandern.
Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache, wird so zitiert:

»Die Frage, wie neu zugewanderte Kinder und Jugendliche im Bildungssystem aufgenommen werden können, ist jahrelang vernachlässigt worden. Jetzt fehlen die nötigen Informationen, Konzepte sind in Vergessenheit geraten. Mit den Berechnungen dieser Studie liegen erstmals fundierte Annäherungswerte vor. Sie zeigen: Die Zahl wächst mit großer Geschwindigkeit und gerade diese Schnelligkeit stellt die Schulen und Lehrkräfte vor große Herausforderungen.«

Erkennbar werden erhebliche Defizite im Wissen über die, die schon da sind, denn die Studie hat ergeben, dass in vielen Bundesländern nicht systematisch erhoben wird, wie viele neu zugewanderte Kinder und Jugendliche ohne Deutschkenntnisse tatsächlich an den Schulen sind. Ohne diese Planungsgrundlage ist es jedoch kaum möglich, den Bedarf an Lehrkräften und weiteren Ressourcen rechtzeitig einzuschätzen.
Mehr als zwei Drittel der neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen zwischen zehn und 18 Jahre alt – sie benötigen einen Schulplatz an einer weiterführenden Schule, insbesondere an berufsbildenden Schulen sind zusätzliche Kapazitäten erforderlich.

Und wieder werden wir mit den Untiefen des deutschen Föderalismus konfrontiert:

»Großer Nachholbedarf besteht hinsichtlich der Schulpflicht: Nur in Berlin und im Saarland gilt die gesetzliche Schulpflicht für alle Kinder und Jugendlichen uneingeschränkt von Anfang an. In allen anderen Bundesländern gilt sie nicht automatisch für Kinder und Jugendliche ohne Aufenthaltsstatus oder vor Beginn des Asylverfahrens.«

Da sich die Verfahren teilweise über viele Monate hinziehen, sind die Kinder und Jugendlichen häufig faktisch vom Schulbesuch ausgeschlossen, obgleich sie ein Recht auf Schulbesuch haben. Und die föderale Vielfalt lässt sich auch bei der Frage nach der Organisation des Schulbesuchs besichtigen, denn:

»Die Studie hat fünf Modelle identifiziert, nach denen neu zugewanderte Kinder und Jugendliche unterrichtet werden. Das Spektrum reicht von integrativem Unterricht in der normalen Klasse ab dem ersten Tag bis zur Einrichtung parallel geführter Klassen, in denen die Schülerinnen und Schüler zunächst Deutsch lernen und später sogar einen Schulabschluss erwerben können. Alle Modelle sind darauf angelegt, möglichst schnell den Übergang in eine Regelklasse bzw. Berufsausbildung zu ermöglichen. Die Stadtstaaten Berlin und Hamburg verfahren vergleichsweise einheitlich, in den meisten Bundesländern sind jedoch mehrere Modelle im Einsatz, abhängig von der Region, Schülerzahlen und der Schulform.«

»Die Kinder der Geflüchteten besuchen an den Schulen meist zunächst so genannte Willkommensklassen. Das sind Lerngruppen, in denen die Kinder möglichst schnell so viel Deutsch lernen sollen, damit sie bald die regulären Schulklassen mit einheimischen Kindern besuchen können. Die Klassen heißen in allen Bundesländern anders, in Bayern spricht man von Übergangsklassen, in Nordrhein-Westfalen von internationalen Klassen«, berichtet Christian Füller in seinem Artikel In welche Klasse soll Akilah, die kein Deutsch spricht?  Und weiter: „Willkommensklassen sind jeden Tag wie eine Wundertüte – man weiß nie, wer alles kommt“, wird Ursula Huber, Lehrerin für Deutsch als Zweitsprache an der Carl-Kraemer-Grundschule in Berlin, zitiert. Manche Kinder seien noch nicht einmal alphabetisiert, nicht wenige haben traumatische Erlebnisse hinter sich. Manche verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind – weil sie wieder abgeschoben werden.

Vergessen werden sollte auch nicht die enorme Altersspanne. Wenn ein sehr junges Kind, das nach Deutschland kommt und in eine ordentliche Kita geschickt wird, hat es sehr gute Chancen in unserer Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt, denn die lernen „en passant“ die Sprache des gastgebenden Landes. Aber es gibt auch die anderen, die älteren Flüchtlinge.

Wie sieht es beispielsweise mit dem Alter zwischen 16 und 25 Jahren aus? Nicht nur in Deutsch, sondern auch in Mathe punkten, so ist ein Artikel dazu überschrieben.

»Seit ihrer Gründung im Februar 2000 hat diese besondere Bildungseinrichtung, die sogenannte SchlaU-Schule, rund 1500 Flüchtlinge im Alter zwischen 16 und 25 Jahren betreut. Michael Stenger gründete die Schule, nachdem er merkte, dass die Sprachkurszertifikate, die Flüchtlinge für die Teilnahme an seinen Deutschkursen bekamen, nicht für den Eintritt in den Arbeitsmarkt reichten. Das lag weniger an den Deutschkenntnissen als an fehlendem Unterricht in Fächern wie Mathematik, Ethik und Naturwissenschaften.«

Die Schlau-Schule – Schlau steht für schulanaloger Unterricht – war laut Melanie Weber, der stellvertretenden Schulleiterin, die erste in Deutschland, die ausschließlich Flüchtlinge auf staatliche Schulabschlüsse vorbereitet. Die Schüler müssen mindestens 16 Jahre als sein und dürfen höchstens 25 Jahre sein.

»Die 38 Lehrerinnen und Lehrer der Münchner Schlau-Schule und ihrer Tochterschule Isus (Integration durch Sofortbeschulung und Stabilisierung) sind nicht verbeamtet und werden von der Stadt München und dem Freistaat Bayern bezahlt. Alle haben eine Qualifizierung in Deutsch als Zweitsprache oder Deutsch als Fremdsprache. Es arbeiten auch sieben Sozialarbeiter und Schulpsychologen an den beiden Schulen. Man versucht, das Selbstwertgefühl der Schüler zu stärken, die seelische Anspannung zu lindern und gesellschaftliche Orientierung zu ermöglichen. Schulträger ist der Verein Trägerkreis Junge Flüchtlinge …«

Auch interessant: Die Finanzierung dieses Schulangebots wird durch Stiftungen und Privatspender unterstützt. Der Anteil der öffentlichen Finanzierung betrug knapp 70 Prozent. 80 Prozent der Absolventen gingen im vergangenen Jahr in Ausbildungsberufe, die anderen 20 Prozent auf Realschulen und Gymnasien.

Dies mag nur ein Beispiel sein – aber es kann zeigen, welche enorme Spannweite an ganz unterschiedlichen Maßnahmen und Angeboten erforderlich sein wird, um die Aufgaben stemmen zu können.

Abbildung: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Fremdsprache