Am 26. März 2009 trat die UN-Behindertenrechtskonvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft. »Anfänglich war eine regelrechte „Inklusionseuphorie“ in den Bundesländern zu spüren: Alle sollten bald gemeinsam lernen, Förderschulen sollten aufgelöst werden. Doch mittlerweile hat sich der Wind gedreht«, so beispielsweise Claudia van Laak in ihrem Beitrag Deutschland und die Inklusion. Darin wird man sofort auf eine der typischen Verengungen der „Inklusionsdebatte“, die man in Deutschland zur Kenntnis nehmen muss, gestoßen: Wenn über „Inklusion“ gesprochen wird, dann war und ist die Debatte extrem „schullastig“. Es geht dann um die Frage einer Inklusion im Sinne einer Auflösung von „Sondereinrichtungen“ und der Eingliederung von Kindern und Jugendlichen in die „Regeleinrichtungen“ des Schulsystems. Das wurde in den vergangenen Jahren auch in diesem Blog immer wieder aufgerufen, vgl. beispielsweise den Beitrag Inklusion an Schulen: Von einer absoluten Armutserklärung für ein Land wie Deutschland bis zu nicht finanzierbaren Doppelbesetzungen vom 3. Mai 2017.
Nun wird der eine oder andere, der tatsächlich ein Blick in die UN-Konvention geworfen hat, irritiert anmerken, dass doch der Anspruch dieses Übereinkommens weit über den Schulbereich hinausreicht und Inklusion verstanden werden muss als eine umfassende und alle gesellschaftlichen Bereiche umfassende Gestaltung hin zu einer gelingenden Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Eine Engführung „nur“ auf den Bereich der Schulen kann man dem Dokument nicht entnehmen. Aber dennoch kreist genau um dieses Feld ein Großteil der bisherigen expliziten Inklusionsdebatten.
Dazu bereits aus dem Beitrag Je höher, desto weniger und mehr bedeutet nicht immer auch wirklich mehr. Inklusion und Inklusionsquoten vom 3. September 2015: »Die Inklusion ist eine dieser wirklich großen gesellschaftspolitischen Baustellen, auf denen es hier und da mehr als wuselig zugeht, wo es aber auch andere – durchaus sehr große – Zonen gibt, bei denen man sich an die vielen Baustellen auf deutschen Autobahnen erinnert fühlt, die zwar stauproduzierend eingerichtet sind, auf denen aber weit und breit keiner zu arbeiten scheint. Eigentlich müsste die Großbaustelle Inklusion in unserer Gesellschaft noch viel größer sein, wenn man berücksichtigt, dass die Schaffung einer inklusiven Gesellschaft alle Bereiche betreffen müsste, auch – aber eben nicht nur – den Teil, auf den sich die Inklusionsdebatte in Deutschland besonders eingeschossen hat: die Schulen … Anders gesagt. Wir sind konfrontiert mit einer sehr schulseitigen Fokussierung bei der Frage, wie es denn steht bei der Umsetzung dessen, was aus der UN-Behindertenrechtskonvention abgeleitet wird.«
Damit wird man auch in diesen Tagen erneut konfrontiert, in den Beiträgen anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der UN-Behindertenrechtskonvention. Beispiel Bayern: Zehn Jahre Inklusion – eine Bilanz, so ist einer der Berichte überschrieben. Und sofort werden wir auf den Schulbereich fokussiert: »Auf den ersten Blick sehen die offiziellen Zahlen des Bayerischen Kultusministeriums gar nicht so schlecht aus: In zehn Jahren ist die Zahl der Kinder mit Behinderung, die an bayerischen Regelschulen unterrichtet werden, von 17 Prozent (2008) auf 68 Prozent (2018) gestiegen. Das klingt nach einem Erfolg. Allerdings wird der Begriff Inklusion in Bayern weit gefasst. Auch sogenannte Kooperations-, Partner- oder Offene Klassen fallen darunter, in denen Kinder mit und ohne Behinderung nur in einzelnen Fächern wie z.B. Sport gemeinsam unterrichtet werden. In Kernfächern wie Mathematik oder Deutsch lernen sie hingegen weiterhin getrennt. Ein knappes Drittel aller bayerischen Kinder mit Behinderung, 31 Prozent, besucht weiterhin die Förderschule (früher: Sonderschule).«
Und man ahnt es schon – es geht weiter mit der für Deutschland so typischen Frontstellung: Die einen wollen das Bestehende bewahren, die anderen alle „inkludieren“: »Entschiedene Inklusions-Befürworter und Befürworterinnen setzen sich dafür ein, auf Förderschulen ganz zu verzichten. Sie würden statt dessen lieber die Regelschulen besser ausstatten, so Regina Kastner, Vorsitzende der „Landesarbeitsgemeinschaft Bayern Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen“ … Auf der anderen Seite gibt es in Bayern aber auch Betroffene, Eltern und Pädagogen, die an dem bayerischen Modell mit einer starken Förderschule festhalten, da in der derzeitigen Regelschule der Personalschlüssel, aber auch die Kompetenz der Lehrer nicht ausreichen würden, um Kindern mit schweren Behinderungen wirklich gerecht zu werden. Der blinde Sozialpädagoge und Teilhabeberater Volker Tesar aus Würzburg will keine Inklusion um jeden Preis: „Wir können nicht alle Sonderschulen abschaffen, weil es bei besonders schwerwiegenden Behinderungen – das sehe ich in der Praxis – nötig ist, einen viel intensiveren Schlüssel für die Betreuung von Schülerinnen und Schülern zu haben.“«
Beispiel Sachsen: Flächendeckende Inklusion nur Vision, so Regine Förster. Auch hier steht die Schule im Mittelpunkt: Sachsen hat sich für ein zweigleisiges Modell entschieden, erläutert Kultusminister Christian Piwarz: „So viel inklusive Beschulung wie möglich und so viele Förderschulen wie nötig.“
»Erst seit dem letzten Jahr macht das Schulgesetz die flächendeckende inklusive Beschulung möglich. 33 Prozent der Schüler mit Förderbedarf lernen derzeit an einer Regelschule, die meisten an der Grundschule, viele an den Oberschulen und wenige an den Gymnasien. Den Schulen stehen laut Gesetz dafür zusätzliche Ressourcen zur Verfügung. Sabine Mehnert, Förderschullehrerin in einer Leipziger Körperbehindertenschule, fährt einmal in der Woche an verschiedene Oberschulen. „Das ist eine halbe Unterrichtsstunde pro Woche, pro Schüler. Da kann man sich ausrechnen wie oft Sie als Sonderpädagoge diesen Schüler im Jahr sehen“, sagt sie. „Abgesehen davon, wie sinnhaft das ist, wegen einer Stunde sonderpädagogischer Begleitung früh nach Oschatz zu fahren, um dann zu erfahren, dass der Schüler krank ist.“«
»Besonders im ländlichen Raum im Erzgebirge und Ostsachsen, wo massiv Förderschullehrer fehlen, droht der zweigleisige Weg Sachsens zu scheitern. Die Sonderpädagogen reisen an die Regelschulen, der Unterricht an den Förderschulen kann oft nur noch durch Seiteneinsteiger oder pädagogische Hilfskräfte abgesichert werden. Nicht nur viele Förderschulen sind am Limit. Die Förderstunden, die den Schülern von Seiten der Regelschule zustehen, fallen oft aus. Lehrermangel und ein hoher Krankenstand in vielen Schulen sorgen dafür. Denn die Schulleiter müssen erst einmal den ganz normalen Unterricht absichern.«
Kultusminister Christian Piwarz verteidigt das Vorgehen und bläst das zu einer sicher nicht nur sächsischen Philosophie auf: „Der Weg ist im Moment das Ziel. Loslaufen, Erfahrungen sammeln, sich vor Augen führen, was hat funktioniert, was hat nicht funktioniert.“
Bekanntlich ist es so, dass es sein kann, dass man los- und gegen die Wand läuft. So lesen sich derzeit viele Bereiche aus dem Schulalltag.
Beispiel Nordrhein-Westfalen: Essener Gesamtschule verzweifelt an Inklusion, so ist einer der vielen Artikel aus diesem Bundesland überschrieben. Hans-Karl Reintjens berichtet darin: »Die Probleme bei der Inklusion stellen die Schulen in Essen vor immer größere Probleme. Die Frida-Levy-Gesamtschule in der Innenstadt hat es massiv getroffen: Für 40 Kinder im Gemeinsamen Lernen steht der Schule aktuell lediglich eine Sonderpädagogin mit einer 20-Stunden-Stelle zur Verfügung. „Wir finden Inklusion gut und richtig und wir stehen dazu. Aber nicht zu diesen Bedingungen“, betont Schulleiter Berthold Kuhl … Die Entwicklung ist in der Tat frustrierend: Im letzten Schuljahr verfügte die Frida-Levy-Gesamtschule noch über zweieinhalb Förderlehrerstellen, abgeordnet aus Essener Förderschulen. „Das war schon knapp“, sagt Kuhl, „aber immerhin.“ Da auch an den Förderschulen die Sonderpädagogen an allen Ecken und Ende fehlen, wurden sie wieder zurückbeordert. Die Folgen für Essens Innenstadt-Gesamtschule waren fatal … Es ist ja nicht das einzige Problem: In dem maroden Schulgebäude, über dessen Zukunft immer noch nicht entschieden ist, fehlt es an allen Ecken und Enden an vernünftigen Lernbedingungen, behindertengerecht ist an dieser Schule nichts. Wenn Eva Sandrock mit Inklusionsschülern separat arbeiten will, muss sie auf den Flur gehen, dort stehen Schulbänke. Differenzierungsräume sucht man an der Gesamtschule vergeblich.«
Beispiel Hamburg: »Das Ziel ist klar: gleiche Teilhabe für alle. Doch an Hamburgs Schulen läuft die Inklusion auch nach einer Volksinitiative nicht gut, sagt ein ehemaliger Schulleiter«, so Annabel Trautwein in ihrem Artikel „In der Praxis ist sehr viel schiefgelaufen“.
Und Valentin Aichele von der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention am Deutschen Institut für Menschenrechte wird in dem Beitrag Inklusion vorerst gescheitert mit dieser Bilanzierung zitiert: Wir gehen davon aus, dass eben das Modell des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nicht behinderten Kindern in der Schule sich flächendeckend nicht durchgesetzt hat. Und das war erstrebenswert, das war das Ziel, in zehn Jahren das zu schaffen – das ist nicht gelungen. Wenn wir auf die Statistik schauen, dann sehen wir, dass der Bereich der Sonder- und Förderschulen sich kaum reduziert hat, also im Jahr 2008 bis zum Jahr 2016 – soweit liegen die Zahlen vor – ist es lediglich gelungen, den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Behinderung, die außerhalb der Regelschule unterrichtet werden, um 0,6 Prozentpunkte zu senken, und das ist zu wenig.
So könnte man das jetzt fortführen. Ernüchternde und viele verständlicherweise frustrierende Befunde. Aber wieder in Erinnerung gerufen: Es sollte bei Inklusion ja nicht nur um die Schulen gehen, sondern um viele andere gesellschaftliche Teilhabe-Bereiche auch.
In der bereits zitierten Berichterstattung aus Bayern, beispielsweise in dem Beitrag Zehn Jahre Inklusion – eine Bilanz, wird darauf zumindest hingewiesen: Auf dem Arbeitsmarkt stagniert die Inklusion: »Noch schlechter fällt die Bilanz für die Inklusion im Arbeitsleben aus. Die Zahl der Beschäftigten mit Behinderung im Ersten Arbeitsmarkt stieg bundesweit zwischen 2006 und 2016 nur geringfügig von 3,8 auf 4,6 Prozent, so die Bundesagentur für Arbeit. Lieber zahlen Unternehmen, die keine oder zu wenig Mitarbeiter mit Handicap beschäftigen, eine Ausgleichsabgabe von maximal 320 Euro im Jahr. Der Topf mit der Ausgleichsabgabe quillt über in Bayern: der Betrag verdoppelte sich in zehn Jahren von 43,4 Millionen Euro auf rund 83 Millionen Euro im Jahr 2017. Finanziert werden mit dem Geld beispielsweise Hilfen für Unternehmen, die behinderte Menschen beschäftigen, aber auch technische Hilfsmittel oder Assistenzen für Arbeitnehmer mit Behinderung. Kritiker wenden ein, die Ausgleichsabgabe sei zu niedrig, um Unternehmen dazu zu bewegen, sich wirklich für Inklusion zu engagieren. Arbeitgeber befürchten hingegen den bürokratischen Aufwand und fühlen sich nicht ausreichend informiert über staatliche Unterstützungsleistungen oder Hilfen.«
»Die Zahl der Beschäftigten in den Behindertenwerkstätten hat in den letzten zehn Jahren sogar noch zugenommen. Arbeiteten 2009 in Bayern noch 32.444 Menschen in Behindertenwerkstätten, so stieg ihre Zahl auf 36.724 im Jahr 2018.«
Zu diesem Themenfeld auch das Interview „Zeigen, dass wir es ernst meinen“ mit Annelie Buntenbach vom Bundesvorstand des DGB: »Es gibt kleine Fortschritte bei der inklusiven Ausbildung und beim Anteil schwerbehinderter Menschen in Unternehmen und Verwaltung. Aber wenn man sieht, dass gleichzeitig schwerbehinderte Menschen seltener in Arbeitsmarktmaßnahmen gefördert werden als noch vor Unterzeichnung der Konvention und die Arbeitslosenquote von schwerbehinderten Menschen deutlich hinter der allgemeinen Entwicklung hinterherhinkt, dann sind das einfach schlechte Nachrichten. Gerade der erste Arbeitsmarkt ist bei Weitem nicht inklusiv.«
Nach dieser Vorbemerkung wird sie dann auch mit den Werkstätten für behinderte Menschen konfrontiert: »Stattdessen arbeiten inzwischen sogar mehr Menschen in Behindertenwerkstätten als noch vor 10 Jahren. Gemäß UN-Behindertenrechtskonvention müssten diese Sonderstrukturen aufgelöst werden. Das Deutsche Institut für Menschenrechte fordert auf dem Weg dahin die schrittweise Anpassung an reguläre sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse. Das müsste doch im Sinne der Gewerkschaften sein oder?«
Die Antwort von Buntenbach ist interessant: »Ich sehe das kritisch. Wir brauchen die Werkstätten weiterhin, das ist eine wichtige sozialpolitische Maßnahme, um nicht erwerbsfähigen Menschen eine Beschäftigung zu ermöglichen. Entscheidend ist, dass Menschen da nicht auf Dauer stecken bleiben. Aus den Werkstätten müssen viel mehr Brücken in reguläre Arbeit gebaut werden, das klappt leider immer noch viel zu selten.«
Im Interview wird nachgehakt: »Aber in den Werkstätten bekommen Menschen in der Regel keine 200 Euro für ihre Arbeit. Ist das mit dem gewerkschaftlichen Grundsatz der guten Arbeit vereinbar?«
Dazu Buntenbach: »So sehr mir als Gewerkschafterin die Einführung des Mindestlohns als generelle Untergrenze plausibel erscheint – bei den Werkstätten wäre der Schaden zu groß. Wenn man den Mindestlohn dort einführt und damit reguläre Arbeitsverhältnisse vergleichbar zum ersten Arbeitsmarkt schafft, dann kommt es auch in den Werkstätten zu einem Auswahlprozess bei den Arbeitskräften, bei dem Schwächere auf der Strecke zu bleiben drohen. Im Moment stehen die Werkstätten allen offen und sind damit ein Schutzraum, auf den viele angewiesen sind.« Offensichtlich haben wir es hier mit einem verminten Gelände zu tun.
Buntenbach vom DGB verweist auf Einern anderen (allerdings ebenfalls umstrittenen) Ansatzpunkt: »Wir schlagen vor, dass die Ausgleichsabgabe, die sie zahlen müssen, wenn sie keine oder nur wenige Menschen mit Behinderungen einstellen, so deutlich erhöht wird, dass sie nicht mehr aus der Portokasse bezahlt werden kann, sondern einen realen Impuls für Beschäftigung setzt. Wir müssen zeigen, dass wir es ernst meinen.«
Und schlussendlich wieder zurück zur Berichterstattung aus Bayern. Im Beitrag Inklusion – nur ein Traum? findet man diese Hinweise auf weitere Bereiche des Lebens, die für das Inklusionsthema hoch relevant sind:
»In Steinhöring im Landkreis Ebersberg gibt es eine große Einrichtung der katholischen Jugendfürsorge. Hier werden auch rund 300 junge Menschen mit Behinderung betreut. Inzwischen leben etwa 40 Prozent von ihnen in Wohnungen außerhalb der Einrichtung. Doch der Weg in ein eigenes selbstbestimmtes Leben ist voller Barrieren – auch zehn Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenkonvention.
Eine große Hürde ist bereits eine eigene Wohnung – obwohl das Recht auf freie Wohnungswahl besteht. „Menschen, die einen Nachtdienst brauchen, können nicht in Außenwohngruppen wohnen, weil die Einheiten zu klein sind und der Kostenträger das erst bei größeren Einheiten finanziert“, erklärt Gertrud Hanslmeier-Prockl. Sie leitet die katholische Behinderteneinrichtung. „Das schränkt einfach das Spektrum ein für einen Menschen mit schwerer Behinderung.“ Ein weiterer Stolperstein ist die Finanzierung einer eigenen Wohnung. Die Mehrkosten, die durch eine eigene Wohnung entstehen, stünden in keinem Verhältnis, so die Kostenträger. Menschen mit Behinderung müssen häufig mühsam einen Wohnplatz einklagen.«
Interessant sind hier die Bezüge zum Thema Werkstätten für behinderte Menschen: »Uwe Becker, Professor für Sozialethik in Bochum, spricht von einer „Inklusionslüge“. Auch auf dem Arbeitsmarkt sieht er ähnliche Tendenzen – nur 0,8 Prozent der Mitarbeiter aus den Behindertenwerkstätten wechselten in den freien Arbeitsmarkt. Dagegen würden in den Werkstätten immer mehr Menschen beschäftigt, die auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht zurechtkommen. „Werkstätten sind inzwischen ein Inklusionsraum für Menschen geworden, die im Ersten Arbeitsmarkt geschädigt sind“, sagt Uwe Becker.«
Mit einem nicht nur auf den Schulbereich verengten Blick auf die (Nicht-)Umsetzung der Inklusion beschäftigt sich auch dieser neue Bericht der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention am Deutschen Institut für Menschenrechte:
➔ Valentin Aichele et al. (2019): Wer Inklusion will, sucht Wege. Zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland, Berlin: Deutsches Instituts für Menschenrechte. Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention, 2019
»Der Bericht befasst sich mit neun Themenfeldern, die die Alltagsgestaltung von Menschen mit Behinderungen stark berühren (Wohnen, Mobilität, Bildung und Arbeit), ihre Persönlichkeitsrechte betreffen (gleiche Anerkennung vor dem Recht, Wahlrecht, Gleichstellungsrecht) sowie mit der Frage, inwiefern die deutsche Politik im In- und Ausland die Umsetzung der Konvention systematisch mitdenkt (Aktionspläne zur UN-BRK, Inklusion in der Entwicklungszusammenarbeit).«
Speziell für Nordrhein-Westfalen sei auf diesen neuen Bericht hingewiesen:
➔ Susann Kroworsch (2019): Menschen mit Behinderungen in Nordrhein-Westfalen. Zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in den Bereichen Wohnen, Mobilität, Bildung und Arbeit, Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte, Januar 2019
Eine Kurzfassung findet man in diesem Artikel:
➔ Susann Kroworsch (2019): Menschen mit Behinderungen in Nordrhein-Westfalen – Zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in den Bereichen Wohnen, Mobilität, Bildung und Arbeit, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Heft 5/2019
Nur zur Größenordnung: »Es ist davon auszugehen, dass in Nordrhein-Westfalen zwei bis drei Millionen Menschen längerfristig beeinträchtigt sind und „Behinderungen“ im Sinne der UN-BRK erfahren, also rund 25 % der Bevölkerung.« Die Analyse nimmt vier ausgewählte Lebensbereiche, die den Alltag von Menschen mit Behinderungen maßgeblich bestimmen, genauer in den Blick: Wohnen, Fortbewegung, Bildung und Arbeit. Dazu gehören folgende Fragen: Wie ist es um die Verfügbarkeit von barrierefreiem, uneingeschränkt mit dem Rollstuhl nutzbarem Wohnraum bestellt? Was wird getan, um mobilitätseinschränkende Barrieren im Verkehrsraum zu beseitigen? Hat die Landespolitik die Voraussetzungen für einen guten inklusiven Unterricht in einem inklusiven Bildungssystem geschaffen? Und welche Chancen haben Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beziehungsweise wie sieht aktuell die Durchlässigkeit zwischen „Behindertenwerkstätten“ und dem Arbeitsmarkt aus? Auch hier fallen die Ergebnisse an vielen Stellen eher ernüchternd aus.
Abschließend ein Blick auf eine vor dem Hintergrund der präsentierten Daten durchaus hoch relevante Debatte, die schon vor Jahren geführt wurde über eine kritische Sichtweise auf Inklusion. Als Zeuge für diese Richtung kann der bereits zitierte Uwe Becker vorgeladen werden. Der hat 2014, damals noch Vorstand der Vorstand der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, diese kritischen Überlegungen zur Inklusionsdebatte veröffentlicht:
➔ Uwe Becker (2014): Behindert oder fördert Inklusion? Eine Kritik an Irrwegen der Inklusionsdebatte, Düsseldorf: Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe , 2014
Er kritisiert den damaligen „Inklusion als Leitbild“-Ansatz der nordrhein-westfälischen Landesregierung: »Es geht … um „Maßnahmen der Bewusstseinsbildung“ und um die „Verinnerlichung des Inklusionsprinzips im Denken und Handeln sowie in den Einstellungen der verantwortlichen Menschen in der Politik, im Staat und in der Gesellschaft.“ Das ist ja als ein erster Schritt, als eine Art mentale Präparation nicht verkehrt … Wenn aber Inklusion perspektivisch eine „Hardware“ bekommen soll, also sozial, zivilgesellschaftlich, wirtschaftlich, sozialräumlich und sozialrechtlich unterlegte Realität der politischen Verhältnisse werden soll, ist eine solche Grunddefinition zu weich und unkonkret. Diese gewisse verbale „Banalisierung“ dessen, was Inklusion ist, bildet sich auch sachlich ab in den ebenso weichen Maßnahmen, wie einer Kampagne, einer KreativWerkstatt, Dialogveranstaltungen und der Vergabe eines Inklusionspreises. Die Politik konzentriert sich hier auf einen TopDownProzess, der einen gesellschaft lichen Werte und Bewusstseinswandel initiieren soll. Sie nimmt damit eine primär pädagogische und moderierende Rolle ein, abgesehen von einigen finanziell rela tiv unaufwendigen Maßnahmen.«
Das hat Folgen: »Statt in Strukturen zu investieren, wird moralisierend in Richtung der gesellschaftlichen Subjekte appelliert, sich aktivieren zu lassen und mehr Verantwortung zu übernehmen. Bezogen auf die Inklusionsprozesse heißt das: Ihr Gelingen wird in falsch verstandener Subsidiarität auf die unteren Ebenen abdelegiert und die Umsetzung weitgehend der Bewältigungskompetenz von Eltern, Lehrern, Einrichtungen der Behindertenhilfe oder Kommunen überlassen.«
Er wird auch konkreter: »Erstens ist nicht jede Auflösung einer stationären Einrichtung zugunsten von ambulanten Wohn- und Betreuungssystemen per se inklusiv, insbesondere dann nicht, wenn der Sozialraum, in dem ambulant versorgt und betreut wird, marode ist oder die Kommune kaum in der Lage, die Erfordernisse der öffentlichen Daseinsvorsorge zu erfüllen … Und zweitens ist die Schließung einer Förderschule längst noch kein Akt der Inklusion, wenn die Regelschule, in der anschließend beschult werden soll, den Kindern mit und ohne Behinderung nicht die Bedingungen für erfolgreiche und passgenaue Lernprozesse bietet.«
Der entscheidende Satz: »Inklusion meint nicht, Menschen mit Behinderung in ein ansonsten gleichbleibendes System des Bestehenden einzubinden, sondern Inklusion ist der kritische Maßstab, der das bestehende System daraufhin befragt, wie es sich ändern muss, damit Inklusion überhaupt gelingen kann. Inklusion ist insofern ein Kriterium, das alles in Frage stellt, alles neu denken und vieles grundlegend ändern muss.«
Vor diesem Hintergrund ist das Fazit am Ende der Ausführungen von Becker im Jahr 2014 von tiefer Skepsis durchzogen:
»Der französische Historiker Robert Castel hat einen seiner zahlreichen Aufsätze überschrieben mit dem Titel: „Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs“. In diesem Aufsatz deckt er systematisch gängige Fehlanalysen auf in Hinblick auf die Frage, was Exklusion eigentlich bedeutet, wer betroffen ist und wie diese Prozesse der Exklusion in ihrer Tiefe und Kausalität als politische Prozesse zu betrachten sind. Nicht ohne warnende Absicht sagt er, adressiert an die Akteure der sozialen Arbeit …: „Bei den sichtbarsten Folgen einer sozialen Dysfunktion zu intervenieren scheint leichter und realistischer zu sein, als den Prozess unter Kontrolle zu bringen, der sie auslöst; um die Folgen kann man sich nämlich in technischer Weise kümmern, während die Beherrschung des Prozesses eine politische Behandlung des Problems erfordert.“ Im Anschluss an Castel auch die Fallstricke der Inklusion zu bedenken, heißt: Inklusion braucht eine wirklich politische Behandlung des Problems, der Appell an die Herzen, die Gemüter und das Repertoire sozialpädagogischer Techniken wird den Herausforderungen der Inklusion nicht gerecht.«
Dieser Hinweis gilt heute sicher auch noch, zugleich angereichert um die vielen frustrierenden Erfahrungen aus der Praxis, dass selbst die Beschränkung auf eine (nur) „technische Bewältigung“ der Folgen angesichts des Ressourcenmangels zu einem Problem an sich geworden ist.