Auch das ist eine dieser Großbaustellen der Republik – die Inklusion in den Schulen. In den Kinos ist ein Dokumentarfilm unter dem Titel Ich.Du.Inklusion angelaufen. Der Filmemacher Thomas Binn hat fast drei Jahre lang eine Grundschulklasse in dem kleinen Ort Uedem in Nordrhein-Westfalen begleitet, um zu zeigen, wie Inklusion abläuft. Er hat sich »bewusst eine Schule ausgesucht, die nicht in einem sozialen Brennpunkt liegt. Dann hätten am Ende alle Zuschauer gesagt: „Ist ja klar, dass Inklusion nicht klappt, weil es dort so viele Probleme gibt.“ Uedem ist „heile Welt“. Hier kommen fast alle Kinder aus der bürgerlichen Mitte, alle sprechen Deutsch, die Lehrer sind erfahren, kompetent und engagiert, die meisten Eltern wollen Inklusion«, so der Binn in einem Interview unter der Überschrift „Frau Hess kann das gar nicht schaffen“. Und dann das: »Das Erschreckende ist: Trotzdem scheitert die Umsetzung. Inklusion ist unter diesen Bedingungen nicht machbar: Es fehlt an Personal, Räumen, Material, Zeit – an allem.« Er hat in einem Bundesland gedreht, in dem nicht nur am 14. Mai 2017 ein neuer Landtag gewählt wird und das als bevölkerungsreichstes Bundesland mit vielen Problemen und einer schwierigen Finanzlage zu kämpfen hat. Das gemeinsame Leben und Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung hat sich die rot-grüne Koalition in Nordrhein-Westfalen auf die Fahnen geschrieben und 2013 im Landtag einen Rechtsanspruch für Kinder mit besonderem Förderbedarf an allgemeinen Schulen beschlossen. Da muss man dann auch mal genauer hinschauen. Ein anderes Gespräch mit ihm ist so überschrieben: „Eine absolute Armutserklärung für ein Land wie Deutschland“. »Es fehlt an allem, um Inklusion zu einem gelingenden Modell führen zu können. Und das ganz große Problem sind die Ressourcen, die personellen Ressourcen.«
Binn weist darauf hin, dass in der Zeit vor der Einführung des Rechtsanspruchs auf den Besuch einer allgemeinen Schule in den Modellschulen, an denen gemeinsamer Unterricht praktiziert wurde, fast alle Schulklassen doppelt besetzt waren. Mit Lehrern und Sonderpädagogen. »Dieses Modell wurde aufgehoben, weil man gemerkt hat, dass durch die Auflösung der ganzen Förderschulen gar nicht genug Sonderpädagogen da sind, um an den Schulen adäquat arbeiten zu können.«
Der Filmemacher ist nun wirklich nicht allein mit seinen kritischen Anmerkungen zur Umsetzung der Inklusion an den Schulen. Wie eine Lehrerin Inklusion erlebt: Die Belastungsgrenze ist überschritten, so ist ein anderer Beitrag überschrieben. Wie es an einer sogenannten Brennpunktschule im Ruhrgebiet aussieht, berichtet die Grundschullehrerin Susanne M.:
»Neben Kindern mit einer geistigen Behinderung unterrichten wir an unserer Schule Kinder mit unterschiedlichen Lernschwächen … Dazu kommen Kinder mit emotionaler und sozialer Entwicklungsstörung. Sie sind für eine Klasse eine besondere Herausforderung und können zu einer solchen Belastung werden, dass ein regulärer Unterricht nur noch begrenzt möglich ist. Der Wechsel auf eine Förderschule, die sich ihnen in besonderer Weise zuwenden und sie auffangen kann, ist jedoch nur mit Zustimmung der Eltern möglich.
Es sei denn, sie haben derart massiv den Unterricht und den Schulalltag durcheinandergebracht, dass sie in hohem Maße als „selbst- und fremdgefährdend“ gelten. Doch bis es so weit kommt, wird den Lehrkräften ein beträchtliches Quantum an Geduld und Durchhaltevermögen, den Mitschülern ein Übermaß an Verständnis abverlangt.
Und schließlich gibt es an unserer Schule noch die Kinder mit Migrationshintergrund, die gezielt gefördert werden müssen. Aktuell kommen die Flüchtlingskinder dazu, die nicht nur besondere Zuwendung, sondern einen elementaren Sprachunterricht brauchen.«
Ich welchem Rahmen bewegen sich die Lehrer? Das wäre beispielsweise das Thema Klassengröße: Eine Grundschulklasse darf bei zwei Kindern mit geistiger Behinderung „nur“ 25 Schüler haben. Die Grenze gilt aber auch bei anderen Konstellationen. Hinzu kommt: Der bunten „Klassengemeinschaft“ stehen Lehrer gegenüber, »die für die Grundschule, die Realschule, die Gesamtschule oder das Gymnasium ausgebildet sind. Mit Fragen der Förderpädagogik sind sie vielleicht einmal in einem Seminar an der Uni in Berührung gekommen – danach oft nicht mehr.«
Und dann kommt er wieder, der personelle Aspekt, der bereits von Binn in den Mittelpunkt seiner Kritik gestellt worden ist:
»Unterstützt werden sie im Unterricht von Integrationshelfern, die keine spezielle Ausbildung dafür vorweisen müssen. In Klassen mit geistig behinderten Kindern und auch Kindern mit emotionalem und sozialem Förderbedarf widmen sich die Helfer speziell diesen Kindern und ihrem besonderen Förderbedarf – während der übrige Unterricht weitergeht. Darüber hinaus stehen den Schulen Sonderpädagogen zur Verfügung. Das klingt zunächst einmal gut. Doch die Sonderpädagogen decken nur ein Drittel de Unterrichtsstunden ab. Während der übrigen Stunden ist die Lehrerin/der Lehrer mit dem integrativen Unterricht auf sich allein gestellt. Eine ständige Doppelbesetzung in allen Klassen, in der sich die Lehrerinnen und Lehrer wechselseitig ergänzen, bleibt deshalb ein schöner Traum.«
Und auch die Raumfrage wird angesprochen: »Was nutzen künstlerisch gestaltete Flure und freundliche, modern eingerichtete Klassenzimmer – so wichtig sie für das Schul- und das Lernklima sind -, wenn es keinen Rückzugsraum für Kinder gibt, die in einem besonderen Maß auf Ruhe und Entspannung angewiesen sind?«
Und die Lehrerin bilanziert, dass die Pädagogen selbst zum Problem werden, »indem wir an unsere Belastungsgrenze stoßen oder schon darüber hinaus sind: durch unseren permanenten Spagat zwischen besonderer personaler Zuwendung und dem Druck, dass vorgeschriebene Anforderungen im Unterricht erreicht werden müssen. Durch ein unzähliges Mehr an Gesprächen mit Eltern, dem Jugendamt, den Sozialamt, dem Schulamt. Und zum Dauerstress mag sich Zorn einstellen, wenn man hören muss, dass es sich bei der derzeitigen Situation um eine reine Verwaltung des Mangels handelt.«
Und die Politik? Die den Rechtsanspruch in Gesetz gegossen hat und für die Schulen zuständig ist? Dazu der Hinweis auf ein aufschlussreiches Interview mit der schulpolitischen Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen, Renate Hendricks. Das steht unter dem vielsagenden Titel „Doppelbesetzung ist nicht zu finanzieren“. Sie führt aus, dass das »auch immer schwierig (ist), wenn man von einem Status ausgeht, den man kannte mit der Doppelbesetzung, der ja ursprünglich mal da war, und der Entscheidung, dass es keine Doppelbesetzung mehr geben kann, weil das finanziell so über das Land nicht zu finanzieren ist … wir haben die Sonderpädagogen nicht, um einer permanenten Doppelbesetzung in der Klasse mit Sonderpädagogen zu begegnen.«
Und wie hat man dann die Umsetzung? »Was wir aber gleichzeitig getan haben ist, wir haben die Multiprofessionalität in den Schulen aufgebaut, und wir sind auch weiterhin dabei«, so die schulpolitische Sprecherin der SPD. „Multiprofessionalität“ – das hört sich doch erst einmal sehr gut an. Irgendwie modern. Wie beschreibt sie das konkret? »Es sind Sozialpädagogen in die Schulen gekommen, es sind Sozialarbeiter in die Schulen gekommen. Wir haben die Möglichkeiten geschaffen, dass zusätzliche Inklusionshelfer hineinkamen. Wir haben den Kommunen Geld gegeben, um zusätzliches Personal einstellen zu können … Und die Multiprofessionalität ergibt sich ja auch noch zum Beispiel über Praktikanten, die in der Schule sind, ergibt sich über Lehramtsanwärter, die in der Schule sind. Wir haben ja in der Zwischenzeit, anders noch als meine Kinder zur Schule gegangen sind, eine Vielzahl von Menschen, die in der Schule heute mitarbeiten … Und wir sagen auch, wir müssen Unterstützungsstrukturen gemeinsam übrigens mit der Jugendhilfe aufbauen.« Das liest sich so, wie es sich darstellt: Stückwerk. Und eine Absenkung der Fachkräftestandards.
Aber das ist ja keine böse Absicht, was hier durchschimmert, sondern die blanke Not, denn die Umsetzung muss vom Land und den Kommunen gestemmt werden, die sich nicht nur in Nordrhein-Westfalen in einer mehr als klammen Haushaltslage befinden. Und die parallel andere kostenträchtige Baustellen zu beackern haben, man denke hier an den Ausbau der Kindertagesbetreuung – und nach den Versprechen im laufenden Wahlkampf will man sogar die Beitragsfreiheit für Eltern im Kita-Bereich einführen, was aber enorme Mittel des Landes zur Kompensation der dann wegfallenden Beträge bedeuten würde. In einer solchen Gemengelage zu glauben, dass Qualität nicht abgesenkt wird, erscheint nicht wirklich plausibel.
Zugleich muss man sehen, dass die Zahl der zu inkludierenden Kinder und Jugendlichen offensichtlich ein bewegliches Ziel darstellt, darauf wurde bereits in dem Beitrag Je höher, desto weniger und mehr bedeutet nicht immer auch wirklich mehr. Inklusion und Inklusionsquoten vom 3. September 2015 hingewiesen: Dort wird eine Studie zitiert, die mit Daten aus NRW arbeitet: »Die Quote der Inklusionsschüler in Regelschulen sei gestiegen, aber zugleich der Anteil der Schüler in eigenen Fördereinrichtungen kaum gesunken. Denn es seien „neue Förderschüler“ entstanden, in 20 Jahren habe sich der Anteil der Kinder mit solcher Diagnose verdoppelt, deutlich sei der Anstieg seit 2008 – vor allem bei Schülern mit Lernproblemen, die wiederum den größten Anstieg bei den Inklusionsquoten ausmachten.« In Deutschland haben derzeit etwas mehr als sechs Prozent der Kinder Förderbedarf. Nur selten geht es um körperliche Behinderungen; die meisten Diagnosen entfallen auf Lernschwache. »Durch die Rekrutierung der Inklusionsschüler aus der Grundschülerschaft wurden aus Grundschülern des unteren Leistungsspektrums plötzlich Förderschüler, die Schüler waren plötzlich ,lernbehindert‘.« Selbst Befürworter einer völlige schulischen Inklusion können mit Daten aus anderen Bundesländern – in diesem Fall aus Bayern – zeigen, »dass häufiger nicht-behinderte Grundschüler „bei Leistungsschwäche oder Verhaltensauffälligkeiten als behindert etikettiert und zu Inklusionsschülern transformiert“ würden.«
Was bleibt? Kein Kind zurücklassen – das ist ja eine dieser beliebten Parolen in den Sonntagsreden der Politiker. Aber faktisch werden dann eine Menge Kinder alleine und zurück gelassen. Und bei vielen Erwachsenen werden ebenfalls zahlreiche Frustrationen angesichts der real ablaufenden Umsetzung von Inklusion produziert. Auch (und gerade) wenn man sich eine andere Welt wünscht – so ist das kein überzeugendes Konzept.