Die einen gehen nicht wählen, weil sie nicht wollen. Einige andere dürfen nicht wählen, auch wenn sie vielleicht (?) wollen. Der Ausschluss vom Wahlrecht für „dauerhaft Vollbetreute“

In wenigen Wochen wird ein neuer Bundestag gewählt. Also von denen, die das Wahlrecht haben und von diesem auch Gebrauch machen. Und die Auseinandersetzung mit denen, die zwar wählen dürfen, dies aber dennoch nicht machen, füllt ganze Bibliotheken. Immer wieder versuchen Sozialwissenschaftler, die Motive der Nichtwähler zu ergründen und darüber nachzudenken, wie man die Wahlbeteiligung steigern kann (vgl. nur als ein Beispiel die aktualisierte Fassung von Beate Küpper: Das Denken der Nichtwählerinnen und Nichtwähler. Einstellungsmuster und politische Präferenzen, Berlin 2017).

Nun gibt es aber auch Menschen, die unter uns leben und die vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Denen die Teilnahme an der Wahl also verboten wird. So etwas muss natürlich eine gesetzliche Grundlage haben und die findet man im § 13 Bundeswahlgesetz (BWG) unter der Überschrift „Ausschluss vom Wahlrecht. Dort werden drei Fallkonstellationen aufgelistet: »1. wer infolge Richterspruchs das Wahlrecht nicht besitzt, 2. derjenige, für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist; dies gilt auch, wenn der Aufgabenkreis des Betreuers die in § 1896 Abs. 4 und § 1905 des Bürgerlichen Gesetzbuchs bezeichneten Angelegenheiten nicht erfasst, 3. wer sich auf Grund einer Anordnung nach § 63 in Verbindung mit § 20 des Strafgesetzbuches in einem psychiatrischen Krankenhaus befindet.«

Die erste Fallkonstellation greift beispielsweise bei Hochverrat, Landesverrat oder Bestechlichkeit und Bestechung von Mandatsträgern – absolute Ausnahmefälle. Sie hat mit 69 Fällen keine Bedeutung. Die dritte Fallkonstellation umfasst die „schuldunfähigen Straftäter“, die in Psychiatrien untergebracht sind. Sie stellen mit 3.300 Fällen einen nur geringen Anteil von 3,9 Prozent der Personen, die gemäß § 13 BWG vom Wahlrecht ausgeschlossen waren. Das waren 2015 insgesamt mehr als 84.000 Menschen. Die allermeisten fallen unter § 13 Nr. 2 BWG, gehören also zur Gruppe der „dauerhaft Vollbetreuten“. 

Es geht also – um das hier deutlich hervorzuheben – nicht um alle, die unter rechtlicher Betreuung stehen, sondern um eine bestimmte Gruppe: Betreuungen werden vom Betreuungsgericht immer dann angeordnet, wenn Betroffene aufgrund von psychischen Krankheiten oder Behinderungen ihre rechtlichen Angelegenheiten nicht mehr selbst regeln können. Die Betreuung darf sich dabei jedoch nur auf solche Aufgabenbereiche beziehen, die die Betroffenen nicht eigenständig erledigen können. Ist das Betreuungsgericht der Auffassung, dass der Betroffene keinerlei rechtliche Angelegenheiten mehr selbstständig regeln kann, so ordnet es eine dauerhafte Vollbetreuung an. Damit wird den Betroffenen gleichzeitig und automatisch auf der Grundlage des § 13 Nr. 2 BWG auch das Wahlrecht entzogen.

Woher kommen die zitierten Zahlen? Sie sind einer Studie für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales entnommen, die im Juni 2016 veröffentlicht worden ist:

BMAS (2016): Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen  mit Behinderungen. BMAS-Forschungsbericht 470, Berlin, Juni 2016

Dieses Gutachten wurde von dem Bundestagsabgeordneten Matthias Bartke, Justiziar der SPD-Bundestagsfraktion und Vorsitzender der Lebenshilfe Hamburg, in seinem Beitrag Ungleiche Wahl aufgegriffen:

»Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat bereits in der vergangenen Legislaturperiode ein Gutachten in Auftrag gegeben, das den Wahlrechtsausschluss aus unterschiedlichen fachlichen Blickwinkeln untersuchen sollte. Das umfangreiche Gutachten liegt seit einem Jahr vor und ist alarmierend. So wird festgestellt, dass Vollbetreute nicht unbedingt schwer beeinträchtigt sind. Viele Personen mit schwersten geistigen Behinderungen sind überhaupt nicht voll betreut, weil dies aufgrund ihrer Dauerhospitalisierung nicht erforderlich ist, sprich: Sie nehmen am öffentlichen Leben nicht mehr teil. Gleichwohl sind sie wahlberechtigt. Viele leichtgradig beeinträchtigte Personen hingegen sind auf eigenen Wunsch hin aus Selbstschutz vor Risiken voll betreut. Viele von ihnen allerdings sind politisch informiert und entscheidungsfähig. Sie wollen wählen.

Weiter wird festgestellt, dass 2014 und 2015 in Deutschland 81.220 Vollbetreute vom Wahlrecht ausgeschlossen waren. Dabei gibt es ein starkes regionales Ungleichgewicht. Während in Hamburg und Bremen auf je 100.000 Bürger jeweils weniger als zehn Wahlrechtsentzüge kommen, sind es in Nordrhein-Westfalen 165 und in Bayern sogar 204. In Bayern ist die Wahrscheinlichkeit eines Wahlrechtsausschlusses also um ein Zigfaches höher als in Bremen. Als könne es ernsthaft vom Wohnort abhängen, ob und wann eine Vollbetreuung angeordnet wird.«

Das allgemeine Wahlrecht und damit ein ganz zentrales Grundrechts des Bürgers geht – quasi als Nebenwirkung – automatisch verloren, wenn das Gericht zu der Auffassung gelangt, dass eine Vollbetreuung notwendig ist.

Nun wird der eine oder andere argumentieren, dass es irgendwie nachvollziehbar sei, dass Menschen, die ohne einen Betreuer keine rechtlich relevanten Entscheidungen mehr treffen können, aus „Schutzgründen“ auch vom Wahlrecht ausgeschlossen werden. Dazu Bartke in seinem Beitrag: Es »lässt sich durchaus argumentieren, dass jemand, der zwar keine Kaufverträge mehr abschließen darf, trotzdem noch wählen können sollte. Durch die Wahl entsteht ihm kein Vermögensnachteil.« Aber vielleicht der Gesellschaft, wenn jemand wählen darf (und dann noch mit einer notwendigen Assistenz), der sich möglicherweise gar nicht bewusst darüber ist, was er da tut oder machen soll? Eine gefährliche Argumentationslinie – wo ist die Grenze, die man ziehen muss zwischen noch zurechnungsfähig und nicht mehr?

Nun könnte man sich auf eine allgemeine menschenrechtliche Ebene zurückziehen und darauf hinweisen, dass seit 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention geltendes Recht ist in Deutschland. Der Artikel 29 der Konvention garantiert Menschen mit Behinderungen ihre politischen Rechte und die Möglichkeit, diese gleichberechtigt mit anderen beanspruchen zu können. Gleichzeitig verpflichtet die Konvention die Vertragsstaaten, Menschen mit Behinderungen im Bedarfsfall und auf Wunsch zu erlauben, sich durch eine Person ihrer Wahl bei der Stimmabgabe unterstützen zu lassen.

Rund die Hälfte der 28 EU-Staaten handhabt das Wahlrecht für Behinderte lockerer. Entweder dürfen dort ausnahmslos alle Bürger wählen, zum Beispiel in Finnland, Irland oder den Niederlanden. Oder das Wahlrecht kann nur entzogen werden, wenn ein Richter dies individuell entscheidet.

Aber bei vielen wird eine Grundskepsis bleiben.

Versuchen wir es mit einem konkreten Fall, den man diesem Artikel von Heike Klovert entnehmen kann: Warum Pascal K., 22, erstmals wählen darf:

»Pascal K., 22, aus Dortmund kennt die CDU, die SPD und die Grünen. Er weiß auch, wer Angela Merkel und Sigmar Gabriel sind … Die Besonderheit: Pascal K. ist geistig behindert und hat eine Betreuung „in allen Angelegenheiten“. Das heißt, ihm wurde die Verantwortung für alle Bereiche des Lebens abgenommen … Menschen wie Pascal K. durften bisher auch nicht wählen. Sie waren in allen Bundesländern und auf Bundesebene vom Wahlrecht ausgeschlossen. Die Begründung: Menschen mit sogenannter Totalbetreuung können nicht selbst entscheiden, wen sie wählen wollen – und lassen sich deshalb leicht manipulieren … Sein Fall zeigt, warum Menschen mit Totalbetreuung nicht zwangsläufig total unselbstständig sind. Pascal K. hat eine schwere Sprachstörung. Er wollte sich nicht von seinen Eltern betreuen lassen und wünschte sich stattdessen eine gesetzliche Betreuung. Aber nicht in allen Angelegenheiten.

Das sei „ein Fehler“ des Gerichts gewesen, sagt Gregor Rüberg, Leiter des Betreuungsvereins Lebenshilfe Dortmund, der sich um Pascal K. kümmert. 2013 ordnete das Amtsgericht eine Betreuung in allen Angelegenheiten an. „Er war vor dem Gutachter sehr schüchtern und einsilbig“, erzählt Rüberg. „Er war gerade in eine neue Wohngruppe gezogen, und niemand hat ihn in dem Gespräch unterstützt.“«

Bei der angesprochenen und weit verbreiteten Grundskepsis gegenüber der Ermöglichung zur Ausübung des Wahlrechts wird immer wieder das Argument der Manipulationsgefahr der Wahl vorgetragen. Dazu Heike Klovert in ihrem Artikel:

»Warum sollte ein Demenzkranker im Altersheim wählen dürfen, ein Behinderter in einer Wohngemeinschaft aber nicht? „Vor Manipulation ist man nie geschützt“, sagt Philipp Peters, Sprecher der Lebenshilfe Nordrhein-Westfalen. „Dann müsste man die Briefwahl komplett abschaffen.“«

Pascal K. übrigens durfte in diesem Jahr wählen – bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Aber er wird es nicht dürfen bei der Bundestagswahl im September dieses Jahres.  Der Grund dafür: Zwei Bundesländer haben den Wahlausschluss nun abgeschafft: Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein.

Schon seit vielen Jahren wird das auch für die Bundesebene gefordert. Und der bereits zitierte Matthias Bartke aus der SPD-Bundestagsfraktion hatte in seinem Artikel geschrieben: »Die SPD-Bundestagsfraktion hat deshalb beschlossen, den Wahlrechtsausschluss aus dem Bundeswahlgesetz und dem Europawahlgesetz zu streichen.« Aber dazu ist es nicht gekommen: »Dieser Vorstoß scheiterte in diesem Frühjahr an der CDU/CSU-Fraktion«, so Bartke.

Auch die Opposition war nicht untätig in dieser Angelegenheit. Grüne und Linke haben sogar einen gemeinsamen Gesetzentwurf vorgelegt: Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Wahlrecht, BT-Drucksache 18/12547 vom 30.05.2017. Aber: Der Gesetzentwurf wurde in der auslaufenden Wahlperiode nicht mehr im Bundestag behandelt. Im Juni stand er auf der Tagesordnung des Innenausschusses, wurde aber mit den Stimmen von Union und SPD abgesetzt, so Cordula Eubel in ihrem Artikel Opposition will Diskriminierung im Wahlrecht für Behinderte beenden.

Wer es genauer wissen will, der sollte einen Blick werfen in das Gutachten für das BMAS zum aktiven und passiven Wahlrecht vom Menschen mit Behinderungen, das im vergangenen Jahr veröffentlicht worden ist – dort findet man beispielsweise Erläuterungen sowohl zur Assistenz wie auch den Missbrauchsgefahren auf den Seiten 241 ff.

Ronja Ringelstein fordert in ihrem Artikel Menschen mit Behinderung sollten wählen dürfen: »Staat und Gesellschaft sind gefordert, diese Möglichkeit zu schaffen. Was kann möglich gemacht werden, um diese Menschen nicht mehr von der Teilhabe an der politischen Gestaltung auszuschließen? Dies sollte die Leitfrage sein: das Wie, nicht das Ob. Zudem bestimmt das Grundgesetz, dass die Wahl allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sein muss. Sie bestimmt nicht, dass sie vernünftig sein muss.«