Es muss ein guter Tag für die Langzeitarbeitslosen gewesen sein. Also auf dem Papier. Das ist bekanntlich geduldig

Auch wenn immer wieder über das so genannte „Jobwunder“ in Deutschland geschrieben und diskutiert wird – eine Gruppe unter den Arbeitslosen hat in den vergangenen Jahren definitiv so gut wie gar nicht profitieren können von der ansonsten durchaus erfreulichen Arbeitsmarktentwicklung in unserem Land. Die Rede ist hier von den Langzeitarbeitslosen. Arbeitsmarktexperten sprechen schon seit längerem von einer massiven „Verfestigung“ bzw. „Verhärtung“ der Arbeitslosigkeit.  Ein Teil der Arbeitslosen wird komplett abgekoppelt von der Integration in Beschäftigung. Hierbei handelt es sich keineswegs um eine zu vernachlässigende Größe.  So hat beispielsweise eine Ende des vergangenen Jahres veröffentlichte Studie der Hochschule Koblenz ergeben, dass rund 1,7 Millionen Menschen im Grundsicherungssystem in den vergangenen drei Jahren mehr als 90 % der Zeit ohne irgendeine Beschäftigung waren. Über 609.000 erwerbslose Menschen haben mehr als vier so genannte Vermittlungshemmnisse. Über 435.000 Menschen zählen nach dieser Studie  zu den arbeitsmarktfernen Personen, die mittelfristig, viele sogar auf Dauer keine realistische Perspektive haben, wieder irgendeinen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bekommen. In den Haushalten dieser Menschen leben mehr als 305.000 Kinder unter 15 Jahren, die besonders  negativ von der Situation in ihrem Elternhaus betroffen sind.

Gleichzeitig wurden Milliardenbeträge gekürzt im Bereich der Arbeitsförderung für Menschen im Grundsicherungssystem. Immer offensichtlicher wird das Dilemma, dass auf der einen Seite eine zunehmende Zahl an Arbeitslosen in die Langzeitarbeitslosigkeit abrutscht und dort auch nicht mehr herauskommt, gleichzeitig aber kaum noch Möglichkeiten einer gezielten Förderung dieser Menschen zur Verfügung stehen. Dies nicht nur aufgrund fehlender Finanzmittel, sondern gleichzeitig wurde das Förderrecht gerade im Bereich der öffentlich geförderten Beschäftigung seitens des Bundesgesetzgebers noch restriktiver ausgestaltet, so dass sinnvolle Maßnahmen oftmals schlichtweg nicht mehr möglich sind.

Die erwähnte Studie kann hier abgerufen werden:

Obermeier, T.; Sell, S. und Tiedemann, B.: Messkonzept zur Bestimmung der Zielgruppe für eine öffentlich geförderte Beschäftigung. Methodisches Vorgehen und Ergebnisse der quantitativen Abschätzung (= Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 14-2013), Remagen, 2013

Nunmehr scheint es aber Grund zur Hoffnung zu geben, folgt man den Medienberichten, die im Anschluss an eine gemeinsame Pressekonferenz von Bundesagentur für Arbeit, Deutscher Städtetag und Deutscher Landkreistag erschienen sind: „Staat soll Langzeitarbeitslose besser fördern„, „Bundesagentur will mehr Hilfe für Langzeitarbeitslose“ oder von der anderen Seite „Kommunen wollen neue Initiative für Hartz-IV-Empfänger„. Da ist sogar von einem „Maßanzug für Langzeitabeitslose“ die Rede. Das hört sich doch insgesamt sehr positiv und dem wachsenden Problemdruck in diesem Bereich angemessen an. Schauen wir also einmal genauer hin.

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat ihre Pressemitteilung so überschrieben: „Hilfen für Langzeitarbeitslose verbessern – Hohes Engagement der Jobcenter allein kann Probleme nicht lösen„. Auch hier wird auf den enormen Problemdruck innerhalb des Grundsicherungssystems hingewiesen: »Drei Millionen erwerbsfähige Menschen erhalten seit zwei oder mehr Jahren Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Rechnet man die Kinder hinzu, sind rund vier Millionen Menschen langfristig auf diese Leistungen angewiesen.« Die BA weist darauf hin, dass von den Langzeitbeziehern, die vermittelt worden sind, aber etwa die Hälfte innerhalb eines Jahres wieder in die Grundsicherung zurückkommt. Und auch auf die bereits angesprochene prekäre Finanzlage wird seitens des Deutschen Städtetages hingewiesen: »Von 2010 bis 2013 sank die Anzahl der Arbeitslosen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende um lediglich 8 Prozent. Im gleichen Zeitraum wurden die Mittel für Fördermaßnahmen aber um etwa 40 Prozent reduziert, von 6,6 Milliarden Euro auf 3,9 Milliarden Euro.«
Die beiden kommunalen Spitzenverbände bringen die von vielen kritischen Beobachtern der Arbeitsmarktpolitik seit Jahren immer wieder vorgetragenen Schwachstellen auf den Punkt:

»Die Strategien für Menschen, die nur kurze Zeit arbeitslos sind, lassen sich nicht einfach auf Langzeitarbeitslose übertragen. Aktuell sind die arbeitsmarktpolitischen Instrumente der Jobcenter an viele Auflagen seitens des Gesetzgebers und an eher kurze Zeiträume gebunden. Schwer zu vermittelnden Langzeitarbeitslosen kann aus Sicht der Kommunen damit zu wenig geholfen werden. Der Bund sollte den Jobcentern deshalb die Entwicklung flexibler und längerfristiger Strategien zugestehen.«

Und sie fordern mit Blick auf die Vergangenheit mehr Geld – vom Bund: »Hatte der Bund zur Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende noch ein Budget von durchschnittlich 3.200 Euro pro Leistungsempfänger für Aktivierung, Eingliederung und Leistungsgewährung im Jahr veranschlagt, standen im Jahr 2012 nur noch 1.700 Euro zur Verfügung.«
Für etwa eine Million Menschen, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende erhalten, sei eine Vermittlung in den Arbeitsmarkt äußerst schwierig. Während die BA in Gestalt von Heinrich Alt „neue Ideen über Zugangswege in Arbeit, mehr Perspektiven in Betrieben“ fordert,  sind für die Kommunen »die drohende Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit und damit verbundene soziale Folgen eine der wichtigsten Herausforderungen. Viele Menschen, die sehr lange nicht mehr in der Arbeitswelt waren, brauchen neben der Vermittlung in Qualifizierungen oder in Arbeit eine intensive und individuell passgenaue Unterstützung.«

Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, Dr. Stephan Articus, wird mit den folgenden Worten zitiert:

»Um Langzeitarbeitslosen mit sozialen und beruflichen Integrationsproblemen Chancen auf Teilhabe in Arbeitsprozessen zu ermöglichen, halten die Städte es für sinnvoll, auch die öffentlich geförderte Beschäftigung weiterzuentwickeln. Solche Angebote können dazu beitragen, sich dem ersten Arbeitsmarkt wieder anzunähern. Und für Menschen, die dort nicht mehr Fuß fassen können, sind sie eine Alternative zu Ausgrenzung und sozialer Isolation.«

Der Deutsche Landkreistag sekundiert mit Blick auf den „harten Kern“ der Langzeitarbeitslosen, »dass es eine Gruppe schwer zu vermittelnder Langzeitarbeitsloser gibt, für die der erste Arbeitsmarkt unabhängig von bestehenden Fördermitteln und Instrumenten nicht erreichbar ist. Diese Menschen benötigen längerfristige Angebote.« Gefordert wird »ein tragfähiges Konzept für öffentlich geförderte Beschäftigung. Denn auf dem regulären Arbeitsmarkt werden viele Langzeitarbeitslose realistischerweise keinen Job finden.«

Ja, ja und nochmals ja. Die immer wieder vorgetragenen Punkte aus der Arbeitsmarktdebatte der vergangenen Jahre tauchen hier in konzentrierter Form wieder auf.

Und nun? Was tun? Da wird es schon dünner bzw. angesichts der intensiven Diskussionen und der vorliegenden konkreten Modelle eines „zweiten“ oder wie er auch immer heißen soll Arbeitsmarkt muss man den Kopf schütteln angesichts solcher Worte des BA-Vorstandsmitglieds Heinrich Alt zur öffentlich geförderten Beschäftigung, die Katharina Schüler in ihrem Artikel „Kommunen wollen neue Initiative für Hartz-IV-Empfänger“ zitiert:

»Bislang leide der zweite Arbeitsmarkt jedoch unter dem Paradox, dass nur Tätigkeiten, die keine normale Beschäftigung gefährden, gefördert werden dürften, sagte Alt. Arbeitslose lesen beispielsweise in Heimen vor oder sammeln Müll in den Parks ein. Die Art der Tätigkeiten verringere die Chancen, dass der Übergang vom zweiten in den ersten Arbeitsmarkt gelinge. Auch das Prestigeprojekt der früheren Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, die Arbeitslose zu Bürgerarbeitern machen wollte, erwies sich als Flop. „Hier müssen wir nochmal neu nachdenken“, sagte Alt.«

Da muss man angesichts der vielen Modelle nicht wirklich neu nachdenken, sondern man braucht mehr Mittel und vor allem rechtlich auch die entsprechenden Möglichkeiten, beispielsweise in professionellen Beschäftigungsunternehmen mit dem „ersten Arbeitsmarkt“ zusammen arbeiten zu können. Da hätte man sich schon eine klare Forderung an den Bundesgesetzgeber gewünscht: Abschaffung der „Zusätzlichkeit“ und der „Wettbewerbsneutralität“ von Maßnahmen der öffentlich geförderten Beschäftigung, damit man die Andockstellen an das „real life“ des Arbeitsmarktes endlich bestimmen und ausbauen kann.

Das wäre nur ein Beispiel für konkrete Forderung auch und gerade an die Große Koalition, die man hätte formulieren können und müssen. Statt dessen bekommen wir wieder einmal viel Lyrik serviert, gerade von Heinrich Alt, dem für das SGB II zuständige Vorstandsmitglied. In dem Artikel „Maßanzug für Langzeitabeitslose“ wird er mit den folgenden Worten zitiert: „Mit Konfektionsware kommen wir in der Grundsicherung nicht weiter“. „Wir brauchen eher was wie den Maßanzug, der vor Ort geschneidert werden sollte.“ Wohlfeile Formulierungen, wenn man sich die Realität in vielen Jobcentern anschaut.

Fazit: Nicht nur die enormen Mittelkürzungen in der Arbeitsmarktpolitik der vergangenen Jahre müssen rückgängig gemacht werden, weil man ansonsten keine halbwegs vertretbaren Maßnahmen für die Betroffenen entwickeln und anbieten kann. Aber gleichzeitig muss endlich das Förderrecht so eingedampft werden, dass man die vielen (übrigens seit Jahren geforderten) Freiheitsgrade in der Arbeit vor Ort endlich mal bekommt. Viele Jobcenter-Mitarbeiter sagen einem, auch wenn wir wollen, wir dürfen nicht. Hinsichtlich der erforderlichen Bearbeitung der vielen, wieder einmal richtig beschriebenen Probleme braucht es Flexibilität und Entscheidungsspielräume vor Ort.

Aber – auch wenn man nicht depressiv enden soll – selbst wenn das gelingen würde, wofür es derzeit keine Anhaltspunkte gibt, bleibt das Problem, dass viele Jobcenter-Mitarbeiter in den kommenden Monaten gar nicht mehr dazu kommen können, neue Wege zu gehen bzw. auszuprobieren. Weil sie absaufen in der internen Arbeit. Das, was hier angedeutet werden soll, ist ein sich abzeichnendes Drama der innersystemischen Paralyse und das hat einen Namen: „Allegro“. In der Musik ist Allegro eine Tempobezeichnung mit der Bedeutung schnell. Das ist vielleicht der Wunsch der BA-Spitze und der sie begleitenden Unternehmensberater. Die (fast schon zynische) Wahl des Programmnamens „Allegro“ ist irgendwie konsequent aus der Perspektive der da oben, denn das Wort kommt ursprünglich aus der italienischen Sprache und bedeutet „fröhlich, lustig, heiter“.

Aber das, was auf die Jobcenter zukommt, sieht ganz und gar nicht nach einem „fröhlichen, lustigen und heiteren“ Arbeiten am „Kunden“ aus. Denn „Allegro“ ist eine neue Software, in der Langfassung steht das für „ALG2-Leistungsverfahren Grundsicherung Online“. Und eine ganz neue Software verheißt gerade in der Einführungsphase nicht wirklich was Gutes.

»Wegen einer Software-Umstellung bei den Jobcentern könnte es im April zu Problemen bei der Auszahlung von Hartz-IV-Leistungen kommen. Betroffen seien vor allem die Ballungsräume und Großstädte, warnt Personalratschef Lehmensiek im Deutschlandfunk. Es gehe um vier Millionen Empfänger und deren Kinder«, so kann man es dem Vorspann zu einem Interview mit Uwe Lehmensiek, entnehmen. Im April soll der Testbetrieb beginnen. Zwar soll die neue Software parallel zur alten eingeführt werden, um die Probleme des Startjahres 2005 zu vermeiden. Dennoch kommt es in den Jobcentern zu einer Menge Mehrarbeit durch die EDV-Umstellung – womöglich zu so viel Mehrarbeit, dass über diese Umstellung auch die Hartz-IV-Auszahlungen in Mitleidenschaft gezogen werden könnten. Denn in den Jobcentern muss diese gewaltige Umstellung – inklusive der händischen Eingabe der vorhandenen Daten in das neue System – mit Bordmitteln und „neben“ dem Tagesgeschäft erfolgen.

Die Umstellung erfolgt händisch und parallel zum normalen Betrieb, da kein Budget für zusätzliche Fachkräfte eingeplant wurde. Dort, wo die Jobcenter zusätzlich Personal eingestellt hätten, laufe die Finanzierung aus dem „Eingliederungstitel“, also dem bereits zusammengestrichenen Topf für Fördermaßnahmen, denn diese Mittel sind „deckungsfähig“ mit den Verwaltungskosten.

Zu diesem problematischen Punkt berichtete das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ): » Insgesamt 445 Millionen Euro sind aus dem Haushaltstitel mit der Zweckbestimmung „Leistungen zur Eingliederung in Arbeit“ (darunter „Leistungen zur Engliederung nach dem SGB II“) in den Haushaltstitel mit der Zweckbestimmung „Verwaltungskosten für die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende“ (Bundesanteil) umgeschichtet worden.« Und weiter: »Die „Verwaltungskosten“ der insgesamt 410 Jobcenter betrugen demnach im Haushaltsjahr 2013 … in etwa 5,3 Milliarden Euro. Noch nie zuvor wurde vom Bund und den Kommunen so viel für diesen Zweck („Verwaltungskosten für die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende“) ausgegeben wie im neunten „Hartz IV-Jahr“.«

Bevor die Umstellung überhaupt beginnt, würden die Mitarbeiter geschult und Akten auf den neuesten Stand gebracht. Hier gebe es noch großen Nacharbeitungsbedarf. Wenn der Testbetrieb im April beginnt, seien dann, vor allem in Großstädten, Fehler und Zeitverzögerungen zu erwarten.
Wenn Bescheide und Geldleistungen in großem Umfang zu spät oder fehlerhaft herausgehen, erwartet Lehmensiek „Aggression und Gewalt, das wollen wir verhindern. Deswegen ist das unsere größte Sorge, dass es mit der Zahlung nicht klappt.“, erläutert er im Interview.

Dazu noch eine Ergänzung, gefunden im neuesten Newsletter von Harald Thomé: Kommt es durch Computerpannen und nicht rechtzeitiger Zahlung zu wirtschaftlichen Schäden bei den Betroffenen, z.B.  in Form von Rückbuchungsgebühren, Mahngebühren des Energieversorgers oder Vermieters, Zinsen wegen Kontoüberziehung, dann ist das Jobcenter dafür ersatzpflichtig. Der Ersatzanspruch begründet sich über § 40 Abs. 1 S. 1 SGB II iVm § 60 S. 2 SGB X iVm § 839 BGB iVm ständiger Rechtsprechung des BSG zum sozialrechtlichen Herstellungsanspruch.
Wahrscheinlich muss man dann noch mehr umbuchen aus dem Eingliederungstitel.

Das sind keine guten Rahmenbedingungen für neue Wege, um Langzeitarbeitslose wieder in Beschäftigung zu bringen.

Eine Studie, die Hartz IV als Blaupause für Deutschlands „Jobwunder“ zu entzaubern behauptet. Das tut allen Agenda 2010-Kritikern gut. Aber wieder einmal geht es auch um den Mindestlohn. Und um Tarifpolitik

Diese Überschrift wird viele elektrisieren und das ist wohl auch so gewollt: „Studie entzaubert Hartz-Mythos“. Für alle Agenda 2010-Kritiker scheint es hier neues Futter zu geben und passend darf man weiterlesen: » Das deutsche Jobwunder machte die Hartz-Reformen zum Vorbild für die Krisenländer Europas. Eine neue Studie räumt mit diesem Mythos auf: Nicht die Agenda 2010 habe Deutschland zum ökonomischen Superstar gemacht, sondern die Unabhängigkeit der Betriebe und der Gewerkschaften vom Staat.«
Es geht um diese Veröffentlichung, die allerdings erst in der kommenden Woche publiziert wird:

Dustmann, C., Fitzenberger, B., Schönberg, U., Spitz-Oener, A. (2014): From Sick Man of Europe to Economic Superstar: Germany’s Resurgent Economy. Journal of Economic Perspectives 28 (1), pp. 167-188.

Yasmin El-Sharif berichtet in ihrem Artikel vorab über den Beitrag der vier Wissenschaftler, insofern kann man die zitierten Aussagen noch nicht am Original prüfen.

»Hartz habe lediglich dabei geholfen, die Langzeitarbeitslosigkeit einzudämmen. Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands hätten die Instrumente – wie etwa flexibilisierte Leiharbeit oder die Einführung von Minijobs – dagegen kaum gesteigert.«

Hier nun könnte man bereits kritisch reingehen und den ersten Teil der Aussage – also das mit der Eindämmung der Langzeitarbeitslosigkeit – auseinandernehmen, denn das stimmt so nicht. Allerdings geht es hier nicht um die Frage, ob und inwieweit Fortschritte bei der Bekämpfung der Langezitarbeitslosigkeit erreicht worden sind, sondern die Hauptaussage der Wissenschaftler ist eine andere: Sie identifizieren als wirkliches Wundermittel »die einzigartige Unabhängigkeit der Tarifpartner vom Staat und die damit verbundene freie Entscheidung über Löhne, die Branchen, die Größe und konjunkturelle Lage von Unternehmen berücksichtigt.«

Warum die deutsche Entwicklung kein Vorbild abgeben kann für die südeuropäischen Krisenstaaten (für die derzeit von interessiertenKreisen eine Kopie der deutschen „Agenda 2010“-Politik empfohlen wird), verdeutlicht das folgende Zitat: Die Wissenschaftler »erinnern an die einmaligen Entwicklungen in der Bundesrepublik. So hätten die extremen wirtschaftlichen Veränderungen nach dem Mauerfall in Deutschland schon ab Mitte der neunziger Jahre dazu geführt, dass die Löhne real sanken. In der Folge fielen die Lohnstückkosten, welche die Arbeitskosten in Relation zur Produktivität setzen, flächendeckend über alle Industriezweige; und das verbesserte die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportindustrie langfristig deutlich.« Oder in anderen Worten: »Als Schröder 2003 die Hartz-Reformen einleitete, waren die wichtigsten Weichen von Unternehmen und Mitarbeitern schon Jahre zuvor gestellt worden. In der schweren Rezession ab 2008 sorgten – neben der Kurzarbeit – vor allem wieder die Tarifpartner dafür, dass die Unternehmen keine Lohnerhöhungen stemmen mussten, die sie womöglich in die Knie gezwungen hätten.«

Insofern haben die Autoren der Studie große Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer „holzschittartigen“ Übertragung der Hartz-„Reformen“ auf andere Länder.

Dann aber kommt doch noch ein Schwenk in die innenpolitische Debatte in Deutschland und die Autoren mahnen vor angeblichen „Rückschritten“:

»Der von der Bundesregierung geplante gesetzliche Mindestlohn sei „ein Schritt zu weniger Autonomie im Tarifsystem“. Allerdings dürfe wie schon bei den Hartz-Reformen die Bedeutung einer Lohnuntergrenze auf das gesamte starke Gefüge nicht überschätzt werden.«

Parallel dazu ist in der Online-Ausgabe der „WirtschaftsWoche“ der Artikel „Der Staat mischt in der Lohnfindung immer stärker mit“ von Bert Losse erschienen. Die Stoßrichtung dieses Beitrags ist entsprechend der „Warnung“ aus der zitierten Studie von Dustmann et al.: »Mithilfe des gesetzlichen Mindestlohns wollen die Gewerkschaften bislang tariffreie Zonen für sich erschließen. Doch der Preis ist hoch: Der Staat wird zu einem immer mächtigeren Akteur in der Tarifpolitik.«
Losse referiert die vielfach vorgetragene Position aus den Gewerkschaften, dass der Mindestlohn vor einer Unterhöhlung der Tarifstruktur schützt und das gesamte Tarifsystem in Deutschland stabilisiert. Er weist darauf hin, dass manche Gewerkschafter hoffen, »mithilfe des Mindestlohns den Niedriglohnsektor auszutrocknen und in gewerkschaftsfernen Bereichen mit niedriger Tarifbindung einen Fuß in die Tür zu bekommen, etwa im Dienstleistungssektor.«

Doch dann kommt er zu seinem eigentlichen Anliegen: Nicht wenige Ökonomen und Arbeitsrechtler halten diese Strategie der Gewerkschaften für riskant. Und er nennt Kronzeugen für diese Position:
„Der gesetzliche Mindestlohn dürfte für die Gewerkschaften zu einem organisationspolitischen Eigentor werden“, sagt Thomas Lobinger, Professor für Arbeitsrecht an der Universität Heidelberg. „Im Lohnbereich um die 8,50 Euro gibt es für die Beschäftigten dann erst recht keinen Anreiz mehr, in die Gewerkschaft einzutreten. Es wird sich bei Geringverdienern das Bewusstsein durchsetzen: Der Staat kümmert sich um uns.“

Und auch aus dem Gewerkschaftslager zitiert Losse sehr kritische Töne:

»Gewerkschafter der alten Garde wie Jörg Barczynski sind denn auch fassungslos. Der heute 73-Jährige war 25 Jahre Sprecher der IG Metall, er diente unter vier Vorsitzenden und galt als einer, der den Gewerkschaftsbossen schon mal sagte, wo es langgeht. Mittlerweile aber versteht er seine Gewerkschaft nicht mehr: „Ich weiß nicht, was die derzeitige IG-Metall-Führung umtreibt. Dass die Gewerkschaften den gesetzlichen Mindestlohn unterstützen, halte ich für organisationspolitischen Wahnsinn.“«

Nun soll der Mindestlohn durch eine von den Tarifparteien besetzte Kommission festgelegt werden. Thomas Lobinger hält das für Rosstäuscherei: Es werde vordergründig so getan, als setzten die Tarifparteien den Mindestlohn fest. In Wahrheit sei die Kommission „eine parastaatliche Veranstaltung“.

Und ein weiteres Argument wird angeführt, das nicht einfach vom Tisch zu wischen ist:

»Ist der Mindestlohn einmal eingeführt, besteht die Gefahr, dass er für viele Tarifbereiche zur Referenzgröße wird. „Dann steht in Tarifverträgen plötzlich zum Beispiel der Satz: Die Arbeitnehmer erhalten 103, 107 oder 185 Prozent des geltenden gesetzlichen Mindestlohns“, prophezeit Metaller Barczynski. „Auf diese Weise erhält der Staat eine lohnpolitische Schlüsselposition, die ihm in einem Land mit Tarifautonomie nicht zusteht.“«

Neben dem gesetzlichen Mindestlohn werden weitere Entwicklungslinien vorgetragen, die das Argument einer „Verstaatlichung“ der Tarifpolitik stützen sollen – wobei interessanterweise gerade beim ersten Punkt nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die Arbeitgeber eine treibende Kraft darstellen:
  • »Um renitente Klein- und Spartengewerkschaften auszubremsen, soll die große Koalition auf Drängen des DGB und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) die sogenannte Tarifeinheit im Betrieb wieder herstellen.« Das Prinzip, wonach in einem Betrieb nur eine Gewerkschaft Tarifverträge abschließen darf, wurde vom Bundesarbeitsgericht in einer Entscheidung im Jahr 2010 gekippt mit der Begründung, das würde gegen die Koalitionsfreiheit des Grundgesetzes verstoßen.
  • Die große Koalition bereitet eine »drastische Ausweitung der sogenannten Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) von Tarifverträgen vor«. Die bisherige Grenze, dass mindestens 50 Prozent der jeweiligen Branchenbeschäftigten bei einem tarifgebundenen Unternehmen arbeiten müssen, soll aufgehoben werden.
  • »Immer mehr Landesregierungen beschließen auf Wunsch der Gewerkschaften auch sogenannte Tariftreue-Regeln. Danach dürfen nur noch solche Betriebe Staatsaufträge erhalten, die bestimmte Tarifstandards einhalten. Die große Koalition prüft ein solches Tariftreuegesetz nun auch auf Bundesebene.«

Was steckt hinter diesen Entwicklungslinien – die allerdings für sich genommen begründungsbedürftig sind, wenn man der Tarifautonomie von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden einen so hohen Stellenwert zuschreibt?

Hierzu drei interessante Zitate, die sich dem Artikel von Bert Losse entnehmen lassen:
„Die Tarifbindung erodiert seit Jahren, das müssen Gewerkschaften und Politik gemeinsam ändern“, so wird Verdi-Boss Bsirske zitiert. Und aus den Reihen der großen Industriegewerkschaften IG Metall und IG Bergbau, Chemie und Energie (IG BCE) sollen diese Worte kommen: Man habe den Widerstand aber aufgegeben, weil „wir einsehen mussten, dass die Gewerkschaften in einigen Bereichen schlicht nicht handlungsfähig sind“. Und drittens: »Claus Weselsky, der um Provokationen nie verlegene Chef der Lokführergewerkschaft GDL, hat für die Strategie der DGB-Kollegen nur Hohn und Spott übrig: „Ein gesetzlicher Mindestlohn wäre ein Offenbarungseid für die Gewerkschaften.“«
Der wahre Kern ist natürlich der, dass – da beißt die Maus keinen Faden ab – der gewerkschaftliche Vertretungsanspruch in bestimmten Branchen und vor allem im expandierenden Niedriglohnsektor nicht (mehr) gegeben ist. Sonst bräuchte man keinen gesetzlichen Mindestlohn, denn normalerweise übernehmen tatsächlich die ausgehandelten Tariflöhne mit ihren unteren Lohngruppen die Mindestlohnfunktionalität. Insofern kann man das Eingreifen des Staates hier tatsächlich als ein „Offenbarungseid“ für die betroffenen Gewerkschaften interpretieren und das verweist auf erhebliche Organisationsprobleme.

Aber – und dieser Aspekt taucht sicher ganz bewusst an keiner einzigen Stelle in dem Artikel von Losse auf – meistens gehören immer zwei dazu: Was ist eigentlich mit den Arbeitgebern? Liest man nur den Artikel von Losse, dann könnte und müsste man zu dem Ergebnis kommen, dass a) die Gewerkschaften um einen staatlich gesetzten Mindestlohn einen Bogen machen sollten und b) dass die Gewerkschaften durch ihre Schwäche dafür gesorgt haben, dass es jetzt zu einer „Verstaatlichung“ der Tarifpolitik kommt.

Aber nochmals die Frage: Was ist eigentlich mit den Arbeitgebern? Sicher haben Gewerkschaften in manchen Branchen, vor allem in den Dienstleistungsbereichen, erhebliche Organisationsprobleme. Aber gibt es nicht auch seit Jahren eine massive „Verbandsflucht“ von Arbeitgebern? Die dazu geführt hat, dass dadurch in manchen Branchen weniger als 50% der Beschäftigten in tarifgebundenen Unternehmen arbeiten. Die Arbeitgeber entziehen sich ihren Verbänden oder die landen nicht bei den Arbeitgebern wie gerade in Ostdeutschland, so dass tarifvertragsfreie Zonen entstanden sind. Wegen den Arbeitgebern. Warum wohl wird auf diese Seite der Medaille nicht hingewiesen?
Abschließend führen wir die beiden Artikel in einem Gedankengang wieder zusammen: Während die Studie mit der angeblichen Entzauberung von Hartz IV als Quelle des deutschen „Jobwunders“ auf die praktische Tarifpolitik in der Vergangenheit und vor allem in der Krise als Lebenselixier der deutschen Volkswirtschaft hinweist, beklagt Losse in seinem Artikel die angebliche Verstaatlichung der Tarifpolitik und meint, im gesetzlichen Mindestlohn ein Teufelszeug für die Tarifautonomie erkennen zu können. Vielleicht kann man das aber auch so ausdrücken: Wenn das Tarifvertragssystem eine so wichtige Bedeutung hatte und hat für die Verfasstheit des deutschen Arbeitsmarktes, dann sollte es unser Ziel sein, dieses System wieder zu stabilisieren und eine Ausbreitung der tarifvertragsfreien Zonen in den Branchen und Sektoren nicht nur aufzuhalten, sondern diese Entwicklung wieder rückgängig zu machen. Gerade vor diesem Hintergrund könnte man die angestrebte Ausweitung der Allgemeinverbindlichkeitserklärungen durchaus als sehr positiv ansehen, in dem Sinne, dass das als leistungsstarker Motor dafür wirken kann, dass die Arbeitgeber wieder zurückkehren in ihre Arbeitgeberverbände, da sie wissen, sie können sich der Geltungskraft der Abschlüsse nicht mehr durch Flucht aus den Verbänden entziehen. Dann können sie sich ja einbringen in die Verhandlungen mit den Gewerkschaften. Um nur ein Beispiel zu nennen. Vielleicht würde eine „Verstaatlichung“ am Anfang einer neuen Entwicklungsphase nach einem gewissen Umorientierungsprozess zu einer Renaissance der deutschen Tarifautonomie beitragen können.
Aber auf den Mindestlohn verzichten und gleichzeitig die mittlerweile vorhandene enorme Asymmetrie zwischen Arbeitgebern insgesamt auf der einen und Gewerkschaften auf der anderen Seite zu akzeptieren und damit das Machtgefälle zugunsten der Arbeitgeber, das erscheint keine wirklich empfehlenswerte Strategie für die Arbeitnehmerseite zu sein. 

Was „Aufstocker“ im Hartz IV-System (nicht) mit dem Mindestlohn zu tun haben

Es ist eine bekannte Lebensweisheit, dass man mit Zahlen viel machen kann und mit Überschriften erst recht. Vor dem Hintergrund der kontroversen Debatte über die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns von besonderer Relevanz sind dann Überschriften, die einem ins Auge springen (sollen/müssen): „Zahl der Niedriglöhner seit Jahren überschätzt“ oder „BA-Statistik liefert Mindestlohn-Gegnern Nahrung„. Müssen die Apologeten eines Mindestlohns jetzt in Sack und Asche gehen? Was genau ist hier passiert und vor allem – hat das alles wirklich mit dem Mindestlohn zu tun?

Dem FAZ-Artikel kann man entnehmen, dass es hier nicht um „die“ Niedriglöhner geht, sondern es geht um eine bestimmte Gruppe unter ihnen: Die „Aufstocker“, also Menschen, die trotz bzw. wegen ihres Erwerbseinkommens noch einen Anspruch haben auf aufstockende Leistungen aus dem Grundsicherungssystem (SGB II). Und die diese Aufstockungsmöglichkeit auch tatsächlich in Anspruch nehmen:

»In Deutschland sind weitaus weniger vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer auf ergänzendes Arbeitslosengeld II angewiesen als bisher in der politischen Auseinandersetzung über Mindestlöhne unterstellt wurde. Dies ist das überraschende Ergebnis einer aktuellen Revision der entsprechenden Statistik der Bundesagentur für Arbeit … die Gesamtzahl der Vollzeitbeschäftigten, die wegen eines niedrigen Arbeitslohns die staatliche Einkommensaufstockung beziehen, (ist) um fast ein Drittel geringer als bisher vermutet. Die Zahl der allein lebenden Vollzeitbeschäftigten, die eine Aufstockung benötigen, ist sogar um 41 Prozent geringer.«

Jeder, der sich in den Tiefen und Untiefen der Statistik auskennt, ahnt an dieser Stelle schon, dass es sich a) um eine komplizierte Angelegenheit handeln muss, die man b) nachvollziehen sollte mit einem Blick in die Erläuterungen der Verursacher dieser Datenveränderung.
Aber Dietrich Creutzburg geht in seinem Artikel gleich in die politische Interpretation der Zahlen:

»Die Neufassung der Statistik bringt politischen Zündstoff, da sie eines der zentralen Argumente der Befürworter des gesetzlichen Mindestlohns deutlich relativiert. Dieses besagt, dass ein immer größerer Teil der Arbeitnehmer trotz Vollzeitarbeit nicht von seinem Lohn leben kann.«

Seiner Meinung nach geht es hier um den grundsätzlichen Anspruch, dass jeder Mensch durch Vollzeitarbeit mindestens seinen eigenen Lebensunterhalt sichern können soll. Und dieser Anspruch muss im Lichte der neuen Zahlen, so Creutzburg, neu gelesen werden, denn:

»Legt man die nun revidierte Aufstockerstatistik der Bundesagentur für Arbeit als Maßstab zugrunde, dann war dieser politische Anspruch zur Jahresmitte 2013 für genau 46.814 von 21,8 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Vollzeitarbeit nicht erfüllt; das ist ein Anteil von 0,2 Prozent. Sie hatten keine Familie zu versorgen und brauchten dennoch neben der Vollzeitarbeit Hartz IV. Vor der Revision war die Bundesagentur von 80.000 Betroffenen ausgegangen.
Bezogen auf die insgesamt 1,2 Millionen abhängig erwerbstätigen Aufstocker machen die alleinstehenden Vollzeitbeschäftigten nun 3,9 Prozent aus, statt 6,4 Prozent wie zuvor vermutet. Ähnlich drastisch ist die Verschiebung in der Gesamtgruppe der Vollzeitbeschäftigten, die eine Aufstockung erhalten: Sie umfasst laut den neuen amtlichen Daten noch 218.000 Personen. Das sind fast 113.000 weniger als vor der Revision; ihr Anteil beträgt damit 16,6 Prozent und nicht 26,3 Prozent.«
»Spiegelbildlich zur verringerten Zahl der Vollzeit-Aufstocker hat sich die Zahl der Aufstocker mit Teilzeitstelle stark erhöht: Sie belief sich nach dem neuen Datenstand auf 363.000 zur Jahresmitte 2013. Das sind 119.000 mehr als bislang vermutet.«

Das scheint doch alles sehr beeindruckend zu sein. Also doch Sack und Asche für die Mindestlohnbefürworter?

An dieser Stelle empfiehlt sich der Blick in das Original, denn die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat „Hintergrundinformationen“ zu dem Thema veröffentlicht: „Neue Ergebnisse zu sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitslosengeld II-Beziehern in Vollzeit und Teilzeit„.
Die BA fasst die quantitativen Befunde so zusammen:

»Die neuen Ergebnisse zeigen nun von Juni 2011 bis Juni 2013 für die sozialversicherungspflichtigen Arbeitslosengeld II-Bezieher einen Rückgang der Vollzeitbeschäftigten um 113.000 auf 218.000 und einen fast komplementären Anstieg der Teilzeitbeschäftigten um 119.000 auf 363.000. Die Summe aller sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitslosengeld II-Bezieher (einschließlich der Beschäftigten ohne Angabe zur Arbeitszeit) hat sich dagegen nur wenig verändert und nur geringfügig um 5.000 auf 582.000 zugenommen.«

Wie kommt es aber nun zu dieser nicht geringen Verschiebung der beschäftigten Arbeitslosengeld II-Bezieher von Vollzeit- auf Teilzeitbeschäftigung? Wurde hier seitens der BA in der Vergangenheit (oder aber jetzt) „getrickst“? Einige Medien verbreiteten zumindest einen solchen Eindruck, so beispielsweise der Artikel „Bundesagentur verrechnet sich bei Niedriglöhnern“ auf Welt Online mit der Ergänzung: „Heikle Statistikpanne“. Und in die gleiche Richtung, dabei aber weitaus subtiler die Stoßrichtung in dem Kommentar „Revisionsbedarf“ von Dietrich Creutzburg, in dem es im Untertitel heißt: »Der große Statistik-Skandal der alten Bundesanstalt für Arbeit liegt zwölf Jahre zurück. Nun stellt sich heraus, dass die Zahl der Niedriglöhner im Hartz-IV-System statistisch überzeichnet war. Es wäre auch eine politische Parallele wünschenswert.« Damit wird für den eiligen Leser eine klare Assoziation aufgebaut. Subtil ist das, weil der Autor dann selbst schreibt: »Der aktuelle Vorgang ist anders gelagert als der große Statistikskandal der alten Bundesanstalt für Arbeit im Jahr 2002 – und doch …«.

Erstens ist die nun vorgenommene Revision der Daten nicht wirklich eine „Schuld“ der BA, sondern hier zeigt sich erneut, dass wohl sehr viele Journalisten schlichtweg keine Ahnung haben, wie schwierig und mit welchen Fehlerquellen behaftet statistische Datenerhebung in praxi ist, auch bei gutem Willen.

Inhaltlich aber wesentlich relevanter: Unabhängig von der Tatsache, dass man nun wirklich kein Interesse bei der BA erkennen kann, die Zahl der Vollzeitbeschäftigten, die gleichzeitig ergänzend Hartz IV-Leistungen beziehen, höher auszuweisen als sie tatsächlich ist: Die Ursache ist viel banaler und wir landen wieder beim ersten Punkt, der eben nicht trivialen Frage, wie die Daten gemeldet werden: Die Verschiebung »dürfte zum weitaus größten Teil eine Auswirkung der Umstellung auf das neue Meldeverfahren zur Sozialversicherung sein. Die Umstellung hat dazu geführt, dass Angaben zu Arbeitszeit bei kontinuierlich Beschäftigten überprüft und korrigiert wurden (Aktualisierungseffekt) und bei neuen Beschäftigten die Arbeitszeit besser er- fasst wird als in der Vergangenheit (Sensibilisierungseffekt)«, so die Erläuterung der BA in ihren Hintergrundinformationen.
Zusammenfassung: Mit der Umstellung des Meldeverfahrens waren Arbeitgeber gezwungen, die Angaben zur Arbeitszeit ihrer Beschäftigten in ihren Lohnabrechnungsprogrammen anzupassen. Daraus hat sich offenbar ein massiver Aktualisierungseffekt durch Korrekturen der Arbeitszeit bei Bestandsfällen ergeben.

Jetzt kommen wir aber inhaltlich zu dem entscheidenden Punkt: In der zitierten Berichterstattung wird ja argumentiert, dass ein angeblich zentrales Argument der Mindestlohnbefürworter weggebrochen sei, weil die Zahl der Niedriglöhner deutlich niedriger ausfällt – was natürlich nicht stimmt, denn korrigiert wurden die absoluten und relativen Zahlen bei den aufstockenden Hartz-IV-Empfängern, also weniger aufstockende Vollzeitarbeitskräfte und entsprechend mehr teilzeitarbeitende Menschen. Da fehlt doch aber was:

  • Gezählt werden hier wie gesagt die tatsächlichen „Aufstocker“ im Grundsicherungssystem. Aber zwangsläufig nicht berücksichtigt werden diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer einen Anspruch haben auf aufstockende Leistungen, diese aber aus welchen Gründen auch immer nicht in Anspruch nehmen. Und dabei handelt es sich nicht um eine kleine Gruppe. Nach Simulationsrechnungen des IAB wurde im vergangenen Jahr bekannt, dass zwischen 3,1 bis 4,9 Millionen Menschen, die eigentlich Anspruch auf Leistungen nach SGB II haben, diese Leistungen nicht abrufen. Das sind zwischen 34 bis 44% aller Leistungsberechtigten. Die Studie des IAB kann hier eingesehen werden: Bruckmeier, K. et al.: Simulationsrechnungen zum Ausmaß der Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen der Grundsicherung (= IAB Forschungsbericht 5/2013), Nürnberg. Wir sprechen hier über die „verdeckte Armut“.
  • Ein weiterer Punkt: Gerade bei den Vollzeiterwerbstätigen, die teilweise mit relativ geringen Beträgen aufstocken, kann es durch Änderungen in nebengelagerten Bereichen, beispielsweise beim Wohngeld oder dem Kinderzuschlag zu einem formalen Rückgang der Aufstocker-Zahlen kommen, nur werden die Leistungen jetzt aus anderen Töpfen gezahlt.
  • Und zum Mindestlohn: Johannes Steffen hat berechnet, wie hoch der Stundenlohn sein müsste, damit kein aufstockender Leistungsanspruch mehr besteht im SGB II-System: »Auf Basis dieser Annahmen lässt sich die Höhe des Mindestlohns bestimmen, der bei typisierender Betrachtung einen Anspruch auf aufstockende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II oder »Hartz IV«) ausschließt. Nach gegenwärtigem Stand wäre dies ein Brutto-Stundenlohn in Höhe von 7,95 Euro oder monatlich 1.298 Euro. Nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben verbleiben netto 977,50 Euro, wovon als sogenannter Erwerbstätigenfreibetrag insgesamt 300 Euro von der Anrechnung auf die Grundsicherung freigestellt sind. Das ergibt ein anrechenbares Einkommen von 677,50 Euro, so dass rechnerisch kein Anspruch mehr auf aufstockende SGB-II-Leistungen besteht« (Quelle: Steffen, J.: Ein Mindestlohn für Arbeit und Rente. Erforderliche Höhe eines existenzsichernden Mindestlohns, Bremen, 10.04.2013). Aber: Diese 7,95 Euro reichen wiederum bei der Rentenversicherung bei weitem nicht aus, um eine gesetzliche Rente erwirtschaften zu können, die über dem Grundsicherungssatz liegt. Da bewegen wir uns bei Stundenlöhnen von 11,31 Euro ansteigend. Berücksichtigt man diese Punkte, dann kann ich nicht erkennen, warum ein zentrales Argument der Mindestlohnbefürworter weggebrochen sein soll.
  • Schlussendlich wieder zurück in die Untiefen der Statistik bzw. der Datenqualität: Auf der Seite 10 der Erläuterungen der BA findet man den folgenden aufschlussreichen Passus: »Weiterhin erklärungsbedürftig bleibt die Frage, wie es bei Vollzeitbeschäftigten zu Bruttoer- werbseinkommen von weniger als 600 Euro kommen kann. Ein solcher Betrag kann im Fall einer 40-Stundenwoche nur bei einem Stundenlohn von 3,50 Euro realisiert werden. Hier können nur Vermutungen über die möglichen Gründe angestellt werden, statistische Belege liegen nicht vor … Gleichwohl werden auch im Juni 2013 noch knapp 30.000 vollzeitbeschäftigte Arbeitslosengeld II-Bezieher mit einem Bruttoerwerbseinkommen von weniger als 600 Euro ausgewiesen.« Ds wäre doch auch eine Schlagzeile wert gewesen – oder?

Und eine letzte Anmerkung zu den „Aufstockern“ und Mindestlöhnen: Auch bei einem Mindestlohn von 9 oder 10 Euro wird es Aufstocker geben – bei der Hauptgruppe der nur teilzeitarbeitenden Menschen und bei denen, die alleine eine Familie ernähren müssen. Aufgrund der Defizite beim Familienlastenausgleich. So lange die bestehen.

Fazit: Man sollte schon immer den Kontext berücksichtigen und keine voreiligen Schlüsse hinausposaunen. Ansonsten muss man „Revisionsbedarf“ bei der Forderung nach einem Mindestlohn als das bezeichnen, was es wohl ist: Billige Propaganda.

Und noch eins: Selbst wenn es so wäre, dass die Zahl der von Hungerlöhnen betroffenen Menschen eingedampft wäre (was wie gezeigt nicht der Fall ist): Gerade dann müsste doch die Forderung nach einem moderaten Mindestlohn seinen Schrecken verloren haben, denn offensichtlich zahlen dann doch die Unternehmen schon viel besser. Warum also dann dieser Widerstand? Logisch wäre das nicht. Aber Logik und Ideologie waren noch nie eng befreundet.

Wenn die Kraft der Zahlen die Rumänen und Bulgaren trifft, nicht aber die Polen. Und auch nicht die vielen anderen. Also die Deutschen. Und was übrig bleibt, wenn man genauer hinschaut

Zahlen in der sozialpolitischen Diskussion sind wichtig und haben ihre Bedeutung. Und immer wieder kann es erhellend sein, die Herkunft eines Wortes nachzuvollziehen. „Bedeutung“ hat ihre Quelle im mittelhochdeutschen „bediutunge“ = Auslegung. Man muss die Zahlen immer auch auslegen (können respektive wollen). Illustrieren lässt sich das gleichsam lehrbuchhaft an der aktuellen Debatte über die (angebliche) Zuwanderungswelle von Rumänen und Bulgaren in die deutschen Sozialsysteme. Seit dem denkwürdigen Spruch „Wer betrügt, der fliegt“ aus den bayerischen Landen gibt es in den Medien eine massive Gegenbewegung, mit der semantisch (durch die Etikettierung des Begriffs „Sozialtourismus“ als Unwort des Jahres 2013) wie auch mit ausdrücklichen Bezug auf die Datenlage versucht wird, den Apologeten eines Katastrophenszenarios Einhalt zu gebieten. Darunter sind nicht nur Vertreter, die überhaupt kein Problem sehen, sondern auch diejenigen einer differenzierten Position, die sehr wohl die lokalen Überforderungen anerkennen, die gesamtstaatliche Dimension aber nicht aus dem Auge verlieren bis hin zu denjenigen, die auf das grundsätzliche Dilemma aufgrund des enormen Wohlstandsgefälles innerhalb der EU und den daraus resultierenden (möglichen) Wanderungsmotiven hinweisen.

Und erneut werden wir Zeuge einer Indienstnahme der für viele Menschen immer noch sehr beeindruckenden Argumentation mit Hilfe von Zahlen, um das Augenmerk auf ein „Problem“ zu lenken oder dieses darüber zu konstruieren. So platzierte beispielsweise die FAZ vor wenigen Tagen diesen Artikel: „Hartz IV: Mehr Geld für selbständige Rumänen und Bulgaren“ und kurz darauf diesen hier: „Hartz IV: Rumänen und Bulgaren stocken häufig auf„.

Sven Astheimer berichtet in seinem Artikel „Mehr Geld für selbständige Rumänen und Bulgaren“ im ersten Absatz mit einem gut verpackten besorgten Unterton: »Die Zahl der selbstständigen Rumänen und Bulgaren, die ergänzend Hartz IV empfangen, hat sich binnen zwei Jahren verdoppelt. Doch die Bundesagentur für Arbeit sieht kaum Anzeichen für eine Armutszuwanderung.« Viele eilige Leser werden möglicherweise an der Überschrift und der ersten kompakten Aussage hängen geblieben und dann weitergezogen sein. Im Ohr ist das mit der Verdoppelung der Hartz IV-empfangenden Rumänen und Bulgaren. Wenn das kein Beleg ist für … ja, für was eigentlich? Welche „Bedeutung“ hat diese Information? Aber diese entscheidende Frage muss noch gar nicht aufgerufen und bearbeitet werden, schauen wir zuerst einmal auf die „nackten“ Zahlen, die uns in dem Artikel präsentiert werden:

»Die Zahl der Rumänen und Bulgaren, die hierzulande als Selbständige so wenig verdienen, dass sie ergänzend Arbeitslosengeld II (Hartz IV) beziehen, hat sich innerhalb von zwei Jahren mehr als verdoppelt. Gab es im Juni 2011 noch 861 Selbständige aus diesen beiden Ländern, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft bestreiten konnten, waren es im Sommer 2013 schon 2.037.«

Also quantitativ können wir den Angaben, die aus einer Sonderauswertung der Bundesagentur für Arbeit (BA) stammen, entnehmen: Innerhalb von zwei Jahren ist die Zahl von 861 auf „schon“ 2.037 angestiegen. Wahnsinn. Vor allem wenn man berücksichtigt, dass wir über 40 Millionen erwerbstätige Menschen haben und auch die Gruppe der Selbständigen im engeren Sinne (vgl. hierzu z.B. den Beitrag von Kritsch/Kritikos/Rusakova: Selbständigkeit in Deutschland: Der Trend zeigt seit langem nach oben, in: DIW Wochenbericht Nr. 4/2012) wesentlich umfangreicher daherkommt: So hat sich die »Zahl der Selbständigen zwischen dem Jahr 1991 und dem Jahr 2009 um 40 Prozent, von etwas über 3 Millionen auf gut 4,2 Millionen, erhöht.«

Also auch eine verdoppelte Zahl an Rumänen und Bulgaren, die deutsche Sozialleistungen in Form des aufstockenden Hartz IV“-Bezugs bekommen, ist mit 2.037 Personen im Ozean der Selbständigen insgesamt in Deutschland noch nicht einmal als embryonal zu kennzeichnen. Aber da wird jetzt ein Riesen-Heckmeck gemacht.

Interessant ist die folgende Formulierung von Sven Astheimer in seinem Artikel:

»Hintergrund der Missbrauchsdebatte ist, dass Rumänen und Bulgaren seit dem 1. Januar die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Europäischen Union genießen. Einen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben sie aber frühestens, nachdem sie schon einmal eine Arbeit in Deutschland ausgeübt haben. Eine Ausnahme gilt jedoch für Selbständige, die vom ersten Tag an Anspruch auf aufstockende Leistungen haben. Dazu reicht der Besitz eines Gewerbescheins. Laut Bundesagentur für Arbeit muss der Antragsteller lediglich seine Bedürftigkeit anzeigen. Eine inhaltliche Prüfung findet nicht mehr statt.«

Es geht jetzt keinesfalls um eine seminaristisch angelegte Textkritik, aber eingeleitet wird der Textabschnitt mit dem Hinweis auf eine „Missbrauchsdebatte“, beschrieben wird dann aber eine mögliche Folgeproblematik der deutschen Regelungslage, die eben den aufstockenden Bezug von Grundsicherungsleistungen zulässt, wenn das selbständige Einkommen unter dem Regelbedarf liegt. Das kann  man so machen, aber man ist keineswegs – um das hier in aller Deutlichkeit sagen – verpflichtet, die derzeit bestehende sehr weitreichende Regelung zu wählen. Natürlich könnte man bei der Prüfung der Voraussetzungen des Leistungsbezugs auch restriktivere Regelungen einbauen. Insofern könnte man an dieser Stelle wenn überhaupt von einem „Bürokratieversagen“ sprechen.

Aus dem diese Tage der Öffentlichkeit vorgestellten „Migrationsbericht 2012“ kann man entnehmen, dass beispielsweise im Jahr 2012 die größte Gruppe an Zuwanderern aus Polen stammt. Nur spricht jemand über diese Zuwanderer? Ist das beschriebene Verhalten – also bei selbständiger Tätigkeit aufstockende Leistungen in Anspruch zu nehmen – bei einem polnischen Fliesenleger ein geringeres Problem als bei einem rumänischen?

Wenn man von einem „Problem“ sprechen will, dann ist es ein Problem der Ausgestaltung der deutschen Regelungen im Grundsicherungssystem. Letztendlich wird das Opfer zum Täter gemacht: Die hierher kommenden Menschen aus Rumänien oder Bulgarien (oder einem anderen Land) haben (zumindest für eine gewisse Zeit) keinen Zugang zum Grundsicherungssystem, außer sie sind im Arbeitsmarkt „integriert“ beispielsweise durch eine selbständige Tätigkeit. Man könnte das, wenn man will, als ein „Schlupfloch“ bezeichnen, wohlgemerkt ein legales. Wenn dann die Menschen dieses Schlupfloch nutzen, dann wirft man ihnen „Missbrauch“ vor. Das folgt offensichtlich einer eigenen Logik.

Allerdings muss man klar sagen: Auch wenn man jetzt an der Regelungen im SGB II herumfummeln würde, um das restriktiver auszugestalten, dann kann man das natürlich nicht nur für Rumänen oder Bulgaren machen, für die anderen – also die Mehrzahl der Empfänger – aber nicht. Eine solche nach Nationalität oder gar Ethnien selektierende Sozialpolitik hat definitiv keinen Platz in unserer Gesellschaft und das ist auch gut so.

Fazit: Nachdem anfangs die „Hartz IV-Karte“ gegenüber den angeblich massenhaft wegen dieser Leistung einwandernden Rumänen und Bulgaren gespielt wurde, um Bedrohungs- und Futterneidängste in der einheimischen Bevölkerung zu wecken, mussten die Apologeten dieses Kurses feststellen, dass die allen zugänglichen Daten eben keine überdurchschnittliche Inanspruchnahme von Hartz IV bei den Zuwanderern aus den beiden genannten Ländern aufzeigen können und wollen. Also weicht man aus auf die „Aufstocker“-Thematik bei den Selbständigen, wohl wissend, dass das bis zum 1. Januar 2014 die einzige legale Möglichkeit war, die geforderte „Arbeitsmarkt-Integration“ nachzuweisen. Und dann diskutiert man über einen Anstieg auf 2.037 Fälle. Im Deutschland der Millionen. Es ist immer wieder gut, sich die Relation von Zahlen klar zu machen. Und ihre Bedeutung.

Von der Last der Geschenke, ganz lebenspraktischer Hilfestellung vor Ort in Oberbayern, dem Staat als Weihnachtsmann und dem armutsbedingten Smog über griechischen Städten

Viele Menschen hier in Deutschland haben die zurückliegenden Weihnachtstage mit ihren Familien gefeiert und sich im Wert von mehreren hundert Euro beschenkt. Es sei ihnen gegönnt. Zugleich werden viele – das gehört zum Fest irgendwie dazu – das erste und letzte Mal in diesem Jahr einen Gottesdienst besucht und ihre Rolle als Jahresendchristen erfüllt haben. Dabei werden sie – natürlich abhängig von den jeweiligen Pfarrern bzw. ggfs. Pfarrerinnen – entweder mit 0-8-15-Predigten in Gestalt des Wiederkäuens der weichgespülten Fassung der Weihnachtsgeschichte (inklusive eines mehr oder ehrlich gesagt meistens weniger professionell dargebrachten Laienkrippenspiels) oder aber mit Predigten konfrontiert worden sein, in denen der Blick auf die Armen und Ausgeschlossenen, auf die Außenstehenden im wahrsten Sinne der eigentlichen Geschichte gerichtet wurde. Vielleicht wurde dann auch an der einen oder anderen Stelle die in unserem Land eben nicht nur in Spurenelementen vorhandene real existierende Armut angesprochen. Man hätte das durchaus vertiefen können an den Problemen vieler einkommensarmer Menschen, die sich und vor allem den eigenen Kindern eben keine wirklich tollen Geschenke machen können – und viele Kinder werden sich schon fürchten vor dem „Geschenkevergleich“ in den Schulen am Beginn des neuen Jahres, der oftmals die gleiche (verletzende bzw. triumphierende) Qualität hat wie „mein Haus, mein Auto, mein …“, nur eben etwas kleiner. Von den aktuell rund 6,13 Millionen Hartz IV-Empfängern sind 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren. Für viele Eltern trifft sicher zu, was Miriam Bunjes und Pascal Becher in ihrem Artikel „Die Last der Geschenke“ zitieren: „Sie haben Angst vor Weihnachten“, sagt Dirk Neidull von der Wetzlarer Arbeitsloseninitiative. Vielleicht werden sie sogar noch konfrontiert mit Berichten darüber, dass auch Geschenke ab einem bestimmten Wert angerechnet werden müssen auf die vom Staat gewährte Grundsicherung.

In dem Artikel wird aber auch von einem „Widerstandsnest“ berichtet, wo man vor Ort Helfen ganz praktisch hat werden lassen:

»Das oberbayrische Burghausen hebt die staatliche „Stütze“ zu Weihnachten an. In der 18.000 Einwohner-Kommune an der Grenze zu Österreich gibt es für Empfänger von Sozialleistungen eine „Weihnachtsbeihilfe“ von bis zu 120 Euro. 2005 ließ der SPD-Bürgermeister erstmals im Stadtrat über sie abstimmen – bis heute kommt sie immer durch.
„Weihnachten sollte in Deutschland zum Leben dazu gehören“, erklärt Elisabeth Rummert vom Burghausener Sozialamt. „Dass das von dem vorgesehenen Einkommen nicht geht, ist doch jedem bewusst.“ Burghausen habe als wirtschaftlich erfolgreiche Kommune viele Gewerbesteuereinnahmen. „Solange das so ist, helfen wir an Weihnachten nach“, sagt Rummert.«

In anderen Regionen sieht es hingegen ganz anders aus, beispielsweise im Saarland: »… 120 Euro Weihnachtsgeld würden für den Landkreis Homburg allein fast eine Viertel Millionen Euro zusätzliche Ausgaben bedeuten, sagt Landrat Lindemann: „Das schaffen wir nicht.“ Der Kreis unterstütze aber zumindest die Sozialkaufhäuser in der Region.«

Nun wird jeder halbwegs aufgeklärte Mensch daran zweifeln, ob es wirklich sein kann und darf, dass die Frage eines kleinen Zuschusses zum Weihnachtsfest davon abhängt, ob man im (reichen) Oberbayern oder im (armen) Saarland lebt bzw. leben muss, wobei, das sei hier besonders herausgestellt, ja auch in den „reicheren“ Gegenden keineswegs flächendeckend, sondern eher als Ausnahme versucht wird, Teilhabe auch zu Weihnachten wenigstens etwas wirklich werden zu lassen.

Man könnte dann den Blick über den nationalen Tellerrand werfen, z.B. zu unseren französischen Nachbarn, denn dort übernimmt der Staat durchaus partiell die Aufgabe eines Weihnachtsmanns im praktischen, hier also monetären Sinne:
»Rund 2,2 Millionen Franzosen erhalten dieser Tage eine „Weihnachtsprämie“. Sie beträgt 152,45 Euro für eine alleinstehende Person oder 381,13 Euro für eine fünfköpfige Familie. Nutznießer sind unter anderem ausgesteuerte Arbeitslose, mittellose Pensionisten und oft auch alleinerziehende Mütter mit niedrigem Einkommen«, können wir dem Artikel „Wenn der Staat Weihnachtsmann spielen muss“ von Stefan Brändle aus Paris entnehmen. Übrigens: Eingeführt hatte diese „prime de Noël“ der sozialistische Premier Lionel Jospin 1998 auf Druck der Arbeitslosenverbände.

Bei uns in Deutschland bleibt es dann zumeist bei kleinen Gesten der Wohlfahrtsverbände und Kirchen, die ein paar Lücken vor Ort zu stopfen versuchen – und ansonsten regiert die harte Hand der „staatsprotestantischen Ethik“, ob bewusst oder unbewusst, auf alle Fälle faktisch.

Und diese harte Hand und das damit verbundene (vor- oder nachgängige Denken) beherrscht dann auch den offiziellen Umgang mit den so genannten „Krisenstaaten“ in der Euro-Zone, allen voran „den“ Griechen, die sich jetzt – nachdem sie angeblich in Saus und Braus gelebt haben – die Gürtel aber mal so richtig enger ziehen müssen.

Was das bedeutet, beispielsweise für die griechischen Normalbürger, können sich – das sei hier gar nicht als Vorwurf formuliert – die deutschen Normalbürger sicher nicht vorstellen. Oder wie soll man so eine Information verarbeiten können? »Seit 2009 sind nach Schätzungen der Gewerkschaftsverbände (GSEE-ADEDY) die Einkommen in Griechenland durchschnittlich um fast 40 Prozent gefallen.« Diese Information und mehr konnte man bereits am 24. Dezember dem Artikel „Notwinter in Athen“ von Arnold Schölzel entnehmen, der in der linken Tageszeitung „junge Welt“ erschienen ist und der sich vor allem genau so mit einem Phänomen auseinandersetzt wie der am gleichen Tag in der ebenfalls linken Tageszeitung „Neues Deutschland“ veröffentlichte Artikel „Der Geruch der Armut“ von Kurt Stenger: In griechischen Städten herrscht wegen der gestiegenen Nutzung von Holzöfen Smogalarm. Mittlerweile ist die Gesundheit vieler Menschen gefährdet.
Kurt Stenger berichtet: »Wer derzeit in einer griechischen Stadt unterwegs ist, kann die Armut förmlich riechen und sehen. Ein beißender Geruch nach verbranntem Holz liegt in der Luft. Und der Smog in Athen sowie anderen urbanen Zentren hat ein derart gefährliches Niveau erreicht, dass Gesundheitsminister Adonis Georgiades am Wochenende an Ältere und Asthmatiker appellierte, ihre physischen Aktivitäten zu begrenzen bzw. ihre Inhalatoren häufiger zu benutzen.«

Und die Gefahr für Leib und Leben durch die gewaltige Luftverschmutzung ist so gravierend, dass der Staat hier eine ganz eigene „Notbeihilfe“ kreiert hat, wie Arnold Schölzel berichtet: »Gibt es zu viel Staub, soll der Strom für Arbeitslose und notleidende Familien am betreffenden und dem darauffolgenden Tag kostenlos sein. Anspruch sollen alle Familien mit einem Jahreseinkommen von weniger als 12000 Euro haben. Mit jedem Kind steige diese Grenze um 3000 Euro, hieß es.«
Dadurch könnten Elektroheizungen genutzt werden – so sie denn vorhanden sind, womit wir dann beim nächsten Problem wären.

Aber warum kommt es zu dieser Entwicklung? Die Ursache ist in der „Antikrisenpolitik“ der griechischen Regierung zu finden, wie Stenger ausführt:

»Um Staatseinnahmen zu erhöhen, wurden in den letzten Jahren die Heizöl- und die Mehrwertsteuer mehrmals erhöht. Für einen Liter Heizöl müssen Griechen mittlerweile gut 1,30 Euro berappen – in Deutschland sind es rund 80 Cent. Da gleichzeitig die Einkommen vieler Haushalte in der Krise dramatisch gesunken sind, reicht das Geld nicht dafür, die Ölheizung in Betrieb zu halten. Sehr viele Griechen heizen derzeit – bei Temperaturen etwa wie in Deutschland – entweder gar nicht oder verbrennen Holz, das nicht selten illegal in den ohnehin kargen Wäldern des Landes geschlagen wurde. Meist handelt es sich um Brennstoffe minderer Qualität oder mit hohem Harzanteil. Und Feinstaub- oder Rußfilter sind in den häufig erst wieder instand gesetzten Uraltöfen oder Kaminen Fehlanzeige.«

Mittlerweile hat die Berichterstattung über die Verhältnisse in Griechenland das Ghetto der linken Presse verlassen. So berichtet am 27.12.2013 beispielsweise Spiegel Online über die Lage in Hellas: „Giftiger Smog überzieht griechische Großstädte“ – übrigens zutreffend in der Rubrik „Wirtschaft“. Auch hier wird auf die 2012 vorgenommene drastische Erhöhung der Heizölsteuer eingegangen – seitdem ist der Heizölverbrauch in Griechenland um rund 50 Prozent eingebrochen. Giorgos Christines weist in seinem Artikel aber auch darauf hin, »dass die griechischen Finanzbehörden das Steueraufkommen erhöhen müssen, um die Auflagen der internationalen Kreditgeber zu erfüllen – vertreten durch die sogenannte Troika aus Internationalem Währungsfonds, Europäischer Kommission und Europäischer Zentralbank.« Vor diesem Hintergrund wird dann auch der die Forderung nach einer Senkung der Heizölsteuer ablehnende zynisch daherkommende Kommentar des griechischen Finanzministers Yannis Stournaras „verständlich“, der mit den Worten zitiert wird: „Eine Senkung der Heizölsteuer würde im Extremfall ja auch denjenigen Griechen helfen, die ihre Schwimmbecken beheizen wollen“. Das wird den armen Schluckern jetzt wirklich einleuchten.

Warum das alles – neben der offensichtlichen sozialpolitischen Dimension – durchaus richtig der Kategorie Wirtschaft zugeordnet wird, verdeutlicht vor dem angesprochenen Hintergrund der Weigerung der griechischen Regierung, die Steuern auf Heizöl für die normalen Menschen zu senken, der folgende Tatbestand einer Steuerfreiheit für ganz andere, über den Stölzel in seinem Artikel berichtet: Unverändert bleibt nämlich der Artikel 107 der griechischen Verfassung: Er garantiert den Reedern des Landes Steuerfreiheit. 3.760 Schiffe gehören griechischen Reedern, davon fahren aber nur 862 unter griechischer Flagge – Gewinne aus „internationaler“ Schifffahrt sind steuerfrei. Wie praktisch. Nur so als historische Fußnote: Die Steuerbefreiung ist von den Putschisten von 1967 in die Verfassung geschrieben worden. Eine Erbe der Militärjunta.

Und nicht wirklich überraschend jetzt: »Ihr Geld legen die griechischen Clans in der Schweiz oder in deutschen und britischen Immobilien an.« Insofern treiben dann steuerbefreite Gewinne griechischer Reeder, die in Berliner Mietshäuser investiert werden, die dann über „Modernisierung“ so teuer werden, dass die bisherigen Bewohner raus müssen, den Verdrängungsprozess der einkommensschwachen Menschen in Deutschland voran und wir werden dann mit steigenden Unterkunftskosten“belastungen“ im deutschen Grundsicherungssystem konfrontiert, die „kostendämpfende“ Maßnahmen erforderlich machen.

Letztendlich hängen die Dinge viel stärker zusammen, als viele Menschen in Deutschland (noch) glauben, wenn sie an „die“ Griechen denken, die ja so weit weg erscheinen.