An sich ein guter Tag für viele Pflegebedürftige und ihre Angehörige. Mehr Leistungen und – diskussionsbedürftige – Weichenstellungen. Gleichzeitig twittert der #Pflegestreik mit sich selbst

Mit einem umfassenden Reformanspruch geht das Pflegestärkungsgesetz II einher, das vom Bundeskabinett am heutigen Mittwoch angeschoben wurde. Mehr Hilfe für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, so hat der Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe die Erläuterungen seines Ministeriums zur Pflegerform überschreiben lassen. Das Gesetz soll am 1. Januar 2016 in Kraft treten und es enthält auch den – gefühlt seit Jahrzehnten angekündigten – neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, der mit einem neuen Begutachtungsverfahren zum 1. Januar 2017 kommen soll. Bereits Anfang 2015 wurde mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz die Unterstützung für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen ausgeweitet und jetzt wird noch mal was nachgelegt. Und keiner soll behaupten, es gehe hier um Peanuts: Insbesondere Menschen mit Demenz und psychischen Störungen eine bessere Pflege erhalten. Sie haben künftig Anspruch auf die gleichen Leistungen wie Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Die bislang drei Pflegestufen werden durch fünf Pflegegrade ersetzt. Bis zu 500.000 Menschen können nach Angaben des Ministers mittelfristig durch die Reform zusätzliche Unterstützung erhalten. Auch die pflegenden Angehörigen werden bedacht: »Wer für die Pflege aus dem Beruf aussteigt, erhält künftig von den Pflegekassen dauerhaft Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Bislang werden Beiträge nur während der maximal sechsmonatigen gesetzlichen Pflegezeit übernommen. Auch werden betreuenden Angehörigen in Zukunft höhere Ansprüche an die gesetzliche Rentenkasse gutgeschrieben«, kann man dem Artikel Bundeskabinett beschließt grundlegende Pflegereform entnehmen.

»Finanziert wird die zweite Stufe der Reform mit einer erneuten Anhebung des Beitragssatzes um 0,2 Beitragssatzpunkte zum 1. Januar 2017. Bereits zu Beginn dieses Jahres war er mit Inkrafttreten des ersten Pflegestärkungsgesetzes um 0,3 Punkte gestiegen. Beide Erhöhungen bringen zusammen rund fünf Milliarden Euro für zusätzliche Leistungen«, kann man dem Artikel Demenzkranke haben Anspruch auf höhere Leistungen entnehmen.

Es gibt auch kritische Stimmen: Zum großen Wurf hat es wieder nicht gereicht, kommentiert Wolfgang Prosinger. Neben den unbestreitbar positiven Aspekten der neuen Pflegereform identifiziert er die folgenden Schwachstellen:

»Die Entlastungen für die Angehörigen sind jedenfalls entschieden zu gering ausgefallen. Und eine Aufstockung des Personals für die stationäre oder ambulante Pflege ist ganz und gar nicht in Sicht … Auch das unsinnige, weil irreführende Bewertungssystem von Pflegeheimen ist nicht abgeschafft worden, genauso wenig wie das nicht gerade humane System der Pflege im Minutentakt. Ebenso wenig hat sich das Gesundheitsministerium an die Aufwertung des Berufs der Altenpfleger herangetraut. Aufwertung hieße auch bessere Bezahlung. Der physische und psychische Einsatz von Pflegern und deren beschämende Entlohnung stehen noch immer in einem krassen Missverhältnis zueinander.«

Damit spricht Prosinger tatsächlich einige diskussionsbedürftige Punkte an.

Nehmen wir die von vielen begrüßte Ankündigung, das bisherige System der Pflegestufen zu ersetzen durch ein System der Pflegegrade Bisher haben wir vier Pflegestufen (also eigentlich drei plus der so genannten „Pflegestufe 0“ bei Feststellung einer erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz (insbesondere Demenz). Das soll durch fünf Pflegegrade abgelöst werden. Zum neuen System und seinen Unterschieden zum Status Quo erfährt man vom Ministerium: »In Zukunft werden körperliche, geistige und psychische Einschränkungen gleichermaßen erfasst und in die  Einstufung einbezogen. Mit der Begutachtung wird der Grad der Selbstständigkeit in sechs verschiedenen Bereichen gemessen und – mit unterschiedlicher Gewichtung – zu einer Gesamtbewertung zusammengeführt.« Vereinfacht gesagt: „Gleichbehandlung“ der Einschränkungen und damit weg von der bisherigen Engführung auf einen rein somatischen Pflegebedürftigkeitsbegriff und zweitens weg von der Defizit- und hin zur Ressourcenorientierung („Grad der Selbständigkeit“). Das hört sich erst einmal gut an. Aber es lohnt sich, hier einmal genauer und durchaus auch kritisch hinzuschauen. Das Versprechen des neuen Systems lautet ja, dass es jetzt darum geht, die (noch verbliebene) Selbständigkeit zu taxieren und daran die Hilfeleistung zu taxieren.

Letztendlich ist das aber auch nur die andere Seite dessen, was bislang als „defizitorientierter“ Ansatz kritisiert wurde, denn es gilt: Das Begutachtungssystem wird auch in Zukunft die zentrale Aufgabe haben, Bedarfe und aus deren Grad abgeleitet dann die entsprechenden Hilfevolumina zuzuteilen (oder eben auch zu begrenzen oder zu verweigern). Und was soll jetzt wirklich anders sein als vorher? Die Einschränkungen und ihre Intensität lösen eine entsprechende Einstufung und damit verbundene Mittel aus.

Nur wenige Beiträge in der Pflegedebatte greifen diese Punkte kritisch-ablehend auf. Ein Beispiel wäre der Artikel Warnung vor dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff aus dem Pflege-Selbsthilfeverband. Dort findet man die folgenden Hinweise:

»Im Ergebnis hat dieser Ansatz jedoch den Effekt, dass sich jene finanziell belohnt sehen, die Pflegebedürftigkeit verstärken, hingegen andere bestraft sehen, die sich erfolgreich um Aktivierung und Wiedererlangung der Selbstständigkeit bemühen. Nach wie vor wird Pflege, die den Bedürftigen bedürftiger werden lässt besser bezahlt als solche die seine Selbstständigkeit fördert. Wie das alte, so wirkt auch das neue Verfahren entgegen der eigentlichen Zielsetzung des Pflegeversicherungsgesetztes: Es fördert den Pflegebedarf und behindert Prävention, Aktivierung und Rehabilitation.«

Und auch bei einem anderen Hoffnungspunkt wird in dem Artikel Wasser in den Wein gegossen – bei der Hoffnung, dass mit dem neuen Pflegebedürfigkeitsbegriff endlich die zerstörerische „Minutenpflege“ abgeschafft wird. Für das „aber“ an dieser Stelle wird ein ausgewiesener Pflege-Experte zitiert:

»Heinz Rothgang von der Universität Bremen … spricht von jähen Enttäuschungen, die vorprogrammiert seien. „Der Wissenschaftler räumte mit weiteren Mythen rund um den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff auf. So führe dieser nicht, wie vielfach erhofft, zur Abschaffung der so genannten Minutenpflege.“«

Viele kritische Stimmen heute in den Medien haben darauf hingewiesen, dass eines der drängendsten Probleme im Bereich der Pflege nicht adressiert wird mit der Gesetzgebung – der Personalmangel und die Frage, ob und wie es gelingen kann, ausreichend Fachkräfte für die Pflege zu gewinnen. Nun könnte man an dieser Stelle sehr viel empirisch gesichertes Material anführen, das zu einer Bestätigung der Skepsis beitragen würde.

Aber man kann es auch anders machen und lediglich einen Satz zitieren, der dem Artikel Wirtschaft sucht Arbeitskräfte: Diese Branchen hoffen auf die Flüchtlinge entnommen ist. »Die deutsche Wirtschaft sieht in dem Zustrom von Flüchtlingen vor allem Chancen: Viele Unternehmen wollen gut qualifizierte Asylbewerber einstellen – etwa als Bäcker oder Stuckateure. Wenn die Politik sie lässt«, können wir dort lesen. Und welche Branchen sich besondere Hoffnungen machen. Aus allen Ecken werden positive Erwartungen laut. Und dann am Ende des Artikels dieser eine Satz:

»Nur in den Pflegeberufen sind die Arbeitsbedingungen nach Ansicht des zuständigen Verbandes so schlecht, dass sie auch für Flüchtlinge unattraktiv seien.«

Den sollte man sich ausschneiden, um das in den Worten einer tradierten Arbeitstechnik zu benennen. Mehr muss man gar nicht sagen oder schreiben.

Und die Pflegekräfte selbst? Die machen tagaus tagein ihren Job, sie arbeiten oftmals unter skandalös schlechten Bedingungen. Wenn sie denn aufbegehren, dann erfolgt das eher im Modus der „Privatisierung“, also als individuelle Reaktion, beispielsweise durch Flucht aus dem Arbeitsfeld Pflege, durch Bemühungen, durch Aufstieg den Bedingungen an der Pflegefront zu entkommen, bei nicht wenigen anderen durch Krankheit und innerer Kapitulation.

Und ein Teil der Pflegekräfte twittert sich den Frust über die real existierenden Arbeitsbedingungen aus der Seele. Schon seit längerem – und heute war wieder so ein Höhepunkt – wird unter dem Hashtag #Pflegestreik versucht, zum einen auf die Bedingungen aufmerksam zu machen, zum anderen aber auch immer wieder daran zu erinnern, was wäre, wenn die Pflege mal streiken würde. Und viele wollen genau das, sie fordern ihn ein, den Pflegestreik.

Dann aber auch wieder aggressiv-empörte Reaktionen auf die wahrgenommene Nicht-Reaktion des Themas in den Medien und der Politik. Man wird einfach nicht gehört. Durchaus naheliegend die Vermutung: man wird nicht für voll genommen. Denn bei allen Problemen aus Sicht der Betroffenen – der Laden läuft doch (noch). Keine Ausfälle, keine katastrophalen Zustände aufgrund eines für die Öffentlichkeit offensichtlichen Personalmangels und wenn der mal an die Oberfläche kommt, dann kann man das als Einzelprobleme kleinschreddern.

In dieser Gemengelage könnte man durchaus zur der logischen Schlussfolgerung kommen, dass es dann wohl wirklich an der Zeit ist, durch einen echten Arbeitskampf der Welt zu zeigen, welche katastrophalen Auswirkungen ein Streik des Pflegepersonals hätte. Und im Prinzip hätten die Pflegekräfte eine gewaltige Schlagkraft bei einem flächendeckenden Streik, denn innerhalb kürzester Zeit würde in unserer Gesellschaft in Millionen von Familien vieles zusammenbrechen.
Im Prinzip heißt aber eben auch – nicht unbedingt in der Realität. Denn die Pflegekräfte sind durchaus mit zahlreichen analogen Rahmenbedingungen konfrontiert wie die Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen oder den Jugendämtern oder den Jugendhilfeeinrichtungen, die erst vor kurzem erste Erfahrungen sammeln konnten mit einem unbefristeten Streikversuch. Und letztendlich gescheitert sind, wenn man das aktuelle Desaster um den von den Gewerkschaftsmitgliedern mit großer Mehrheit abgelehnten, von der Gewerkschaftsspitze vorher bei den Verhandlungen aber durchgewunkenen Schlichterspruchs betrachtet und der leider erwartbaren Reaktivierung in Form punktueller, tageweiser Streiks, die den Arbeitgebern noch weniger weh tun werden als die mehrwöchigen Streikaktionen vor der Schlichtung. Irgendwann wird man das abbrechen.

Und die Pflege hat nicht nur vergleichbare Strukturprobleme wie die Sozial- und Erziehungsdienste, bei ihr sehen die noch krasser aus. Denn es handelt sich eben nicht um „klassische“ Streikmaßnahmen gegen Unternehmen, die die Streikfolgen unmittelbar und sofort zu spüren bekommen in der eigenen Schatulle. Anders ausgedrückt: Sowohl für Kitas wie auch für Pflegeeinrichtungen gilt der Tatbestand, dass man mit den Streiks die Eltern/Kinder bzw. die Pflegebedürftigen und deren Angehörige primär treffen würde, obgleich die Arbeitgeber gemeint sind. Die hingegen sind in einer wesentlich besseren Situation als privatwirtschaftliche Unternehmen, weil sie nur dann wirklich unter Druck geraten würden, wenn die gar nicht gemeinten, tatsächlich aber getroffenen Dritten ihre Wut gegen sie richten würden und nicht gegen die Streikenden.

Damit das nicht missverstanden wird – wenn man sich in der gegebenen Machtkonfiguration bewegt, dann wäre ein aufrüttelnder Arbeitskampf in der Pflege längst überfällig. Die berühmte „Eine-Million-Euro-Frage“ lautet hingegen: Wie bekommt einen solchen organisiert? Und wie verhindert man ein Desaster wie im Bereich der Sozial- und Erziehungsdienste. Das sind keine trivialen Fragen, aber sie müssen a) gestellt und b) bearbeitet werden. Denn das zeigen leider auch die Erfahrungen des Streiks der Sozial- und Erziehungsdienste: Wenn man das machen will oder meint zu müssen, dann hat man eigentlich nur einen Schuss frei und gerade deshalb sollte man sich vorher auf einer realistischen Basis klar sein darüber, wie man wieder raus kommen kann, wenn man irgendwo reingeht. Beispielsweise in einen Arbeitskampf.

Zwischen „ausgelaugter Gewerkschaft“ und dem Nachtreten derjenigen, die das Streikrecht schleifen wollen

Derzeit läuft in der Öffentlichkeit die Debatte über die
Bewertung der Ergebnisse der Mitgliederbefragungen zum Schlichterspruch im
Streik des Sozial- und Erziehungsdienstes. Sowohl bei ver.di wie auch bei der
GEW wurde der mit fast 70% abgelehnt – und das sorgt jetzt für viel Diskussion.

Pascal Beucker kommentiert in der taz mit Blick auf den Ende
September anstehenden Bundeskongress der Gewerkschaft ver.di, wo Frank Bsirske
für eine fünfte Amtszeit als Gewerkschaftschef kandidiert, sehr kritisch unter
der Überschrift Ausgelaugte
Gewerkschaft
: »Die aktuelle Verdi-Führung gibt eine schlechte Figur ab –
konzeptionslos und müde. Ein Neuanfang ist jedoch nicht in Sicht.«

Und weiter: »Das Motto des kommenden Verdi-Bundeskongresses soll
Optimismus verbreiten: „Stärke. Vielfalt. Zukunft.“ Ein Fall von Autosuggestion
… Um es deutlicher zu formulieren: Verdi befindet sich in einer veritablen
Krise. Das Führungspersonal um den Dauervorsitzenden Frank Bsirske, der seit
der Gründung von Verdi 2001 an der Spitze steht, und seine beiden
StellvertreterInnen Andrea Kocsis und Frank Werneke wirkt konzeptionslos und
ausgelaugt. Doch hoffnungsvolle Nachwuchskräfte, die an ihre Stelle treten
könnten, sind nicht in Sicht. Alle drei müssen nicht mal mit einer
Gegenkandidatur rechnen.«


Beucker trifft einen zentralen wunden Punkt, wenn er über
die eigentliche Notwendigkeit personeller Konsequenzen schreibt:

»Dafür spricht die dramatisch schlechte Figur, die die
Verdi-Spitze zuletzt in gleich zwei zentralen Arbeitskämpfen abgegeben hat: im
Tarifkonflikt im Sozial- und Erziehungsdienst und in der Auseinandersetzung bei
der Post. Das Ergebnis war das gleiche. In beiden Fällen hat die Führung ihre
Mitglieder in den unbefristeten Streik geführt – und ist dann jeweils zum
völligen Unverständnis ihrer kämpferischeren Basis vor den Arbeitgebern
eingeknickt.«

Er weist zudem darauf hin, dass hinter vorgehaltener Hand
spekuliert wird, dass der Gewerkschaftsspitze die Streikkosten, die auf 100
Mio. Euro geschätzt werden für die beiden großen Streiks, also bei der
Deutschen Post und den Sozial- und Erziehungsdiensten, schlichtweg zu teuer
geworden sind. Immerhin hat die Gewerkschaft ver.di allein in diesem Jahr bis
Juli 2015 nach Angaben von Bsirske auf einer Pressekonferenz am 10.08.2015 insgesamt
1,5 Mio. Streiktage bewältigen müssen. Die Ausführungen von Bsirske auf dieser
Pressekonferenz (vgl. dazu einen Ausschnitt als Video von Phoenix) sind
sehr aufschlussreich, weite Teile muss man werten als Versuch einer
Verteidigung gegen die durchaus naheliegende Überlegung, ob er nicht die
politische Verantwortung übernehmen sollte und müsste angesichts der
katastrophalen Bilanz der letzten großen Arbeitskämpfe (vgl. in diese Richtung
auch meinen Beitrag Die
Gewerkschaftsspitze allein zu Haus? Das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum
Schlichtungsergebnis im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste und das
„Fliegenfänger“-Problem der Verdi-Führungsebene
vom 8. August 2015).
Das sei – so Bsirske heute  gegenüber der
Presse– „völlig absurd“ und im übrigen bewertet er den völlig überhasteten
Abbruch des Streiks bei der Post als „absoluten Erfolg“ (vgl. hierzu aber
meinen Beitrag Das
Ende des Post-Streiks: Ein „umfassendes Sicherungspaket“ (für die,
die drin sind) und ein verlorener Kampf gegen die Billig-Post
vom 6. Juli
2015 mit einer ganz anderen Einschätzung). Man kann nur hoffen, dass sich die
Gewerkschaftsbasis gegen einen möglicherweise jetzt von oben verordneten Zustand
der organisationspolitischen Friedhofsruhe wehren wird.
Ganz anders hingegen muss diese Kommentierung gelesen werden
– und sie sollte aufmerksam gelesen werden von allen, die sich mit
gewerkschaftlichen Rechten, zu denen natürlich das Streikrecht gehört,
beschäftigen: Unter der sympathieheischenden Überschrift Verlierer
sind die Kinder
versucht Rainer Blasius in der FAZ zum einen, vor einer
Wiederaufnahme der Arbeitskampfmaßnahmen zu warnen (»Das alles wird auf dem
Rücken der Kinder ausgetragen, für die das Kita-Personal fürsorglich da sein
will«). Am Ende kommt er dann aber zum eigentlichen Anliegen – und man muss sich seine Formulierung in aller Ruhe zu Gemüte führen:

»Das unbotmäßige Verhalten der Gewerkschaften zeigt darüber
hinaus, dass das Streikrecht für öffentlich Tarifbeschäftigte neu geregelt
werden muss. Im Bereich der Daseinsvorsorge, zu dem Kitas zählen, müssen
Arbeitskämpfe eingeschränkt werden, damit das Wohl der Kleinsten besser
geschützt wird.«

Hier wird etwas offensiv vorangetrieben, was sich seit der
Debatte über den Lokführerstreik der GDL sowie den Arbeitskampfaktionen der
Pilotengewerkschaft Cockpit bei der Lufthansa immer stärker im politischen Raum
konturiert (vgl. dazu den Beitrag Bayern
legt nach. Das Streikrecht auf der Rutschbahn nach unten. Erst das
Tarifeinheitsgesetz und jetzt die Forderung nach „obligatorischen
Schlichtungsverfahren“ in der „Daseinsvorsorge“
vom 10. Juli
2015).
Wie es im Fall der Sozial- und Erziehungsdienste – es sei an
dieser Stelle erneut darauf hingewiesen, dass es sich nicht nur um einen
Aufwertungsstreik der Kita-Beschäftigten handelt, sondern auch die Fachkräfte
beispielsweise in der Jugend- und Behindertenhilfe betroffen sind, die bei der
Schlichtung übrigens völlig leer ausgegangen sind – nun weitergehen wird, kann
man naturgemäß zum jetzigen Zeitpunkt nur spekulieren. Verdi-Chef Bsirske hat
bereits „unkonventionelle Streikmaßnahmen“ in Aussicht gestellt, wenn die nun
folgenden Verhandlungen mit den kommunalen Arbeitgebern keine Verbesserung des
Schlichtungsergebnisses bringen sollten, was ja mehr als plausibel ist, denn
warum sollten sich die Arbeitgeber in irgendeiner Form bewegen? Die
Formulierung „unkonventionell“ kann darauf hindeuten, dass es keine
unbefristeten Streiks mehr geben wird in einzelnen Einrichtungen, sondern eher
tageweise Arbeitskampfmaßnahmen stattfinden werden. Vgl. dazu auch das Interview des Deutschlandunks mit Gabriele Schmidt, Landesvorsitzende von Verdi in Nordrhein-Westfalen: „Wir werden zu neuen Streikformen greifen“, wo man allerdings keine substanziellen Hinweise findet, was das denn sein kann – „unkonventionelle Streikformen“. Sie diagnostiziert nur, dass man bislang nicht wirklich hat durchdringen können:

»Wir haben jetzt am Wochenende beraten, dass wir mit der Streikstrategie, mit der wir angefangen haben, so nicht weiterkommen. Wir haben den Streik ja begonnen, haben dauerhaft aufgerufen. Das hat zum Ergebnis geführt, dass wir so keinen zufriedenstellenden Tarifkompromiss erreichen konnten.
Wir haben 2009 mit einer tageweisen Streikstrategie auch sehr lange gestreikt und haben festgestellt, das ist nicht die glücklichste Streikvariante, und wir haben am Wochenende diskutiert, dass wir andere Streikvarianten brauchen.«

Allerdings muss man sehen, dass die Rahmenbedingungen für
neue Arbeitskampfmaßnahmen nicht besser geworden sind – eher ist vom Gegenteil auszugehen.
Dass die anfängliche Sympathiewelle in den Medien und bei vielen Bürgern bei
einer zweiten Welle niedriger ausfallen wird, das muss man annehmen. Aber hinzu
kommen die weiterhin ungelösten strukturellen Dilemmata, mit denen der
berechtigte Aufwertungskampf der Sozial- und Erziehungsdienste konfrontiert
ist:
  • Zum einen handelt es sich um einen „arbeitgeberfreundlichen“
    Arbeitskampf, denn anders als ein Streik bei einem Automobilhersteller oder
    einem anderen „normalen“ Unternehmen werden die kommunalen Arbeitgeber nicht
    direkt getroffen, sondern primär die Eltern (und ihre Kinder). Der ansonsten
    mit einem Streik verbundene massive ökonomische Druck auf den Arbeitgeber ist
    somit ausgeschaltet bzw. wenn überhaupt, dann nur indirekt erfahrbar, wenn die
    primär Betroffenen den Druck auf die kommunal Verantwortlichen richten würden,
    nicht aber auf die Streikenden selbst, was aber bereits am Ende der
    Streikaktionen vor der Schlichtung zu erleben war.
  • Zum anderen werden sich die kommunalen Arbeitgeber aus zwei
    für sie durchaus substanziellen und in deren Binnenraum auch nachvollziehbaren
    Gründen nicht bewegen in Richtung auf größere, spürbare Verbesserungen im
    Vergleich zu dem, was der Schlichterspruch enthält. Zum einen muss hier das
    strukturelle Grundproblem der Fehlfinanzierung der Kita-Systeme in den
    Bundesländern angesprochen werden, also die Tatsache, dass der größten
    Kostenblock auf die Kommunen entfällt, während der Bund viel zu wenig an der
    Regelfinanzierung beteiligt ist. Solange das „föderale Finanzierungsdilemma“
    nicht aufgelöst wird in Richtung auf eine deutlich stärkerer anteilige
    Bundesfinanzierung an den laufenden Kosten der Kitas, die im Wesentlichen
    Personalkosten sind, wird sich an der Blockadehaltung der Kommunen, von denen
    sich viele in einer überaus prekären Haushaltslage befinden, nichts ändern
    (können). Zum anderen leisten die kommunalen Arbeitgeber auch deshalb so einen
    Widerstand gegen eine strukturelle Aufwertung der Sozial- und Erziehungsdienste
    im Tarifgefüge (denn darum geht es ja, nicht um eine „normale“ Tarifsteigerungsrunde),
    weil ein wirkliches Entgegenkommen hier zu schweren Verwerfungen im gesamten
    Tarifgefüge führen würde mit der plausiblen Folge, dass dann auch andere
    Berufsgruppen im öffentlichen Dienst eine entsprechende Anpassung einfordern
    werden.

Außerdem ist eine weitere Besonderheit zu berücksichtigen,
die pessimistisch stimmt: Die Streikaktionen können sich nur auf den Bereich
der kommunalen Kitas beziehen, allerdings sind fast zwei Drittel der
Kita-Plätze in Hand der „freien Träger“, wobei die beiden Kirchen die größten
Player darstellen. Und die dort beschäftigten Fachkräfte dürfen – auch wenn sie
es wollten – gar nicht streiken.

Fazit: Auch wenn man die Aufwertungsforderung absolut
unterstützt und eine entsprechende Bewegung nach oben nur wünschen mag, in der
Gesamtschau sieht die Lage überaus schwierig aus und die
Erfolgswahrscheinlichkeit geht eher gegen Null. Allerdings war das auch schon
Anfang des Jahres vor Beginn der unbefristeten Streikaktionen die bekannte
Ausgangslage und man muss zu dem Ergebnis kommen, dass die Führungsebene der
Gewerkschaft strategisch eine kapitale Fehleinschätzung an den Tag gelegt hat.
Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt,
lautet eine der fundamentalen Weisheiten im Militärgewerbe, die sich aber auch
auf Arbeitskämpfe übertragen lässt. Man kann nur hoffen, dass die
Gewerkschaften die Erfahrungen aus diesem Jahr gründlich reflektieren und
letztendlich sollte man auch deutliche Konsequenzen ziehen, allein schon
deshalb, weil ansonsten innerhalb der Gewerkschaften erhebliche Frustrations-
und Rückzugseffekte eintreten könnten und werden.

Zugleich sollte man denjenigen, die diese objektiv nur als
Niederlage zu bezeichnende Entwicklung nutzen wollen, um darauf aufbauend ihre
eigentlichen Ziele, also eine Einschränkung des Streikrechts im Bereich der
öffentlichen Dienstleistungen voranzutreiben (was man auch sehen muss im
Kontext mit der faktischen Einschränkung des Streikrechts für Berufs- und Spartengewerkschaften
im Gefolge des „Tarifeinheitsgesetzes“), die rote Karte zeigen. Im Interesse
aller Gewerkschaften.

Die Gewerkschaftsspitze allein zu Haus? Das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum Schlichtungsergebnis im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste und das „Fliegenfänger“-Problem der Verdi-Führungsebene

War da nicht noch was? Genau, die Schlichtung im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste, in der Öffentlichkeit oftmals fälschlicherweise verkürzt auf „Kita-Streik“, aber es haben nicht nur die Fachkräfte der Kindertageseinrichtungen di Arbeit niedergelegt, sondern auch die Sozialarbeiter beispielsweise in der Jugend- oder Behindertenhilfe, die aber in der öffentlichen Berichterstattung so gut wie gar nicht vorgekommen sind.

Heute findet in Fulda die vierte bundesweite Streikdelegiertenkonferenz der Gewerkschaft ver.di statt und dort wird der Verdi-Chef Frank Bsirske das Ergebnis der seit Wochen laufenden Mitgliederbefragung über eine Annahme oder Ablehnung des Schlichterspruchs vorstellen und mit den Delegierten sicherlich sehr kontrovers diskutieren. Vgl. dazu auch den Artikel Die nächste Runde droht. Alfons Frese schreibt darin: »Die Verdi-Mitglieder haben über den Schlichterspruch im Kita-Streit abgestimmt. Jetzt wird wieder verhandelt – und womöglich gestreikt. Verdi-Chef Bsirske sitzt in der Klemme.«

„In der Klemme“ ist noch nett ausgedrückt. Nicht nur der Streik der Sozial- und Erziehungsdienste – als unbefristeter Arbeitskampf begonnen, nicht um ein paar Prozente im bestehenden Tarifsystem, sondern mit dem Ziel einer strukturellen Aufwertung der Fachkräfte im Tarifgefüge durch eine deutliche Höhergruppierung – ist krachend gescheitert, wenn man den Schlichterspruch, der bei langer Laufzeit nur kosmetische Anhebungen vorsieht und die Sozialarbeiter sogar leer ausgehen lässt, annehmen würde bzw. wird, denn die Führungsspitze von ver.di plädiert genau dafür (vgl. dazu meinen Beitrag Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt. Das Schlichtungsergebnis im Tarifstreit der Sozial- und Erziehungsdienste – ein echtes Dilemma für die Gewerkschaften vom 24. Juni 2015).

Es muss an dieser Stelle leider auch noch auf die zweite ebenfalls krachende Niederlage in einem aktuellen Arbeitskampf hingewiesen werden, gemeint ist der Streik bei der Deutschen Post DHL, wo man das eigentliche Ziel, eine Verhinderung bzw. wenigstens eine Abschwächung der Auslagerung der Zustellung in Billigtöchter des eigenen Unternehmens (DHL Delivery), nicht ansatzweise erreicht hat und mit einem mager daherkommenden Ergebnis den ebenfalls unbefristet begonnenen Streik abgebrochen hat nach einem Verhandlungstreffen mit dem Konzern in Bad Neuenahr-Ahrweiler (vgl. dazu meinen kritischen Beitrag Das Ende des Post-Streiks: Ein „umfassendes Sicherungspaket“ (für die, die drin sind) und ein verlorener Kampf gegen die Billig-Post vom 6. Juli 2015).

Was steht heute also an in Fulda auf der Streikdelegiertenversammlung?
»Kommt der Ende Juni nach zähen Verhandlungen, Streiks und einer Schlichtung erreichte Tarifkompromiss zum Tragen, oder geht das ganze Theater von vorne los, weil die Erzieherinnen und Sozialarbeiter das Ergebnis ablehnen?«, so Alfons Frese in seinem Artikel.
Und weiter:

»Wenn die Mehrheit zugestimmt hat, ist alles gut. Wenn nicht, hat Bsirske ein Problem. „Dann hängen wir am Fliegenfänger“, heißt es im Umfeld des Verdi-Vorsitzenden.«

Ein leider schönes Bild, bringt es doch das ganze Dilemma auf den Punkt. Die Gewerkschaft hat sich mit der Zustimmung ihrer Unterhändler zu dem Schlichtungsspruch in eine letztendlich unauflösbare Situation manövriert, sollte die Basis diesem Votum nicht folgen, denn warum sollten die kommunalen Arbeitgeber das Fass neu aufmachen, haben sie doch bereits die – natürlich nur unter „größten Bauchschmerzen“ erfolgte – Annahme des Schlichterspruchs verkündet, zugleich aber darauf hingewiesen, dass mehr nicht drin ist (zugleich steht der Verhandlungsführer der Arbeitgeber tatsächlich vor einer Ablehnungsfront vor allem der ostdeutschen Kommunen, die seinen Bewegungsspielraum gegen Null verengen).

Wenn die Verdi-Mitglieder aber dem Votum der Gewerkschaftsspitze, die offensichtlich die Panik ergriffen hat, nicht folgen, müsste man konsequenterweise eigentlich die abgekühlten Arbeitskampfmaßnahmen nach den Sommerferien wieder aufnehmen.
Die unrühmliche Rolle des Verdi-Vorsitzenden Bsirske verdeutlicht auch dieses Zitat aus dem Artikel von Frese:

„Wir müssen abwägen, ob wir es uns zutrauen können, durch weitere Streikwochen substanziell mehr zu erreichen.“ In dem Fall müsste man aber „gegen die Schlichtungsempfehlung und erhebliche Teile der Öffentlichkeit anstreiken“, warnte der Verdi-Chef seine Basis.

Wer hat denn seine Leute – auch für der Sache gewogene Leute überstürzt daherkommend – in einen unbefristeten Arbeitskampf geschickt mit der Maßgabe, nur so lasse sich die angestrebte substanzielle Aufwertung der Berufe erreichen? Der heilige Geist oder die Führungsebene der Gewerkschaft? Wobei man an dieser Stelle der Vollständigkeit halber anmerken muss, dass es neben Verdi auch noch die GEW gibt, die ebenfalls gestreikt hat – und die offensichtliche Nicht-Synchronisation des gewerkschaftlichen Vorgehens wäre ein eigenes Thema.

Wenn man in einen unbefristeten Streik geht, dann muss man doch eine klare Vorstellung haben, wie und vor allem womit mindestens man da wieder rauskommen will. Es handelt sich um die schärfste Waffe der Gewerkschaften im Arbeitskampf und man sollte diese auch so nur verwenden. Die gleiche offensichtliche Nicht-Strategie bei der Post und das gleiche fatale Ergebnis – eine Niederlage.
Wie auch immer die Sache heute ausgeht – unabhängig davon sind die Auswirkungen für die gewerkschaftliche Sache desaströs. Wenn man – wie es die Spitze der Organisation will – dem Schlichterspruch zustimmt, dann werden sich viele Aktive enttäuscht abwenden und sicher werden auch viele, die während des Streiks eingetreten sind, die Gewerkschaft wieder verlassen. Auf der anderen Seite wird eine Wiederaufnahme des Arbeitskampfes tatsächlich sehr schwierig bis unmöglich sein, nachdem man die Bewegung, die sich vor Ort im Streik entfaltet hat, abrupt ab- bzw. ausgebremst hat durch die mehrwöchige Abkühlphase über die Mitgliederbefragung, die natürlich auch deshalb so lange angelegt war, um die Leute am Ende dann doch wieder auf Linie zu bekommen.

Was folgt daraus? Zum einen sicherlich die Notwendigkeit einer gewerkschaftsinternen offenen und kritischen Analyse der offensichtlichen Fehler in den vergangenen Monaten. Zum anderen – auch wenn das jetzt sicher manche nicht gerne hören möchten – sollte sich jede echte politische Führungskraft immer fragen, wann es an der Zeit ist, Verantwortung für schlechte Ergebnisse und Niederlagen zu übernehmen. Allerdings beabsichtigt Frank Bisirske, auf dem demnächst anstehenden Gewerkschaftstag von Verdi erneut als Vorsitzender zu kandidieren und sich wählen zu lassen für eine weitere Amtszeit. Unabhängig von der hier nur am Rande angemerkten Tatsache, dass er dann das Renteneintrittsalter, für das Verdi ansonsten so vehement kämpft, überschreiten wird bei einer Wiederwahl – man muss schon die Frage stellen, warum nicht wenigstens einmal in Betracht gezogen wird, dass es nach zwei derart schlechten Ergebnissen von Arbeitskämpfen gute Gründe geben könnte, den Vorsitzenden dahin zu schicken, wohin viele Arbeitnehmer gerne möchten: in den Ruhestand.

Nachtrag: Mittlerweile sind die Abstimmungsergebnisse der befragten Mitglieder der beiden Gewerkschaften veröffentlicht worden: Ver.di-Basis lehnt Schlichterspruch ab: »Insgesamt lehnten 69,13 Prozent der Ver.di-Mitglieder im Sozial- und Erziehungsdienst den Schlichterspruch ab« und von der GEW wird gemeldet: Mitgliederbefragung abgeschlossen: Enttäuschung, Wut und Realismus: »31,2 Prozent der befragten GEW-Mitglieder wollen den Schlichterspruch annehmen, 68,8 Prozent sprechen sich dagegen aus.«

Interessant in diesem Zusammenhang der Hinweis auf das Dilemma mit den an sich sehr hohen Ablehnungswerten seitens der GEW-Mitglieder in der Pressemitteilung der Gewerkschaft: »Das von der Satzung geforderte Quorum für eine Urabstimmung – mindestens 75 Prozent müssen für den Streik stimmen – wurde klar verfehlt. Gleichzeitig lehnt eine deutliche Mehrheit der Abstimmenden das Verhandlungsergebnis ab. Jetzt müssen die GEW-Gremien das Ergebnis politisch bewerten und das weitere Vorgehen beraten.« Anders ausgedrückt: Der erforderliche hohe Anteilswert von 75 Prozent für einen Streik wurde nicht erreicht, auf der anderen Seite einen Tarifabschluss auf der Basis von fast 70 Prozent Ablehnung? Es wird spannend bleiben, wie die beiden Gewerkschaften mit dieser Gemengelage umgehen werden.