Erde an Raumschiff Berlin: Die Geschlechterfrage ist weitaus komplexer als man zu glauben meint zu müssen. Vor allem für die vielen unterhalb der Aufsichtsräte sehr großer Unternehmen

Der 6. März 2015 ist ein „historischer“ Tag. Das behauptet immerhin der Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD), der sich in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag zu diesem Satz hat hinreißen lassen: „Die Frauenquote für Führungskräfte ist der größte Beitrag zur Gleichberechtigung seit Einführung des Frauenwahlrechts.“ Und an einem „historischen“ Tag verabschiedet man nicht weniger als ein „historisches“ Gesetz. Was ist hier passiert? Schauen wir uns die darüber aufklärende Mitteilung des Deutschen Bundestages an – und auch wenn das trocken daherkommt und ohne irgendeinen historischen Kolorit kann man eine Menge herauslesen: »Frauenquote für Führungspositionen beschlossen: Bei Enthaltung der Opposition hat der Bundestag am 6. März den Gesetzentwurf der Bundesregierung für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (18/3784, 18/4053) in der vom Familienausschuss geänderten Fassung (18/4227) angenommen.

Damit wird eine Geschlechterquote von mindestens 30 Prozent für Aufsichtsräte von voll mitbestimmungspflichtigen und börsennotierten Unternehmen, die ab dem Jahr 2016 neu besetzt werden, eingeführt. Ab 2018 soll der Frauenanteil auf 50 Prozent erhöht werden. Börsennotierte sowie mitbestimmungspflichtige Unternehmen werden verpflichtet, ab 30. September 2015 verbindliche Zielgrößen für die Erhöhung des Frauenanteils im Aufsichtsrat, im Vorstand und in den obersten Management-Ebenen festzulegen. Die gesetzlichen Regelungen für den öffentlichen Dienst des Bundes (Bundesgremienbesetzungsgesetz und Bundesgleichstellungsgesetz) werden novelliert, wobei im Wesentlichen die Vorgaben zur Geschlechterquote und zur Festlegung von Zielgrößen in der Privatwirtschaft widergespiegelt werden. Der Familienausschuss hatte den Regierungsentwurf so verändert, dass die Unternehmen nicht wie geplant jährlich, sondern erst nach Ablauf der Frist über die Einhaltung der selbst festgelegten Zielgrößen berichten müssen. Dies soll den Bürokratieaufwand senken. Zudem soll die Geschlechterparität nicht für alle Ebenen der Bundesverwaltung gelten. Eingegriffen werden soll nur, wenn eine strukturelle Benachteiligung von Frauen vorliegt.«

Da hat man im Laufe des Gesetzgebungsprozesses was Kleines noch weiter geschreddert – aus rein pragmatischen Erwägungen heraus, werden uns die Beteiligten natürlich versichern. Senkung von Bürokratieaufwand ist ja derzeit ein ganz prominentes Thema, wenn wir an die Angriffswellen gegen das neue Mindestlohngesetz denken. Aber was ist das „Kleine“ im vorliegenden Fall der Frauenquote? Was macht diese zu einem „Quötchen“? Das ist begründungspflichtig, denn die Akteure im Bundestag stritten in ihren Reden lediglich über die Perspektive – also ob das Glas „halb voll“ oder „halb leer“ sei -, aber immerhin muss die halbe Wegstrecke schon geschafft sein, wenn denn diese Zuordnung richtig wäre. Ist sie aber nicht, auch wenn man mit einer solchen Bewertung in die Rolle eines Spielverderbers abzurutschen droht.

Anders als es der unbefangene Beobachter in einem ersten Impuls glauben könnte, geht es ja nicht wirklich um eine relevante „Frauenquote“, sondern um eine Quotierung eines – aus gesellschaftlicher Sicht – atomaren Bereichs, der Besetzung von Aufsichtsräten und dabei auch noch beschränkt auf „voll mitbestimmungspflichtige und börsennotierte Unternehmen“, also gerade einmal 108 Konzerne in diesem Land.

Die SPD – eingangs wurde ja bereits der dieser Partei zugehörige Bundesjustizminister Heiko Maas mit seiner „historischen“ Bewertung der gestrigen Abstimmung im Bundestag zitiert – versucht, die nun auf den Weg gebrachte „Frauenquote“ als großen Erfolg zu verkaufen. Im politischen Geschäft ist das verständlich, allerdings mit Blick auf den Ausgangspunkt schlichtweg falsch. Bereits am 19.11.2013 habe ich in diesem Blog geschrieben: »Die SPD hat im Angesicht der gefundenen „Lösung“ kräftig Federn lassen müssen, denn in ihrem Wahlprogramm findet sich die Forderung: »Wir werden deshalb eine 40-Prozent-Geschlechterquote für Aufsichtsräte und Vorstände börsennotierter und mitbestimmter Unternehmen verbindlich festlegen.« 40-10 Prozent und Vorstände weg, so kann man das auf eine Kurzformel bringen« (vgl. dazu und zu einer generellen kritischen Einordnung des ganzen Ansatzes den Blog-Beitrag: „Trippelschritt in die richtige Richtung“ oder „Goldene Röcke für Deutschland“ als symbolisches Substitut für wirkliche Veränderungen? Eine embryonale Frauenquote als Ablenkungsmanöver von den wahren Herausforderungen der Geschlechterpolitik). Und in diesem Beitrag findet sich eine kritische Einschätzung, die an ihrer Relevanz rein gar nichts verloren hat:

»Profitieren werden zunächst einige wenige Frauen, die gleich mehrere Kontrollposten übernehmen. Das eigentliche Ziel wird die Frauenquote in Aufsichtsräten nicht erreichen: nämlich die sogenannte gläserne Decke zu durchbrechen. Und die haben wir in den Vorständen, den eigentlichen Machtpositionen in den Unternehmen.«

Dazu liegen mittlerweile neuere empirische Befunde vor, die das angesprochene Problem auf den Punkt bringen können, wenn man sie denn zur Kenntnis nehmen würde.
Anfang 2015 veröffentlichte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) die neuesten Daten aus dem „Managerinnen-Barometer“: Das DIW Berlin untersucht seit 2006 den Anteil von Frauen in Vorständen und Geschäftsführungen sowie in Aufsichts- und Verwaltungsräten der nach dem Umsatz größten Unternehmen in Deutschland. Der nüchterne Befund der Wissenschaftlerinnen:

»Die Vorstände großer Unternehmen in Deutschland befinden sich nach wie vor fest in Männerhand: Ende 2014 lag der Frauenanteil in den Vorständen der Top-200-Unternehmen in Deutschland bei gut fünf Prozent. Das entspricht einem Plus von einem Prozentpunkt gegenüber dem Vorjahr und damit einer sehr geringen Dynamik. Die DAX-30-Unternehmen konnten mit gut sieben Prozent den höchsten Frauenanteil verzeichnen, am geringsten war er mit noch nicht einmal drei Prozent bei den MDAX-Unternehmen. Häufiger sind Frauen in den Aufsichtsräten vertreten: In den Top-200-Unternehmen waren Ende des Jahres 2014 gut 18 Prozent Frauen; die DAX-30-Unternehmen schnitten mit einem Frauenanteil von knapp 25 Prozent überdurchschnittlich ab. Die SDAX-Unternehmen wiesen mit knapp 14 Prozent nicht nur den kleinsten Frauenanteil auf, sondern mit 0,6 Prozentpunkten auch den geringsten Zuwachs gegenüber dem Vorjahr. Wie in den Vorständen haben Frauen auch in Aufsichtsräten nur in Ausnahmefällen den Vorsitz inne«, so Elke Holst und Anja Kirsch in ihrer Studie (Weiterhin kaum Frauen in den Vorständen großer Unternehmen – auch Aufsichtsräte bleiben Männerdomänen, DIW-Wochenbericht Nr. 4/2015, S. 47).

Holst und Kirsch bilanzieren in ihrem Fazit (S. 59) mit Blick auf die eigentlichen Machtzentren in den Unternehmen, also den Vorständen, die wie dargestellt von der nunmehr verabschiedeten Quotierung gar nicht betroffen sind: »In den Vorständen haben sich die männlichen Monokulturen weiterhin verfestigt: Über 13 Jahre nach der freiwilligen „Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft“ reichte der Anteil von Frauen in Vorstandspositionen von weniger als drei Prozent in den MDAX-Unternehmen über gut fünf Prozent in den Top-200-Unternehmen bis hin zu maximal gut sieben Prozent in den DAX-30-Unternehmen.«

Einen weiteren Blick auf die realen Verhältnisse eröffnet eine Studie, die von der Hans-Böckler-Stiftung veröffentlicht wurde. In einer Auswertung von 160 in den deutschen Aktienindizes notierten Unternehmen kommt Marion Weckes in ihrer Studie Geschlechterverteilung in Vorständen
und Aufsichtsräten zu dem Ergebnis: Fortschritte in Aufsichtsräten, Stagnation bei den Vorständen, so die zusammenfassende Überschrift einer Pressemitteilung der Stiftung zu der Studie. Auch hier wird der Finger notwendigerweise auf die Vorstände gelegt:

»Im Jahr 2005 habe der Frauenanteil unter den Vorständen gerade einmal 2,3 Prozent betragen, so Weckes. Ab 2010 sei zunächst ein positiver Trend feststellbar gewesen, der sich zuletzt allerdings wieder umgekehrt habe: Gegenüber dem Vorjahr ist der Anteil Ende 2014 von 6,2 auf 5,5 Prozent zurückgegangen. Nur ein Fünftel der 160 untersuchten Unternehmen kann überhaupt mit einem weiblichen Vorstandsmitglied aufwarten, in drei Vorständen gibt es zwei Frauen, mehr als zwei in keinem einzigen.«

Es ist bezeichnend, dass mein Fazit aus dem November 2013 an dieser Stelle nach dem angeblichen „historischen“ Tag gestern im Bundestag unverändert Gültigkeit beanspruchen kann:

»Aber angesichts der erheblichen Probleme, die viele Frauen immer noch und im Teilzeitbereich sogar zunehmend auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben, angesichts der ökonomischen Abhängigkeit von den (männlichen) Partnern, die nach neueren Forschungsbefunden sogar zugenommen hat, bleibt das doppelt ungute Gefühl, dass hier nicht nur eine Symbolpolitik betrieben wird, sondern dass die darüber hinaus auch noch auf eine extrem kleine Gruppe von Frauen ausgerichtet ist, mit denen die Millionen „normalen“ Frauen nicht das geringste zu tun haben … Nicht einmal in Erwägung gezogen wurde beispielsweise eine Abschaffung oder wenigstens ein Umbau der frauenpolitisch hoch problematischen geringfügigen Beschäftigung, also der so genannten „450-Euro“- oder auch „Minijobs“, die man nicht anzutasten bereit ist. Dabei weiß jeder unbefangene Beobachter, welche negativen Auswirkungen diese Beschäftigungsform auf die Biografie vieler Frauen hat. Um nur ein wirklich relevantes Beispiel zu nennen.
Wieder einmal verlässt man die Bühne mit dem Gefühl, einer veritablen Luftnummer beizuwohnen.«

Die eigentliche Geschlechterfrage liegt – man kann es mögen oder nicht – auf dem Arbeitsmarkt. Aber nicht auf dem subatomaren „Arbeitsmarkt“ für Aufsichtsräte, sondern auf dem, auf dem sich Millionen Frauen und Männer tummeln müssen. Diese Arbeitsmarktabhängigkeit speist sich aus mehreren Quellen, in Deutschland besonders relevant natürlich die sozialpolitische Dimension angesichts der vielen Sicherungskomponenten, die aus der Erwerbsbiografie abgeleitet werden (müssen).

Und hier hat sich die Situation für viele Frauen keineswegs verbessert: Erst vor wenigen Tagen veröffentlichte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit eine Übersichtsdarstellung von Susanne Wanger mit dem bezeichnenden Titel Traditionelle Erwerbs- und Arbeitszeitmuster sind nach wie vor verbreitet. Hier nur einige Befunde aus der Untersuchung: Im Jahr 2014 waren elf Millionen Frauen teilzeitbeschäftigt, das sind doppelt so viele wie 1991. Die Zahl der beschäftigten Frauen stieg insgesamt um 21 Prozent, das von ihnen geleistete Arbeitsvolumen um vier Prozent. Die Teilzeitquote bei Frauen ist auf knapp 58 Prozent gestiegen. Viele der Frauen wählen die Teilzeitbeschäftigung nicht in voller Freiwilligkeit, sondern weil sie nur so andere Verpflichtungen – vor allem Kinder und Pflege – vereinbaren können: Frauen entschieden sich mit jeweils knapp 26 Prozent am häufigsten wegen der Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Personen oder wegen weiteren persönlichen oder familiären Verpflichtungen für eine reduzierte Beschäftigung. Damit ist die Teilzeitarbeit der Frauen aber wiederum strukturelle Voraussetzung nicht nur für das Funktionieren des deutschen Sozialstaats (man möge sich nur einmal vorstellen, was mit dem Pflegesystem in Deutschland passieren würde, wenn ein relevanter Anteil der  zu Hause pflegenden Frauen diese überaus „günstige“ Hilfeleistung einstellen würde), sondern auch – das wird immer wieder gerne „vergessen“ – die meisten „männlichen Über-Vollzeitkarrieren in der Wirtschaft basieren doch darauf, dass den Männern der Rücken frei gehalten wird in ihren Familien, ansonsten wäre der Grad an zeitlicher Verfügbarkeit gar nicht realisierbar, zumindest nicht, wenn es Kinder gibt.

Diese Dinge muss man im Blick haben bzw. nehmen. Aus der Perspektive einer wirklichen schrittweisen (möglichen, aber nicht sicheren) Verringerung der Geschlechterungleichheit wäre beispielsweise eine Abschaffung der unseligen 450-Euro-Jobs ein im Vergleich zur Frauenquote in elitären Aufsichtsräten gleichsam revolutionärer Ansatz. Deshalb taucht er auch wohl nicht auf.

Auch wenn man natürlich nicht gerne die Feierlaune trüben möchte, vor allem nicht die von Menschen, die sich für die Verbesserung gesellschaftlicher Zustände engagieren – aber es ist nicht unplausibel, dass diese Exoten-Quote, die nun im Parlament verabschiedet worden ist, für das Gesamtanliegen ein Pyrrhussieg darstellen wird. Die andere Seite kann jetzt immer mit Verweis auf die „Zugeständnisse“ in der Quotenfrage bei anderen, also vor allem bei den wirklich substanziellen Veränderungen, diese verweigern mit dem Hinweis: Jetzt ist mal gut, ihr habt doch schon was bekommen. Auch wenn es nur ein Spielzeug ist.

Integration wollen alle. Und Integrationskurse für Migrantinnen werden gekürzt. Das passt nicht. Das gilt auch für die Existenz der pädagogischen Tagelöhner

Jenseits der großen, zumeist sehr grobschlächtigen Debatten über das Für und Wider von Zuwanderung und den – angeblich – erheblichen Integrationsproblemen eines Teils der Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, liegen die Mühen der Ebene. Und eine wichtige Rolle spielen die Integrationskurse, die von ganz unterschiedlichen Trägern angeboten werden (vgl. zu den unterschiedlichen Integrationskursen die statistische Informationen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge).  Ein ganz besonderes Angebot in diesem Bereich sind niedrigschwellige Integrationskurse für Frauen. Mit diesen Kursen will man Einwanderinnen ansprechen, die durch konventionelle Integrationsangebote oft nicht erreicht werden. Die Bundesregierung selbst ist begeistert von diesem Angebot und erläutert die Zielsetzung so: »Insbesondere sollen bildungsferne Frauen aus ihrer Isolation geholt und zur Inanspruchnahme weiterführender allgemeiner Integrationsangebote ermutigt und unterstützt werden. Die Kurse vermitteln dabei Kenntnisse über die deutsche Gesellschaft, über das Bildungssystem und dienen der Stärkung der Erziehungskompetenz, der Rechte der Frauen sowie der Gewaltprävention«, so die Ausführungen in der Antwort auf die Kleine Anfrage „Bundesförderung für sogenannte niedrigschwellige Integrationskurse für Frauen“ der Grünen im Deutschen Bundestag (BT-Drs. 18/4056 vom 20.02.2015). In Zeiten, in denen Deutschland als zweitgrößtes Einwanderungsland nach den USA gilt, da mehr als 200.000, dieses Jahr möglicherweise bis zu 300.000 Asylbewerber  kommen – und Zehntausende als Ehepartner aus dem Ausland -, machen solche Angebote Sinn. Aber die Realität sieht mal wieder anders aus – wie Roland Preuß in seinem Artikel Lernen schwer gemacht mitteilen muss. Zum Einstieg nur einige wenige frustrierende Fakten: »Die Bundesregierung hat Mittel für Integrationskurse für Migrantinnen deutlich gekürzt. Konnten 2012 noch fast 2100 solcher Kurse angeboten werden, so waren es im vergangenen Jahr nur noch 975.«

An diese Entwicklung sollte man sich erinnern, wenn mal wieder die mangelhaften Deutschkenntnisse oder die Abschottung bestimmter Personengruppen in der öffentlichen Debatte kritisiert und vorwurfsvoll herausgestellt wird. Gerade die von den Kürzungen betroffenen niedrigschwelligen Angebote haben Frauen erreichen können, die ansonsten schlichtweg nirgendwo auftauchen (können).

Und damit nicht genug. Das Fallbeil der Kürzungen wütet auch an anderen Stellen:

»Bei den frühen Angeboten für Migranten läuft es ähnlich: Die sogenannte Migrationsberatung soll Einwanderern frühzeitig den Weg zu einer Integration in Deutschland weisen, es werden Vereinbarungen geschlossen, die Aufgaben und Ziele festhalten, denn der Weg durch die deutsche Bürokratie ist für Migranten mitunter mehr als unübersichtlich. Im Koalitionsvertrag hatte man noch vereinbart, dass alle Neuzuwanderer eine solche „Erstberatung“ erhalten sollen – doch auch hier fehlt offenbar das Geld.

Die Zahl der Beraterstellen ist in den vergangenen fünf Jahren sogar geschrumpft, auf weniger als 500, obwohl die Bundesrepublik mittlerweile die größte Zuwandererzahl seit 20 Jahren zu bewältigen hat. Rein rechnerisch hat jeder Berater mittlerweile 300 Fälle im Jahr zu betreuen, vorgesehen waren einmal 60. In den Anlaufstellen werde „deutlich mehr Beratungsarbeit geleistet“, räumt auch das Innenministerium ein. „Qualitätsverluste können nicht ausgeschlossen werden.“«

„Die Zahl der Beratungsfälle stieg um 60 Prozent, doch die Bundesregierung streicht die zur Durchführung notwendigen Personalstellen“, so wird Volker Beck von den Grünen in dem Artikel zitiert.

Und wenn wir schon dabei sind, sei an dieser Stelle auf ein weiteres, den gesamten Bereich der Integrationskurse betreffendes Strukturproblem aufgerufen. Es geht um die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte in diesem gesellschaftspolitisch so wichtigen und pädagogisch so herausfordernden Bereich. Darüber informiert die Initiative Bildung Prekär, die sich sehr kritisch mit den Arbeitsbedingungen auseinandersetzt. Wie steht es um diejenigen, auf deren Schultern die Aufgabe der so wichtigen und vor allen geforderten Sprachvermittlung ruht, also die Deutschlehrer in den Integrationskursen? Dazu beispielhaft der Beitrag Integrationskurslehrer: Jahrelang ohne Arbeitsvertrag! von Aglaja Beyes, einer freiberufliche Journalistin, Autorin und Kursleiterin von Integrationskursen in Wiesbaden. Sie beschreibt die Situation der Lehrkräfte so:

»Diese Lehrer sind nach ihrem arbeitsrechtlichen Status gar keine Lehrer. Sie sind fast ausschließlich Kursleiter ohne Festanstellung. Ob bei Volkshochschulen, der Caritas oder dem Goethe-Institut: Einen regulären Arbeitsvertrag hat fast niemand, nicht einmal einen befristeten. Stattdessen gibt es Honorarverträge über jeweils einige hundert Unterrichtsstunden, was wenigen Monaten entspricht. Ein Honorarvertrag folgt dem anderen, als “Kettenverträge” über Jahre, manchmal über ein Jahrzehnt und mehr. Das BAMF … überweist pro Teilnehmer und Unterrichtsstunde 2,94 Euro an die jeweiligen Träger, zum Beispiel die Volkshochschulen … Ob die Lehrkräfte von dem bewilligten Geld angestellt werden oder jahrelang Kettenverträge als Scheinselbständige bekommen, interessiert weder das Bundesamt noch das Innenministerium … am Jahresende (gibt es) für das Finanzamt eine Bescheinigung über “nebenberufliche Tätigkeit” – obwohl Vollzeitarbeit.«

Aglaja Beyes spricht in ihrem Beitrag von Scheinselbständigkeit – und das ganze Arrangement hat sehr negative Folgen: »Deutschlehrer ohne Arbeitsvertrag, geschweige denn Tarifvertrag, haben keinen Anspruch auf Geld im Krankheitsfall. Sie schleppen sich krank zur Arbeit … Junge Mütter und Väter haben keinen Anspruch auf Erziehungsgeld. Und auf alle wartet Altersarmut. Von ihren mageren Honoraren hätten sie den Arbeitgeber- und den Arbeitnehmeranteil für die Rentenversicherung abführen müssen. Dazu ist nicht jeder in der Lage … Und wie steht es mit der Mitbestimmung? Ebenfalls Fehlanzeige. Betriebsräte sind für Menschen ohne Arbeitspapiere nicht zuständig. Schutzbestimmungen am Arbeitsplatz greifen ebenfalls nicht. Die Folge: Viele Kollegen unterrichten an bestimmten Wochentagen regelmäßig bis zu vierzehn Unterrichtsstunden in drei Schichten …  Eine Arbeitslosenversicherung gibt es nicht, Kündigungsschutz genauso wenig.«
Sie zitiert eine Kollegin in ihrem Artikel mit der zusammenfassenden Bilanzierung: „Wir sind Tagelöhner, wir müssen nehmen, was kommt“.

Und der Artikel endet mit einer Erfahrung, die man leider oft machen muss im Getriebe der Politik:
»Im September 2012 stellte die SPD-Fraktion im Bundestag als Opposition einen Antrag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Lehrkräften in Integrationskursen. Darin wird die schwarz-gelbe Bundesregierung aufgefordert, ein Konzept vorzulegen, “wie die Quote festangestellter Lehrer erhöht werden kann.” Seit über einem Jahr ist die SPD inzwischen selbst Teil der Regierung. Auf das Konzept warten wir immer noch – gespannt.«

Dass sich hinsichtlich der Integrationskurse ein gewaltiger Bedarf aufgestaut hat, verdeutlicht dann auch so eine Meldung: Arbeitsagentur fordert Sprachförderung von Flüchtlingen: »Die Arbeitsagentur fordert Investitionen im dreistelligen Millionenbereich für die Sprachförderung für Asylsuchende und Flüchtlinge. Sonst drohten viel höhere Folgekosten.« Die Bundesagentur verweist auf eine weitere Schwachstelle im bestehenden System: »Aktuell gibt es erhebliche Förderungslücken bei der Deutschförderung von Asylbewerbern und Geduldeten. Sie haben keinen Zugang zu Integrationskursen, in denen vor allem allgemeinsprachliche Grundlagen vermittelt werden. Diese ersten elementare Deutschkenntnisse sind aber Voraussetzung für die Teilnahme an berufsbezogenen Sprachkursen.« Was man tun sollte, sagt die BA auch: »Um diese Hürden für alle Asylsuchenden abzubauen, müsste aus Steuermitteln jährlich ein dreistelliger Millionenbetrag zusätzlich für allgemeine und berufsbezogene Sprachförderung aufgewendet werden. Laut Bundesagentur für Arbeit sind das notwendige und sinnvolle Grundinvestitionen. Denn wenn die Integration in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft nicht gelinge, drohe ein Vielfaches an Folgekosten.«

Ach ja: Zum Auftakt der Bildungsmesse Didacta am Dienstag in Hannover hatte sich Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) für eine bessere Integration von Zuwanderern in das deutsche Bildungssystem ausgesprochen. Womit wir wieder am Anfang dieses Beitrags angekommen wären.

Unauffällig, nicht sichtbar, verdeckt. Und es werden mehr. Frauen und Obdachlosigkeit

Über Wohnungs- und Obdachlosigkeit wird nicht bzw. wenn, dann nur sehr verzerrt berichtet. Und in den wenigen Berichten geht es fast ausschließlich um Männer. Frauen tauchen so gut wie nie auf. Aber es gibt sie. Christina Hoffmann hat ihren Artikel über obdachlose Frauen überschrieben mit Die Unauffälligen. Rund drei Viertel aller Obdachlosen in Deutschland sind Männer. Frauen ohne Wohnung sind unauffällig, ja fast: nicht sichtbar. Hoffmann notiert in ihrem Artikel:
»Mit Wissenschaftlern und Sozialpädagogen kann man gut und lange über Obdachlosigkeit von Frauen sprechen. Die weiblichen Betroffenen selbst schweigen lieber; es ist schwierig, eine obdachlose Frau für ein Interview zu gewinnen … Für die Mehrheit der Frauen ohne Wohnung gilt: Sie haben eine große Scham ob ihrer Situation und eine noch größere Angst, erkannt zu werden.«

In einer Großstadt wie Berlin mit einer sehr ausdifferenzierten Wohnungsnotfallhilfe gibt es auch Einrichtungen wie „FrauenbeDacht“, die sich speziell an Frauen ohne Bleibe richten. In einem Berliner Altbau verteilen sich auf fünf Etagen 43 Einzelzimmer mit Bett, Schrank, Tisch und einem Stuhl. Außerdem gibt es Gemeinschaftsküchen und Aufenthaltsräume, zudem zwei Zimmer für eine Mutter mit Kind.

Eigentlich wollen Politik und Medien immer sofort erst einmal wissen – wie viele sind es denn, um die es hier geht. Die Sucht nach den Zahlen, nicht selten müssen es große Zahlen sein, damit überhaupt ein Resonanzkörper in Schwingungen versetzt wird. Aber über die wohnungs- und obdachlosen Menschen gibt es keine Bundesstatistik. Immer wieder muss man deshalb auf die Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe (BAG W) zurückgreifen. Die kam bei ihrer Schätzung im Jahr 2012 auf ungefähr 284.000 Betroffene, Männer und Frauen. »Seit einigen Jahren trifft es immer mehr Frauen. Mitte der neunziger Jahre waren nach Schätzung der BAG W zwölf bis 15 Prozent der Obdachlosen Frauen; heute ist es schon ein Viertel«, berichtet Hoffmann.

Wie kommt es zu den Steigerungen? Als eine Möglichkeit zur Erklärung wird genannt: Die Art und Weise, wie Männer und Frauen leben, gleicht sich immer weiter an. Aber auch und nicht überraschend für jeden, der sehenden Auges durch unsere Städte geht: der angespannte Wohnungsmarkt. Vgl. dazu auch den Gastbeitrag Die vergessenen 360.000 – Ein Einblick in das Leben von Menschen ohne Wohnung von Rebekka Wilhelm und Lena Amberge vom 18.12.2014 bei O-Ton Arbeitsmarkt in der Rubrik Menschen am Rande kommen zu Wort.

„Die Obdachlosigkeit kommt immer nach einer langen, langen Geschichte“, so wird die Sozialwissenschaftlerin Brigitte Sellach in dem Artikel zitiert, die biografische Interviews mit betroffenen Frauen durchführt. „Beziehungsprobleme mit Demütigungen, Gewalt und Ohnmacht bringen Frauen in die Wohnungslosigkeit.“ Die Soziologie diagnostiziert überdies sogenannte „Ausschlussprozesse“ der Gesellschaft: Langzeitarbeitslose, körperlich und geistig Behinderte und vor allem psychisch Kranke gehörten irgendwann nicht mehr dazu.
Ein besonders Frauen betreffendes Phänomen wird in dem Artikel von Christina Hoffmann auch erwähnt: „Verdeckte Obdachlosigkeit“. »Frauen schlüpfen bei Männern unter, die sie misshandeln oder ausnutzen. Ein Schlafplatz im Tausch gegen Sex oder Hausarbeit. Diese Frauen fallen nicht auf, weder in der Statistik noch im Straßenbild.«

Von damaligen Mauern, beseitigten Mauern und fortbestehenden Mauern (nicht nur) in den Köpfen

Auch wenn am heutigen Tag 25 Jahre Öffnung der Mauer gefeiert wird – was danach kam, war und ist oftmals geprägt durch eine negative Berichterstattung und man muss natürlich auch sehen, dass sich das Leben von Millionen Ostdeutschen in den vergangenen 25 Jahre ganz erheblich verändert hat (was man von vielen Westdeutschen nicht unbedingt sagen kann). Mehrere Millionen Menschen haben in dieser Zeit ihren Arbeitsplatz verloren und viele, vor allem die Älteren, haben danach nie wieder richtig einen Fuß auf den arbeitsmarktlichen Boden bekommen. Viele Berufe der ehemaligen DDR und damit auch die dahinter stehenden Biografien der Menschen wurden im Zuge der Wiedervereinigung entwertet. Große Teile der Industrie in den ostdeutschen Bundesländer verschwanden von der Landkarte. Und die Schaffung neuer Strukturen und vor allem neuer Arbeitsplätze erweist sich bis heute als ein schwieriges Unterfangen. Infolgedessen liegen die Löhne in den meisten Branchen auch heute noch teilweise deutlich niedriger als im Westen. Und nicht vergessen werden sollte, dass viele Menschen, gerade jüngere und gut ausgebildete, die ostdeutschen Bundesländer verlassen haben, um dahin zu gehen, wo die Jobs sind. Das führte vor allem in den 1990er Jahren zu einem massiven Entzug von Menschen. So könnte man jetzt weitermachen mit den negativen Aspekten der Folgen der Wiedervereinigung – aber bekanntlich sollte man sich hüten, nur einseitig auf etwas zu schauen. Wo sind die positiven Aspekte?


Vielleicht hilft uns – hinsichtlich der ökonomischen Dimensionen – der folgende Beitrag aus dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW):
Die Wiedervereinigung – eine ökonomische Erfolgsgeschichte, so ist der DIW Wochenbericht Nr. 40/2014 gleichsam euphemistisch überschrieben, mit Beiträgen von Karl Brenke, Marcel Fratzscher, Markus M. Grabka, Elke Holst, Sebastian Hülle, Stefan Liebig, Maximilian Priem, Anika Rasner, Pia S. Schober, Jürgen Schupp, Juliane F. Stahl und Anna Weiber überschrieben. Bei so vielen Autoren muss das gewichtig sein. In diesem Heft findet sich auch der Artikel Ostdeutschland – ein langer Weg des wirtschaftlichen Aufholens von Karl Brenke. Der schreibt in seiner Einleitung:

»Der wirtschaftliche Rückstand Ostdeutschlands gegenüber Westdeutschland ist 25 Jahre nach dem Fall der Mauer immer noch groß. Beim Bruttoinlandsprodukt je Einwohner werden 71 Prozent und bei der Produktivität etwa drei Viertel des westdeutschen Niveaus erreicht. Der Aufholprozess kommt nur noch sehr langsam voran. Der entscheidende Grund für die geringe Produktivität ist der Mangel an hochqualifizierten Tätigkeiten. Zudem ist die ostdeutsche Wirtschaft vergleichsweise kleinteilig strukturiert. Das verfügbare Einkommen je Einwohner liegt in Ostdeutschland bei 83 Prozent des westdeutschen Wertes. An dieser Relation hat sich seit Ende der 90er Jahre nichts Wesentliches geändert. Die Arbeitslosigkeit ist in Ostdeutschland noch relativ hoch, in den vergangenen Jahren ist sie aber stärker als in Westdeutschland zurückgegangen. Dies ist allerdings zum Teil Folge des schrumpfenden Erwerbspersonenpotentials; besonders deutlich geht die Zahl der Jugendlichen zurück.

Die Erwartung zur Zeit der Wende, dass der Osten bei Wirtschaftskraft und Lebensstandard rasch zum Westen aufschließen wird, hat sich nicht erfüllt. Sie war auch übertrieben, denn man ging davon aus, dass eine traditionell dünn besiedelte Transformationsregion in relativ kurzer Zeit eine der leistungsfähigsten Ökonomien der Welt einholen könnte. Gleichwohl gibt es große Anpassungsfortschritte. Insbesondere ist in Ostdeutschland eine Re-Industrialisierung gelungen. Eine große Herausforderung stellt der demografische Wandel dar. Die Zahl junger Erwerbspersonen geht in Ostdeutschland deutlich stärker zurück als in Westdeutschland. Um Fachkräfte zu halten oder anzuziehen, muss in Ostdeutschland das Angebot attraktiver Arbeitsplätze mit guter Entlohnung gesteigert werden. Höhere Löhne müssen allerdings mit höherer Produktivität einhergehen und diese wiederum erfordert eine verstärkte Innovationstätigkeit.«

Auch der Beitrag von Maximilian Priem und Jürgen Schupp Alle zufrieden – Lebensverhältnisse in Deutschland, der über die Lebenszufriedenheit der Menschen in Ost- und Westdeutschland auf der Grundlage ihrer eigenen Einschätzung berichtet, kommt zu einem insgesamt erfreulichen Ergebnis:

»25 Jahre nach dem Fall der Mauer haben sich die Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland noch nicht vollständig angeglichen. Das war freilich in realistischer Betrachtung auch nicht zu erwarten. Trotz steigender Lebenszufriedenheit in den neuen Bundesländern konnte der Ost-West-Unterschied noch nicht nivelliert werden. Dies belegen die aktuellsten vom DIW Berlin in Zusammenarbeit mit TNS Infratest Sozialforschung erhobenen Daten der Langzeitstudie Sozio-oekonomisches Panel (SOEP). Demnach sind Menschen in Ostdeutschland im Jahr 2013 signifikant weniger zufrieden als in Westdeutschland, obwohl ihre Zufriedenheit so hoch ist wie noch nie im Zeitraum der Erhebung, die dort im Juni 1990 – kurz vor der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion – erstmals durchgeführt wurde. Weitere subjektive Indikatoren zeigen Differenzen in der Zufriedenheit mit dem Haushaltseinkommen, der Gesundheit und der Kinderbetreuung. Angeglichen hat sich die Zufriedenheit mit der Wohnung, der Haushaltstätigkeit, Arbeit und Freizeit. Die Menschen in Ostdeutschland sorgen sich stärker um die eigene wirtschaftliche Situation und Kriminalität, während die Sorge um Ausländerfeindlichkeit und den Arbeitsplatz in ganz Deutschland abgenommen hat. Die SOEP-Befragungen zeigen: Die Lebensverhältnisse in Deutschland sind aus Sicht der Menschen weitgehend angeglichen. Trotz etlicher Probleme im Detail, wozu in den nächsten Jahren insbesondere die Entwicklung der Neurenten in Ostdeutschland zählen wird, ist die deutsche Wiedervereinigung eine ungewöhnliche Erfolgsgeschichte.«

Auch das Institut für Wirtschaftsforschung Halle hat ebenfalls im Umfeld des heutigen Tages eine interessante Broschüre veröffentlicht, in der wichtige Forschungsergebnisse aus diesem Institut, das ja seinen Sitz hat in Ostdeutschland hat, über die ökonomischen Folgen der Wiedervereinigung zusammengefasst sind:

IWH: 25 Jahre nach dem Mauerfall: Wirtschaftliche Integration Ostdeutschlands im Spiegel der Forschung am IWH, 2014

Bereits angesprochen wurde die Thematik der Lohnentwicklung in Ostdeutschland. Hierzu gibt es eine neue Veröffentlichung vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) von Universität Duisburg-Essen:

Gerhard Bosch, Thorsten Kalina und Claudia Weinkopf: 25 Jahre nach dem Mauerfall – Ostlöhne holen nur schleppend auf (= IAQ-Report 2014-15), Duisburg, 2014.

Die IAQ-Forscher haben interessante Befunde zusammengetragen (vgl. Bosch/Kalina/Weinkopf 2014: 1):

»Die Stundenlöhne in Ostdeutschland haben sich von knapp 54% im Jahr 1992 bis auf 77% im Jahr 2012 an das Westniveau angenähert. Ein Großteil der Annäherung erfolgte in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung; seit 1995 hat sich der Angleichungsprozess deutlich verlangsamt. Ohne Änderungen in der Lohnpolitik werden die Ostlöhne erst im Jahre 2081 das Westniveau erreichen.

Der ostdeutsche öffentliche Dienst ist Vorreiter bei der Angleichung der Löhne; im ostdeutschen produzierenden Gewerbe stockt hingegen schon seit Mitte der 1990er Jahre der Angleichungsprozess.

In beiden Landesteilen hat die Ungleichheit der Lohnverteilung zugenommen. Am stärksten stiegen die oberen Löhne im Osten, am geringsten hingegen die unteren Löhne im Westen. Wir beobachten also nicht mehr alleine einen Aufholprozess des Ostens, sondern auch den Lohnverfall für Geringverdienende im Westen.

Die ostdeutschen Frauen erreichen 2012 bei den mittleren Verdiensten bereits 85,5% des westdeutschen Niveaus. Aufgrund des schnelleren Aufholprozesses bei den Frauenlöhnen ist der gender pay gap in Ostdeutschland erheblich geringer als in Westdeutschland.

Der gesetzliche Mindestlohn kann neuen Schwung in den Aufholprozess bringen, weil erheblich mehr ostdeutsche (29,3%) als westdeutsche Beschäftigte (16,9%) davon profitieren werden.«

Die vom IAQ präsentierten Befunde markieren einen wichtigen Punkt: Wir sind nach 25 Jahren weit weg von einer einheitlichen Asymmetrie zuungunsten des Ostens und zugunsten des Westens. Dies verdeutlicht das folgende Zitat: »Am stärksten stiegen die oberen Löhne im Osten, am geringsten hingegen die unteren Löhne im Westen.«

Vergleichbare Differenzierungen sehen wir auch in der Rentenversicherung, dem wichtigsten Teilbereich des Alterssicherungssystems. Hierzu beispielsweise der Beitrag Geschlechtsspezifische Rentenlücke in Ost und West von Anika Rasner:

»25 Jahre nach dem Mauerfall kommen Männer in Ost- und Westdeutschland in der wichtigsten Säule des deutschen Alterssicherungssystems auf ein vergleichbares Niveau. Im Durchschnitt übertreffen die Renten ostdeutscher Frauen die der Westdeutschen hingegen deutlich. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Rentenanwartschaften ostdeutscher Männer und Frauen werden im Kohortenvergleich geringer. Dieser Rückgang ist allerdings weniger das Ergebnis höherer Rentenanwartschaften ostdeutscher Frauen, sondern eher Folge deutlicher Einbußen bei den ostdeutschen Männern. Trotz allem werden die Rentenanwartschaften ostdeutscher Frauen auch in Zukunft deutlich höher als die westdeutscher Frauen liegen. In Westdeutschland bleibt die geschlechtsspezifische Rentenlücke im Kohortenvergleich hingegen konstant groß. Die westdeutschen Frauen der Babyboomer-Jahrgänge können den Abstand zu den Männern trotz zunehmender Erwerbsbeteiligung nur unwesentlich verkleinern« (Rasner 2014: 976).

Diese wenigen Daten mögen genügen, um dafür zu werben, den Blick auf fortbestehende, aber auch neu justierte Mauern gerade in der sozialpolitischen Landschaft zu schärfen, die Vergangenheit zur Kenntnis zu nehmen und zu berücksichtigen, sich aber nicht in ihr zu verlieren.

Angleichung „von unten“ und „von oben“. Zur Erwerbstätigkeit von Frauen ist West- und Ostdeutschland anlässlich des Tags der deutschen Einheit

Der 3. Oktober ist der Tag der deutschen Einheit. Bei weiter fortbestehenden Unterschieden zwischen Ost und West. Statistisch und inhaltlich gesehen gibt es immer noch in vielen Bereichen eine weniger brutale, dennoch wirksame Mauer zwischen den beiden Teilen Deutschlands (vgl. hierzu die Daten in dem Feature Das geteilte Land).

An dieser Stelle soll ein Blick auf die Unterschiede und die Annäherungen, die man seit der Wiedervereinigung hinsichtlich der Erwerbstätigkeit der Frauen identifizieren kann, geworfen werden, um einen Aspekt aus dem Universum der sozial- und gesellschaftspolitisch relevanten Themen herauszugreifen.

Dazu haben die beiden Wissenschaftlerinnen Elke Holst und Anna Wieber vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin einen Beitrag veröffentlicht und diesen überschrieben mit: Bei der Erwerbstätigkeit der Frauen liegt Ostdeutschland vorn. Darin führen sie aus:

»Auch fast ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall liegt die Erwerbstätigkeit von Frauen in Ostdeutschland immer noch höher als in Westdeutschland. Der Abstand ist heute allerdings gering. Gestartet sind die beiden Regionen von höchst unterschiedlichen Niveaus. Im Westen lag die Erwerbstätigenquote von Frauen kurz nach der Wende (1991) bei 54,6 Prozent und ist seitdem von Jahr zu Jahr auf 67,5 Prozent (2012) gestiegen. In Ostdeutschland ging sie nach der Wende zunächst massiv zurück, stieg dann aber wieder deutlich an und lag 2012 mit 69,1 Prozent leicht höher als im Westen. In beiden Teilen Deutschlands arbeiten Frauen häufiger in Teilzeit als früher, im Osten lag der tatsächliche Arbeitsumfang mit 27,8 Wochenstunden 2013 aber deutlich höher als im Westen (21,7 Stunden). Viele von ihnen, das zeigt die Studie des DIW Berlin auf Grundlage des SOEP, würden gern mehr Wochenstunden leisten. Vergleicht man die gewünschte, vereinbarte und tatsächliche Wochenarbeitszeit von Frauen in Ost und West, so liegen in der Durchschnittsbetrachtung die ostdeutschen Frauen in allen drei Kategorien über dem höchsten Wert aller Arbeitszeitgrößen im Westen. Die meisten erwerbstätigen Männer in Ost und West wollten 2013 hingegen 40 Wochenstunden arbeiten, tatsächlich tun dies aber im Westen nur 22,6 Prozent und im Osten 29,2 Prozent. Die meisten sind länger erwerbstätig; obwohl lange Arbeitszeiten auch bei den Männern unbeliebt sind. Die Veränderungen nach der Wende hatten erhebliche Auswirkungen auf die Lebensformen in Paarhaushalten mit Kindern: Das modernisierte Ernährermodell (Vater Vollzeit / Mutter Teilzeit) hat in beiden Teilen Deutschlands an Gewicht hinzugewonnen – in Westdeutschland auf Kosten des Alleinernährermodells (Vater Alleinverdiener), im Osten auf Kosten des Egalitätsmodells mit zwei Vollzeitbeschäftigten.« (vgl. zur gesamten Untersuchung Elke
Holst und Anna Wieber: Bei der Erwerbstätigkeit der Frauen liegtOstdeutschland vorn, in: DIW-Wochenbericht, Nr. 40/2014, S. 967 ff.)

Besonders die Ausführungen im letzten Teil des Zitats sind hervorzuheben. Man kann das vielleicht so zusammenfassen: Was wir seit der Wiedervereinigung sehen ist eine „doppelte Angleichung“ zwischen Ost und West. „Doppelt“ in dem Sinne, dass sich die Lebensformen der Paare im Westen „nach oben“ angeglichen haben, also weg von dem traditionellen Alleinernährermodell des Mannes bei einer zunehmenden überwiegend teilzeitigen Integration der Frauen in Erwerbsarbeit, während es im Osten des Landes eine Angleichung „nach unten“ gegeben hat, denn auch hier hat das Gewicht des „modernisierten Ernährermodells“ (er arbeit Vollzeit, sie Teilzeit) zugenommen, allerdings auf Kosten des früher stärker verbreiteten Egalitätsmodells, bei dem Mann und Frau Vollzeit arbeiten. Dass sich damit angesichts der spezifischen Verwobenheit der sozialen Sicherungssysteme mit dem Tatbestand einer Vollzeiterwerbstätigkeit die Frauen auf Dauer sozialpolitisch gesehen ins Knie schießen, ist ein Folgeproblem, mit dem dann nicht nur wie in der Vergangenheit die meisten westdeutschen Frauen konfrontiert sein werden, sondern zunehmend auch mehr ostdeutsche Frauen, von denen dann viele zusätzlich belastet sind durch die höhere und oftmals auch deutlich länger andauernden Arbeitslosigkeitsphasen im Lebensverlauf. Auch eine Form der Herstellung von Einheit, ein Begriff, der ja nicht für sich aussagt, was, wer, wie und vor allem in welche Richtung vereinheitlicht wird.