Eine gefährliche Gemengelage: Über Berlin-Hellersdorf und darüber hinaus. Zur Entwicklung der Asylbewerberzahlen und der damit verbundenen Herausforderungen

Bei vielen Menschen werden die aktuellen Ereignisse rund um ein Flüchtlingsheim im Berliner Stadtteil Hellersdorf schlimme Erinnerungen an das Jahr 1992 auslösen, als eine Welle fremdenfeindlicher Übergriffe Deutschland in Atem hielt. Die damaligen tagelangen Ausschreitungen in Rostock-Lichterhagen gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter im sogenannten „Sonnenblumenhaus“ habe viele ältere Semestern noch schmerzhaft vor Augen. Sowohl die Asyldebatte als auch die Zahl gewaltsamer Übergriffe auf Asylbewerber und andere Einwanderer erreichten 1991/92 ihren Höhepunkt – und im Jahr 1993 wurde dann auf der Bundesebene sogar das Grundgesetz einschneidend hinsichtlich des Grundrechts auf Asyl von einer großen Koalition der Parteien geändert.

Nun also wieder das gleiche Spiel? Die Herausforderungen, vor denen sich die Stadt Berlin gestellt sieht, sind nicht singulär, sondern hier manifestiert sich eine Entwicklung, die derzeit viele Kommunen in Deutschland erleben und vor allem organisieren müssen: Einen doppelten Anstieg der Flüchtlings- und Zuwandererzahlen, zum einen aus Ländern der Europäischen Union (man denke hier an die Debatte über die Zuwanderung aus den Armenhäusern der EU, also Rumänien und Bulgarien), aber auch eine deutliche Zunahme der Asylbewerber aus anderen Ländern.

Zuerst ein Blick auf die Berliner Situation: »Hunderte neu eintreffende Flüchtlinge muss Berlin derzeit unterbringen. Mit 5.000 Neuankömmlingen rechnet die Stadt in diesem Jahr, so viele wie lange nicht. Weil alle Asylheime belegt sind, eröffneten zuletzt Notunterkünfte. Am Montag auch in Hellersdorf, im Osten der Stadt, in einem Plattenbaugebiet. Weil der Bezirk bisher wenige Flüchtlinge aufnahm und weil er leerstehende Gebäude hat. So wie das frühere Max-Reinhardt-Gymnasium, auch ein Plattenbau. Nun soll er zur Schutzstätte für Geflohene werden«, so Konrad Litschko in seinem Artikel „Flucht ins Feindesland„. Seit Wochen macht eine „Bürgerinitiative Marzahn-Hellersdorf“ Stimmung gegen die Unterkunft, klagt gegen die Unterbringung. Die Gruppe tritt anonym auf, der Verfassungsschutz sieht sie von Rechtsextremisten beeinflusst. Auf Facebook sind die mit einer eigenen Seite präsent – selbstverständlich ist auch die „Gegenseite“ aktiv, mit der Facebook-Seite „Hellersdorf hilft Asylbewerbern„. Die Proteste gegen das Flüchtlingsheim ziehen gerade in Berlin natürlich linke und linksradikale Kräfte an, so dass es zu konflikthaften Auseinandersetzungen gekommen ist und weitere derzeit erwartbar sind – die Überschrift des Artikels „Eingekesselt zwischen Fremdenhass und Begrüßungsplakaten“ bringt die Berliner Mischung zutreffend zum Ausdruck. Das geht sogar so weit, dass Monika Lüke (SPD), die Integrationsbeauftragte des Landes Berlin, ein Demonstrationsverbot vor dem Flüchtlingsheim fordert (vgl. hierzu das Interview mit ihr im Deutschlandfunk: „Asylbewerber unter Polizeischutz„).
Hintergrund des aktuellen Problems ist neben allen ideologisch motivierten Instrumentalisierungen des Themas auch ein grundsätzliches Dilemma: Wohnraum zu finden in einer Stadt, in der Wohnraum an sich, vor allem aber billiger Wohnraum, knapp und zunehmend umkämpft ist – zu den ganz praktischen Problemen, die damit verbunden sind, sei hier der Artikel über Stephan Djacenko empfohlen, der bei der Unterbringungsleitstelle in Berlin arbeitet und dessen Job es ist, Wohnrauzm für Flüchtlinge zu suchen – eine gleichsam herkulische Aufgabe: „Niemand will Flüchtlinge im Bezirk haben„.

Verlassen wir nun in einem zweiten Schritt die Berliner Bühne im engeren Sinne und machen das Bild weiter auf. Seit einiger Zeit wird in den Medien immer stärker über eine erhebliche Zunahme der Asylbewerberzahlen berichtet und diskutiert. Deshalb ein Blick auf die Daten, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) veröffentlicht.

Schaut man sich die lange Zeitreihe des BAMF zu den jährlichen Asylantragszahlen genau an, dann erkennt man den enormen Rückgang seit Mitte der 1990er Jahre – bis zum Jahr 2008, als nur noch 28.000 Asylanträge in Deutschland insgesamt gezählt wurden. Seitdem geht es aber wieder aufwärts. Im vergangenen Jahr waren es wieder über 77.000 Anträge. Und die Entwicklung im laufenden Jahr 2013 zeigt eine weitere erhebliche Zunahme. So berichtet das BAMF: »Im bisherigen Berichtsjahr 2013 nahm das Bundesamt 52.754 Asylerstanträge entgegen. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 27.760 Erstanträge, was einen Zuwachs von 90 Prozent bedeutet. Auch die Zahl der Folgeanträge stieg im bisherigen Jahr 2013 gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeitraum um 24,3 Prozent auf 7.084 Folgeanträge. Damit gingen im Jahr 2013 insgesamt 59.838 Asylanträge beim Bundesamt ein.« Auch hinsichtlich der „Erfolgsquote“ der gestellten Asylanträge gibt es Daten: »Die Gesamtschutzquote für alle Herkunftsländer für das bisherige Jahr 2013 liegt bei 30,2 Prozent (11.772 positive Entscheidungen von insgesamt 39.027).« Schaut man sich die Herkunftsländer der Menschen an, die hier einen Asylantrag gestellt haben, dann werden Muster und Auffälligkeiten erkennbar: Die „Top-3-Länder“ sind die Russische Föderation, Syrien und Afghanistan. 18.000 der 43.000 Erstanträge auf Asyl und damit mehr als 40 Prozent aller Asylanträge im ersten Halbjahr 2013 entfallen auf diese drei Länder.

Während Asylanträge von Menschen aus Syrien und Afghanistan sicher gut nachzuvollziehen sind, gibt es eine besondere Auffälligkeit: Die Zahl der Asylanträge von Menschen aus der Russischen Föderation belief sich im ersten Halbjahr 2013 auf 9.957, im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es lediglich 898 – das bedeutet eine Steigerung im Vorjahresvergleich in der Größenordnung +1.009 Prozent! Ganz offensichtlich liegt hier ein von Schleuseraktivitäten gesteuerter Prozess vor. Zwischenfazit: Schaut man sich die allgemeinen Entwicklungen um uns herum an, dann ist es durchaus plausibel, davon auszugehen, dass in den kommenden Monaten die Asylbewerberzahlen weiter ansteigen werden. Dies verweist auf die abschließend anzusprechende Frage, wie man konkret damit umgehen soll – und das heißt in diesem Fall immer konkret vor Ort, denn die Menschen müssen untergebracht und versorgt werden.

Wo ein Heim, da Protest„, so die taz zum Grundproblem, dessen besonders hässliche Ausformung wir derzeit in Berlin beobachten müssen.  Seit einem Rekord-Tief 2008 hat sich die Zahl der ankommenden Asylbewerber etwa verdreifacht. Auch wenn viele direkt wieder abgeschoben werden, müssen die Kommunen mehr Unterkünfte bereit stellen als bislang. Und wo ein Flüchtlingsheim eingerichtet wird, lassen die Proteste nicht lange auf sich warten. Die taz erinnert uns an aktuelle Beispielfälle:

  • »Im mecklenburg-vorpommerschen Wolgast etwa richtete die Stadt im Herbst 2012 ein erstes Flüchtlingsheim mitten in einer renovierten Plattenbausiedlung ein. Die Gemeinde wollte die Asylsuchenden ausdrücklich nicht am Stadtrand isolieren … Das Heim wurde mit rechtsextremen Sprüchen beschmiert, die NPD kündigte einen Fackelzug an. Der NDR strahlte Szenen aus, wie Flüchtlingskinder im Hof spielten, während arbeitslose deutsche Nachbarn sie mit Liedern wie „Zick, Zack Kanackenpack, haut den Türken auf den Sack“ beschallten.«
  • »Im gutbürgerlichen Berlin-Reinickendorf wehren sich Anwohner juristisch und auf Stammtischniveau gegen die neuen Nachbarn: Als acht Kinder im Flüchtlingsheim an Windpocken erkrankten, hingen überall Flugblätter, die vor Seuchengefahr warnten. Die Hauseigentümer haben nach Einzug der Flüchtlinge ihren Spielplatz eingezäunt und „melden“ Heimbetreiber und Bezirk, wenn trotzdem Flüchtlingskinder darauf spielen. Sie wollen zudem juristisch erstreiten, dass das Heim wieder schließt.«

In der Regel wird dann protestiert, wenn Flüchtlinge zentral, also in Heimen untergebracht werden. Das Asylverfahrensgesetz sieht dies als Regelfall vor.

Aber wie heißt es so schön – keine Regel ohne Ausnahme. Die taz nennt ein Beispiel: »Leverkusen beispielsweise hat mit dezentraler Unterbringung gute Erfahrungen gemacht. Das Rezept: So früh wie möglich ziehen die Flüchtlinge in private Wohnungen ein – zu Mieten auf Hartz-IV-Niveau. Das als „Leverkusener Modell“ bekannt gewordene Prinzip habe sich bewährt und sogar Geld gespart, betont die Gemeinde. Einige Städte wollten das Modell deshalb kopieren.« Wer sich für dieses Modell genauer interessiert, dem sei beispielsweise diese Folienpräsentation der Flüchtlingshilfe Lerverkusen empfohlen.

Allerdings – auch die taz ist nicht völlig unrealistisch: »Der Wohnraum im Niedrigpreissegment ist in vielen Städten knapp.« Und das wird das größte Problem für eine weitgehend dezentrale Lösung des Unterbringungsproblems. Da soll man sich keine Illusionen machen.

Sollte das Unterbringungsproblem in welcher Form auch immer gelöst sein, dann geht es um die Beantwortung einer weiteren Frage, um die sich die meisten Politiker gerne drücken: Wie halten wir es mit dem Arbeitsverbot für die Asylbewerber? Man kann es drehen und wenden wie man will – das mehrmonatige Arbeitsverbot sowie die weiterhin dann bestehenden „Vorrangprüfungen“ schaffen Probleme, die dann im Alltag als Problem durch „die“ Asylbewerber wahrgenommen und als solche bewertet werden. Hier kann es nur eine Antwort geben – auch wenn das natürlich immer mit der Gefahr „negativer Anreizeffekte“ verbunden sein kann und wird: Schafft das Arbeitsverbot endlich ab.

Wenn Eltern zur Gefahr werden … Zahl der Inobhutnahmen der Jugendämter erreicht neuen Höchststand

Im Jahr 2012 haben die Jugendämter in Deutschland 40.200 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen. Das waren gut 1.700 oder 5 % mehr als 2011. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, hat die Zahl der Inobhutnahmen in den letzten Jahren stetig zugenommen, gegenüber 2007 (28.200 Inobhutnahmen) ist sie um 43 % gestiegen.

Mit diesen trockenen Worten beschreibt des Statistische Bundesamt in seiner Pressemitteilung „Zahl der Inob­hut­nah­men im Jahr 2012 auf neuem Höchst­stand“ eine höchst bedenkliche gesellschaftliche Entwicklung.

Eine Inobhutnahme ist eine kurzfristige Maßnahme der Jugendämter zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, die sich in einer akuten, sie gefährdenden Situation be­finden. Jugendämter nehmen Minderjährige auf deren eigenen Wunsch oder auf Grund von Hinweisen Anderer – beispielsweise der Polizei oder von Erzieherinnen und Erzie­hern – in Obhut und bringen sie in einer geeigneten Einrichtung unter, zum Beispiel in einem Heim, so die Beschreibung des Statistischen Bundesamtes.
Betrachtet man die Entwicklung der Inobhutnahmen – also der Herausnahme von Kindern und Jugendlichen aus ihren Familien und die zeitweise oder auch längere Unterbringung beispielsweise bei Pflegeeltern oder in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe („Heime“), dann erkennt man seit dem Jahr 2005 eine beständige Zunahme der Fälle. Von 2005 bis 2012 ist die Zahl der Inobhutnahmen um 57% angestiegen.

Schaut man sich die detaillierten Werte an (vgl. hierzu Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Vorläufige Schutzmaßnahmen 2012, Wiesbaden 2013), dann kann man anhand der Relation der Zahl der vorläufigen Schutzmaßnahmen je 10.000 Kinder und Jugendliche im Alter bis 18 Jahre erkennen, dass es eine erhebliche Zunahme der Eingriffsintensität in den vergangenen Jahren gegeben hat: Lag dieser Wert beispielsweise im Jahr 2005 noch bei 17, ist er im vergangenen Jahr bei 30. Damit belief sich dieser relative Anteilsanstieg von 2005 bis 2012 sogar auf über 76%.

Schaut man sich die Altersverteilung der von einer Inobhutnahme betroffenen Kinder und Jugendlichen im vergangenen Jahr an, dann kann man erkennen, dass zum einen sehr kleine Kinder überproportional vertreten sind, also in der Altersgruppe bis 3 Jahre sowie die Jugendlichen ab dem 14. Lebensjahr.

Mit einem Anteil von 43 % war die Überforderung der Eltern beziehungsweise eines Elternteils der häufigste Anlass für die Inobhutnahme – insgesamt waren davon 17.300 Kinder und Jugendliche betroffen. An dieser Stelle kann man vermuten, dass die seit einigen Jahren zu beobachtende Thematisierung, Problematisierung und Sensibilisierung für Fragen der Kindeswohlgefährdung in den steigenden Fallzahlen bei den Inobhutnahmen ihren Niederschlag gefunden hat, vor allem bei den unter dreijährigen Kindern.

Außerdem weist das Statistische Bundesamt auf einen Zusammenhang mit der Flüchtlingsproblematik hin, denn weiter stark zugenommen hat die Zahl der Minderjährigen, die auf Grund einer unbegleiteten Einreise aus dem Ausland in Obhut genommen wurden. Insgesamt kamen 2012 rund 4800 Kinder und Jugendliche ohne Begleitung über die Grenze nach Deutschland, gut fünfmal mehr als im Jahr 2007, wo das 900 Minderjährige waren.

39 Prozent der betroffenen Minderjährigen kehrten nach der Betreuung wieder zu den Sorgeberechtigten zurück. Für ein knappes Drittel schlossen sich ambulante oder stationäre Hilfen an, etwa in einer Pflegefamilie, einem Heim oder einer betreuten Wohngemeinschaft.
Bei 13 Prozent waren stationäre Hilfen notwendig, beispielsweise in einem Krankenhaus oder der Psychiatrie. Die anderen wurden entweder ins Ausland zurückgeschickt – oder sie kamen wieder in ihre Pflegefamilie, ihr Heim oder eine stationäre Einrichtung, aus der sie weggelaufen waren.

Wer sich für weiterführende und vertiefende Analysen interessiert, der wird fündig in der Berichterstattung der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik an der TU Dortmund, die im Forschungsverbund mit dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) arbeitet. Die Arbeitsstelle gibt als Periodikum die Zeitschrift „KOMDAT“ (Kommentierte Daten der Kinder- & Jugendhilfe) heraus. Dort findet man – mit Blick noch auf die Daten des Jahres 2011 – eine fachliche Gesamteinordnung beisppielsweise in dem Beitrag von Sandra Fendrich und Agathe Tabel: Konsolidierung oder Verschnaufpause? Aktuelle Entwicklungen bei den Hilfen zur Erziehung, in: KOMDAT, Heft 3/2012, S. 11-13. In diesem Beitrag wird parallel zum Anstieg der Inobhutnahmen – die ja erst einmal „nur“ eine kurzfristige Maßnahme der Herausnahme eines Kindes oder eines Jugendlichen aus seinem familialen Setting darstellt – herausgearbeitet, dass es insbesondere bei der Fremdunterbringung und hierbei bei der Heimunterbringung starke Zunahmen gegeben hat. Und auch in diesem Beitrag wird auf die Zunahme der unbegleitet eingereisten Minderjährigen hingewiesen: »So werden in der Heimerziehung verstärkt männliche Jugendliche aufgrund einer „unzureichenden Grundversorgung“ untergebracht. Einiges deutet hier auf unbegleitete Flüchtlinge hin, die in Heimen und betreuten Wohneinrichtungen eine Bleibe finden. Die damit verbundenen Herausforderungen mit Blick auf adäquate Unterbringungssettings sind nicht zu unterschätzen. Es zeigen sich bei vielen Jugendlichen komplexe Problemlagen, bedingt durch das Verlassen ihres Herkunftslandes, ihrer Heimat mit womöglich unter- schiedlichen kulturellen Hintergründen und vor allem dort erfahrene Traumata, etwa durch Kriegserlebnisse.«