Die faktische Kraft des Formalen auf dem Arbeitsmarkt und die notwendigen arbeitsmarktpolitischen Konsequenzen

Jeder, der sich nur ein wenig auskennt im Bereich der Arbeitsvermittlung, weiß um den Stellenwert des formalen Berufsabschlusses auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die hier agierenden Arbeitgeber sind sehr stark abschlussorientiert, was bedeutet, dass das Vorhandensein eines, zuweilen irgendeines Berufsabschlusses als Flaschenhals beim Zugang zu einer, zuweilen irgendeiner Beschäftigung fungiert. Das ist dann nicht nur ein  Problem für die Arbeitsuchenden, die keinen solchen Abschluss haben, sondern auch für die, die beispielsweise während einer mehr oder weniger langen Zeit der Arbeitslosigkeit an Qualifizierungsmaßnahmen teilgenommen haben, die mit einem Zertifikat des Maßnahmeträgers abgeschlossen wurden, denn viele (potenzielle) Arbeitgeber werten diese Zertifikate unterhalb eines formalen Berufsabschlusses sehr niedrig. Insofern kann ein fehlender Berufsabschluss auf dem deutschen Arbeitsmarkt wie ein – notwendigerweise ungerecht wirkendes – statistisches Ausschlussmerkmal den Zugang zu einem neuen Job blockieren, selbst wenn der Betroffene eigentlich über die erforderlichen Kompetenzen verfügt. Aber er kommt gar nicht in die Nähe einer Chance, diese überhaupt zeigen zu können. Eine Studie aus dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) hat diesen an sich seit langem bekannten Sachverhalt neu aufgerufen und mit Daten zu belegen versucht.

»Eine Stelle findet leichter, wer einen formalen Abschluss vorweisen kann. Wie viel jemand tatsächlich kann, spielt dagegen oftmals eine überraschend geringe Rolle«, so die zutreffende Zusammenfassung des Hautergebnisses der neuen WZB-Studie  in dem Artikel Abschluss schlägt Können.

Die WZB-Studie im Original: Jan Paul Heisig und Heike Solga: Ohne Abschluss keine Chance. Höhere Kompetenzen zahlen sich für gering qualifizierte Männer kaum aus. WZBrief Arbeit 19, Berlin, Januar 2015

Amory Burchard beschreibt die Vorgehensweise und die wichtigsten Ergebnisse der neuen Studie in dem Artikel Rechnen gut, Jobaussichten schlecht so: Ausgangspunkt ist die 2013 veröffentlichte OECD-Studie PIAAC (Programme for the International Assessment of Adult Competencies), umgangssprachlich zuweilen als „PISA für Erwachsene“ bezeichnet. PIAAC »misst, wie gut weltweit Menschen im erwerbsfähigen Alter lesen, rechnen und mit digitalen Medien umgehen können. Getestet wurden alltägliche Fähigkeiten, wie man sie etwa beim Einkaufen braucht, zur Interpretation von Statistiken oder um sich im öffentlichen Nahverkehr zurechtzufinden.« Ob nun 15-jährige Schüler untersucht werden oder eben Erwachsene – immer greift die OECD auf das gleiche Kompetenzstufenmodell zurück:

»Wer nur auf der ersten von fünf Kompetenzstufen lesen oder rechnen kann, also nicht in der Lage ist, etwas komplexere Aufgaben zu lösen, gehört der „Risikogruppe“ an, die weder im Alltag noch im Berufsleben gut zurechtkommen kann. In Mathematik gehören aktuell knapp 17,7 Prozent der deutschen Schüler dieser Gruppe an, beim „Erwachsenen-Pisa“ waren es 18,5 Prozent.«

Dass die Zugehörigkeit zu der „Risikogruppe“, bei der elementare Fähigkeiten fehlen, oftmals mit einer sehr hohen und lang anhaltenden Arbeitslosigkeit korreliert, überrascht nicht wirklich, sind doch in den vergangenen Jahrzehnten vor allem die Arbeitsplätze wegrationalisiert worden, auf denen früher diese Menschen Arbeit gefunden haben. Dazu findet man in die Studie die folgenden allgemeinen Hinweise:

»Seit der Bildungsexpansion in den 1960er und 1970er Jahren ist der Anteil an formal gering qualifizierten Menschen ohne abgeschlossene Berufsausbildung oder Studium in der Bevölkerung stark gesunken: 1978 waren noch etwa 36 Prozent der 25- bis 55-Jährigen in Westdeutschland gering qualifiziert. 2012 traf dies nur noch auf 17 Prozent der gesamtdeutschen Bevölkerung in dieser Altersgruppe zu. Zugleich haben sich die Arbeitsmarktchancen von formal gering Qualifizierten seitdem dramatisch verschlechtert – in Deutschland wie in fast allen Industrieländern. In Westdeutschland erhöhte sich die Arbeitslosenquote von Erwachsenen ohne Berufsausbildung oder Hochschulabschluss zwischen 1980 und 2010 von 5,9 auf 19,1 Prozent. Im Vergleich dazu stieg die Arbeitslosenquote von Personen mit Berufsausbildung von 2,1 auf 4,5 Prozent, die von Menschen mit Studienabschluss von 1,8 auf 2,0 Prozent an.« (Heisig/Solga 2015: 2)

Die Wissenschaftler vom WZB haben nun einen ganz besonderen Ausschnitt aus der in PIAAC untersuchten Gruppe der Erwachsenen betrachtet und bei diesen dann einen besonderen Blick geworfen auf deren mathematische Kompetenzen. Die WZB-Forscher schauten nur auf die Erwachsene, die keinen Berufs- oder Hochschulabschluss haben und daher als formal gering qualifiziert gelten. Und dabei nur auf die Männer (zwischen 24 und 54 Jahren), denn die Arbeitsmarktchancen der Frauen ohne Berufsausbildung sind stark von ihrer familiären Situation beeinflusst und nicht nur bzw. weniger von der (formalen) Qualifikationsfrage. In dem Artikel Abschluss schlägt Können können wir lesen:

»Die formal Geringqualifizierten verfügen nicht alle zwangsläufig auch über geringe Kompetenzen in Mathematik. Im Durchschnitt erreichten sie in diesem PIAAC-Testbereich zwar schlechtere Ergebnisse, mit 17 Prozent kamen in dieser Gruppe der Geringqualifizierten jedoch relativ viele auf ein Kompetenzniveau, das eigentlich mit eher anspruchsvollen Tätigkeiten verbunden ist. Die Forscher erklären das unter anderem damit, dass sich in der Gruppe auch Studienabbrecher finden können, die keine Lehre angefangen haben.«

Wenn die Arbeitgeber kompetenzorientiert einstellen würden, dann müsste zumindest diese Untergruppe der formal Geringqualifizierten bessere Jobchancen haben, verfügen sie doch mit der Zuordnung zur Kompetenzstufe 3 über Fähigkeiten auf einem Kompetenzniveau, das nach allgemeiner Auffassung zur Ausübung durchaus anspruchsvollerer Tätigkeiten ausreicht (Stufe 3 bedeutet, dass sie damit ein ausgeprägtes Zahlenverständnis und räumliches Vorstellungsvermögen haben, sie können etwa Daten und Statistiken in Texten, Tabellen und Grafiken interpretieren und analysieren).

Die Realität sieht aber anders aus – zumindest in Deutschland: Denn »das Risiko der mathematisch Kompetenten, arbeitslos zu sein, (ist) mit 30 Prozent ebenso hoch wie bei den anderen Gruppen. International seien Deutschland und auch die USA damit Sonderfälle, betonen die Forscher. In allen anderen 22 Ländern, die an PIAAC teilgenommen haben, hätten Männer mit niedriger Qualifikation, aber besseren alltagsmathematischen Fähigkeiten, mehr Erfolg auf dem Arbeitsmarkt«, so Amory Burchard in seinem Artikel. Wer keinen Berufs- oder Studienabschluss vorweisen kann, hat in Deutschland offenbar kaum Chancen, das mit seinem Können aufzuwiegen.

Die faktische Kraft des (Nicht-)Abschlusses wird auch an diesem besonderen Befund deutlich, den die Wissenschaftler herausstellen:

»Die Nichtbeschäftigungsquote von Männern mit Berufsausbildung, die höchstens die Kompetenzstufe 1 erreichen, ist mit 24 Prozent ähnlich hoch wie die von gering qualifizierten Männern auf dieser Kompetenzstufe … Männer mit beruflichem Abschluss profitieren jedoch trotz ihrer geringen alltagsmathematischen Kompetenzen von ihren höheren Bildungsabschlüssen: Wenn sie erst den Einstieg in den Arbeitsmarkt geschafft haben, arbeiten sie deutlich seltener als Un- oder Angelernte als formal gering qualifizierte Männer mit gleichen oder sogar höheren allgemeinen Kompetenzen.« (Heisig/Solga 2015: 5 f.)

Zusammenfassend bilanzieren Heisig/Solga (2015: 6): »Die Befunde unterstreichen die Bedeutung formaler Qualifikationen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Höhere alltagsmathematische Kompetenzen gehen für formal gering qualifizierte Männer in Deutschland – anders als in anderen Ländern – kaum mit besseren Arbeitsmarktchancen einher. Andererseits scheint auch der Nutzen von beruflichen Abschlüssen begrenzt zu sein, wenn die allgemeinen Kompetenzen sehr niedrig sind.«

Was folgt aus diesen Erkenntnissen? Lesen wir zuerst die Schlussfolgerungen der beiden Wissenschaftler vom WZB:

»Offensichtlich reicht es nicht, nur die allgemeinen Kompetenzen gering Qualifizierter zu erhöhen. Entscheidend ist, dass dies in Verbindung mit beruflichen Nachqualifizierungen (und dem Erwerb entsprechender Zertifikate) geschieht. Zugleich ist es sinnvoll, nicht ausschließlich auf den Erwerb beruflicher Abschlüsse zu achten, da deren Nutzen offenbar begrenzt ist, wenn die Grundkompetenzen sehr gering sind. Die Bekämpfung allgemeiner Kompetenzdefizite muss daher ebenfalls ein wichtiges Ziel von Weiterbildungsangeboten und -aktivitäten sein.«

Genau an diesen beiden Stellen zeigen sich erhebliche Defizite in der gegenwärtigen Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland, denn diese ist vor allem mit Beginn der Umsetzung der so genannten „Hartz-Gesetze“ einem ganz anderen Entwicklungspfad gefolgt: „quick and dirty“, so könnte man zuspitzend die Ausgestaltung vieler „Aktivierungsbemühungen“ charakterisieren. Vor allem der Bereich der Förderung der beruflichen Weiterbildung war lange Zeit dadurch gekennzeichnet, dass man länger laufende und erst einmal kostspieligere Qualifizierungsmaßnahmen, die mit einem formalen Berufsabschluss enden, massiv nach unten gefahren hat zugunsten kurzer, billigerer Maßnahmen, die – wenn überhaupt – mit irgendeinem oftmals kaum oder gar nicht verwertbaren Zertifikat des Bildungsträgers abgeschlossen werden. Erst am aktuellen Rand beginnt auch die Bundesagentur für Arbeit, die Zahl der abschlussorientierten Maßnahmen langsam wieder nach oben zu treiben. Es stellen sich zwei zentrale arbeitsmarktpolitische Herausforderungen, deren derzeitige Nicht- oder Rudimentär-Bearbeitung auf das große schwarze Loch verweisen, mit dem wir hier konfrontiert sind:

  • Wir haben über eine Millionen Menschen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, die über keinen formalen Berufsabschluss verfügen. Hierbei handelt es sich oftmals um die, die am Anfang ihrer (Nicht)Erwerbsbiografie einen Ausbildungsplatz gesucht haben, damals aber aufgrund des Überangebots an Ausbildungsuchenden keinen Zugang haben finden können. Sie sind dann eben als Un- und Angelernte auf dem Arbeitsmarkt gelandet und pendeln oftmals zwischen irgendeiner Erwerbsarbeit und Phasen der Arbeitslosigkeit hin und her bzw. ein Teil von ihnen ist im Langleistungsbezug des Grundsicherungssystems gelandet. Hier müsste man – übrigens verstärkt durch den absehbaren Bedarf an Menschen auf der mittleren Qualifikationsebene – mit einem wirklich seinen Namen verdienenden Qualifizierungsprogramm ansetzen. Dafür muss man nur einmal den Blick zurück richten auf die Anfangsjahre des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG), denn bis Mitte der 1970er Jahre gab es ein im Vergleich zu heute traumhaft attraktives Qualifizierungsprogramm für Erwachsene mit einem Unterhaltsgeld von bis zu 90% des letzten Nettoentgelts, wenn die Betroffenen bereit waren, in einen als zukunftsträchtig wahrgenommenen Beruf umzuschulen bzw. einen ersten Abschluss zu erwerben. Genau diesen Mut zur Investition müsste die Politik jetzt auch wieder aufbringen und entsprechend Geld in die Hand nehmen. Denn volkswirtschaftlich (und gesellschaftspolitisch) würde sich eine solche Investitionsoffensive in das Humanvermögen der Menschen mehr als lohnen, es würde sich um ein Vielfaches auszahlen, wenn man auf dem Schirm hätte, was die zu Facharbeitern, Handwerkern usw. umgeschulten bzw. qualifizierten Menschen über Jahrzehnte an Steuern und Sozialbeiträgen leisten werden bzw. könnten. Allerdings verweist das auf die Notwendigkeit einer „richtigen“ volkswirtschaftlichen Perspektive, denn der „return on investment“ wird eben nicht im nächsten Haushaltsjahr realisiert, sondern wir sind hier mit time-lags von mehreren Jahren zwischen Investition und den Rückflüssen konfrontiert. Aber: Noch nie war die Zeit an sich so günstig für einen solchen Paradigmenwechsel, wenn man sich anschaut, mit welchen Verwerfungen beispielsweise der Ausbildungsmarkt derzeit aufgrund der Umkehrung der Angebots-Nachfrage-Relationen konfrontiert ist.
  • Darüber hinaus muss man aber auch angesichts der veränderten Zusammensetzung der Betroffenen inhaltliche Paradigmenwechsel bei der Qualifizierungsförderung vornehmen. Dies stellt vor allem auf den Faktor Zeit und auf den Faktor Lernarrangements ab. Viele der betroffenen Menschen brauchen – auch vor dem Hintergrund der in vielen Berufsausbildungen gestiegenen Anforderungen – mehr Zeit als bisher für die erfolgreiche Absolvierung der Ausbildung. Die muss man auch förderrechtlich ermöglichen. Und gerade mit Blick auf den „harten Kern“ der Langzeitarbeitslosen im SGB II benötigen wir eine Aufhebung der immer noch stark ausgeprägten Versäulung der Arbeitsmarktpolitik in entweder Beschäftigung oder Qualifizierung. Viele der hier Betroffenen können sehr wohl qualifiziert werden, allerdings nicht in den tradierten Lernsettings, de im Wesentlichen immer noch einer primär kognitiv, also schulisch determinierten Ausrichtung folgen. Qualifizierung durch echte Arbeit müsste irr der konzeptionelle Ansatzpunkt lauten. Dazu gibt es gerade aus der Praxis eine jahrzehntelange Evidenz, die allerdings gebrochen wird an der Realität des Förderrechts und der durch dieses bedingten Ausgestaltung der Maßnahmen. 

Summa summarum zwei richtig große Baustellen. Aber sie sind weitgehend leer, es sind derzeit keine größeren Aktivitäten erkennbar. Und wenn sich das nicht bald ändert, werden weiterhin viele Menschen aus dem bestehenden System ausgespuckt und auf Dauer auf ein Abstellgleis gestellt werden.

Die (angeblich) mangelnde Ausbildungs- und Arbeitsfähigkeit der jungen Leute – und die der Betriebe, die allerdings irgendwie gerne „vergessen“ wird

Schon Sokrates soll das hier geklagt haben:

„Die Jugend liebt heute den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt mehr vor älteren Leuten und diskutiert, wo sie arbeiten sollte. Die Jugend steht nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widerspricht den Eltern und tyrannisiert die Lehrer.“

Es muss – um den wissenschaftlichen Zitationsansprüchen genügen zu können – an dieser Stelle aber darauf hingewiesen werden, dass es wohl keinen Beleg dafür gibt, dass Sokrates das wirklich so gesagt hat, eine Nachweis-Quelle in den Schriften von Platon, aber auch von Aristophanes oder Plutarch, die von Sokrates und seinen geistigen Ergüssen berichten, findet man nicht. Aber gesagt haben könnte der alte Grieche das schon – in Platons „Staat“ ist beispielsweise dieses Zitat von Sokrates überliefert: „Der Lehrer fürchtet und hätschelt seine Schüler, die Schüler fahren den Lehrern über die Nase und so auch ihren Erziehern“ (zitiert nach Christoph Schlösser: Stimmt’s? Verlotterte Jugend). Klingt wie der Beschwerdebrief einer heutigen Grundschullehrerin an die Eltern der ihr anvertrauten Kinder.

Neben der Schüler-Schelte kennen wir auch die Kritik an den Azubis, meistens fokussiert um den Terminus „mangelnde Ausbildungsfähigkeit“ der jungen Leute. Die es sicher gibt, man könnte mehrtägige Veranstaltungen füllen mit anekdotischer Evidenz über unmögliche Exemplare aus Sicht der Erwachsenen. Und nun wurde diese Stoßrichtung scheinbar erneut bedient mit den Ergebnissen einer Befragungsstudie, die von der Unternehmensberatung McKinsey durchgeführt wurde. Spiegel Online textete dazu unter einer sehr verkürzten Rubrik Studie zur Arbeitsmoral: „Jeder vierte Chef klagt über Berufsanfänger„. Schauen wir genauer hin.

»Junge Berufsanfänger sind lustlos und gehen Probleme nicht systematisch an: Laut einer Studie sind 26 Prozent der deutschen Arbeitgeber mit dem Nachwuchs unzufrieden … Mängel sehen die Befragten demnach vor allem bei der Arbeitsmoral oder den Fähigkeiten zur systematischen Problemlösung. Und sie ziehen daraus schwerwiegende Konsequenzen: Knapp ein Drittel (32 Prozent) der Arbeitgeber gibt an, Lehrstellen lieber unbesetzt zu lassen, als die jungen Leute einzustellen, die sich bei ihnen beworben haben. Und das, obwohl vor allem kleine und mittelständische Unternehmen Probleme haben, überhaupt Interessenten für ihre Ausbildungsplätze zu finden«, so die Zusammenfassung in dem Spiegel Online-Artikel. Grundlage dieser Ausführungen ist eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey, in der neben Deutschland die Situation in sieben weiteren europäischen Ländern untersucht worden ist: Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Portugal, Schweden und Spanien:

Mona Mourshed, Jigar Patel, Katrin Suder: Education to Employment: Getting Europe’s Youth into Work, 2014

Mc Kinsey gibt aber nicht nur die Position der Arbeitgeber wieder: »Unzufriedenheit hat sich auch bei den Azubis breit gemacht: Nur jeder Dritte würde sich noch einmal für die von ihm gewählte Ausbildung entscheiden.«

Und die Positionierung der Studie findet man dann in diesen Zitaten: „Jugendarbeitslosigkeit ist nicht nur ein Nachfrageproblem oder konjunkturbedingt, sondern auch ein Angebotsproblem“. „Die Bildungssysteme in ganz Europa – auch das deutsche – bereiten jungen Menschen nicht ausreichend auf den Arbeitsmarkt vor“ (McKinsey-Studie benennt Schwächen im deutschen Ausbildungssystem).

Das Jugendarbeitslosigkeit nicht nur ein Nachfrageproblem ist, sondern auch eines der Angebotsseite, ist so trivial, dass es fast schon weh tut. Gerade der so genannte „Ausbildungsmarkt“ wird hinsichtlich der beobachtbaren Problemen von beiden Seiten stark beeinflusst – und so falsch wie die Behauptung mancher Arbeitgeberfunktionäre ist, es liegt nur an der mangelhaften „Ausbildungsreife“ der Jugendlichen, wenn die keinen Ausbildungsplatz finden, genau so falsch sind die beharrlich jede Verursachung von Ausbildungs- und Jugendarbeitslosigkeit durch in der Person liegende Faktoren auf der Angebotsseite negierenden (scheinbar) „linken“ Positionen, bei denen immer „das“ System schuld sein muss. Jeder, der mit Jugendlichen in dieser sensiblen Phase beim Übergang von der Schule und Beruf wie auch mit den Arbeitgebern hat Erfahrungen sammeln dürfen, der weiß, dass die Wahrheit in der Mitte liegt und wir mit zahlreichen und sehr heterogenen Passungsproblemen konfrontiert sind, die man breit aufgestellt angehen müsste, wenn man es denn eine Verbesserung erreichen will.

Kommen wir zu der zweiten Problemdiagnose der McKinsey-Leute, dass die jungen Leute nur schlecht vorbereitet werden auf den Arbeitsmarkt. In der Zusammenfassung erfahren wir:

„Unser aktuelles System der Berufsinformation und -beratung garantiert nicht, dass junge Menschen die Ausbildung wählen, die tatsächlich die beste für sie ist“, erläutert McKinsey-Beraterin Solveigh Hieronimus die Umfrageergebnisse für Deutschland. Zwei Drittel (64%) aller jungen Menschen gaben an, sich falsch oder nur unzureichend informiert zu fühlen, was ihre spätere Berufswahl betrifft.

Dies scheint komplementär zu sein zu den Befunden, die vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) über das Ausbildungssystem in Deutschland verbreitet wird. Jährlich veröffentlicht der DIHK hierzu Befragungsergebnisse, die aktuellste Fassung ist die hier:

DIHK: Ausbildung 2013. Ergebnisse einer DIHK-Online-Unternehmensbefragung, Berlin, April 2013

Nach den Angaben der befragten Unternehmen beklagen 44 Prozent der Ausbildungsunternehmen Rahmenbedingungen, die eine Ausbildung verhindern oder erschweren (was aber, um das hier auch mal zu betonen, auch bedeutet, dass weit über die Hälfte der befragten Unternehmen gar keine hinderlichen Rahmenbedingungen erkennen kann oder mag). Zu den beiden mit Abstand am häufigsten genannten Hemmnissen:

»Die mangelnde Ausbildungsreife vieler Schulabgänger ist für die meisten dieser Betriebe (75 Prozent) das Ausbildungshemmnis Nr. 1. Die Tendenz der vergangenen drei Jahre ist leicht rückläufig. Dagegen steigt die Unzufriedenheit mit der Berufsorientierung stetig. 53 Prozent der Unternehmen geben an, unklare Berufsvorstellungen vieler Schulabgänger wirkten sich als Ausbildungshemmnis aus. Dies ist seit 2011 ein Zuwachs um vier Prozentpunkte« (S. 26, Hervorhebung nicht im Original).

Quelle: DIHK: Ausbildung 2013, Berlin 2013, S. 27

Hinter dieser scheinbar eindeutigen Zuordnung der Passungsprobleme seitens der betroffenen Arbeitgeber verbergen sich neben absolut ernst zu nehmenden Problemen auf der Angebotsseite, beispielsweise erhebliche Verhaltensprobleme bei einigen jungen Menschen, die tatsächlich und auch bei gutem Willen eine Ausbildungsaufnahme oder -fortführung verunmöglichen, aber auch Annahmen über das, was als potenzieller Auszubildender „zugeliefert“ werden soll aus Schule und Elternhaus, die man vorsichtig formuliert als „ambitioniert“ bezeichnen muss. Nüchtern formuliert: Die relativ hohen Erwartungen, die sich zuweilen darin verdichten, dass man einen quasi „fertigen“ Azubi vor Beginn der Ausbildung erwartet, war und ist auch zu großen Teilen den Angebots-Nachfrage-Verhältnissen auf dem „Ausbildungsmarkt“ geschuldet, denn bis vor kurzem war es in Westdeutschland in den meisten Regionen so, dass es auf einen Ausbildungsplatz mehrere, zuweilen sehr viele Bewerbungen gab, aus denen man betriebswirtschaftlich absolut nachvollziehbar dann über den Weg der „Bestenauslese“ selektieren konnte, was aber die Erwartungshaltung sowohl hinsichtlich der kognitiven wie auch der sozialen Kompetenzen, die sich gleichsam zu Einstiegsvoraussetzungen in eine Ausbildung verfestigt haben, bewusst-unbewusst auf der Arbeitgeberseite nach oben geschraubt hat.

Neben der Tatsache, dass innerhalb der Berufsbildungsforschung der Begriff „Ausbildungsreife“ kritisch bis ablehnend diskutiert wird, soll an dieser Stelle herausgestellt werden, dass wenn man schon mit diesem Terminus argumentiert, dann sollte man eben nicht – wie leider in der öffentlichen Debatte gegeben – diese nur auf eine Seite der Medaille, also auf die jungen Menschen, reduzieren. Man müsste sich dann eben auch die andere Seite anschauen, also das Thema „Ausbildungsreife“ der Betriebe aufrufen.

Hierzu hat der DGB im vergangenen Jahr eine interessante Veröffentlichung vorgelegt:

Matthias Anbuhl und Thomas Gießler: Hohe Abbrecherquoten, geringe Vergütung, schlechte Prüfungsergebnisse – Viele Betriebe sind nicht ausbildungsreif. DGB-Expertise zu den Schwierigkeiten der Betriebe bei der Besetzung von Ausbildungsplätzen, Berlin, 07.05.2013

Quelle: Anbuhl/Gießler (2013: 2). 

Die Zahl der umbesetzen Ausbildungsplätze 
bezieht sich auf das Jahr 2012

Sie weisen erst einmal auf erhebliche Diskrepanzen zwischen einzelnen Branchen bzw. Berufen hin: Während einige Berufe sehr gefragt waren und die Betriebe in diesen Branchen nahezu keine Rekrutierungsprobleme hatten, gab und gibt es bei anderen Berufen erhebliche Besetzungsprobleme.
In der Expertise von Anbuhl/Gießler (2013) wurde versucht, die „Ausbildungsreife“ von Betrieben zu thematisieren. Um die Ausbildungsqualität und die Attraktivität in den Berufen mit hohen Besetzungsproblemen erfassen zu können, wurden die Unterschiede zwischen den Ausbildungsberufen mit einer hohen Zahl unbesetzter Plätze im Vergleich zum Durchschnitt aller Ausbildungsberufe dargestellt. Dazu wurden die folgenden Indikatoren herangezogen: die Quote der vorzeitigen Auflösungen von Ausbildungsverträgen, die Ausbildungsvergütungen, die Misserfolgsquote bei den Abschlussprüfungen sowie die Ausbildungsqualität aus Sicht der Auszubildenden. werfen wir einen Blick auf die Quoten der vorzeitigen Ausbildungsvertragslösungen:

Quelle: Anbuhl/Gießler (2013: 3)

Die Autoren weisen selbst darauf hin, dass es unterschiedliche Gründe geben kann für die Auflösung eines Ausbildungsverhältnisses, was nicht per se schlecht sein muss. Je nach Fallkonstellation kann es Sinn machen, ein Ausbildungsverhältnis aufzulösen. Auch kann beispielsweise eine Betriebsschließung zu einer Auflösung führen. Und ganz wichtig, weil die auch hier ausgewiesene Lösungsquote in vielen Medien immer gerne mit „Ausbildungsabbruch“ gleichgesetzt wird (z.B. mit Bezug auf den Durchschnittswert heißt es dann: „Jeder 4. Azubi bricht die Lehre ab“). Die Lösung eines Ausbildungsverhältnisses heißt eben nicht automatisch Abbruch der Ausbildung, sondern oft geht es um den Wechsel des Ausbildungsbetriebs oder des Ausbildungsberufs, nicht aber um einen Abbruch der Ausbildung per se. Für diejenigen, die sich für eine differenzierte Analyse interessieren, sei an dieser Stelle die folgende Veröffentlichung empfohlen:

Alexandra Uhly: Vorzeitige Lösung von Ausbildungsverträgen – einseitige Perspektive dominiert die öffentliche Diskussion, in: BWP, Heft 6/2013

Zurück zur Expertise von Anbuhl und Gießler. Sie schreiben: »Die Quote der vorzeitig gelösten Ausbildungsverträge in den untersuchten Ausbildungsberufen liegt seit Jahren konstant innerhalb eine Spanne von 33 bis 51 Prozent – und ist damit signifikant höher als der Durchschnitt. In einigen Berufen liegt sie sogar mehr als doppelt so hoch. Diese Daten deuten auf branchenspezifische Probleme hin« (S. 4). Und sie schlussfolgern: »In diesen Ausbildungsberufen müssen die Betriebe dringend an der Qualität und der Attraktivität arbeiten.« Genau hier zeigt sich erneut, dass die Nachfrage- und Angebotsseite miteinander verwoben sind, denn so richtig die Schlussfolgerung der beiden Autoren mit Blick auf die Betriebe ist, es gibt sicher auch die plausible Möglichkeit, dass auf der Angebotsseite keine „Lust“ mehr besteht, sich den nicht vermeidbaren schwierigen Arbeitsbedingungen in bestimmten Berufen (z.B. hinsichtlich der Arbeitszeiten) zu entziehen durch Verweigerung einer entsprechenden Ausbildungswahl.

Trotz aller Einschränkungen ist es das Verdienst der Expertise von Anbuhl und Gießler, auf die „Ausbildungsreife von Unternehmen“ überhaupt hinzuweisen und gewisse Zusammenhänge aufzuzeigen. Sie kommen mit Blick auf die Berufe mit überdurchschnittlich hohen Vertragslösungsquoten zu dem Befund: »In nahezu allen Punkten gibt es bei diesen Ausbildungsberufen erhebliche Mängel, die Fragen nach der „Ausbildungsreife der Betriebe“ in diesen Branchen aufwerfen. Dies gilt gerade für die Hotel- und Gaststättenbranche.«

Abschließend der durchaus erhellende Ausflug in die Praxis eines Unternehmens bzw. eines Unternehmers, der kein Problem hat mit „seinen“ Azubis und der der Klagewelle seitens der Arbeitgeber seine Sicht entgegenhält. Unter der Überschrift „Lehrlinge mit Familienanschluss“ gibt es ein Interview mit dem bekannten Trigema-Chef Wolfgang Grupp: „Wolfgang Grupp … hält auf seine Azubis große Stücke, besetzt mit ihnen später Führungsjobs – und stellt Akademiker gar nicht erst ein in seinem Textilbetrieb Trigema“, so die Überschrift. Das Interview wurde geführt im Kontext der Berichterstattung über die McKinsey-Studie – und zugleich ist es ein Lehrstück über die Haltung eines patriarchalen Familienunternehmers:

Er kann nur von positiven Erfahrungen mit seinen Azubis berichten. »Das liegt aber daran, dass wir uns bestens um unsere Auszubildenden kümmern. Das Unternehmen ist ihre zweite Familie – ich nenne das die Arbeitsfamilie. Jeder Azubi weiß, wenn er Leistung bringt, kriegt er eine Chance und kann weiterkommen.« Und weiter: »Wir besetzen später die leitenden Positionen mit ihnen. Bei Trigema gibt es unter 1200 Mitarbeitern nur mich, der studiert hat. Alle anderen Führungskräfte kommen aus der betrieblichen Ausbildung, mit Ausnahme des technischen Leiters, der aber auch schon 22 Jahre bei uns ist.«

Grupp hat – wie so oft – kalte Vorstellungen: »Wenn ich qualifizierte Fachkräfte haben möchte, dann muss ich sie ausbilden. Ich kann nicht erwarten, dass mein Wettbewerber für mich ausbildet – und mir später seine besten Leute schickt und die schlechten für sich behält.«

Und auch die aus der gewerkschaftlichen Ecke kommende Forderung nach mehr „Ausbildungsreife“ bei manchen Unternehmen im Sinne von mehr Attraktivität findet eine unternehmerische Entsprechung: »Wenn Sie in Burladingen auf der Schwäbischen Alb sitzen, ist es in der Tat so, dass sicherlich keine Leute aus London oder Paris zu uns kommen wollen. Ich muss wissen, dass ich hier nicht ein attraktives Lebensumfeld bieten kann, also muss ich dafür umso mehr attraktive Arbeitsplätze bieten. Die kann ich dann auch problemlos mit Bewerbern aus unserer Region besetzen.«

Wie passt das zusammen? Klagen über Fachkräftemangel und Akademisierungswahn – und dann fällt die Zahl der neuen Ausbildungsverträge auf einen historischen Tiefstand. An der Passung liegt es, aber nicht nur

Das sind keine erfreulich daherkommenden Nachrichten, die das Bundesinstitut für Berufsbildung in Bonn der Öffentlichkeit mitteilen musste: „Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge fällt auf historischen Tiefstand„, so ist die Botschaft überschrieben.

Die wichtigsten Befunde in der Zusammenfassung: »(Die) Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge fiel auf einen historischen Tiefstand, den niedrigsten Wert seit der Wiedervereinigung. Zugleich nahmen die Passungsprobleme zu: ein höherer Anteil des betrieblichen Ausbildungsangebots blieb unbesetzt, und mehr Ausbildungsplatznachfrager blieben bei ihrer Ausbildungsplatzsuche erfolglos. Insgesamt verschlechterte sich die Marktlage zu Lasten der Jugendlichen, und es gelang nicht mehr im selben Ausmaß wie in den drei Jahren zuvor, ausbildungsinteressierte Jugendliche an dualer Berufsausbildung zu beteiligen.«

Natürlich stellt sich angesichts dieser Daten die völlig naheliegende Frage, wie es sein kann, dass in den Medien andauernd über fehlende Fachkräfte – dabei auch und zutreffend in den „klassischen“ Ausbildungsberufen und nicht nur bezogen auf Ärzte oder Ingenieure – sowie fehlende Azubis diskutiert wird und ebenfalls grundsätzlich zutreffend über die problematischen Auswirkungen der expandierenden Akademisierung auf das System der dualen Berufsausbildung (vgl. hierzu beispielsweise die Arbeit „Wie viel akademische Bildung brauchen wir zukünftig? Ein Beitrag zur Akademisierungsdebatte“ von Hartmut Hirsch-Kreinsen) berichtet und diskutiert wird – und dann müssen wir einen solchen Einbruch bei der Zahl der Ausbildungsverträge zur Kenntnis nehmen?

Sven Astheimer versucht sich in der FAZ an Erläuterungsversuchen: »Neben dem demographischen Wandel gibt es weitere Gründe für den Rückgang in den Lehrberufen. Zum einen sorgt der Trend zu höheren Abschlüssen dafür, dass die Zahl der Studienanfänger mit mehr als einer halben Million mittlerweile fast gleichauf mit den neuen Lehrlingen liegt.« Und weiter: »Zum anderen sprechen Fachleute vom Bundesinstitut für Berufsbildung, die die Statistik erhoben haben, von einer steigenden „Passungsproblematik“: Das bedeutet, dass das Angebot an Lehrstellen und die Jugendlichen häufig nicht mehr zusammen passen. Das kann daran liegen, dass etwa Berufe im Handwerk, der Gastronomie oder in der Landwirtschaft nicht mehr den Wünschen der Jugendlichen entsprechen. Genauso gut ist möglich, dass die Qualifikation der Bewerber nicht den Anforderungen der Arbeitgeber entspricht.«

Bereits Ende Oktober hatte Astheimer in seinem Artikel „Lehrstellen und Bewerber finden schwerer zusammen“ auf diese Passungsprobleme hingewiesen und die Debatte darüber sofort als eine des Kampfes um „Deutungshoheit“ gewertet. Damit meint er die reflexhaften Reaktionen der Gewerkschaften und der Wirtschaft auf die sich verschlechternden Zahlen vom „Ausbildungsmarkt“ (wobei die Anführungszeichen hier von mir gesetzt werden vor allem für den Terminus „Markt“, denn es handelt sich wenn überhaupt nur um einen sehr amputierten „Markt“). Während die Gewerkschaften auf die „krisenhafte“ Entwicklung abstellen und angesichts der (wieder zunehmenden) Probleme eines Teils der jungen Menschen und der beobachtbaren Reduktion der Zahl der überhaupt ausbildenden Betriebe einen „Rechtsanspruch auf eine Lehrstelle“ fordern, kontern die Wirtschaftsvertreter: „Mangelnde Ausbildungsreife lässt sich nicht durch Rechtsanspruch aus der Welt definieren“. Mit diesen Worten wird Oliver Zander, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, in dem Beitrag von Astheimer zitiert. In allen Branchen und Berufen gebe es unbesetzte Lehrstellen. Die tatsächliche Zahl liege sogar noch deutlich über den offiziellen, denn längst nicht jedes Unternehmen melde seine offenen Stellen.

Es ist wie so oft eine Spiegelbild der allgemeinen wirtschaftspolitischen Debatte: Die Gewerkschaften fokussieren ihre Kritik auf die Nachfrageseite des „Ausbildungsmarktes“, also die Unternehmen, denen man „Versagen“ bei der Aufgabe, genügend Ausbildung nachzufragen, vorwirft, während die Arbeitgeber auf der Angebotsseite des „Ausbildungsmarktes“ herumreiten, also die mangelnde „Ausbildungsreife“ oder ein spezifisches Wahlverhalten der potenziellen Azubis beklagen, das dann im Ergebnis zu nicht besetzten Ausbildungsstellen führen würde. Und wie so oft wird die Wahrheit in der Mitte dieser beiden großen Schneisen liegen.

Die Bewerber sind oft nicht dort, wo es die Stellen gibt. Dann reicht eben der Blick auf die Gesamtzahl an angebotenen und nachgefragten Ausbildungsstellen nicht aus, er führt eher auf die falsche Fährte. Die ostdeutschen Bundesländer haben das jahrelang schmerzhaft zu spüren bekommen. Natürlich gebe es eine (aber nur scheinbar) einfache Lösung dieses allgemeinen Mismatch-Problems: Die junge Leute müssen eben dahin, wo es ausreichend oder gar zu viele Ausbildungsplätze gibt. Wenn man das aus welchen Gründen auch immer nicht hinbekommt oder auch nicht hinbekommen möchte, dann muss man für einen Teil der jungen Menschen Alternativen schaffen – auch davon können die ostdeutschen Bundesländer ein Lied singen.
Die Experten des Bundesinstituts für Berufsbildung gehen differenziert an die Situation heran. Sie identifizieren unterschiedliche Problemtypen auf dem Ausbildungsmarkt, eine instruktive Übersicht findet sich in dieser aktuellen Veröffentlichung:

Joachim Gerd Ulrich, Stephanie Matthes, Simone Flemming, Ralf-Olaf Granath, Elisabeth M. Krekel: Die Entwicklung des Ausbildungsmarktes im Jahr 2013. Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge fällt auf historischen Tiefstand. BIBB-Erhebung über neu abgeschlossene Ausbildungsverträge zum 30. September (vorläufige Fassung vom 12.12.2013), Bonn

Die dieser Publikation entnommene Abbildung (Ulrich et al. 2013: 12) verdeutlicht, dass das Besondere an dem „Passungsproblem“ ist, dass hier vielen erfolglosen Bewerbern zugleich viele offene Ausbildungsstellen gegenüberstehen. Regionale Mismatch-Situationen hingegen gehören oftmals zum „Versorgungsproblem“. Alle hier dargestellten Problembereiche des „Ausbildungsmarktes“ werden dann detailliert und mit aktuellen Daten bestückt analysiert.

60% aller neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge wurden im Bereich Industrie und Handel registriert. Im Handwerk – als zweitgrößtem Bereich – waren es 26,8%. Und hier sind leider die stärksten Rückgänge zu beobachten: Das Handwerk musste erneut einen deutlichen Rückgang bei den neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen hinnehmen musste (bundesweit um -5.200 bzw. -3,5% auf nunmehr 142.100). Ein noch deutlicheres Minus war in diesem Jahr jedoch im Bereich Industrie und Handel zu verzeichnen, wo insgesamt nur noch 318.500 neue Ausbildungsverträge (-14.100 bzw. -4,2% im Vergleich zum Vorjahr) abgeschlossen wurden (Ulrich et al. 2013: 8).

Mit Blick auf die Zukunft: Nicht nur die offensichtlich rückläufige Ausbildungszahlen am Anfang der Ausbildungsphase sollten vor dem Hintergrund des erheblichen Ersatzbedarfs in Handwerk und Industrie auf der Ebene der Facharbeiter sowie bei den kaufmännischen Berufen zu erheblicher Besorgnis Anlass geben. Wir steuern hier immer stärker auf massive Engpassprobleme zu. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass bekanntlich nicht alle, die eine Ausbildung anfangen, diese auch mit einem Abschluss beenden. Wir sind in Teilbereichen des dualen Systems mit erheblichen Anteilen an Ausbildungsabbrechern konfrontiert:

»Im Jahr 2011 wurden im Bundesgebiet fast 150.000 Ausbildungsverträge (24,4 %) vorzeitig gelöst … Dabei gibt es zwischen den verschiedenen Ausbildungsberufen sehr große Unterschiede. Die Spannweite reicht vom Beruf Verwaltungsfachangestellte/-r mit der geringsten Quote von 3,7 % zum/zur Restaurantfachmann/ -frau mit der höchsten Quote von 51,0 %.« So die Zahlen aus der Studie von Ursula Beicht und Günter Walden: Duale Berufsausbildung ohne Abschluss – Ursachen und weiterer bildungsbiografischer Verlauf. Analyse auf Basis der BIBB-Übergangsstudie 2011 (=BIBB-Report 21/13), Bonn 2013.

Das alles hat nicht nur was mit mangelnder „Ausbildungsreife“ der jungen Menschen zu tun, sondern auch mit einer mangelhaften „Ausbildungsreife“ so mancher Betriebe- Hierzu ausführlicher:

Matthias Anbuhl und Thomas Gießler: Hohe Abbrecherquoten, geringe Vergütung, schlechte Prüfungsergebnisse – Viele Betriebe sind nicht ausbildungsreif. DGB-Expertise zu den Schwierigkeiten der Betriebe bei der Besetzung von Ausbildungsplätzen, Berlin 2012

Die neuen Zahlen geben uns bedenkliche Hinweise auf die Verhasstheit des dualen Ausbildungssystems – das insgesamt unter einem doppelten Druck steht: Zum einen „von oben“, da immer mehr junge Leute, die früher hier eingemündet sind, nunmehr an die überfüllten Hochschulen strömen, zum anderen aber auch „von unten“, weil gleichzeitig aufgrund der gestiegenen Anforderungen in vielen Ausbildungsberufen eine Öffnung hin zu den „leistungsschwächeren“ Jugendlichen verbaut oder zumindest erheblich erschwert ist.