Schwerbehinderte auf dem Arbeitsmarkt: Überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit, andererseits wird Inklusion in der Arbeitswelt (angeblich) immer alltäglicher

Wichtige Tage der Gesetzgebung liegen (nicht nur) hinter den Menschen mit Behinderungen, hat doch der Bundestag nunmehr ein Bundesteilhabegesetz verabschiedet, gegen dessen Entwurf es heftigen Widerstand aus den Reihen der Behindertenbewegung und der Sozialverbände gegeben hat. Im wahrsten Sinne des Wortes bis zum letzten Moment wurde hier um  Änderungen gerungen, offensichtlich mit Erfolg: »Nach Protesten bessert die Koalition das Behindertenrecht nach«, berichtet Thomas Öchsner in seinem Artikel Des Zornes Wirkung, obgleich die immer noch nicht ausreichen, um alle Kritiker zu besänftigen: »In 68 Punkten hat die Koalition das Bundesteilhabegesetz kurz vor knapp geändert. Die Macher sind zufrieden, Verbände auch. Andere sagen: „Der Kampf geht weiter.“«, kann man diesem Bericht entnehmen:  68 Mal geändert, trotzdem noch Kritik. Aber um die Tiefen und Untiefen des Bundesteilhabesetzes soll es in diesem Beitrag gar nicht gehen, sondern um einen wichtigen Teilaspekt der Lebenslage von Menschen mit Behinderungen: ihrer Teilhabe am Arbeitsmarkt. Oder spiegelbildlich ihrer Exklusion. Womit wir natürlich auch wieder bei der Inklusion wären, deren Umsetzung ja eines der Ziele des nunmehr zumindest im Bundestag verabschiedeten Bundesteilhabesetzes sein soll. Und das hat seinen Vorlauf gehabt. Eine wichtiges Datum in diesem Zusammenhang ist sicher der 13. Dezember 2006. Vor zehn Jahren haben die Vereinten Nationen die UN-Behindertenrechtskonvention verabschiedet. Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention sieht ein gleiches Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderung vor. Deutschland hat die UN-BRK 2009 unterzeichnet und sich damit zur schrittweisen Umsetzung der Forderungen verpflichtet.

Vor diesem Hintergrund hat der DGB eine Bestandsaufnahme zu diesem wichtigen Teilaspekt der Inklusion veröffentlicht: 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention: Wie ist der Umsetzungsstand am deutschen Arbeitsmarkt?. Der DGB beklagt darin, dass wir es mit einer dauerhaft überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen zu tun haben, die Arbeitslosenquote der schwerbehinderten Menschen lag 2015 bei 13,4 Prozent, die vergleichbare allgemeine Arbeitslosenquote betrug 8,2 Prozent. Und mit einem Blick über die vergangenen Jahre muss festgehalten werden: Die Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen ist langsamer gesunken als die allgemeine Arbeitslosigkeit. Der Abstand zwischen beiden Gruppen hat sich seit 2009 sogar deutlich vergrößert.

Auch mit Blick auf die arbeitsmarktpolitischen Fördermaßnahmen können keine schönen Bilder gemalt werden, ganz im Gegenteil, denn auch die schwerbehinderten Menschen haben die massiven Einschnitte der Bundesregierung in die Arbeitsmarktpolitik zu spüren bekommen: Während die Zahl der Arbeitslosen 2015 im Vergleich zu 2009 um 18 Prozent gesunken ist, ging die Zahl der Teilnehmenden in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen mit 46 Prozent jedoch weitaus stärker zurück. Und bei den Schwerbehinderten sehen die Werte so aus: Die Zahl der schwerbehinderten Arbeitslosen ist entgegen dem Trend sogar gestiegen (um 6 Prozent) – und auch bei den Maßnahmen für schwerbehinderte Menschen gab es 34 Prozent weniger Teilnehmende als in 2010. »Schwerbehinderte Menschen sind durch die Kürzungen der Bundesregierung damit sogar stärker betroffen«, so das Fazit des DGB.

Und dann wird auch dieser Posten nicht mehr überraschen – eine überdurchschnittliche Betroffenheit von Langzeitarbeitslosigkeit: In allen Altersgruppen sind prozentual mehr Schwerbehinderte länger als 12 Monate arbeitslos als nicht Schwerbehinderte.

Nach so viel doch mehr als ernüchternden Zahlen aus der Arbeitsmarktstatistik ist man auf der Suche nach positiven Botschaften. Und man stößt parallel zur Veröffentlichung der DGB-Analyse auf das Inklusionsbarometer Arbeit 2016: »Das vierte Inklusionsbarometer Arbeit bringt gute Nachrichten: In der Arbeitswelt wird Inklusion immer alltäglicher.« Das hört sich vierersprechend an, ist das doch mit so einem Untertitel versehen: „Ein Instrument zur Messung von Fortschritten bei der Inklusion von Menschen mit Behinderung auf dem deutschen Arbeitsmarkt“. Also schauen wir uns das genauer an:

Aktion Mensch: Inklusionsbarometer Arbeit. Ein Instrument zur Messung von Fortschritten bei der Inklusion von Menschen mit Behinderung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. 4. Jahrgang (2016), Bonn 2016

Also genau genommen ist die Aktion Mensch Herausgeberin, erstellt wird das Inklusionsbaromter Arbeit vom Handelsblatt Research Institute, einem „Geschäftsfeld der Verlagsgruppe Handelsblatt“. Präsident des Instituts ist der umtriebige Bert Rürup, der ehemalige Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und des Sozialbeirats der Bundesregierung.

Zum Instrumentarium des Inklusionsbarometers muss man wissen, dass es neben der Auswertung amtlicher Statistiken zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen auf Umfrageergebnissen basiert:

»Seit 2013 führt das Handelsblatt Research Institute in Kooperation mit dem Meinungsforschungsinstitut Forsa jährlich eine bundesweite, repräsentative Umfrage im Auftrag der Aktion Mensch durch. Für das aktuelle Inklusionsbarometer 2016 hat Forsa 804 berufstätige Arbeitnehmer mit Behinderung zur Arbeitsmarktsituation und zu ihren Erfahrungen in der Arbeitswelt befragt sowie 500 Personalverantwortliche in Unternehmen mit mindestens 20 Mitarbeitern, die Menschen mit Behinderung beschäftigen.«

Das „Inklusionsbarometer Arbeit“ ist offensichtlich mit den beiden Komponenten Lage und Klima in Anlehnung an die Konjunktunkturindikatoren von ifo und ZEW konstruiert worden.
Während das Inklusionslagebarometer auf der Auswertung amtlicher Statistiken basiert, werden die Werte für das Inklusionsklimabarometer aus den Umfragedaten bei den Unternehmen und den Arbeitnehmern abgeleitet.

Hinsichtlich der Lage »bleibt das Resultat teilweise unbefriedigend – trotz eines steigenden Beschäftigungsgrads und wieder sinkender Arbeitslosigkeit. Es gelingt zwar, eine immer größere Zahl von erwerbsfähigen und arbeitswilligen Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren, aber nicht im gleichen Maße und nicht mit der gleichen Geschwindigkeit wie bei den Beschäftigten ohne Einschränkung. Im Gegenteil: Bei Langzeitarbeitslosen verlangsamt sich dieser Aufholprozess sogar. Der positive Impuls ist zwar spürbar, er könnte aber wesentlich stärker ausgeprägt sein.« (S. 14)

Hinsichtlich des Klimas gibt es die meiste Bewegung, die man allerdings differenziert sehen muss:
»Das Inklusionsklimabarometer erreicht in diesem Jahr einen Gesamtwert von 37,1. Damit hat sich das Arbeitsmarktklima für Menschen mit Behinderung gegenüber dem Vorjahr spürbar verbessert (34,1). Dabei ist die Entwicklung durchaus gegenläufig: Die Stimmung unter den Arbeitnehmern hat sich mit einem Wert von 38,7 im Vergleich zum Vorjahr (40,4) erneut leicht verschlechtert. Demgegenüber hat sich das Inklusionsklima bei den Unternehmen dramatisch verbessert von 27,8 auf 35,5.«

Vor diesem Hintergrund kann man dann vielleicht auch die folgenden Zusammenfassung auf der Website von Aktion Mensch etwas distanzierter lesen bzw. besser einordnen:

»Der Gesamtwert des „Barometers“ von 106,7 ist der beste, den es bisher gab (im vergangenen Jahr lag er bei 101,2). Grund für die Verbesserung ist, dass die Unternehmen das Thema Inklusion positiver einschätzen (von 27,8 auf 35,5). Das gefühlte Inklusions-Klima bei den Menschen mit Behinderung selbst ist hingegen leicht gesunken (von 40,4 auf 38,7). Gut zu wissen: Von einem positiven Inklusionsklima kann man erst ab dem Schwellenwert von 50 sprechen.«

Das Inklusionsbarometer Arbeit 2016 hat sich zugleich mit einem speziellen Thema beschäftigt, das im Jahr 2016 in allen Arbeitsmarktdebatten auftaucht: Digitalisierung. Von den rund 800 befragten Arbeitnehmern mit Behinderung haben 70 Prozent angegeben, dass die Veränderungen zum „Arbeitsplatz 4.0“ positiv zu sehen seien. Mit dem Digitalisierungsschwerpunkt befasst sich beispielsweise auch der Artikel Wie Digitalisierung Jobs für Behinderte schaffen kann von Nina Giaramita. Sie beginnt ihren Beitrag mit einem beeindruckenden Beispiel der positiven Art, weil sie sich eine besonders schwere Beeinträchtigung herausgesucht hat: »Zwei Finger und ihre Gesichtsmuskeln kann Claudia Brandt noch bewegen. Die Bonnerin ist seit ihrer Kindheit an Spinaler Muskelatrophie erkrankt. Die Erkrankung schränkt die Bewegungsfähigkeit der 48-Jährigen zunehmend ein. Trotz ihres Handicaps steht Claudia Brandt jedoch voll im Berufsleben. Sie arbeitet 30 Stunden die Woche für ein medizinisches Institut – unter anderem lektoriert sie Texte und unterstützt die Internet-Redaktion der Einrichtung.« Dabei profitiert sie von der Digitalisierung. Aber Nina Giaramita leuchtet auch die andere Seite der Medaille an, am Beispiel der ebenfalls an Spinaler Muskelatrophie erkrankte Zwillingsschwester von Claudia Brandt. »Die Diplom-Psychologin Ilona Brandt sucht seit vier Jahren nach einer neuen Stelle. Zuletzt arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einer Klinik in Oberhausen. Nach zwei Jahren erfolgreicher Beschäftigung ging es jedoch für Ilona Brandt nicht weiter.« Seitdem hängt sie in der Langzeitarbeitslosigkeit fest.

Schauen wir am Ende dieses Beitrags wieder zurück zum DGB und seiner Bestandsaufnahme der Arbeitsmarktsituation schwerbehinderter Menschen. Gibt es dort Lösungsansätze für die weiterhin offensichtliche schwierige Lage vieler schwerbehinderter Arbeitsloser?

Unter der Überschrift „Bessere Betreuung notwendig: Initiative von DGB und BDA“ führt der DGB (2016: 4) aus:

»Menschen mit einer Behinderung können durch spezielle Reha-Maßnahmen gefördert werden, wie bspw. eine Umschulung, wenn der alte Beruf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausgeübt werden kann oder eine behindertenspezifische Ausbildung bei Jugendlichen. Diese Rehabilitation ist für die Integration in den Arbeitsmarkt notwendig. Für Menschen, die im Hartz IV-System betreut werden, ist die Wahrscheinlichkeit eine Rehabilitations-Maßnahme zu erhalten, deutlich geringer als in der Arbeitslosenversicherung.
In den Jobcentern gibt es keinen eigenen Topf für Rehabilitation. Die Maßnahmen müssen aus dem – ohnehin schon knappen – Eingliederungstitel finanziert werden. Vor allem kleiner Jobcenter stoßen so schnell an ihre finanziellen Grenzen. Zur Betreuung dieser sogenannten Rehabilitanden (Menschen mit Behinderung) halten die Arbeitsagenturen spezielle Vermittler-Teams vor. Bei den Jobcentern, die für die Betreuung der Langzeitarbeitslosen zuständig sind, gibt es solche Teams jedoch nicht immer. Das hat zur Folge, dass Reha-Bedarf nicht immer erkannt wird. Aufgrund der begrenzten finanziellen Mittel bei den Jobcentern wird er teilweise auch nicht anerkannt. Von allen Rehabilitanden in der Grundsicherung befanden sich im Juli 2016 nur 18 Prozent in Maßnahmen, bei den Rehabilitanden der Arbeitsagenturen dagegen 73 Prozent.«

Man ahnt schon, welcher Stoßrichtung der Lösungsvorschlag haben muss: »Zusammen mit den Arbeitgebern hat der DGB deshalb eine Initiative im Verwaltungsrat der BA gestartet, mit dem Ziel die Betreuung aller Rehabilitanden bei den Arbeitsagenturen anzusiedeln. Dies hat den Vorteil, dass behinderte Menschen in jedem Fall durch spezialisierte Fachkräfte beraten würden und tatsächlich behindertenspezifische Förderung erhielten.« Bestandteil des Arbeitgeber-Gewerkschafts-Vorstoßes ist auch, dass die Kosten (für fünf Jahre) von der Arbeitslosenversicherung übernommen werden, deren Kasse derzeit ja mehr als gut gefüllt ist. Eigentlich muss die Finanzierung für Hartz IV-Empfänger aus Steuermittel erfolgen – an dieser Stelle werden wir mit einem (ansonsten immer lauthals kritisierten) Verschiebebahnhof zwischen Steuer- und Beitragsfinanzierung konfrontiert, zugunsten einer Entlastung der Steuerkasse. Genau das hat der Gesetzgeber jetzt auch schon aufgegriffen. Das wird jetzt umgesetzt.

Raus aus der Fürsorge – aber rein in was? Das geplante Bundesteilhabegesetz und die technokratische Stückelung der Behinderung

Es geht um viele Menschen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lebten 7,6 Millionen schwerbehinderte Menschen (also Menschen, denen ein Grad der Behinderung von 50 und mehr zuerkannt wurde) am Jahresende 2015 in Deutschland. Das waren 9,3 Prozent der Bevölkerung. Am 7. November 2016 wird es im Deutschen Bundestag eine Anhörung geben zum geplanten Bundesteilhabegesetz. Der Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) der Bundesregierung liegt vor (BT-Drs. 18/9522 vom 05.09.2016). Mit dem Bundesteilhabegesetz soll die Behindertenpolitik im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention weiterentwickelt werden. Die UN-Konvention wurde von Deutschland 2008 ratifiziert und fordert die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben. Sie definiert Inklusion als ein Menschenrecht.

Unter der vielversprechenden Überschrift Raus aus der Fürsorge wird uns in Aussicht gestellt: »Schwerpunkt des Gesetzes ist die Neufassung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB IX). Eine wesentliche Änderung hier: Die Eingliederungshilfe (Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, zur beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabe) wird aus dem „Fürsorgesystem“ der Sozialhilfe herausgeführt und in das neu gefasste SGB IX integriert. Das SGB IX wird dadurch zu einem Leistungsgesetz aufgewertet.« Das klingt modern, Fürsorge hingegen irgendwie verstaubt und nach Gnadenbrot. Aber zwischen Semantik und Realität liegen oftmals Welten – und immer öfter beschleicht einen das Gefühl, man sollte Begriffe wie Fürsorge lieber wieder reaktivieren statt sie technokratisch zu „modernisieren“, auch so ein gesichts- und prima facie inhaltsleerer Terminus. Dazu ein Beispiel.

Die Bundesregierung spricht von einem „kompletten Systemwechsel“, der mit dem BTHG vollzogen werden soll – alte Hasen der Sozialpolitik wissen, dass das nicht ohne Opfer abgehen kann und wird.

Greifen wir uns einen Bereich heraus. In dem Artikel Raus aus der Fürsorge kann man diese vielversprechende Botschaft lesen: »Erstmals wird die Teilhabe an Bildung als eine eigene Reha-Leistung anerkannt. Damit werden Assistenzleistungen für höhere Studienabschlüsse oder auch eine Promotion ermöglicht.«
Das wäre doch ein echter Fortschritt, wenn es denn so werden wird.

Kommen wir zugleich zu einem genau so echten Rückschritt, der einhergehen würde mit einer vorgesehenen Regelung im BTHG und der nun zu Recht heftig kritisiert wird: Unter der Überschrift Nicht behindert genug fürs Studium greift Ottmar Miles-Paul eine echte Verschlechterung auf. Er bezieht sich dabei auf den Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV). Mises-Paul hatte bereits am 30.09.2016 unter der Überschrift Behinderten Studierenden droht Exklusion statt Inklusion den Sachverhalt angesprochen, dabei auf die Stellungnahme des Deutschen Studentenwerks zum Entwurf des Bundesteilhabegesetzes seitens Bezug genommen:
»Das Bundesteilhabegesetz ist eigentlich angetreten, um mehr Teilhabe für behinderte Menschen zu ermöglichen. Stattdessen soll nun sehbehinderten Menschen Unterstützung verweigert werden.« Wie das? Miles-Paul zitiert die DBSV-Präsidentin Renate Reymann:

„Im Moment haben sehbehinderte Menschen mit einem Sehvermögen von bis zu 30 Prozent grundsätzlich Anspruch auf Eingliederungshilfe, sie dürfen also beispielsweise Hilfsmittel oder Vorlesekräfte fürs Studium beantragen. Der Gesetzentwurf des Teilhabegesetzes sieht jedoch vor, dass nur noch derjenige Leistungen erhält, der eine sogenannte ‚erhebliche Teilhabeeinschränkung‘ hat. Bevor über den eigentlichen Antrag auf Eingliederungshilfe entschieden wird, ist erst einmal der Nachweis zu erbringen, dass man in mindestens fünf von neun Lebensbereichen nicht allein zurechtkommt, also auf ständige personelle oder technische Hilfe angewiesen ist. Zu den Lebensbereichen gehören unter anderem Selbstversorgung (Waschen, Anziehen, Essen etc.), häusliches Leben (Einkaufen oder Wohnung putzen), Mobilität und die Pflege der Beziehungen zu anderen Menschen. Viele sehbehinderte Menschen fallen damit aus dem System.“

Und wer das ganz konkret illustriert haben möchte, wie die Verschlechterung in der Lebensrealität eines Menschen aussehen würde, für den wird Sebastian T. als Beispiel genannt:

Der 24-jährige hat ein Sehvermögen von 20 bis 25 Prozent und studiert technische Informatik. Wegen seiner Sehbehinderung wird ihm eine Studienassistenz finanziert, die beispielsweise in Vorlesungen erklärt, was an die Wand projiziert wird. Ohne Assistenz wäre es ihm unmöglich, dem Unterricht zu folgen. Sein Problem: „Im Alltag komme ich gut zurecht. Ständige Unterstützung brauche ich ausschließlich im Studium – und nicht etwa in vier weiteren Bereichen, wie es in den Regelungen des neuen Bundesteilhabegesetzes vorgesehen ist, um Unterstützung zu erhalten. Das bedeutet, ich müsste meine Assistenz, wenn das Gesetz unverändert in Kraft tritt, selbst bezahlen, weil ich dann nicht mehr als ‚behindert genug‘ angesehen würde. Von den 450 Euro BAföG, die mir im Monat zur Verfügung stehen, könnte ich mir das nicht leisten.“

Das kann und darf am Ende des Gesetzgebungsprozesses nicht herauskommen. Aber das schreibt sich leichter als es getan werden kann, denn dem Bundesteilhabegesetz liegt ein unlösbares Dilemma zugrunde: Es soll Verbesserungen bringen, die Inklusive vorantreiben, zugleich aber soll es „aufkommensneutral“ umgesetzt werden, also unterm Strich nicht mehr kosten. Viel Spaß bei dieser Übung.

Zugleich kann man an diesem einen Beispiel aus der realen Welt der Beeinträchtigungen erkennen, dass der so modern daherkommende technokratische Zugriff auf das, was die Betroffenen brauchen und was man ihnen zugesteht, eine sehr unangenehme, exkludierende Seite hat (und haben muss, um das in die eigenen Sortierschablonen pressen zu können). Vielleicht sollte man über die warme Seite von Fürsorge nochmal nachdenken.

Auch Alexander Drewes aus dem Kompetenzzentrums Selbstbestimmt Leben Düsseldorf hat in einem Blog-Beitrag unter der Überschrift Weshalb darf der Entwurf des Bundesteilhabegesetzes in der jetzigen Form auf keinen Fall Gesetz werden? vom 22.09.2016 diesen kritischen Aspekt aufgegriffen:

Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Bundesteilhabegesetzes (BTHG-E) will das aus dem Fürsorgerecht der 1920er Jahre stammende Prinzip der Eingliederungshilfe komplett auf neue Füße stellen. Sowohl der Gesetzestext als auch die Begründung klingen in großen Teilen „modern“, in Wahrheit sind sie es aber nicht, so Drewes.

Langjährig tradierte Prinzipien werden, sofern sie zugunsten behinderter Menschen gewirkt haben, einfach „über Bord geworfen“.

So soll ein neuer Grundsatz etabliert werden, der die Hilfe zur Pflege im Rang vor die Eingliederungshilfe setzt.

Das hat Folgen bei der Einkommens- und Vermögensanrechnung:
»Menschen, die Einkünfte erzielen und „nur“ Eingliederungshilfe beziehen, werden nunmehr ein bisschen weniger arm gemacht als bislang. Menschen, die auf Hilfe zur Pflege angewiesen sind, werden genau so arm belassen, wie das schon heute der Fall ist.« Schon das stellt eine evidente Ungleichbehandlung eines dem Grunde nach gleichen Sachverhaltes dar. Das ist nach dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz einfach verfassungswidrig, so der Jurist Drewes.
»Die Bundesregierung kann auch nicht erklären, weshalb sie in Zukunft Leistungen „poolen“ will. Beim „Pooling“ ist angedacht, dass mehrere Leistungsbezieher einen identischen Leistungserbringer teilweise oder sogar zur gleichen Zeit nutzen.

Die Erklärung kann auch hier ausschließlich eine fiskalpolitische sein … Wie sich mehrere Nutzer zur gleichen Zeit ein und dieselbe Assistenzkraft teilen können sollen, wenn sie gleichzeitig – ggf. sogar differente – Bedarfe haben, auch das bleibt das Geheimnis des Gesetzentwurfs der Bundesregierung.«
Auch Drewes kritisiert massiv die im Gesetzentwurf geplante „5 von 9“-Voraussetzung, also »dass wenigstens aus fünf von neun Bereichen die Notwendigkeit der konkreten Hilfestellung bei der Teilhabe nachgewiesen werden muss (sofern Assistenzleistungen benötigt werden, immer noch aus drei von neun). Das hebelt den Bedarfsdeckungsgrundsatz weitgehend aus, weil viele Menschen zwar hohe Bedarfe an Hilfen haben, diese aber häufig nicht in fünf von den neun Bereichen, die der Gesetzgeber nennt.«

Und dann bringt er das in diesem Beitrag angesprochene Dilemma auf den Punkt:

»Bei Durchsetzung des vorliegenden Entwurfes werden fundamentale Prinzipien des Rechts der Eingliederungshilfe wie der Bedarfsdeckungsgrundsatz durchbrochen und ein Individualisierungsgrundsatz etabliert, der nicht individuell, sondern modular vorgeht.«

Man sollte sich bewusst machen, was das bedeuten wird.

Abbildung: BMAS (2016): Maßnahmen und Ziele des Bundesteilhabesetzes

„Wenn man die Tür hier nun unnötig öffnet, droht die Gefahr, dass sie immer weiter aufgeschoben wird.“ Die Rede ist von Medikamententests an Demenzkranken und geistig Behinderten

Bei allen Vorbehalten gegen das auch, zuweilen überwiegend vom Gewinninteresse bestimmte Wirken mancher Pharmakonzerne – Arzneimittelforschung ist notwendig und unverzichtbar, will man den damit möglichen Fortschritt in der medizinischen Behandlung nicht missen. Und Forschung in diesem Bereich ist mit der Notwendigkeit verbunden, an Patienten die Wirksamkeit zu testen. Zugleich ist damit immer auch ein ethisches Dilemma verbunden – das vor allem dann erkennbar wird, wenn man neue Wirkstoffe an Patienten testen muss, die eingeschränkt oder (noch) nicht in der Lage sind, ihre Einwilligung zu geben. Man denke an dieser Stelle an die Herausforderungen, die sich in der Kinderheilkunde ergeben.

Es gibt auch noch andere, wie Kinder besonders schutzbedürftige Personengruppen, beispielsweise Demenzkranke oder geistig behinderte Menschen, man spricht her auch technokratisch von „nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen“.

Erlaubt sind Arzneimittel-Studien bei diesen Menschen bisher nur, wenn für die Patienten davon ein persönlicher Nutzen erwartbar ist. Das soll sich ändern, berichtet Rainer Woratschka in seinem Artikel Kirchen laufen Sturm gegen Pläne für Medikamententests: »An Demenzkranken und geistig Behinderten sollen künftig auch Medikamente getestet werden, von denen die Probanden keinen Nutzen haben.« Schauen wir da mal genauer hin.

Wie so oft kommen äußerst diskussionswürdige Entwicklungen durch die gesetzgeberische Hintertür. Die trägt in diesem Fall den unscheinbaren Namen „Entwurf des Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften„, in der beliebten Kürzel-Semantik der Juristen auch 4. AMG-ÄndG genannt.

Im März 2016 hat das Bundeskabinett den Entwurf beschlossen. Das Gesetz soll im August 2016 in Kraft treten. Anlässlich des Durchwinkens im Kabinett hat der Bundesgesundheitsminister Gröhe (CDU) verkündet: „Hochwertige klinische Prüfungen sind eine Voraussetzung für einen schnellen und sicheren Zugang zu neuen Arzneimitteln. Dabei müssen die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger und ein reibungsloses Genehmigungsverfahren Hand in Hand gehen.“ Das hört sich doch alles unproblematisch an. Aber wie immer liegt der Teufel im Detail und den haben passenderweise die beiden großen Kirchen ins Visier genommen, denn sie stören sich an der im Gesetzentwurf vorgesehenen Neuregelung der Arzneitests an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen, also etwa Demenzkranken oder geistig Behinderten.

»Erlaubt sind solche Studien bisher nur, wenn für die Patienten davon ein persönlicher Nutzen erwartbar ist. Auf Drängen des Forschungsministeriums soll diese Regelung nun jedoch auch auf „gruppennützige“ Studien ausgeweitet werden, von denen die Probanden selber gar nicht profitieren. Dagegen laufen sowohl die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) als auch die katholischen Bischöfe Sturm.«

Beide Kirchen haben eine gemeinsame Stellungnahme verfasst und „erhebliche Bedenken“ vorgetragen. Eine „besonders schutzwürdige Personengruppe“, so argumentieren sie, werde „schwerwiegenden Gefahren und Missbrauchsrisiken ausgesetzt“. Es drohe die Gefahr, dass diese Menschen „zum Nutzen anderer instrumentalisiert“ und „zum bloßen Objekt herabgestuft“ würden.

Warum soll es einen Bedarf an einer Ausweitung der Studien geben? »Dank guter Rahmenbedingungen liege Deutschland sowohl bei der Zahl der klinischen Prüfungen als auch bei der Zahl der Prüfstätten weltweit auf Platz zwei. Einzig die USA mit ihrer viermal größeren Bevölkerung komme auf mehr Medikamententests.«

In der Praxis geht es bei den genannten Personengruppe um ein überaus diffiziles Problem: Wie kommt man an eine Einverständniserklärung auf der Basis einer umfänglichen Aufklärung beispielsweise bei einem Demenzkranken? Offensichtlich ist das nicht möglich, deshalb bedarf es einer Hilfskonstruktion.  Und die geht so:

»Erlaubt wären Arzneitests an Nicht-Einwilligungsfähigen demnach, wenn diese ihr grundsätzliches Einverständnis noch vor Ausbruch der Demenz gegeben hätten. Per Patientenverfügung. Die konkrete Einwilligung könne bei fortgeschrittener Erkrankung dann vom jeweiligen Betreuer erteilt werden.«

Aber was – so fragen die Kirchen zu Recht – ist mit detaillierter Beratung und Aufklärung? Wie soll man das machen, wenn der Patient Risiken und Tragweite seiner Entscheidung schon nicht mehr überblicke?

Das verbindet sich mit weiteren Bedenken, die gegen den Gesetzentwurf vorgetragen werden:  Darunter vor allem die Sorge, dass unabhängige Ethikkommissionen bei der Zulassung von Arzneitests an Einfluss verlieren könnten. Bisher sind klinische Prüfungen ohne das Plazet solcher Kommissionen – bundesweit derzeit rund 50 – rundweg unzulässig. In Gröhes Gesetzentwurf steht nun nur noch, ihre Stellungnahmen seien „maßgeblich zu berücksichtigen“, wie Woratschka in seinem Artikel schreibt. Von den Kirchen wird das als „Paradigmenwechsel“ bezeichnet:

»Künftig könnten sich die zuständigen Bundesoberbehörden – konkret: das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und das Paul-Ehrlich-Institut – bei klinischen Prüfungen über Bedenken der Ethikwächter hinwegsetzen, warnen sie. Dadurch würden „internationale Standards der ärztlichen Ethik, wie sie etwa in der Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes niedergelegt sind, unterschritten“. Diese Sorge teilen auch der Arbeitskreis Medizinischer Ethik-Kommissionen und die Bundesärztekammer. Arzneitests dürfe es nur geben, wenn die zuständige Ethikkommission „zu zentralen Aspekten wie der Nutzen-Risiko-Bewertung für den einzelnen Patienten sowie die erwartete Bedeutung für die Heilkunde eine positive Stellungnahme erteilt“ habe, beharren die Mediziner.«

Der Bundesgesundheitsminister versucht sich pragmatisch aus dem offensichtlichen Dilemma zu befreien: Hochwertige klinische Prüfungen seien nun mal „Voraussetzung für einen schnellen und sicheren Zugang zu neuen Arzneimitteln“. Dabei müssten Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz der Bürger mit einem reibungslosen Genehmigungsverfahren „Hand in Hand gehen“.

Die Zeiten haben sich offensichtlich geändert: Vor drei Jahren, so erinnert Kathrin Vogler von der Linken, hätten sich noch alle Fraktionen des Bundestages vehement für unabhängige Ethikkommissionen, die Verbindlichkeit ihrer Entscheidungen und das Verbot gruppennütziger Forschung an nicht-einwilligungsfähigen Personen starkgemacht. Für Vogler ist es nicht akzeptabel, »dass die Bundesregierung nun das Schutzniveau für nicht einwilligungsfähige Erwachsene absenken will.«

Für den Chef der Berliner Ethikkommission ist es „nicht nachvollziehbar, warum der Gesetzgeber einer Absenkung des Schutzniveaus für nicht einwilligungsfähige Personen zustimmen sollte“.
Für die Ausweitung von Arzneitests an Demenzkranken gebe es keinerlei Bedarf, wird der Transfusionsmediziner in dem Artikel von Rainer Woratschka zitiert. Schon jetzt seien genügend Studien möglich, Bedingung sei nur ein erwartbarer, irgend gearteter Nutzen für die Betroffenen.
Und dann kommt er, der Satz, der hier in die Überschrift gezogen wurde:

„Wenn man die Tür hier nun unnötig öffnet, droht die Gefahr, dass sie immer weiter aufgeschoben wird.“