Von Menschen mit Behinderungen auf einem Arbeitsmarkt mit Hindernissen. Und warum sich viele Unternehmen freikaufen und warum gut gemeint manchmal zum Gegenteil beitragen kann

Der 3. Dezember ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Anlässlich dieses Ereignisses sei hier ein Blick auf die Arbeitsmarktlage der Menschen mit einer Behinderung geworfen werden, denn Teilhabe an Arbeit stellt eine ganz zentrale Dimension der Inklusion dar. Und da sieht es nicht wirklich überzeugend aus, denn die Menschen mit einer Behinderung sind überdurchschnittlich betroffen von Arbeitslosigkeit und trotz zahlreicher Fördermöglichkeiten entziehen sich viele Unternehmen der Beteiligung an der Inklusion von Behinderten. Auf der anderen Seite sind wir in diesem Bereich konfrontiert mit Schutzrechten für die Betroffenen, die man durchaus kritisch diskutieren muss angesichts der mit ihnen verbundenen Auswirkungen auf die Teilhabe an Erwerbsarbeit.

Beginnen wir aber in einem ersten Schritt mit einigen trockenen Daten: Nach Angaben der Bundesarbeitsagentur (BA) waren im Oktober 2013 insgesamt 176.357 Menschen mit einer Schwerbehinderung ohne Arbeit. Die Arbeitslosenquote von Menschen mit Schwerbehinderung liegt mit 14 Prozent fast doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Behinderung. Im Jahr 2011 lebten in Deutschland 3,27 Millionen schwerbehinderte Menschen im erwerbsfähigen Alter. Das waren 230.000 (8 Prozent) mehr als noch 2007. Diese Zahl könnte infolge der demografischen Entwicklung auf geschätzte 3,40 Millionen im Jahr 2021 ansteigen, so eine Prognose der BA. 

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Wenn Inklusion zu einem Überlebenskampf im Rollstuhl mutiert, dann ist das kafkaeske Gehäuse der Bürokratie nicht weit

Trotz Schwerstbehinderung kann Ferdinand Schießl einigermaßen selbstbestimmt leben. Das ist ihm möglich, weil das „Arbeitgeber-Modell“ Menschen mit schwersten Behinderungen, zu denen Ferdinand Schießl gehört,  die Möglichkeit eröffnet, außerhalb von Heimen in eigenen Wohnungen zu leben. Sie können ihre Pfleger als Assistenten anstellen und als deren Arbeitgeber auftreten. Krankenkasse und Kommune finanzieren das Modell. So weit, so gut. Daneben fallen natürlich auch noch andere Kosten an, wie beispielsweise Miete und Heizkosten, dafür gibt es dann die Grundsicherung – und deren Regelwerk. Und hier beginnt ein Problem nicht nur für Ferdinand Schießl, sondern möglicherweise für viele andere Menschen in einer ähnlichen Lage. Denn das Regelwerk der Grundsicherung ist umfangreich und hart. Dazu gehört neben vielen anderen Dingen, dass Grundsicherungsleistungen beziehende Mensch über kein nennenswertes Vermögen verfügen darf. Auf den ersten Blick und besonders aus der Perspektive des Steuerzahlers eine grundsätzlich nachvollziehbare Schutzregelung für die Steuerzahler, die ja die Leistungen finanzieren müssen. Die Betonung liegt hier auf dem Terminus „grundsätzlich“. Was ja andeuten soll – eben nicht immer. Und manchmal gar nicht.

Und hier sind wir wieder bei Ferdinand Schießl angekommen, dessen „Problem“ in dem Artikel „Überlebenskampf im Rollstuhl“ von Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung beschrieben wird. Und hier werden wir auch mit einer Konkretisierung von „Vermögen“ konfrontiert: In Euro ausgedrückt: Mehr als 2.600 Euro sind ein schädliches Vermögen. Denn Ferdinand Schießl zum Beispiel darf auf seinem Girokonto höchstens ebendiese 2.600 Euro haben. Aber warum ist das ein Problem? Seit einigen Jahren haben behinderte Menschen wie Ferdinand Schießl einen Rechtsanspruch darauf, ihre Assistenten über ein persönliches Budget zu finanzieren. Schießl hat diesen Rechtsanspruch mit Leben gefüllt und mit der Krankenkasse einen Budgetvertrag ausgehandelt: „Seither bekommt er monatlich einen festen Betrag, über den er seine Pflege finanzieren kann, der Löwenanteil davon kam von der Krankenkasse, der Rest von der Stadt.« So weit, so gut. Und ebenfalls gut ist die Möglichkeit seitens der Krankenkasse, dass Herr Schießl „zweckgebundene Rücklagen“ bilden darf, die erst am Ende der Budget-Laufzeit aufgebraucht sein müssen. Die sind vorgesehen, um Ausfälle wie Krankheit oder Urlaub auffangen zu können. Diese praxisorientierte Regelung kollidiert jetzt mit dem Regelwerk der Grundsicherung, denn die zweckgebundenen Rücklagen, die – wie der Name schon sagt – wohlgemerkt nicht für Kaffee oder andere Dinge des Lebens, sondern nur für die Finanzierung von Assistenzleistungen eingesetzt werden dürfen, wurden dem Herrn Schießl auf sein Girokonto überwiesen, damit er das Geld bedarfsbezogen einsetzen kann – über die Höhe der Gelder auf seinem Girokonto muss er aber dem Grundsicherungsträger genaue Angaben machen, was er dann auch ordnungsgemäß gemacht hat. Und man ahnt schon, was an dieser Stelle passiert.

Durch die Überweisung der wohlgemerkt „zweckgebundenen Rücklagen“ befand sich der Kontostand des Herrn Schießl oberhalb der erwähnten 2.600 Euro und das wertete das Sozialamt als „Vermögen“ – und lehnte den Folgeantrag auf Grundsicherungsleistungen ab. Eine wirklich üble Situation für den Betroffenen, denn er hat jetzt „Vermögen“ auf dem Konto, von dem er sich aber nichts zu essen kaufen darf und keine Grundsicherungsleistungen mehr, weil er ja „Vermögen“ habe, was aber gar keines ist. Wir treten in die kafkaeske Phase ein: Die Stadt verweist darauf, dass ihr die Hände gebunden seien aufgrund der „bundesrechtlichen Vorgaben“, die eben die Grenze von 2.600 Euro in Beton gegossen haben. Und man schiebt nach, der Oberbürgermeister sei betrübt und werde sich über den Deutschen Städtetag bemühen, eine gesetzliche Änderung im fernen Berlin anzustoßen.

Aber der eine oder die andere wird sich jetzt fragen: Sieht denn die Stadt nicht, »dass Schießls vermeintliches Vermögen zweckgebunden ist? Dass er damit nicht kaufen kann, was er will?« Die dementsprechende Nachfrage bei der Stadt seitens der Zeitung brachte die erhellende Auskunft: Herr Schießl verfüge laut Kontostand über ausreichend Mittel für seinen Lebensunterhalt. Was bleibt? Der Betroffene kann nur noch versuchen, die Ablehnung der Grundsicherungsleistungen auf dem Wege einer einstweiligen Verfügung über das Gericht zu stoppen. Dafür muss er sich einen Anwalt nehmen, auf eigene Kosten. Man wird abwarten müssen, wie diese unglaubliche Geschichte ausgehen wird. Doch die vielen Erfahrungen, mit den kafkaesken Untiefen unserer sozialrechtlichen Regelungswelt stimmen einen nicht optimistisch.

Dabei handelt es sich beim Arbeitgeber-Modell um eines der wenigen wirklich weitreichenden praktischen Instrumente zur Umsetzung von Inklusion in ihrer echten, also radikalen Variante einer Ermöglichung von Teilhabe inmitten der Gesellschaft. Und der Ansatz kann zurückblicken auf eine interessante Entwicklungsgeschichte: Aus einer »Kritik am Hilfesystem (Kampf gegen die Fremdbestimmung) und dem Entwurf und der Verwirklichung von Alternativen entwickelte sich in Deutschland über die Heimkritik das Paradigma der Ambulanten Dienste. Wiederum aus der Kritik an den Ambulanten Diensten entstanden selbstorganisierte Hilfen. Diese führten in der ersten Hälfte der 1980er Jahre zu einem weitgehend gemeinsamen Konzept der Bundesrepublik Deutschland und der USA von Selbstbestimmt Leben und Assistenz,« so Gusti Steiner in einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2001 (zitiert aus diesem Beitrag).

Ein Teil der behinderten Menschen, die das Assistenz-Modell in Anspruch nehmen, sind organisiert im Bundesverband Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen (ForseA). Auf der Website dieses Verbandes findet man auch eine ausführliche Präsentation „Das Arbeitgebermodell in Zeiten des Persönlichen Budgets“ als PDF-Datei, wenn man sich das genauer anschauen möchte.

ForseA weist im Zusammenhang mit dem hier beschriebenen Fall auf eine Petition von Constantin Grosch hin, die man im Netz mit seiner Unterschrift unterstützen kann: „Recht auf Sparen und gleiches Einkommen auch für Menschen mit Behinderungen #2600„.