Jobcenter allein zu Haus und nachhaltig überfordert (nicht nur) mit den Folgen eines gescheiterten Rechtsvereinfachungs- und Bürokratieabbauversprechens

Normalerweise ist es ja so, dass man es gerne sieht, wenn die eigene Beurteilung eines Sachverhalts zu einem späteren Zeitpunkt bestätigt wird, so dass man sagen kann, das kam jetzt nicht überraschend. Aber wenn es sich um sozialpolitische Sachverhalte handelt, dann wird diese Neigung gegen Null gefahren, wenn man bedenkt, dass es sich oftmals um Verschlechterungen, Kürzungen oder Streichungen von Leistungen handelt, auf die Menschen angewiesen sind, die sich in Not befinden oder die sich eben nicht selbst helfen können. Oder die einer bürokratischen Maschinerie ausgeliefert sind. Davon können wir ausgehen, wenn wir über die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), umgangssprachlich auch als Hartz IV-System bezeichnet, sprechen.

Und hier hat es vor kurzem wieder einmal gesetzgeberische Aktivitäten gegeben, die auf den ersten Blick Hoffnung begründen, wenn sie denn Wirklichkeit geworden wären. Es geht um das 9. SGB II-Änderungsgesetz, das nunmehr auch sowohl im Bundestag wie auch im Bundesrat verabschiedet worden ist. Der Startpunkt liegt schon einige Jahre zurück: Im November 2012 hatte die Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) die Einrichtung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Vereinfachung des passiven Leistungsrechts im SGB II beschlossen. Über den Weg der Rechtsvereinfachung, so der explizite Auftrag, sollte Bürokratie abgebaut und in Folge die Verwaltung, also die Jobcenter, entlastet werden. Hört sich gut an. Und die Arbeitsgruppe hat auch gearbeitet. Von Juni 2013 bis Juni 2014 hat sie eine ganze Reihe an Vorschlägen erarbeitet (124 gingen in die Arbeitsgruppe und 36 sind dann von allen getragen wieder rausgekommen). Wie ein guter Schinken musste das Ergebnis abhängen, wurde angereichert um zwischenzeitlich aufgelaufene Veränderungswünsche der Politik bei arbeitsmarktpolitischen Instrumenten und ist dann nach einigen koalitionsinternen Querelen gute zwei Jahre später in den Gesetzgebungsprozess eingespeist worden.
Aber was ist herausgekommen? Man kennt das Muster: Da startet man mit einer guten, ehrenwerten Absicht (Recht vereinfachen, Bürokratie abbauen, die Verwaltung entlasten) und landet am Ende bei Gegenteil (das Recht wird komplizierter, die Bürokratie schlägt neue und zusätzliche Kapriolen und die Verwaltung kollabiert). Leider keine übertriebene Kurzfassung dessen, was Union und SPD da abgeliefert haben.

Dabei hört sich das alles doch so vielversprechend an: „Ziel dieses Gesetzes ist es …, dass leistungsberechtigte Personen künftig schneller und einfacher Klarheit über das Bestehen und den Umfang von Rechtsansprüchen erhalten und die von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jobcentern anzuwendenden Verfahrensvorschriften vereinfacht werden“, konnte man dem Gesetzentwurf entnehmen.

Im Rahmen einer Sachverständigenanhörung im Arbeits- und Sozialausschuss des Deutschen Bundestages, die am 30. Mai 2016 in Berlin stattgefunden hat (vgl. dazu Experten bezweifeln eine Entlastung der Jobcenter), zu der auch der Verfasser geladen war, wurden wie üblich schriftliche Stellungnahmen abgegeben. In meiner Stellungnahme (vgl. dazu Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucksache 18(11)645 vom 26. Mai 2016, S. 127-133) findet man am Ende der Ausführungen dieses Fazit:

»In der Gesamtschau ist das teilweise allein aufgrund des Detaillierungsgrades extrem komplizierte 9. SGB II-Änderungsgesetz zurückzuweisen. Es macht viele Dinge komplizierter, belastet Leistungsberechtigte zusätzlich und verschärft die heute schon vorhandene Unwucht zuungunsten der Leistungsberechtigten und führt vor allem nicht nur nicht zu einer erkennbaren Entlastung der Jobcenter-Mitarbeiter, sondern wird deren Belastung in der Summe weiter erhöhen.« (S. 132)

Das war wie gesagt Ende Mai und auch zahlreiche andere Sachverständige bzw. Organisationen hatten sich äußerst kritisch zu den damals noch geplanten, mittlerweile verabschiedeten Änderungen im SGB II positioniert. Keiner kann also sagen, man habe es nicht wissen können.

Und im August 2016 berichtet Kristiana Ludwig in ihrem Artikel Nachhaltig überlastet: »Ein neues Gesetz sollte die Mitarbeiter in Jobcentern eigentlich entlasten. Stattdessen habe es für mehr Arbeit gesorgt, kritisieren sie. Die Arbeitslosen frustriert es.«
Knapp »einen Monat, nachdem viele der neuen Regeln in Kraft getreten sind, erheben Jobcenter-Mitarbeiter schwere Vorwürfe gegen die Ministerin: Ihr Gesetz habe das Gegenteil bewirkt und die Überlastung der Mitarbeiter noch verschärft.«

Auslöser für diesen Artikel ist ein Brief, den die Personalräte der Jobcenter an den zuständigen Ausschuss des Bundestages sowie an die Arbeitsministerien der Bundesländer geschrieben haben. Das Original findet man hier:

Die Jobcenterpersonalräte nach § 44h Abs.4 SGB II: Stellungnahme zum 9. ÄndG SGB II / Rechtsvereinfachungen und Mehraufwand, Hannover, 24.08.2016

Ludwig berichtet in ihrem Artikel von einigen der Kritikpunkte der Personalräte: Jobcenter sollen Hartz-IV-Empfänger künftig auch dann noch beraten, wenn sie bereits einen Job gefunden haben. Sie sollen die Menschen ausführlicher über ihre Rechte aufklären und sich auch um Azubis kümmern, deren Lohn nicht zum Leben reicht. „Wir finden es gut, die Beratung zu verbessern, aber wir brauchen mehr Mitarbeiter, um das zu schaffen“, wird Moritz Duncker aus dem Vorstand der Jobcenterpersonalräte zitiert.

Das muss man vor dem Hintergrund einer seit längerem im bestehenden System gegebenen Unterausstattung der Jobcenter mit Personal sehen. Das Bundesarbeitsministerium höchstselbst hatte vor drei Jahren die Unternehmensberatung Bearing Point beauftragt, den Personalbedarf in denjenigen Abteilungen der Jobcenter zu untersuchen, die das Arbeitslosengeld auszahlen. 200 bis 600 Vollzeitstellen hätten damals in dieser Sparte bundesweit gefehlt, so der damalige Befund (vgl. den Forschungsbericht des BMAS Personalbemessung Leistungsgewährung in den gemeinsamen Einrichtungen SGB II vom Januar 2015). Zwar wurden diese Stellen mit Zeitverzögerung Schritt für Schritt besetzt, aber seit dem gab es keine neue Personalbemessung, während sich die Aufgaben natürlich in der Zwischenzeit verändert haben und teilweise auch ausgeweitet wurden bzw. gerade werden, wenn wie an dieser Stelle mal an die vielen Flüchtlinge denken, von denen immer mehr nach ihrer Anerkennung in das Hartz IV-System kommen und dort versorgt werden müssen. Hinzu kommt jetzt die Umsetzung der Neuregelungen durch das 9. SGB II-Änderungsgesetz.

Ludwig erwähnt in ihrem Artikel, dass die Personalräte der Jobcenter bereits im vergangenen Jahr das Bundesarbeitsministerium gedrängt haben, eine neue Personalbemessung durchzuführen. Und hier findet man einen entlarvenden Passus:

»Nach langen Debatten mit Ländern und Kommunen holten ihre Mitarbeiter demnach im Dezember ein Schreiben der Arbeitsagentur hervor: Man lehne die Studie zum Personalbedarf grundsätzlich ab, stand darin. Schließlich würden so „keine Potenziale für Verbesserungen, sondern in der Regel Stellenbedarfe ausgewiesen“. Damit habe das Ministerium das Projekt für gescheitert erklärt. Auf einen Alternativvorschlag warteten die Mitarbeitervertreter bis heute vergeblich.«

Das wäre fast schon als putzige Argumentation zu bezeichnen, wenn sie nicht so handfeste Konsequenzen für die Betroffenen vor Ort hätte. Der „moderne Dienstleister am Arbeitsmarkt“, wie sich die Bundesagentur für Arbeit selbst gerne beschreibt in Fortsetzung der offiziellen Betitelung der Hartz-Kommission aus dem Jahr 2002, lehnt also eine Studie zum Personalbedarf ab, weil durch eine solche „keine Potenziale für Verbesserungen, sondern in der Regel Stellenbedarfe ausgewiesen“ werden. Ja genau. Das ist eigentlich der Zwecke einer Personalbemessung, wie es – wiederum eigentlich – betriebswirtschaftlicher Standard ist. Die Ablehnung der BA hätte korrekterweise so formuliert werden müssen:

Also wir wissen natürlich, dass eine echte Analyse der Personalsituation ergeben würde, dass die Jobcenter im gegebenen System unterausgestattet sind mit Personal, mithin Personalmehrbedarf herauskommen wird. Da wir diesen aber nicht decken können bzw. wollen, verzichten wir lieber gleich auf die Analyse und um das nicht zugeben zu müssen, verkleistern wir das mit dem „Argument“, dass man über diesen Weg nicht die Rationalisierungs- und Produktivitätssteigerungseffekte (wie man die auch immer erreichen will) abbilden kann. Ja, stimmt, weil das zwei unterschiedliche Dinge sind, wie man im ersten Semester Personalwirtschaft lernen sollte.

Aber wieder zurück zu den aktuellen Ausführungen der Jobcenter-Personalräte mit Blick auf das doch so hoffnungsversprechend gestartete Projekt Rechtsvereinfachung und Bürokratieabbau, das nun in das 9. SGB II-Änderungsgesetz gegossen worden ist.
Kristiana Ludwig zitiert in Anknüpfung an die erwähnte Personalbedarfsanalyse von Bearing Point aus dem Jahr 2013 ein Beispiel:

»Als das Beratungsunternehmen 2013 die Mitarbeiter danach fragte, was ihnen die meiste Zeit raube, nannten fast 80 Prozent von ihnen die sogenannten Rückforderungen. Denn vor allem Geringverdiener, die mit Hartz IV ihren schmalen Lohn aufstocken, müssen regelmäßig Beträge an das Jobcenter zurückzahlen: Wenn ihr Einkommen schwankt und die Behörde mehr zugeschossen hat, als sie müsste, bekommen sie zum Teil Monate später eine Rechnung. Selbst Kleinstbeträge von wenigen Euro fordern die Ämter zurück. Wer nicht zahlt, der bekommt Mahnungen. Denn auch bei Cent-Beträgen kennt die Arbeitsagentur keine Kulanz.
Während der Beratungen für das neue Gesetz hatten viele Experten gefordert, Arbeitslosen und Jobcentern das Leben zu erleichtern, indem auf die Eintreibung von Kleinstbeträgen verzichtet wird. Doch Nahles blieb bei der aufwendigen Praxis.«

Werfen wir einen Blick in das Original, also in die Stellungnahme zum 9. ÄndG SGB II / Rechtsvereinfachungen und Mehraufwand der Jobcenterpersonalräte, die Harald Thomé dankenswerterweise auf seiner Seite eingestellt hat und schauen uns einige ausgewählte Kritikpunkte der Personalräte einmal genauer an:

Da wird beispielsweise unter der sperrigen Überschrift „Erbringung von Eingliederungsleistungen in Arbeit an Anspruchsberechtigte von Arbeitslosengeld oder Teilarbeitslosengeld durch die Agenturen für Arbeit (§ 5 Abs. 4 SGB II)“, was als ein Beispiel für die „Entlastung“ der Jobcenter durch die gesetzliche Neuregelung angeführt wird, da nun die Arbeitsagenturen die Arbeit abnehmen sollen, auf folgende Relativierung hingewiesen:

»Mit Stand März 2016 gab es 91.000 sogenannte Aufstocker, die zusätzlich zu ihrem Arbeitslosengeld oder Teilarbeitslosengeld auch Grundsicherungsleistungen bezogen haben. Bei insgesamt 4.328.093 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die durch die Arbeitsvermittlung der Jobcenter zu betreuen waren, reduziert sich der Erfüllungsaufwand in der Arbeitsvermittlung der Jobcenter um rund 2,1%. Dies ist also bereits kein riesiger Schritt zur Entlastung in der Arbeitsvermittlung der Jobcenter.«

Und auch diese minimale „Entlastung“ zerbröselt in der Wirklichkeit, denn die Personalräte der Jobcenter weisen darauf hin, »dass im SGB II der Ansatz der ganzheitlichen Beratung der Bedarfsgemeinschaft verankert ist und Bedarfsgemeinschaften häufig aus mehr als nur einer Person bestehen. In diesen Fällen wird eine weitere Schnittstelle zwischen Jobcentern und Agenturen für Arbeit geschaffen und der Ansatz der ganzheitlichen Beratung zumindest erheblich erschwert. Es wird ja nur der eigentliche Aufstocker durch die Arbeitsvermittlung der Agentur für Arbeit betreut, der Rest der Bedarfsgemeinschaft verbleibt in der Arbeitsvermittlung der Jobcenter.« Am Ende kann als Ergebnis der geplanten Entlastung herauskommen: Für die Jobcenter ändert sich nichts, aber die Agenturen für Arbeit werden stärker belastet.

Ein weiterer kritischer Punkt aus Sicht der Beschäftigtenvertreter ist die – ebenfalls sicher gut gemeinte und als Verbesserung für die „Kunden“ daherkommende – „Ausdehnung der Beratungspflicht der Jobcenter (§ 14 Abs. 2 SGB II)“. Im neuen § 14 Abs. 2 S. 3 SGB II wird nun festgeschrieben: „Art und Umfang der Beratung richten sich nach dem Beratungsbedarf der leistungsberechtigten Person.“ Dazu wird angemerkt:

»Im Bereich der Massenverwaltung geht die Rechtsprechung bisher davon aus, dass der Sozialleistungsträger lediglich zu einer Beratung verpflichtet ist, die sich aufgrund von konkreten Fallgestaltungen unschwer ergibt (Bundessozialgericht, Urteil vom 24. Juli 2003, B 4 RA 13/03 R). Es bleibt abzuwarten, welche Anforderungen die Sozialgerichte an die neue Beratungspflicht innerhalb des SGB II knüpfen werden. Dem Wortlaut der Gesetzesbegründung zu folge ist jedoch bereits jetzt klar, dass es sich bei dieser Regelung um keine Entbürokratisierung handelt. Diese Norm wird selbstverständlich zu einem Mehraufwand in den Jobcentern führen.«

Das nächste Beispiel aus dem Brandbrief der Jobcenterpersonalräte bezieht sich auf einen Sachverhalt, der vor kurzem in den Medien kritisch aufgegriffen wurde und zu solchen Schlagzeilen geführt hat: Hartz-IV-Empfänger sollen stärker kontrolliert werden: »Die Jobcenter sollen die Einkünfte von Hartz-IV-Haushalten künftig häufiger kontrollieren. Der Datenabgleich soll nun einmal monatlich erfolgen – statt wie bisher einmal im Quartal«, so Cordula Eubel in ihrem Artikel.  Die Neuregelung besteht aus zwei Komponenten: Zum einen die Verkürzung des zeitlichen Abstands der Überprüfungen auf einen monatlichen Rhythmus und in den Datenabgleich werden auch Personen einbezogen, die in einem Haushalt mit einem Hartz IV-Bezieher leben, aber selbst keine Leistungen beziehen. Dazu die Jobcenterpersonalräte unter der Überschrift „Die Erhöhung der Frequenz des automatisierten Datenabgleichs (§ 52 Abs. 1 S. 3 SGB II)“:

»Es wäre erforderlich, hier eine technische Lösung einzuführen, im Zuge derer die Überschneidungsmitteilungen direkt mit den Angaben aus dem Leistungsfachverfahren Allegro abgeglichen werden und bereits bekannte Meldungen automatisiert aussortiert werden. Dies wäre eine echte Verfahrensvereinfachung. Durch die Erhöhung der Frequenz des händisch durchzuführenden Datenabgleichs fürchten wir jedenfalls erhebliche Mehrbelastungen.«

Jeder, der schon mal in einer Massenverwaltung gearbeitet hat, kennt die furchterregende Bedeutung der Begrifflichkeit „händisch durchzuführender Datenabgleich“.

Und der letzte in diesem Beitrag zu erwähnende Kritikpunkt aus den Reihen der Jobcenter-Beschäftigten wird sich jedem sofort erschließen, der Verwaltungserfahrung hat – für die anderen klingt das nach böhmischen Dörfern:

»Zu guter Letzt ist auch der Mehraufwand zu erwähnen, den die Belegschaften der Jobcenter schlichtweg damit haben, sich in die neuen Regelungen einzuarbeiten und sich diese anzueignen. Auch die IT-Verfahren sind auf die neue Gesetzeslage hin anzupassen und ihre diesbezügliche Handhabung muss von den Belegschaften ebenfalls erlernt werden. Es ist vorgesehen, dass die technische Umsetzung erst im März 2017 mit einer neuen Programmversion beginnen wird und voraussichtlich im November 2017 abgeschlossen sein wird. Bis dahin erfordert das 9. SGB II-Änderungsgesetz insgesamt 9 Übergangsregelungen und 3 Verfahrenshinweise. Diese Umgehungslösungen sind in der Regel sehr umständlich, arbeits- und zeitintensiv und schwer nachvollziehbar.«

Ja, so ist das. Da macht man in Berlin eine umfangreiche, kleinteilige Gesetzesänderung, setzt das in Kraft und denkt: jetzt läuft’s. Aber dass das umgesetzt werden muss in den technischen Systemen, dass die Leute geschult werden müssen, dass sie übergangsweise Krücken-Lösungen praktizieren müssen, weil die neue Rechtslage noch nicht abgebildet sind in den IT-Systemen, daran denken die Praktiker, nicht aber die Theoretiker.

Und wir haben an dieser Stelle noch gar nicht gesprochen von den zusätzlichen Arbeiten, die sich ergeben werden aus der Tatsache, dass das 9. SGB II-Änderungsgesetz zahlreiche Regelungen enthält zuungunsten der Hartz IV-Empfänger, die zu neuen Klageverfahren vor den überlasteten Sozialgerichten führen werden – bereits in meiner schriftlichen Stellungnahme für die Anhörung im Deutschen Bundestag habe ich dazu geschrieben, »dass im Ergebnis aus einem „Rechtsvereinfachungsgesetz“ mit Blick auf Teile der Betroffenen ein „Rechtsverschärfungsgesetz“ geworden ist, da über einzelne, teilweise höchst diffizile Regelungen reale Verschlechterungen für die Leistungsberechtigten zu erwarten sind« (Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucksache 18(11)645 vom 26. Mai 2016, S. 128).

Und das alles findet statt im Kontext einer ganz erheblichen Zunahme der zusätzlichen Arbeitsbelastung der Jobcenter, die sich dadurch ergibt, dass nunmehr und spürbar immer mehr Flüchtlinge nach ihrer Anerkennung in das Grundsicherungssystem wechseln, das in vielen Fällen für viele Jahre für sie zuständig sein wird, selbst wenn der eine oder andere eine Beschäftigung finden wird, denn oftmals bleiben die dann als Aufstocker mit ihrer Bedarfsgemeinschaft den Jobcentern erhalten, weil sie zu wenig verdienen (können), um aus der Hilfebedürftigkeit herauszukommen. Man darf an dieser Stelle zugleich daran erinnern, dass die vielen geflüchteten Menschen, die nun von den Jobcentern betreut werden müssen, nicht nur eine quantitative Zunahme der Hilfeempfänger darstellen, sondern das eine Vielzahl weiterer Aufgaben damit einhergehen, man denke hier nur an die Frage der Sprachfähigkeit. Um nur ein Beispiel zu nennen.

Im Zusammenspiel aller genannten Entwicklungen wird das Jobcenter-System in den kommenden Monaten weiter heiß laufen. Das hat natürlich auch Auswirkungen für diejenigen, die vor dem Schreibtisch der Jobcenter-Mitarbeiter sitzen. Dazu Kristiana Ludwig in ihrem Artikel: »Harald Thomé vom Erwerbslosenverein Tacheles in Wuppertal sagt, die überlasteten Mitarbeiter führten bei den Arbeitslosen zu viel Frustration. Oft bleibe nicht genug Zeit für den einzelnen Fall: Die Zuständigen wechselten häufig, Fehler passierten.« Das werden einige, vor allem oben, als einen eben unvermeidbaren „Kollateralschaden“ bezeichnen.

Für andere hingegen stellt sich das alles als ein sozialpolitisch nicht akzeptables Systemversagen dar. Und keiner kann sagen, man sei „überrascht“ worden von der wirklichen Wirklichkeit oder „überrollt“ von den Ereignissen, die man nicht habe vorhersehen können. Hier ist die Beweislage ziemlich eindeutig. Diese Ausreden gelten nicht.

Wenn Jobcenter arbeitslose Menschen in die Insolvenz treiben. Ein Blick auf Überschuldung und ein „professionalisiertes Inkasso-Unternehmen“

70 Prozent der arbeitslosen Menschen werden von den Jobcentern mehr oder weniger betreut, weil sie im Hartz IV-System gelandet sind. Und der normale Bürger nimmt an, dass es die Hauptaufgabe der Jobcenter sei, diese Menschen oder wenigstens so viele wie möglich von ihnen wieder in eine Erwerbsarbeit zu bringen, mit der sie sich ganz oder zumindest teilweise aus der Hilfebedürftigkeit verabschieden können. Nun weiß man seit langem, dass ein veritables Vermittlungshindernis bei einem Teil der Arbeitslosen im Tatbestand der Überschuldung vorliegt, dessen Begleitfolgen wie Lohnpfändung, aber auch die Auswirkungen auf die Arbeitsbereitschaft der Betroffenen dazu führen, dass eine Vermittlung oftmals scheitert oder gar nicht erst zustande kommt. In diesem Kontext ist allein schon die Überschrift eines solchen Artikels mehr als irritierend: Wie die Jobcenter Arbeitslose in die Insolvenz drängen. Darin berichtet Kristiana Ludwig: »Wer der Arbeitsagentur Geld schuldet, darf nicht auf Milde hoffen. Das Bundesarbeitsministerium verbietet in der Regel außergerichtliche Einigungen über die Ausstände. Seit Jahresbeginn hat die Behörde sogar einen eigenen Inkassodienst beauftragt. Dabei sind gerade Arbeitslose besonders häufig von der Privatinsolvenz betroffen – und finden dann auch noch schwerer einen neuen Job.«

Die Fakten sind seit langem bekannt und das Statistische Bundesamt hat am 1. Juli 2016 einen Überblick veröffentlicht zum Thema „Überschuldung privater Personen 2015“.

»Im Jahr 2015 haben in Deutschland rund 647.000 Personen wegen finanzieller Probleme die Hilfe einer der 1.400 Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen in Anspruch genommen. Im Rahmen der freiwilligen Überschuldungsstatistik hat das Statistische Bundesamt anonymisierte Daten zu 113.000 beratenen Personen mit deren Zustimmung ausgewertet. Damit lassen sich umfangreiche strukturelle Aussagen zu den Überschuldeten treffen. Zudem stehen Angaben zu den Auslösern der Überschuldung, zur Schuldenhöhe und zu den Gläubigern zur Verfügung.« (Vgl. auch die Hintergrundinformationen zur Überschuldungsstatistik).

Die Frage nach den Ursachen von Überschuldung behandelt das Statistische Bundesamt unter der Überschrift: „Hauptauslöser der Überschuldung liegen überwiegend außerhalb der unmittelbaren Kontrolle der Überschuldeten“ (vgl. dazu das Statement von Präsident Dieter Sarreither vom 1. Juli 2016, S. 8):

„Wer überschuldet ist, ist selbst schuld.“ Das ist eine landläufig verbreitete Meinung. Für Schuldnerberater/-innen zeichnet sich ein anderes Bild. Sie erhalten im Zuge ihrer Tätigkeit viele Informationen über die finanzielle Situation der beratenen Person sowie über deren Weg in die finanziellen Schwierigkeiten. Auf Basis dieser Angaben geben die Beraterinnen und Berater im Rahmen der Überschuldungsstatistik ihre Einschätzung über den jeweiligen Hauptauslöser der Überschuldung an. Dabei fällt auf, dass in der Regel unplanbare und gravierende Änderungen der Lebensumstände als Hauptauslöser genannt werden, die außerhalb der unmittelbaren Kontrolle der Überschuldeten liegen. Unter den sechs häufigsten Angaben für neu angelegte Beratungsfälle im Jahr 2015 fanden sich Arbeitslosigkeit (19 %), Erkrankung, Sucht und Unfall (15 %) sowie Trennung, Scheidung beziehungsweise Tod der Partnerin/des Partners (14 %). Überschuldung durch unangemessenes Konsumverhalten („unwirtschaftliche Haushaltsführung“) wurde lediglich in 11 % aller Fälle genannt. Bei 7 % der beratenen Personen waren die Schuldnerberater/-innen davon überzeugt, dass die auf lange Sicht unzureichende Einkommenssituation trotz einer wirtschaftlichen Haushaltsführung zu den finanziellen Problemen geführt hat („längerfristiges Niedrigeinkommen“).

Den doppelten Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Überschuldung stellt auch Kristiana Ludwig in ihrem Artikel heraus:

»Wer seinen Job verliert und plötzlich auf sein Gehalt verzichten muss, der macht schnell Schulden. Arbeitslosigkeit ist die wichtigste Ursache für Überschuldung, für jeden fünften deutschen Schuldner war sie im vergangenen Jahr der Hauptauslöser für ihre finanzielle Notlage, erhob das Statistische Bundesamt. Zugleich verhindern Schulden oft, dass ein Arbeitsloser wieder einen Job findet: Arbeitgeber schreckt es meist ab, wenn ihr Bewerber in einem Insolvenzverfahren steckt. Dies sei „natürlich ein absolutes Vermittlungshemmnis“, sagt eine Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit. Nicht umsonst schicken viele Jobcenter die Hartz-IV-Empfänger zur Schuldnerberatern.«

Da sollte man annehmen, dass man in den Agenturen und Jobcentern höchst sensibilisiert ist für die miteinander verwobenen Fragen von Arbeitslosigkeit und Überschuldung vor allem hinsichtlich einer anzustrebenden Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Und die gerne in Anspruch genommene Schuldnerberatung für die eigenen „Kunden“ seitens der Agenturen und vor allem der Jobcenter scheint das ja auch zu bestätigen, denn die Aufgabe der Schuldnerberater ist ja auch Sicht der Jobcenter recht eindeutig: Sie sollen die betroffenen Menschen wieder vermittlungsfähig machen, in dem sie das vorgelagerte Problem der Überschuldung bearbeiten und einer wenigstens perspektivischen Lösung zuführen.

Aber nicht immer scheint das die Jobcenter zu leiten, vor allem dann nicht, wenn die Arbeitsagentur selbst die Gläubigerin ist und auf einen Teil ihres Geldes verzichten müsste, um einem überschuldeten Arbeitslosen zu helfen. Und das gibt es schriftlich, so Ludwig in ihrem Artikel:

»Ein Papier aus dem Haus von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, schreibt der Agentur vor, dass sie sich nicht mehr auf außergerichtliche Einigungen einlassen darf – außer in besonderen Härtefällen. Damit ist bei allen verschuldeten Arbeitslosen, die auch bei der Arbeitsagentur in der Kreide stehen, ein Insolvenzverfahren programmiert. Denn bei diesen vorgerichtlichen Einigungen gilt: Entweder machen alle Gläubiger mit – oder keiner.«

Und die Gläubigerposition der Arbeitsagenturen und Jobcenter ist keine vernachlässigbare, sondern sie hat Gewicht und nimmt zu:

»Dabei verleihen gerade die Jobcenter immer mehr Geld an Arbeitslose. Im vergangenen Jahr erreichten die Darlehen, die Hartz-IV-Empfänger für Anschaffungen wie etwa einen Kühlschrank bekamen, eine Rekordsumme von 86,4 Millionen Euro – vor neun Jahren waren es noch 33 Millionen Euro. Auch die Summe, die einzelne Arbeitslose im Schnitt bekommen und dann an das Jobcenter zurückzahlen müssen, hat sich seitdem verdoppelt, auf 430 Euro. Auch Aufstocker häufen oft Schulden beim Jobcenter an, weil ihr Einkommen und damit die Unterstützung vom Amt schwankt und sie ihm zeitverzögert Geld zurückzahlen müssen. Aufstocker, errechnete das Statistische Bundesamt, seien „überproportional häufig überschuldet“.«

Über die Verschuldungsinstanz Jobcenter hat O-Ton Arbeitsmarkt bereits am 20. April 2016 berichtet unter der Überschrift Hartz-IV-Empfänger machen 86 Millionen Euro Schulden bei den Jobcentern. In diesem Beitrag wurde auch auf den Rückzahlungsaspekt hingewiesen: »Darlehen müssen aus dem Hartz-IV-Regelsatz zurückgezahlt werden. Monatlich bis zu 10 Prozent werden vom Jobcenter einbehalten – von bis zu drei Darlehen gleichzeitig. Das kann ein Minus von bis zu 30 Prozent des Regelsatzes bedeuten. Seit Ende März hat sich das zumindest geändert. Neue Weisungen der Bundesagentur für Arbeit veranlassen die Mitarbeiter in den Jobcentern, mehrere Darlehen nur noch nacheinander und nicht mehr parallel zu tilgen.«

Während es also bei den Bedingungen der Rückzahlungen eine leichte Verbesserung gegeben hat, werden in einem anderen Bereich die Daumenschrauben angezogen, wie Kristiana Ludwig beschreibt:

»Seit Anfang dieses Jahres hat die Arbeitsagentur einen eigenen Inkasso-Dienst aktiviert, der sich verstärkt um solche Forderungen kümmern soll. Die Behörde verspricht sich dadurch Mehreinnahmen von rund 70 Millionen Euro im Jahr. Bundesweit machen Schuldnerberater seither die Erfahrung, dass sich Jobcenter nun auf keine Verhandlungen mehr einlassen.«

Die Einsicht in das Dokument, mit dem Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) solche Einigungen einschränkt, konnte nur unter Anwendung juristischen Zwangs ermöglicht werden, konkret von Matthias Butenob von der Landesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung Hamburg, der das unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz erstritten hat.
Und was sagt das Bundesarbeitsministerium dazu?

»Nahles‘ Sprecher erklärt, man werde weiterhin jeden Einzelfall prüfen. Wenn die wirtschaftliche Existenz des Betroffenen ernsthaft bedroht sei oder die Überschuldung ihn „dauerhaft demotiviert und ihn unter dem Druck der Verhältnisse sozial abgleiten“ lasse, sei eine Einigung noch immer möglich. Nach Einschätzung des Rechtsanwalts Marcus Köster von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen wird es für Arbeitslose jedoch schwer, eine solch starke Belastung zu beweisen. „Für so einen Beleg müsste man einen Arzt einschalten und ein Attest liefern“, sagt er.«

Man muss das an dieser Stelle leider so bilanzieren: Die sozialdemokratische Bundesarbeitsministerium leistet erneut einen Beitrag zu einer Rechtsverschärfung zuungunsten einige Betroffener im Hartz IV-System und die „Lösung“ ihres Hauses würde neben der Tatsache, dass die nur für Einzelfälle gelten würde, einen Rattenschwanz an zusätzlichen Arbeiten (bei Ärzten, in den Jobcentern, bei den Gerichtet im Gefolge von Widersprüchen und Klagen usw.) auslösen – in Zeiten, in denen in den Sonntagsreden von Bürokratieabbau fabuliert wird. Und damit nicht genug: »Den Preis für die harte Linie von Andrea Nahles zahlen nicht nur die Arbeitssuchenden, sondern auch die Bundesländer. Etwa 2000 Euro kostet ein Insolvenzverfahren, das den Menschen bei einer gescheiterten Einigung bevor steht – bei mittellosen Bürgern müssen die Länder diese Kosten übernehmen. Eigentlich will das Bundesjustizministerium diese teuren Verfahren vermeiden, eben deshalb gibt es eine Verhandlungspflicht«, so Kristiana Ludwig ergänzend in ihrem Artikel.

Übrigens – der eine oder andere aufmerksame Leser dieses Blogs wird sich erinnern, dass bereits am 23. November 2015 in dem Beitrag Immer mehr arbeitslose Menschen in finanziellen Nöten. Jobcenter, die mit Darlehensrückforderungen das Existenzminimum beschneiden. Eine Bundesagentur für Arbeit, die Mitarbeiter in „Telefoninkasso“ schult auf den damals vor der Einführung stehenden Inkasso-Dienst der BA hingewiesen wurde: Die Bundesagentur für Arbeit setzt auf eine „Professionalisierung“ hin zu einem „modernen Inkasso-Unternehmen“. Als Grundlage fungiert ein neues „Fachkonzept Inkasso“, mit dem die BA künftig einen „besseren Einziehungserfolg“ erreichen will. Von 2015 bis 2020 verspricht sie sich dadurch Mehreinnahmen von rund 70 Millionen Euro pro Jahr. Das Amt hat bereits fünf Stützpunkte in Recklinghausen, Bogen, Hannover, Halle und Kiel geschaffen, an denen sich Mitarbeiter auf das Eintreiben von Außenständen konzentrieren sollen – auch bei den Menschen, die ihre Jobcenter-Schulden mit in die Berufstätigkeit nehmen. Und auch den folgenden Passus aus dem damaligen Beitrag sollte man wieder in Erinnerung rufen: »Gerade haben dort rund 180 Mitarbeiter ein „Intensivtraining Telefoninkasso“ von der Deutschen Inkasso Akademie bekommen, einer Tochter des Bundesverbands deutscher Inkasso-Unternehmen. Im Dezember sollen weitere Kurse folgen. Die Bundesagentur erwägt außerdem, die privaten Inkassounternehmen gleich selbst zu beauftragen. Dies sei bereits „erfolgreich erprobt“ worden.«

Flüchtlinge und ihre zunehmende Sichtbarkeit auf dem Arbeitsmarkt und im Grundsicherungssystem. Und Flüchtlinge, die nicht mehr kommen werden können

Die mediale Berichterstattung über das Thema Flüchtlinge hat sich merklich verschoben. Der sich teilweise überschlagende Ton einer täglichen Frontberichterstattung über die Zahl der Neuankömmlinge und der verzweifelten Unterbringungsversuche der vielen Menschen, die es auf deutschen Boden geschafft hatten, die im vergangenen Jahr bis in die ersten Wochen des laufenden Jahres alles überlagert hat, ist verschwunden. Zugespitzt formuliert könnte man den Eindruck bekommen, dass alles vorbei ist, dass keine Flüchtlinge mehr kommen (können). Während im vergangenen Jahr im EASY-System 1.092.000 Menschen registriert worden sind (wobei die tatsächliche Zahl geflüchteter Menschen aufgrund von Doppelzählungen, Rück- und Weiterreisen kleiner ist), wird für die Monate Januar bis Mai 2016 eine (Brutto-)Zahl von immerhin noch 206.000 ausgewiesen, die es trotz aller innereuropäischen Abschottungen beispielsweise mit Blick auf die mehr oder weniger geschlossene Balkan-Route oder das Zurückhalte-Abkommen mit der Türkei bis nach Deutschland geschafft haben.

Und wir können sicher sein, dass es weitaus mehr gewesen wären, wenn nicht das faktische Abblocken in anderen Länder und Regionen und auf das Mittelmeer, dessen Überquerung wieder zur wichtigsten Fluchtroute geworden ist, verlagert hätte. Das alles hat seinen „Preis“, der sich dann in solchen Überschriften kristallisiert: Mehr als 3600 tote Flüchtlinge im ersten Halbjahr: »Die weltweit gefährlichste Fluchtroute bleibt das Mittelmeer in Richtung Europa: Allein dort wurden bis Ende Juni mindestens 2.905 Flüchtlinge getötet oder für vermisst erklärt. Die große Mehrheit – mehr als 2.500 – ertrank … auf dem Weg von Afrika nach Italien.« Die Internationale Organisation für Migration (IOM) vermutet, »dass die Opferzahl in den Sommermonaten nochmals deutlich in die Höhe gehen wird.« Oder solche Meldungen von den Außengrenzen der EU: Ungarn will Flüchtlinge stärker abschrecken: »Mehr Polizei, bessere Ausrüstung und schärfere Regeln – die ungarische Regierung will Migranten mit Nachdruck fernhalten. Doch tatsächlich werden Elendslager an der Grenze anschwellen.« Dass das richtig ist, zeigen auch solche Zahlen: Seit dem Jahresbeginn wurden in Serbien an die 103.000 Flüchtlinge registriert. Nur knapp 5.000 entschlossen sich, einen Asylantrag einzureichen. Die anderen wollen EU-Boden erreichen.

Und die Ungarn belassen es offensichtlich nicht mit Ankündigungen, sondern setzen das um, mit solchen Ergebnissen: Ungarn beginnt mit Abschiebungen ohne Asylverfahren oder Ungarn misshandelt offenbar Flüchtlinge – und schiebt sie ab: »Budapest geht rigoros gegen illegale Einwanderer vor. Flüchtlinge berichten, aufgefangen, verprügelt und nach Serbien zurückgeschickt zu werden.«

Auch mit Blick auf die afrikanischen Ländern vor dem Mittelmeer ist Europa nicht untätig, sondern versucht, die Versuche des Übersetzens nach Europa im Vorfeld zu begrenzen bzw. perspektivisch zu verhindern: De Maizière will Flüchtlingszentren in Afrika, so ist beispielsweise einer der Artikel dazu überschrieben. Unter expliziter Bezugnahme auf das „Modell Türkei“ sollen Aufnahmezentren für Flüchtlinge in Nordafrika eingerichtet werden. Und wenn man sich schon die Hände schmutzig macht: EU will auch Militär mit Entwicklungshilfe unterstützen. Die EU nutze zunehmend zivile Programme, um paramilitärische Gendarmerieverbände auszubilden oder Grenzsicherung zur Flüchtlingsabwehr zu fördern, so die Kritiker dieses Vorstoßes. Und das ist nur ein Teil des Ganzen: Länder, die illegale Einwanderer aus Afrika zurücknehmen, sollen laut einem Vorschlag der EU-Kommision belohnt werden – „Migrationspartnerschaften“ nennen das die Planer.

Nun könnte man aus einer deutschen Perspektive auch so argumentieren: Das wird uns helfen, denn die Zuwanderungen werden deutlich zurückgehen. Deutlich weniger Menschen werden es bis zu uns schaffen. Und das eröffnet nicht nur den Raum, sich zu sortieren, den Krisenmodus der Notfallhilfe zu verlassen, sondern auch die anstehende Frage zu beantworten: Wie geht es denn weiter mit denen, die nun da sind und von denen viele lange, vielleicht für immer bleiben werden. Was passiert mit denen (nicht)? Dabei spielt die Frage, ob, wie und wann die geflüchteten Menschen auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können, eine ganz zentrale Rolle.

In diesem Zusammenhang von Bedeutung ist die Tatsache, dass wir zunehmend genauer die Umrisse der vielen Menschen in den Daten abgebildet bekommen. So veröffentlicht die Bundesagentur für Arbeit seit Juni 2016 differenzierte Daten über de Menschen mit einem Fluchthintergrund, vgl. dazu die Themenseite Migration und Arbeitsmarkt: »Mit dem Berichtsmonat Juni 2016 beginnt die Berichterstattung über Personen im Kontext von Fluchtmigration, die bei Arbeitsagenturen und Jobcentern gemeldet sind«, schreiben die Statistiker der BA (vgl. dazu auch die Hintergrundinformation „Geflüchtete Menschen in den Arbeitsmarktstatistiken – Erste Ergebnisse“).

Und dass wir mit Blick auf die so wichtige Integration in den Arbeitsmarkt eine lange Wegstrecke vor uns haben, verdeutlichen dann auch solche Meldungen: Erst 30.000 Flüchtlinge haben einen Job, so ist ein Interview mit dem Leiter des BAMF, Frank-Jürgen Weise, überschrieben:

»Aus den acht wichtigsten nicht-europäischen Asyl-Herkunftsländern arbeiteten im April 2016 rund 96.000 Menschen in sozialversicherungspflichtigen Jobs. Das sind 22.000 mehr als ein Jahr zuvor, also ein Anstieg um 29 Prozent. Wenn man auch andere Arbeitsgelegenheiten wie Mini-Jobs hinzunimmt, ist die Zahl um 30.000 gestiegen. Auf der anderen Seite haben wir aus dem Kreis der Asylbewerber heute schon 130.000 Menschen die arbeitslos in der Grundsicherung leben.«

Und auch erste Informationen, wo die landen, die einen Job gefunden haben, liefert uns der BAMF-Chef: »Zwischen April 2015 und März 2016 ging von 21.400 neuen Beschäftigten etwa jeder Vierte in die Leiharbeit, gefolgt von Dienstleistungen wie Gebäudereinigung oder Wachdienste. Danach kommen Gastgewerbe, Handel und Kfz-Werkstätten sowie das Gesundheits- und Sozialwesen.«

Eine differenzierte Aufarbeitung der nun vorliegenden statistischen Informationen hat O-Ton Arbeitsmarkt in diesem Artikel zusammengefasst: Flüchtlinge kommen im Hartz-IV-System an – und auf dem Arbeitsmarkt.

Diesem Beitrag ist auch die überaus instruktive Abbildung am Anfang des Blog-Beitrags entnommen. Die Darstellung der bereits erkennbaren Entwicklung der sozalversicherungspflichtig Beschäftigten, der (registrierten) Arbeitslosen und der Zahl der Hartz IV-Empfänger aus den zuzugstärksten Asylherkunftsländern außerhalb Europas, also Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien, verdeutlicht, was auf uns in den kommenden Monaten zukommen wird. Nach der starken Fluchtmigration im Jahr 2015 und der Beschleunigung der Asylverfahren werden die Menschen inzwischen auch in der Arbeitsmarkt- und Grundsicherungsstatistik sichtbar.

Die Zahl der Arbeitslosen steht oft im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit – aber man sollte an dieser Stelle gleich berücksichtigen, dass die Zahl nur eingeschränkt aussagefähig ist, denn wenn beispielsweise die anerkannten Asylbewerber in einem Sprach- und Integrationskurs stecken, dann sind sie nicht „arbeitslos“ im Sinne der Statistik, sehr wohl aber angewiesen auf Leistung aus dem Grundsicherungssystem. Von daher ist die Zahl der Hartz IV-Empfänger (Regelleistungsberechtigte) relevanter, zeigt sich hier doch die Hilfebedürftigkeit der betroffenen Menschen und die damit verbundenen Ausgaben. Und mehr noch: Zuständig sind die Jobcenter, die bereits in der Vergangenheit vorsichtig formuliert am oder über dem Rand der Funktionsunfähigkeit gearbeitet haben und nun einen erheblichen Zustrom an neuen „Kunden“, wie das in der Hartz IV-Welt mehr als euphemistisch genannt wird, bewältigen sollen/müssen. Das wird zu erheblichen Belastungszunahmen in diesen letzten Außenposten des Sozialstaats führen.

Bereits innerhalb des letzten Jahres (bis März 2016) gab es einen Anstieg der Hartz IV-Empfängerzahlen aus den genannten Ländern in der Größenordnung von +70 Prozent auf 380.000. Man erkennt in der Abbildung, dass die Dynamik vor allem in den vergangenen Monaten erheblich zugenommen hat und die große Welle aufgrund der dann erfolgten Anerkennungen der Flüchtlinge wird für den Sommer und Herbst erwartet, steht also noch vor der Tür. Das wird die Jobcenter und das Grundsicherungssystem stark in Anspruch nehmen.

»Gemessen an allen Arbeitslosen, Hartz-IV-Empfängern und sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland ist der Anteil der Menschen aus den außereuropäischen Zuzugsländern aber gering. Im März 2016 stellten Personen aus Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien 6,4 Prozent aller Hartz-IV-Empfänger, 5,7 Prozent aller Arbeitslosen und 0,3 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Ein Jahr vorher lagen die Anteile allerdings noch deutlich niedriger mit 3,7 Prozent der Hartz-IV-Empfänger, 2,7 Prozent der Arbeitslosen und 0,2 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.«

Das erkennbare und sich erwartbar verschärfende Problem liegt im Auseinanderlaufen zentraler Parameter:

»Innerhalb der Bevölkerungsgruppe aus den acht stärksten Asylzuzugsstaaten sind die Anteile der Hartz-IV-Empfänger und Arbeitslosen allerdings sehr hoch, während sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bisher eher selten ist.«

Vor uns liegen die Mühen der Ebene. Denn eine rasche Arbeitsmarktintegration wird sich als ein anzustrebendes, aber kaum erreichbares Ziel erweisen. Immer wieder wird man nicht nur mit der aus Sicht des deutschen Arbeitsmarkes „schwierigen Qualifikationsstruktur“ der Mehrheit der Flüchtlinge konfrontiert, sondern auch gut meinende Integrationsversuche scheitern und müssen scheitern am Nadelöhr der Sprachkenntnisse. Hier werden sich auch bitter die Versäumnisse der Vergangenheit und der Gegenwart im Bereich der Sprach- und Integrationskurse rächen, denn auch bei höchster Motivation der geflüchteten Menschen und einer grundsätzlichen Aufnahmebereitschaft vor allem in den kleinen und mittleren Unternehmen erweisen sich mangelnde Sprachkenntnisse in aller Regel als Ausschlusskriterium für eine Arbeitsmarktintegration.

Insofern werden wir davon ausgehen müssen, dass viele geflüchtete Menschen über auch lange Zeit im Hartz IV-System hängen bleiben werden. Und das ist nicht nur, aber auch problematisch vor dem Hintergrund einer deutlich skeptischeren bis ablehnenden Stimmungslage in Teilen der Bevölkerung. Bei denen dann die vielen neuen Hartz IV-Empfänger wie ein Beschleuniger der Vorurteile, Ängste und Bedenken wirken werden.

Arbeitsmarktpolitisch müsste es derzeit um zwei große Linien gehen: Ein massiver Ausbau der Sprachförderung möglichst früh und möglichst für alle Flüchtlinge (auch unabhängig von der statistischen Bleibewahrscheinlichkeit), diese inhaltlich erweitert im Sinne einer Verbindung von Arbeiten und Sprachförderung. Und angesichts der vielen jungen Flüchtlinge ist die unbürokratische, aber umfassende Erschließung von Beschäftigungsangeboten von enormer Bedeutung, gerade angesichts der immer mehr erkennbaren Probleme, die geflüchteten Menschen in den „normalen“ Arbeitsmärkten platzieren zu können. Jeder Praktiker weiß, was es bedeutet, wenn wir (was jeden Tag passiert) junge Menschen über viele Monate zum Nichtstun verdammen. Da braucht man keine Beobachtungsstudien. Das wird uns richtig auf die Füße fallen.