Gutes Hartz IV, schlechtes Hartz IV? Die Diskussion ist mal wieder im Entweder-Oder-Modus. Dabei gibt es eine Menge zu tun

Wenn man sich nur ein wenig mit dem beschäftigt, was im Grundsicherungssystem, umgangssprachlich auch als „Hartz IV“ bezeichnet, passiert und sich die Entwicklungen in diesem Bereich anschaut angesichts der Tatsache, dass jeder zehnte Haushalt in Deutschland SGB II-Leistungen bezieht, dann wird man wieder einmal kopfschüttelnd folgende  Kommentierungen zur Kenntnis nehmen (müssen): »Zehn Jahre nach dem Start von Hartz IV sind viele Kritiker verstummt. Entkräftet ist der Vorwurf, alles sei eine reine Sparmaßnahme. Ganz gelöst ist das Langzeitarbeitslosen-Problem aber leider bis heute nicht.« So hat es Heike Göbel in ihrem Beitrag Gute Hartz-Bilanz formuliert. Dazu auch meine Anmerkungen unter Einer geht noch … einer muss noch sein. Ein Kommentar zur Dauerbaustelle Hartz IV bzw. zu ihrer journalistischen Verwurstung.

Gleichsam als Gegenpol zu diesen rührig daherkommenden Einbettungsversuchen der „Hartz-Reformen“ in die „Erfolgsgeschichte“ vom deutschen „Jobwunder“ stehen Positionierungen wie die des Kölner Politikwissenschaftlers Christoph Butterwegge: Wer arm ist, muss mit Misstrauen rechnen. Seine Bilanz ist vernichtend: »Hartz IV hat in erheblichem Ausmaß zur sozialen Entrechtung, Entsicherung und Entwertung eines wachsenden Bevölkerungsteils beigetragen, der besonders in einer wirtschaftlichen Krisensituation als „unproduktiv“ und „unnütz“ gilt.« An anderer Stelle wird Butterwegge noch deutlicher: »Fragt man nach den immateriellen Schäden, seelischen Verwundungen und Veränderungen im Alltagsbewusstsein, die besonders Hartz IV unter den Betroffenen hervorgerufen bzw. hinterlassen hat, braucht das Gesetzespaket womöglich selbst einen Vergleich mit beiden Weltkriegen nicht zu scheuen«, schreibt er in einem Beitrag mit der Überschrift Hartz IV braucht den Vergleich mit den beiden Weltkriegen nicht zu scheuen für die Online-Ausgabe des Focus. Er spricht von einem totalitären Arbeitsmarkt- und Armutsregime: »Totalitär ist das Hartz-IV-System insofern, als es sämtliche Poren der Gesellschaft durchdringt und die Betroffenen nicht mehr loslässt, ihren Alltag völlig beherrscht und sie zwingt, ihr gesamtes Verhalten danach auszurichten.« Und nun meldet sich auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zu Wort: DGB geißelt fünf Kernfehler von Hartz IV oder Beschönigt, verschleiert, verfehlt, so lauten die Schlagzeilen in der Berichterstattung der Presse über das, was der DGB in einem Positionspapier zu Protokoll gegeben hat.

Der DGB stellt seine Überlegungen unter die Überschrift: Zehn Jahre Hartz IV: Ziele verfehlt, großer Reformbedarf. Sie basieren auf einem Papier, das Wilhelm Adamy, der Arbeitsmarktexperte des DGB, verfasst hat: DGB-Analyse. Zehn Jahre Hartz IV: Ein Grund zum Feiern?
„Die Ziele dieses Umbaus von Sozialstaat und Arbeitsförderung waren hoch gesteckt. Insbesondere sollte eine ganzheitliche Betreuung und bessere Kombination von Arbeitsförderung und sozialen Hilfen eröffnet und eine Leistung ‚aus einer Hand‘ sichergestellt werden“, heißt es in der DGB-Analyse zu zehn Jahren Hartz IV. Allerdings seien die entsprechenden Maßnahmen zum Teil schlecht umgesetzt worden oder „beschönigten oder verschleierten die tatsächlichen Absichten“.
„Hartz IV wurde nicht nur schlecht gemacht, sondern hat zentrale Eckpfeiler und die Grundarchitektur des bundesdeutschen Sozialsystems massiv verschoben“, so ein Fazit der DGB-Analyse.

Interessant ist natürlich, welche Reformvorschläge vom DGB gemacht werden. Hierzu findet man die folgenden Punkte:

Das Hartz-IV-System muss entlastet und die vorgelagerten Sicherungssysteme (insbesondere die Arbeitslosenversicherung)  ausgebaut werden. So sollten befristet Beschäftigte bei Jobverlust einen besseren Zugang zur Arbeitslosenversicherung erhalten und über ein Mindest-Arbeitslosengeld die Zahl jener reduziert werden, die nach Job-Verlust unmittelbar auf staatliche Fürsorge abrutschen. Sozialversichert Beschäftigte mit aufstockendem Hartz IV sollten gleichfalls von der Arbeitslosenversicherung betreut werden.

Die Arbeitsförderung muss ausgebaut werden. So sollte die Dominanz des „Forderns“ zugunsten des Förderns korrigiert und Rechte für die Betroffenen auf Förderung ausgebaut werden.

Existenzgefährdende Sanktionen müssen aufgehoben werden. Sozialstaatliche Zumutbarkeitsregelungen sind ebenso notwendig, die keine Sanktionen mehr bei nicht existenzsichernder Arbeit vorsehen.

Insbesondere die Mittel für Weiterbildung müssen erhöht und finanzielle Anreize für Hartz-IV-Empfänger geschaffen werden, die einen Berufsabschluss anstreben. Bisher sind sie finanziell schlechter gestellt als jene, die einen Ein-Euro-Job ausüben.

Die sozialen Integrationshilfen und das Ziel der sozialen Teilhabe müssen für jene ausgebaut werden, die auf absehbare Zeit keine Chance auf dem regulären Arbeitsmarkt haben. Dies sollte mit einer besseren Zusammenarbeit und Kooperation unterschiedlicher Institutionen – wie den Jobcentern und den Krankenkassen – verknüpft werden.

Arbeitsförderung sollte eine „neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt“ unterstützen. Prekäre Beschäftigung muss zurückgedrängt und auch Langzeitarbeitslosen Mindestlöhne von 8,50 Euro gezahlt werden.

Um Armut von Erwerbstätigen mit Kindern wirksamer bekämpfen zu können, sollte ergänzend zum Mindestlohn der Kinderzuschlag sowie das Wohngeld für Geringverdiener ausgebaut werden.

Wie die Situation vor Ort aussieht, kann man beispielhaft dem folgenden Artikel entnehmen, der die Lage in einer Großstadt im Ruhrgebiet beschreibt: Essen bekommt Langzeitarbeitslosigkeit nicht in den Griff. Es ist wie das Strampeln im Sack, so wird der Sozialdezernent Peter Renzel zitiert und er meint damit die Frage: Wie kriegt man insbesondere jene Menschen, die seit Jahren arbeitslos sind, wieder in Jobs? Die Zahlen sprechen für sich: Fast zwei Drittel der über 29.000 Jobcenter-Kunden in Essen gelten als langzeitarbeitslos. Und in dem Artikel wird korrekterweise auch auf die fatalen Auswirkungen der massiven Kürzungen in der Arbeitsförderung hingewiesen:

»Essen schrammt knapp am Hartz-Stillstand vorbei: Die drastische Kürzung der so genannten Eingliederungsmittel durch den Bund von 81 Millionen Euro in 2010 auf 55,3 Millionen Euro in diesem Jahr allein für Essen, minimierte die Chancen der Betroffenen massiv. Es ist zu wenig Geld da, um zu qualifizieren, zu stabilisieren oder zu aktivieren für einen Essener Arbeitsmarkt, der überdurchschnittlich hohe Anforderungen stellt … Zwar finden 3.500 bis 4.500 Jobcenter-Kunden jeden Monat einen Job. Doch 40 Prozent von ihnen kommen innerhalb eines Jahres wieder zurück, tausende verlieren ganz den Anschluss. Es ist eine erschreckende Zahl: Inzwischen weist Essen eine SGB-II-Hilfequote von 19,0 Prozent aus. Das ist landesweit der zweitschlechteste Wert. Nur Gelsenkirchen ist mit 22,5 Prozent noch ärmer dran.«

Und da in letzter Zeit immer zu lesen oder zu hören ist, die Zahl der Hartz IV-Empfängern sei rückläufig und die Langzeitarbeitslosen würden auch profitieren von der tollen Arbeitsmarktlage der letzten Jahre, hier ein paar korrigierende Fakten aus Essen: Nicht weniger, sondern über die Jahre eine zunehmende Zahl an Menschen ist auf öffentliche Leistungen aus dem Hartz IV-System angewiesen. »Startete die Grundsicherung in Essen mit 51.415 Hilfebedürftigen, stieg die Zahl der so genannten erwerbsfähigen Leistungsberechtigten auf knapp 62.000 in diesem Jahr. Addiert man deren Nachwuchs hinzu, leben in dieser Stadt 85.326 Menschen von Hartz IV-Leistungen. So viele wie noch nie.«

Und dann der wichtige Hinweis auf eine wichtige Gruppe, an die viele nicht denken, wenn es um Hartz IV-Empfänger geht: die arbeitenden Aufstocker:
»Einen großen Anteil an dieser Entwicklung hat die weiter wachsende Gruppe der Ergänzer. Allein zwischen 2007 und 2014 ist die Zahl der Essener, die arbeiten und dennoch auf SGB-II-Leistungen angewiesen sind, um 5.126 auf jetzt 14.620 gestiegen. Ein Großteil der Menschen kommt in der Leiharbeitsbranche unter oder hat einen Minijob, der allerdings nur geringe berufliche Perspektiven bietet. Auch für sie ist das Strampeln im Sack.«

Der Sozialdezernent Renzel bringt das zentrale Probleme im Bereich der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit auf den Punkt: Es fehlen die Arbeitsplätze für die geringer Qualifizierten. Er macht konkrete Vorschläge, was man durch gesetzgeberische Aktivitäten endlich ermöglichen sollte, denn gerade in Kommunen wie Essen liegt die Arbeit im wahrten Sinne des Wortes auf der Straße und man kann angesichts der Haushaltslage der meisten Kommunen gestrost davon ausgehen, dass der größte Teil dieser Arbeit nicht erledigt werden kann, weil man gar nicht die Mittel hat, um das vor Ort in Form eines regulären Auftrags vergeben zu können:

»Die Lösung für die Zukunft sei eine „öffentlich geförderte Beschäftigung“, meint nicht nur der Sozialdezernent: Mit den Mitteln der Grundsicherung und der Wohnungs- und Heizkosten, die sich für Essen in diesem Jahr auf fast 230 Millionen Euro summieren, müssten Teile der Löhne für Langzeitarbeitslose bezahlt werden, wenn sie bei einem privaten oder gemeinnützigen Unternehmen wie der Essener Arbeit Beschäftigungsgesellschaft (EABG) einen Job bekommen.« Vgl. zur Arbeit der EABG auch das Interview mit Ulrich Lorch, dem Vorsitzenden der Geschäftsführung dieser Beschäftigungsgesellschaft.

Aber selbst hier hat man schon vorweggenommen, dass man nur das zu hören bekommt, was man seit Jahren hört: Geht nicht, kommt nicht. Was bleibt ist die Bitte um wenigstens einen Modellversuch:
Einen oder mehrere Versuche sei es aber wert, meint Renzel, der an die Verantwortlichen in Berlin appelliert: „Mindestens ein Modell in der Region Ruhrgebiet sollte der Gesetzgeber ermöglichen.“

Abschließend wieder zurück zu einer ganz grundsätzlichen – und im wahrsten Sinne des Wortes zornigen – Sicht auf Hartz IV: Der Jurist Jürgen Borchert, 65, hat im Dezember sein Amt als Vorsitzender Richter am hessischen Landessozialgericht abgegeben und ist in den (Un)Ruhestand getreten. Man kann ihn sicher als einen der streitbarsten Sozialrichter dieses Landes bezeichnen. Die Süddeutsche Zeitung hat ihn interviewt, auch zum Thema Hartz IV: „Ja, es stimmt: Ich bin zornig“, so ist der Bericht über das Interview in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung überschrieben.

„Der Zustand unseres Sozialstaates ist desaströs. Er ist an Intransparenz nicht zu überbieten“, beginnt Borchert. Beispiel Hartz IV: Das Gesetz wurde innerhalb von zehn Jahren mehr als 70 mal verändert hat. Davon einige Male tiefgreifend. Das schaffe kein Vertrauen – es führe dazu, dass die Bürger kein Rechtsbewusstsein mehr entwickelten, so der ehemalige Sozialrichter.

Im Januar werden die Hartz-IV-Reformen zehn Jahre alt und die Zahl der Arbeitslosen ist so niedrig wie seit langem nicht mehr. Auch dies sei, so Borchert, kein Erfolg: „Das Arbeitsvolumen blieb seit 2000 gleich, wurde durch Leih-und Teilzeitarbeit nur auf mehr Personen verteilt. So haben wir eine Abwärtsspirale der Löhne in Gang gesetzt – mit der Folge, dass immer mehr Löhne subventioniert werden müssen.“ Hier handele es sich um eine Marktverzerrung sondergleichen. „Das stinkt nicht nur zum Himmel , sondern konkurriert auch die Arbeitsmärkte unserer Nachbarn in Europa in Grund und Boden.“ Hartz IV erwecke den Eindruck, als ob die Langzeitarbeitslosigkeit ein persönliches Versagen sei. „Man macht Opfer zu Tätern“, so Borchert.

Immer diese Studien. Eine sagt angeblich, der Mindestlohn verfehlt sein Ziel. Wirklich?

Das tut manchem sicher gut, eine solche Überschrift frei Haus geliefert zu bekommen: „Der Mindestlohn verfehlt sein Ziel„, so Sven Astheimer. Da muss man natürlich zuerst einmal klären, was denn bitte schön das Ziel des Mindestlohns ist. Dazu erfahren wir: »Manche Menschen arbeiten und müssen trotzdem mit Hartz IV aufstocken. Dagegen sollte der Mindestlohn helfen. Ausgerechnet Forscher der Bundesagentur für Arbeit sagen jetzt: Das funktioniert nicht.« Astheimer bezieht sich hier auf die Studie „Die meisten Aufstocker bleiben trotz Mindestlohn bedürftig“ von Kerstin Bruckmeier und Jürgen Wiemers vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Die Forscher des IAB haben berechnet, »dass lediglich zwischen 43.000 und 64.000 berufstätige Hartz-IV-Bezieher durch die staatliche verordnete Lohnerhöhung den Sprung aus der Grundsicherung schaffen können. Das sind nicht einmal 5 Prozent aller rund 1,3 Millionen „Aufstocker“, die neben einem Arbeitseinkommen auch noch auf Arbeitslosengeld II (Hartz IV) angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.« Das kommt doch mehr als ernüchternd rüber. Haben nicht wichtige Apologeten eines gesetzlichen Mindestlohns immer wieder versprochen, dass mit diesem Instrumentarium der anzustrebende Zustand (wieder)hergestellt werden kann, dass man von seiner Hände Arbeit auch leben können muss, ohne auf aufstockende Leistungen aus dem Grundsicherungssystem angewiesen zu sein? Und dann das?

Schauen wir also genauer hin, was uns die Wissenschaftler da präsentieren. Dass die Bilanz des vor der Einführung stehenden Mindestlohnes hinsichtlich der Erwartung, damit die Transferabhängigkeit im Grundsicherungssystems deutlich reduzieren zu können, so schlecht ausfällt, überrascht nicht wirklich vor dem Hintergrund der Zusammensetzung der Gruppe der „Aufstocker“. Denn hier wirken zwei grundlegende Faktoren, die auch bei einem höheren Mindestlohn als den nunmehr vorgesehenen 8,50 Euro pro Stunde eine weiter fortbestehende Abhängigkeit von aufstockenden Leistungen aus dem Hartz IV-System bedingen würden: Zum einen eine nur teilzeitige Beschäftigung, häufig im Gehäuse der „Minijobs“ und zum anderen eine über das Einkommen mitzuversorgende Zahl von Haushaltsmitgliedern, die ein hohes Einkommen notwendig machen.
In den Worten von Bruckmeier und Wiemers:

»77 Prozent der abhängig beschäftigten Leistungsbezieher arbeiten weniger als 32 Stunden in der Woche, 60 Prozent weniger als 22 Stunden und ein Drittel weniger als 11 Stunden … Weitere Ursachen für Einkommen, die zur Existenzsicherung nicht reichen, sind niedrige Stundenlöhne und die Haushaltsgröße bei häufig nur einem Erwerbstätigen im Haushalt. Die durchschnittlichen Stundenlöhne von Aufstockern betragen etwa 6,20 Euro. Die niedrigsten Stundenlöhne von durchschnittlich unter 5 Euro erzielen Alleinstehende in Ostdeutschland. Aufstocker aus Paarhaushalten in Westdeutschland erreichen hingegen bereits jetzt zu über einem Fünftel Stundenlöhne von über 10 Euro. Hier reicht der Verdienst wegen der Haushaltsgröße nicht zur Existenzsicherung aller Haushaltsmitglieder.«

Auf der Basis einer Simulationsstudie kommen die Wissenschaftler mit Blick auf die Aufstocker zu dem Ergebnis, dass 57.000 bis 64.000 von ihnen nach Einführung des Mindestlohnes keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosengeld II hätten. Ein Teil dieser Personen würde stattdessen Wohngeld und Kinderzuschlag erhalten.

Interessant ist aber ein weiterer Befund, den uns Bruckmeier und Wiemers präsentieren. In ihrer Zusammenfassung schreiben sie:

»Unter der Annahme, dass kurzfristig Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage konstant bleiben, senkt der Mindestlohn die Ausgaben für Arbeitslosengeld II um jährlich 700 Mio. bis 900 Mio. Euro. Mehrausgaben bei Wohngeld und Kinderzuschlag reduzieren die Einsparungen, sodass die Transferausgaben im Saldo um 500 Mio. bis 650 Mio. Euro zurückgehen. Insgesamt ergibt sich eine Entlastung der öffentlichen Haushalte zwischen knapp 2,2 Mrd. und gut 3 Mrd. Euro jährlich.«

Das sind doch ganz erhebliche Summen. Während die unmittelbare Entlastung von im Saldo 500 bis 650 Mio. Euro noch überschaubar daherkommt, kommen die Autoren zu einer Gesamtentlastung der öffentlichen Haushalte in Höhe von 2,2 bis 3 Mrd. Euro pro Jahr. Dies wird durch zusätzliche Steuer- und Sozialversicherungsbeitragseinnahmen generiert:

»Schätzungen zeigen, dass im Falle der Einführung des Mindestlohnes kurzfristig mit einem Anstieg der Einkommenssteuereinnahmen von 1,16 Mrd. Euro … bis knapp 1,67 Mrd. Euro … zu rechnen wäre … Die entsprechenden Mehreinnahmen in der Sozialversicherung betragen ca. 2,9 Mrd. bis 4,5 Mrd. Euro.«

Der niedrigere Wert der Gesamtentlastung ergibt sich annahmegemäß bei den Autoren dadurch, dass parallel die Steuerzahlungen der Unternehmen sinken aufgrund der höheren Aufwendungen, die sie haben.

Und hier sind wir bei einem entscheidenden Punkt angekommen. Auch wenn wir akzeptieren, dass sich die individuelle Situation der Betroffenen kaum verändert, kann der Mindestlohn das Ausmaß der individuellen Transferabhängigkeit bei Sozialleistungsbeziehern reduzieren und damit unauflösbar verbunden natürlich auch die Kostenkompensation, die der Staat im bisherigen System leistet zugunsten der Arbeitgeber, die niedrige oder niedrigste Löhne zahlen.

Ist das eine Zielverfehlung? Kommt immer darauf an, was man als Ziel definiert.

Wenn man in der Reduktion der aufstockenden Leistungen, die ja aus Steuermitteln finanziert werden müssen, einen Wert an sich sieht, weil die bislang im Bereich de Aufstocker ablaufende „Sozialisierung eigentlich betrieblich zu tragender Kosten“ als problematisch angesehen wird, dann sind die Zahlen des IAB durchaus keine Misserfolgsmeldung. Ganz im Gegenteil. Zugleich wäre das eine Maßnahme, ein Stück weit die gegebene Wettbewerbsverzerrung zugunsten der Unternehmen zu verringern, die ihre Leute ordentlich bezahlen, abzubauen.

An dieser Stelle kann man nur noch den Einwand vortragen, dass die auch vom IAB ausgewiesenen Entlastungseffekte dann nicht realisiert werden (können), wenn ein Teil der Beschäftigung aufgrund der Mindestlohneinführung und der damit verbundenen Erhöhung der Lohnkosten entlassen wird. Hierzu schreibt Sven Astheimer in seinem Artikel zutreffend:
»Einige Wissenschaftler haben Beschäftigungsrückgänge im sechsstelligen Bereich berechnet, andere erwarten kaum Änderungen.«

Was „Aufstocker“ im Hartz IV-System (nicht) mit dem Mindestlohn zu tun haben

Es ist eine bekannte Lebensweisheit, dass man mit Zahlen viel machen kann und mit Überschriften erst recht. Vor dem Hintergrund der kontroversen Debatte über die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns von besonderer Relevanz sind dann Überschriften, die einem ins Auge springen (sollen/müssen): „Zahl der Niedriglöhner seit Jahren überschätzt“ oder „BA-Statistik liefert Mindestlohn-Gegnern Nahrung„. Müssen die Apologeten eines Mindestlohns jetzt in Sack und Asche gehen? Was genau ist hier passiert und vor allem – hat das alles wirklich mit dem Mindestlohn zu tun?

Dem FAZ-Artikel kann man entnehmen, dass es hier nicht um „die“ Niedriglöhner geht, sondern es geht um eine bestimmte Gruppe unter ihnen: Die „Aufstocker“, also Menschen, die trotz bzw. wegen ihres Erwerbseinkommens noch einen Anspruch haben auf aufstockende Leistungen aus dem Grundsicherungssystem (SGB II). Und die diese Aufstockungsmöglichkeit auch tatsächlich in Anspruch nehmen:

»In Deutschland sind weitaus weniger vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer auf ergänzendes Arbeitslosengeld II angewiesen als bisher in der politischen Auseinandersetzung über Mindestlöhne unterstellt wurde. Dies ist das überraschende Ergebnis einer aktuellen Revision der entsprechenden Statistik der Bundesagentur für Arbeit … die Gesamtzahl der Vollzeitbeschäftigten, die wegen eines niedrigen Arbeitslohns die staatliche Einkommensaufstockung beziehen, (ist) um fast ein Drittel geringer als bisher vermutet. Die Zahl der allein lebenden Vollzeitbeschäftigten, die eine Aufstockung benötigen, ist sogar um 41 Prozent geringer.«

Jeder, der sich in den Tiefen und Untiefen der Statistik auskennt, ahnt an dieser Stelle schon, dass es sich a) um eine komplizierte Angelegenheit handeln muss, die man b) nachvollziehen sollte mit einem Blick in die Erläuterungen der Verursacher dieser Datenveränderung.
Aber Dietrich Creutzburg geht in seinem Artikel gleich in die politische Interpretation der Zahlen:

»Die Neufassung der Statistik bringt politischen Zündstoff, da sie eines der zentralen Argumente der Befürworter des gesetzlichen Mindestlohns deutlich relativiert. Dieses besagt, dass ein immer größerer Teil der Arbeitnehmer trotz Vollzeitarbeit nicht von seinem Lohn leben kann.«

Seiner Meinung nach geht es hier um den grundsätzlichen Anspruch, dass jeder Mensch durch Vollzeitarbeit mindestens seinen eigenen Lebensunterhalt sichern können soll. Und dieser Anspruch muss im Lichte der neuen Zahlen, so Creutzburg, neu gelesen werden, denn:

»Legt man die nun revidierte Aufstockerstatistik der Bundesagentur für Arbeit als Maßstab zugrunde, dann war dieser politische Anspruch zur Jahresmitte 2013 für genau 46.814 von 21,8 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Vollzeitarbeit nicht erfüllt; das ist ein Anteil von 0,2 Prozent. Sie hatten keine Familie zu versorgen und brauchten dennoch neben der Vollzeitarbeit Hartz IV. Vor der Revision war die Bundesagentur von 80.000 Betroffenen ausgegangen.
Bezogen auf die insgesamt 1,2 Millionen abhängig erwerbstätigen Aufstocker machen die alleinstehenden Vollzeitbeschäftigten nun 3,9 Prozent aus, statt 6,4 Prozent wie zuvor vermutet. Ähnlich drastisch ist die Verschiebung in der Gesamtgruppe der Vollzeitbeschäftigten, die eine Aufstockung erhalten: Sie umfasst laut den neuen amtlichen Daten noch 218.000 Personen. Das sind fast 113.000 weniger als vor der Revision; ihr Anteil beträgt damit 16,6 Prozent und nicht 26,3 Prozent.«
»Spiegelbildlich zur verringerten Zahl der Vollzeit-Aufstocker hat sich die Zahl der Aufstocker mit Teilzeitstelle stark erhöht: Sie belief sich nach dem neuen Datenstand auf 363.000 zur Jahresmitte 2013. Das sind 119.000 mehr als bislang vermutet.«

Das scheint doch alles sehr beeindruckend zu sein. Also doch Sack und Asche für die Mindestlohnbefürworter?

An dieser Stelle empfiehlt sich der Blick in das Original, denn die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat „Hintergrundinformationen“ zu dem Thema veröffentlicht: „Neue Ergebnisse zu sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitslosengeld II-Beziehern in Vollzeit und Teilzeit„.
Die BA fasst die quantitativen Befunde so zusammen:

»Die neuen Ergebnisse zeigen nun von Juni 2011 bis Juni 2013 für die sozialversicherungspflichtigen Arbeitslosengeld II-Bezieher einen Rückgang der Vollzeitbeschäftigten um 113.000 auf 218.000 und einen fast komplementären Anstieg der Teilzeitbeschäftigten um 119.000 auf 363.000. Die Summe aller sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitslosengeld II-Bezieher (einschließlich der Beschäftigten ohne Angabe zur Arbeitszeit) hat sich dagegen nur wenig verändert und nur geringfügig um 5.000 auf 582.000 zugenommen.«

Wie kommt es aber nun zu dieser nicht geringen Verschiebung der beschäftigten Arbeitslosengeld II-Bezieher von Vollzeit- auf Teilzeitbeschäftigung? Wurde hier seitens der BA in der Vergangenheit (oder aber jetzt) „getrickst“? Einige Medien verbreiteten zumindest einen solchen Eindruck, so beispielsweise der Artikel „Bundesagentur verrechnet sich bei Niedriglöhnern“ auf Welt Online mit der Ergänzung: „Heikle Statistikpanne“. Und in die gleiche Richtung, dabei aber weitaus subtiler die Stoßrichtung in dem Kommentar „Revisionsbedarf“ von Dietrich Creutzburg, in dem es im Untertitel heißt: »Der große Statistik-Skandal der alten Bundesanstalt für Arbeit liegt zwölf Jahre zurück. Nun stellt sich heraus, dass die Zahl der Niedriglöhner im Hartz-IV-System statistisch überzeichnet war. Es wäre auch eine politische Parallele wünschenswert.« Damit wird für den eiligen Leser eine klare Assoziation aufgebaut. Subtil ist das, weil der Autor dann selbst schreibt: »Der aktuelle Vorgang ist anders gelagert als der große Statistikskandal der alten Bundesanstalt für Arbeit im Jahr 2002 – und doch …«.

Erstens ist die nun vorgenommene Revision der Daten nicht wirklich eine „Schuld“ der BA, sondern hier zeigt sich erneut, dass wohl sehr viele Journalisten schlichtweg keine Ahnung haben, wie schwierig und mit welchen Fehlerquellen behaftet statistische Datenerhebung in praxi ist, auch bei gutem Willen.

Inhaltlich aber wesentlich relevanter: Unabhängig von der Tatsache, dass man nun wirklich kein Interesse bei der BA erkennen kann, die Zahl der Vollzeitbeschäftigten, die gleichzeitig ergänzend Hartz IV-Leistungen beziehen, höher auszuweisen als sie tatsächlich ist: Die Ursache ist viel banaler und wir landen wieder beim ersten Punkt, der eben nicht trivialen Frage, wie die Daten gemeldet werden: Die Verschiebung »dürfte zum weitaus größten Teil eine Auswirkung der Umstellung auf das neue Meldeverfahren zur Sozialversicherung sein. Die Umstellung hat dazu geführt, dass Angaben zu Arbeitszeit bei kontinuierlich Beschäftigten überprüft und korrigiert wurden (Aktualisierungseffekt) und bei neuen Beschäftigten die Arbeitszeit besser er- fasst wird als in der Vergangenheit (Sensibilisierungseffekt)«, so die Erläuterung der BA in ihren Hintergrundinformationen.
Zusammenfassung: Mit der Umstellung des Meldeverfahrens waren Arbeitgeber gezwungen, die Angaben zur Arbeitszeit ihrer Beschäftigten in ihren Lohnabrechnungsprogrammen anzupassen. Daraus hat sich offenbar ein massiver Aktualisierungseffekt durch Korrekturen der Arbeitszeit bei Bestandsfällen ergeben.

Jetzt kommen wir aber inhaltlich zu dem entscheidenden Punkt: In der zitierten Berichterstattung wird ja argumentiert, dass ein angeblich zentrales Argument der Mindestlohnbefürworter weggebrochen sei, weil die Zahl der Niedriglöhner deutlich niedriger ausfällt – was natürlich nicht stimmt, denn korrigiert wurden die absoluten und relativen Zahlen bei den aufstockenden Hartz-IV-Empfängern, also weniger aufstockende Vollzeitarbeitskräfte und entsprechend mehr teilzeitarbeitende Menschen. Da fehlt doch aber was:

  • Gezählt werden hier wie gesagt die tatsächlichen „Aufstocker“ im Grundsicherungssystem. Aber zwangsläufig nicht berücksichtigt werden diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer einen Anspruch haben auf aufstockende Leistungen, diese aber aus welchen Gründen auch immer nicht in Anspruch nehmen. Und dabei handelt es sich nicht um eine kleine Gruppe. Nach Simulationsrechnungen des IAB wurde im vergangenen Jahr bekannt, dass zwischen 3,1 bis 4,9 Millionen Menschen, die eigentlich Anspruch auf Leistungen nach SGB II haben, diese Leistungen nicht abrufen. Das sind zwischen 34 bis 44% aller Leistungsberechtigten. Die Studie des IAB kann hier eingesehen werden: Bruckmeier, K. et al.: Simulationsrechnungen zum Ausmaß der Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen der Grundsicherung (= IAB Forschungsbericht 5/2013), Nürnberg. Wir sprechen hier über die „verdeckte Armut“.
  • Ein weiterer Punkt: Gerade bei den Vollzeiterwerbstätigen, die teilweise mit relativ geringen Beträgen aufstocken, kann es durch Änderungen in nebengelagerten Bereichen, beispielsweise beim Wohngeld oder dem Kinderzuschlag zu einem formalen Rückgang der Aufstocker-Zahlen kommen, nur werden die Leistungen jetzt aus anderen Töpfen gezahlt.
  • Und zum Mindestlohn: Johannes Steffen hat berechnet, wie hoch der Stundenlohn sein müsste, damit kein aufstockender Leistungsanspruch mehr besteht im SGB II-System: »Auf Basis dieser Annahmen lässt sich die Höhe des Mindestlohns bestimmen, der bei typisierender Betrachtung einen Anspruch auf aufstockende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II oder »Hartz IV«) ausschließt. Nach gegenwärtigem Stand wäre dies ein Brutto-Stundenlohn in Höhe von 7,95 Euro oder monatlich 1.298 Euro. Nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben verbleiben netto 977,50 Euro, wovon als sogenannter Erwerbstätigenfreibetrag insgesamt 300 Euro von der Anrechnung auf die Grundsicherung freigestellt sind. Das ergibt ein anrechenbares Einkommen von 677,50 Euro, so dass rechnerisch kein Anspruch mehr auf aufstockende SGB-II-Leistungen besteht« (Quelle: Steffen, J.: Ein Mindestlohn für Arbeit und Rente. Erforderliche Höhe eines existenzsichernden Mindestlohns, Bremen, 10.04.2013). Aber: Diese 7,95 Euro reichen wiederum bei der Rentenversicherung bei weitem nicht aus, um eine gesetzliche Rente erwirtschaften zu können, die über dem Grundsicherungssatz liegt. Da bewegen wir uns bei Stundenlöhnen von 11,31 Euro ansteigend. Berücksichtigt man diese Punkte, dann kann ich nicht erkennen, warum ein zentrales Argument der Mindestlohnbefürworter weggebrochen sein soll.
  • Schlussendlich wieder zurück in die Untiefen der Statistik bzw. der Datenqualität: Auf der Seite 10 der Erläuterungen der BA findet man den folgenden aufschlussreichen Passus: »Weiterhin erklärungsbedürftig bleibt die Frage, wie es bei Vollzeitbeschäftigten zu Bruttoer- werbseinkommen von weniger als 600 Euro kommen kann. Ein solcher Betrag kann im Fall einer 40-Stundenwoche nur bei einem Stundenlohn von 3,50 Euro realisiert werden. Hier können nur Vermutungen über die möglichen Gründe angestellt werden, statistische Belege liegen nicht vor … Gleichwohl werden auch im Juni 2013 noch knapp 30.000 vollzeitbeschäftigte Arbeitslosengeld II-Bezieher mit einem Bruttoerwerbseinkommen von weniger als 600 Euro ausgewiesen.« Ds wäre doch auch eine Schlagzeile wert gewesen – oder?

Und eine letzte Anmerkung zu den „Aufstockern“ und Mindestlöhnen: Auch bei einem Mindestlohn von 9 oder 10 Euro wird es Aufstocker geben – bei der Hauptgruppe der nur teilzeitarbeitenden Menschen und bei denen, die alleine eine Familie ernähren müssen. Aufgrund der Defizite beim Familienlastenausgleich. So lange die bestehen.

Fazit: Man sollte schon immer den Kontext berücksichtigen und keine voreiligen Schlüsse hinausposaunen. Ansonsten muss man „Revisionsbedarf“ bei der Forderung nach einem Mindestlohn als das bezeichnen, was es wohl ist: Billige Propaganda.

Und noch eins: Selbst wenn es so wäre, dass die Zahl der von Hungerlöhnen betroffenen Menschen eingedampft wäre (was wie gezeigt nicht der Fall ist): Gerade dann müsste doch die Forderung nach einem moderaten Mindestlohn seinen Schrecken verloren haben, denn offensichtlich zahlen dann doch die Unternehmen schon viel besser. Warum also dann dieser Widerstand? Logisch wäre das nicht. Aber Logik und Ideologie waren noch nie eng befreundet.