Das Kreuz mit der Praxis vor Ort und dem Nicht-Lernen aus vergangenen Desastern. Flüchtlingsunterkünfte und ihr „Sicherheitspersonal“

Beamen wir uns zurück in den September des vergangenen Jahres. Am Ende dieses Monats wurde in diesem Blog der Beitrag Schutzlos gegenüber denen, die schützen sollen? Vorwürfe gegen private Flüchtlingsheimbetreiber. Und bodenloser Zynismus eines Bürokraten veröffentlicht. Der Hintergrund: Über Vorwürfe, dass es Übergriffe seitens derjenigen, die eigentlich zum Schutz der Menschen da sein sollen, gegeben hat, berichtet das Politikmagazin „Westpol“ (WDR-Fernsehen) in seinem Beitrag Misshandlungen und zu wenig Personal: Vorwürfe gegen privaten Flüchtlingsheimbetreiber in der Sendung am 28.09.2014. Zum Sachverhalt:

»In nordrhein-westfälischen Flüchtlingsheimen soll es zu gewalttätigen Übergriffen des Wachdienstes gekommen sein. Asylbewerber aus einem Flüchtlingsheim in Essen berichten gegenüber Westpol von Prügelattacken und Demütigungen. Westpol liegt außerdem ein ärztliches Attest eines Flüchtlings vor, in dem Verletzungen dokumentiert werden. Auch in einer Unterkunft in Burbach soll es zu Übergriffen des Wachdienstes auf Flüchtlinge gekommen sein. Beide Flüchtlingsunterkünfte werden von der Firma European Homecare betrieben. Das Unternehmen ist einer der größten Betreiber von Flüchtlingsunterkünften in Deutschland. Allein in Nordrhein-Westfalen betreibt es sechs der zentralen landesweiten Erstaufnahmeeinrichtungen.«

Das Unternehmen European Homecare hat seinen Sitz in Essen und wurde 1989 für den Betrieb von Wohnheimen für Asylbewerber und Flüchtlinge gegründet.

Zu diesem Unternehmen berichtete damals das Politikmagazin Westpol weiter:

European Homecare hält sich nach WESTPOL-Recherchen außerdem nicht an die vom Land geforderten und vertraglich vereinbarten Standards für den Betrieb von Flüchtlingswohnheimen. In der Erstaufnahmeeinrichtung in Schöppingen gibt es zu wenig qualifiziertes Personal vor. Es fehlt an Psychologen, Erziehern und Sozialpädagogen. Das räumt European Homecare selbst gegenüber WESTPOL ein, und verweist auf den Anstieg der Flüchtlingszahlen. Auf die Frage, ob European Homecare die vorgeschrieben Standards und den Personalschlüssel im Moment einhalten kann, antwortet Renate Walkenhorst, Pressesprecherin von European Homecare, gegenüber WESTPOL: „Nein, klares Nein. In dieser Notsituation können wir das nicht.“

»Die Übergriffe auf Flüchtlinge wurden nun aber nicht direkt von Mitarbeitern des Unternehmens European Homecare verübt, sondern von Mitarbeitern der privaten Wachfirma SKI, die als Subunternehmen eingesetzt wurde. Doch European Homecare fällt nicht zum ersten Mal auf. Im Jahr 2003 geriet das Unternehmen in Österreich in die Schlagzeilen, durch Übergriffe im Flüchtlingslager Traiskirchen bei Wien. Der Traiskirchener Bürgermeister Fritz Knotzer kritisierte die Zustände in der Flüchtlingsunterkunft scharf: „Seit der Privatisierung der Flüchtlingsbetreuung im Lager sind Gewalt, Totschlag, Vergewaltigung und Korruption an der Tagesordnung. Es ist ein einziges Chaos.“ Deutlicher geht es nicht«, so die Darstellung in dem Beitrag Überforderte Kommunen, überbelegte Unterkünfte, ein Staat, der sich betroffen zeigt von den erwartbaren Folgen der eigenen Abmagerung, aber auch Beispiele, dass es anders gehen kann vom 29.09.2014 in diesem Blog.

Das Unternehmen European Homecare geriet nach der Berichterstattungswelle in den Medien unter erheblichen Druck. Und man sollte meinen, dass die politischen Verantwortungsträger daraus gelernt haben. Aber das war im September und Anfang Oktober 2014. Heute befinden wir uns am Ende des Monats April 2015 und die Welt sieht dann etwas anders aus.

»Nach dem Skandal um von Wachmännern misshandelte Asylbewerber ist Essen die neue Sicherheitsfirma zu teuer. Pikant: Das Unternehmen gehört der Stadt«, so beginnt ein Artikel von Helke Ellersiek unter der Überschrift Essen ist sich selbst zu teuer. Und das alles hat zu tun mit – European Homeacre, der Protagonist aus dem vergangenen Jahr. Wir werden, wenn man den Beitrag liest, Zeuge des Mechanismus, schnell irgendwie reagieren und dann wieder zurückzufallen auf Start. Zum Sachverhalt:

»Nicht einmal ein Jahr nach dem Skandal um die Asylheime in NRW sind der Stadt Essen die Sicherheitskosten für die Bewohner nun zu teuer geworden. Die Stadt forderte den privaten Betreiber European Homecare Anfang des Jahres auf, sich eine günstigere Sicherheitsfirma für ihre Behelfsunterkünfte zu suchen. Homecare will deshalb den aktuellen Dienstleister RGE im Mai durch die billigere Stölting Holding ersetzen und hat bereits die Kündigungen verschickt.«

Das hat deswegen eine pikante Note, weil man wissen muss, dass die RGE gänzlich der Stadt Essen selbst gehört: Damit ist der Stadt ihr eigener Dienstleister zu teuer. Bis zu 60 Mitarbeitern der RGE droht nun die Kündigung zum 30. April 2015.
Und es gibt schon erhebliche Unterschiede zwischen der städtischen Tochter RGE und der Ersatzlösung Stölting:

»RGE bildet seine Mitarbeiter drei Jahre zur Fachkraft für Schutz und Sicherheit aus, sie erhalten einen Stundenlohn von 11,84 Euro. Die Mitarbeiter der Stölting hingegen absolvieren nur eine kurze Sachkundeprüfung. Ihr Lohn beträgt 9,35 Euro.«

Und wir erfahren noch einiges mehr:

»Die zuletzt von European Homecare beauftragte Wachfirma SKI stand im Oktober vergangenen Jahres wegen Misshandlungen der Bewohner in der Kritik. Die seither zuständige RGE war bisher nie negativ aufgefallen – im Gegensatz zur privaten Nachfolgerin Stölting Holding, die von Verdi wegen unregelmäßiger Lohnabrechnungen kritisiert wird. Außerdem verhindere sie die Bildung von Betriebsräten.«

Auch der Bundesverband der Sicherheitswirtschaft kritisiert die Kündigung, berichtet Helke Ellersiek in ihrem Artikel. Die aktuellen Vorgänge in Essen würden zeigen, dass „besonders öffentliche Auftraggeber nichts aus den Geschehnissen gelernt“ hätten. Der Verband hatte in der Vergangenheit schon betont, dass eine qualifizierte Betreuung, wie sie in Asylbewerberheimen nötig ist, „nicht zum Mindestlohn“ erfolgen könne. Der Kostenaspekt dürfe nicht maßgeblich bei der Vergabe der Aufträge sein: Sicherheit sei keine Ware wie jede andere.

Wohl wahr.

Vom Sparen am falschen Ende und einer „vorsätzlichen Gesellschaftsgefährdung“. Es geht um Sprach- und Integrationskurse für Asylbewerber und „Menschen mit einem dauerhaften oder befristeten Aufenthaltstitel“

Wer kennt das nicht, den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis? Wir haben zahlreiche Menschen, die zu uns gekommen sind und von den viele auch längere Zeit, vielleicht sogar für immer hier bleiben werden. Und wir nehmen nicht erst seit einem Jahr Flüchtlinge auf, wir haben jahrzehntelange Erfahrungen mit der Zuwanderung von Menschen aus anderen Ländern, mit einer anderen Sprache, aus anderen Kulturen und teilweise auch ganz anderen religiösen Prägungen. Und wenn man in vielen Dingen unterschiedlicher Auffassung sein kann – eines haben diese Erfahrungen doch teilweise sehr schmerzhaft ans Tageslicht gefördert: Ein Schlüssel für einen möglichst konfliktarmen Umgang mit größeren Zuwanderungswellen ist eine möglichst gelingende Integration in das lokale Gemeinwesen und in den Arbeitsmarkt. Gerade hier hat sich die ehemals primär auf Abschreckung ausgerichtete „Ausländerpolitik“ in den vergangenen Jahren Schritt für Schritt hin zu einer Öffnung im Sinne der gut begründeten Leitlinie einer möglichst schnellen Integration der Asylsuchenden in den Arbeitsmarkt – statt ihre teilweise jahrelange Exklusion wie in der Vergangenheit – bewegt. Seit November 2014 dürfen Asylsuchende unter bestimmten Voraussetzung schon nach drei Monaten Aufenthalt in Deutschland arbeiten (allerdings gibt es in der Praxis ganz erhebliche Schwierigkeiten bei der Umsetzung der grundsätzlichen Arbeitserlaubnis, denn die bildet lediglich einen „nachrangigen Arbeitsmarktzugang“ für Flüchtlinge ab, vgl. hierzu beispielsweise den Artikel über die Situation in Berlin: Asylbewerber und Firmen verzweifeln gemeinsam am Gesetz). Unabhängig von diesen Querelen: Halbwegs ausreichende Sprachkenntnisse gelten als zentrale „Eintrittskarte“ in den Arbeitsmarkt.

Selbstverständlich ist es unabdingbar, dass die Betroffenen in der Lage sind, sich auch sprachlich in unserer Gesellschaft zu bewegen, mit den Menschen aus dem Aufnahmeland zu kommunizieren und einen Job anzunehmen. Wer kann das heute noch bestreiten? Aber das Lernen der deutschen Sprache fällt nicht vom Himmel, sondern man muss das – wie auch die gesellschaftlichen Werte und die Umgangsformen in unserer Gesellschaft – vermittelt bekommen. Genau dazu gibt es Sprach- und Integrationskurse. Also eigentlich.

Denn unter der trockenen Überschrift Geld für Deutschkurse fehlt berichtet Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung, »obwohl die Zahl der Asylsuchenden steigt, steht für entsprechende Sprachkurse immer weniger Geld zur Verfügung. Auch bei Integrationskursen für in Deutschland lebende Ausländer sieht die Bundesagentur für Arbeit … erhebliche Finanzierungslücken.«

Um wen geht es hier besonders? Sie kommen aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak und dürfen hier bleiben, obwohl ihr Asylantrag vergeblich war. Ende 2014 lebten 533.000 abgelehnte Asylsuchende in Deutschland, 85 Prozent von ihnen haben „einen dauerhaften oder zumindest befristeten Aufenthaltstitel“, so die Bundesregierung. Und in Zukunft dürften es noch weit mehr werden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) rechnet für das laufende Jahr mit 300.000 neuen Asylsuchenden, einige Bundesländer halten das für eine Untertreibung und gehen von bis zu 500.000 neuen Asylbewerbern aus. »Trotzdem gibt es für Deutschkurse, von denen auch Flüchtlinge profitieren können, derzeit nicht mehr, sondern weniger Geld.«
Faktisch wird gegenwärtig der Zugang von Flüchtlingen zu Deutschkursen erschwert – und wie immer muss man auch hier konstatieren: Am Gelde hängt’s:

»Erst hat die Europäische Kommission ihre Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) für Deutschland gekürzt. Dann hat die Bundesregierung ihr ESF-Budget für Sprachkurse von 310 auf 180 Millionen Euro für 2015 bis 2017 reduziert, ohne dass es bislang einen Ersatz aus nationalen Mitteln gibt. Geld für sogenannte „Vorschaltkurse“, der erste Schritt auf dem Weg zu Deutsch-Kenntnissen bis zur Stufe A1, ist aus diesem Topf deshalb keines mehr da. Die ESF-Mittel wolle die Bundesregierung „auf die Personen konzentrieren, die für eine Förderung berufsbezogener Sprachkenntnisse erforderlichen Grundkenntnisse der deutschen Sprache besitzen“ … Asylbewerber dürften dabei meist leer ausgehen.«

Und eine weitere beliebte Frage in unserer Geld-Gesellschaft lautet bekanntlich: Was würde es denn kosten? Die Bundesagentur für Arbeit (BA) schätzt hier die nötigen zusätzlichen Mittel in einem internen Papier auf 100 Millionen Euro pro Jahr, „um den Bedarf von allen Zugangsberechtigten sowie den Asylbewerbern und Geduldeten mit einer hohen Bleiberechtsquote zu decken“, so Öchsner in seinem Artikel.

Und nicht nur bei den Sprachkursen klemmt es:

»Auch bei den Integrationskursen für in Deutschland lebende Ausländer sieht die BA in ihrer internen Analyse, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt, erhebliche Finanzierungslücken: Die Mittel in Höhe von 244 Millionen Euro reichten für 150.000 Teilnehmer. Zusätzlich nötig seien jährlich aber mindestens 300 Millionen Euro, um 80.000 Geduldete und 130.000 Asylbewerber mitaufzunehmen.«

Es ist vollkommen richtig, was die grüne Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz dazu sagt: „Es ist absurd, die Tür zum Arbeitsmarkt zu öffnen, dann aber unerlässliche Sprach- und Integrationskurse unterfinanziert zu lassen.“ Und weiter: „Wir sollten nicht die Fehler der Gastarbeiterzeit wiederholen.“

Die Bundesagentur für Arbeit bringt es in ihrer Bewertung auf den Punkt, vor allem für die, die es gerne in Geldeinheiten brauchen:

»Die Bundesagentur fürchtet enorme Folgeausgaben, wenn nichts passiert: Gebe es hier keine Lösungen, „drohen hohe Kosten für die Allgemeinheit, die Beitrags- und die Steuerzahler.“ Gelinge auf Grund fehlender Sprachkenntnisse nicht der Einstieg in den Arbeitsmarkt, sei die Alternative „häufig dauerhafter Bezug von Arbeitslosengeld II“.«

Und dann gibt es ganz sicher wieder eine Debatte über die  Asylbewerber, die eine große finanzielle „Last“ darstellen, die man den steuer- und beitragszahlenden Bürger/innen nicht mehr zumuten könne.

Fazit: Möglicherweise hat sich der Apparat verstrickt in die eigenen unübersichtlichen Finanzierungstöpfe, von denen einige gerade leer sind. Das ist aber keine Entschuldigung für ein Verhalten, das im Ergebnis nur als eine „vorsätzliche Gesellschaftsschädigung“ bezeichnet werden kann und muss. Das wird sich ohne schnelle Korrektur bald bitter rächen und wieder einmal mehr wünscht man sich ein Haftungsprinzip für Entscheidungen, die sehenden Auges gemacht werden (bzw. die man unterlässt), also wohl wissend, was man damit mittel- und langfristig anrichten wird. Aber vielleicht kommt ja noch der heilige Geist der Erkenntnis über die, die Verantwortung tragen in unserem Land.

Übrigens: Auch die aktuelle Berichterstattung ist nicht wirklich neu, schon seit längerem kann man, wenn man denn will, zur Kenntnis nehmen, was hier durch „unterlassenes Tun“ passiert und in welche Probleme wir sehenden Auges hineinlaufen. Vgl. nur als ein Beispiel meinen Blog-Beitrag Integration wollen alle. Und Integrationskurse für Migrantinnen werden gekürzt. Das passt nicht. Das gilt auch für die Existenz der pädagogischen Tagelöhner vom 27. Februar 2015. Es steht zu befürchten, dass wir es hier mit einer Fortsetzungsgeschichte zu tun haben. Leider.

Die Entsorgung der Flüchtlinge. Über das Arbeiten an einem Asyl als Fata Morgana

In Deutschland streitet man wieder – über Zahlen, Zuständigkeiten für hinter den Zahlen stehende Menschen und natürlich eigentlich über Finanzen: Bundesregierung lehnt mehr Geld für Flüchtlinge ab, so eine der vielen Überschriften aus dem föderalen Gerangel:

»Die Appelle von Ländern, Kommunen und der Opposition haben nichts gebracht: Die Bundesregierung will nicht mehr Geld ausgeben, um Flüchtlinge besser zu versorgen … Über die für 2015 und 2016 zugesagte eine Milliarde Euro hinaus werde es keine finanzielle Unterstützung geben.«

Die Bundesländer befürchten, dass der Zustrom von Flüchtlingen in diesem Jahr wegen der Krisen und Kriege in der Welt wesentlich größer wird als vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) prognostiziert. Das BAMF geht bislang für 2015 von 300.000 Asylanträgen aus. Schleswig-Holstein rechnet 2015 bundesweit mit mehr als einer halben Million Asylanträgen. Die Bundesländer wiederum stehen unter Druck ihrer Kommunen. So fordert der Deutsche Städte- und Gemeindebund: »Die Länder müssten „sofort die Zahl ihrer Erstaufnahmeeinrichtungen weiter erhöhen“, damit eine ordnungsgemäße spätere Verteilung auf die Kommunen möglich sei.« Das alles kostet Geld.

Aber die hier zum Ausbruch kommenden Verteilungskonflikte sollen gar nicht im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen. Es geht um etwas anderes, um eine grundsätzliche, ja, um eine zivilisatorische Grundfrage der Flüchtlingspolitik. Es geht um eine – zuspitzend formuliert – „Entsorgung der Flüchtlinge“ weit vor den europäischen Festungsmauern. Und wie so oft in der Geschichte gibt es zahlreiche funktional wirkende Aspekte, die das zu einer wahrscheinlichen Variante werden lassen, wenn auch über einen längeren Prozess. Der aber schon begonnen hat und sich immer mehr in das Gebilde der Flüchtlingspolitik Europas hineinfrisst. Dabei geht es auch (aber letztendlich nicht nur, weil nur instrumentell zu verstehen) um Lagerbildung, deren erste Ausformungen bereits erkennbar sind und für deren nächsten Entwicklungsschub derzeit geworben wird auf der Sonnenseite der Welt, also bei uns. Heribert Prantl hat das, was hier zum Thema gemacht werden muss, hart, aber treffend in seinem Kommentar Asyl als Fata Morgana so formuliert: »Man wünschte, es wäre eine sarkastische Glosse. Doch die EU will tatsächlich Staaten wie Ägypten und Tunesien als Abschrecker anheuern. Sie sollen Bootsflüchtlinge abfangen, bevor diese Europa erreichen. Es ist die Globalisierung einer elenden Politik.«

Was Prantl in seinem Kommentar umtreibt, ist aus einer anderen, zynisch-funktionalen Perspektive eine logische, mithin notwendige Konsequenz aus dem Scheitern des Bisherigen an den Grenzen und in der EU:

»Sie will jetzt „einen echten Abschreckungseffekt produzieren“: Nachdem Radar- und Satellitenüberwachungssysteme, nachdem Grenzsicherungsmaßnahmen an den Außengrenzen die Flüchtlinge nicht abhalten konnten, nachdem auch die schäbige Behandlung vieler Flüchtlinge, die die Flucht ins Innere der EU geschafft hatten, nicht abschreckend genug war, will die EU nun Abschrecker anheuern: Staaten wie Ägypten und Tunesien, die nicht gerade für Rechtsstaatlichkeit bekannt sind, sollen dafür bezahlt werden, dass sie die Bootsflüchtlinge abfangen und in ihre eigenen Häfen transportieren.«

Und wie immer bei den besonders zynisch daherkommenden Abwehr- und Abstoßungsaktionen im gesellschaftlichen Bereich versucht man das Ganze dann auch noch a) semantisch einzupudern und b)   die Drangsalierung der Betroffenen im Ergebnis als besonders liebevolle Tat erscheinen zu lassen:

»Man nennt diese Auftragsabschreckung „stellvertretenden Flüchtlingsschutz“. Und das ganze Unterfangen läuft unter der Überschrift „praktizierte Humanität“ – weil die Flüchtlinge davon abgehalten würden, „den gefahrvollen Weg über das Mittelmeer zu riskieren“, wie es immer wieder heißt.«

Und wenn Prantl anmerkt, dass die EU dafür zahlt, dass das Asyl (oder das, was davon übrig bleibt) dort hinkommt, wo der Flüchtling herkommt, dann soll Asyl in Europa zu einer Fata Morgana werden: schön, aber unerreichbar. Und das passt dann auch zu den seit längerem zirkulierenden Vorschlägen, in den nordafrikanischen Staaten „Auffanglager“, sorry: „Asylzentren“ zu schaffen, wo die Flüchtlinge Asyl in Europa beantragen können sollen. Angeblich. Auch Prantl sieht diese mögliche Linie, wenn er schreibt: »Womöglich lässt man die Flüchtlinge von den ägyptischen oder tunesischen Sicherheitsorganen in die nordafrikanischen „Flüchtlingslager“ transportieren, über deren Errichtung jüngst wieder diskutiert worden ist.«

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) ist ein bekennender Anhänger dieses Ansatzes (so hat er – auch wieder so ein Orwellsches Neusprech in diesem Kontext – sogenannte „Willkommenszentren“ in Nordafrika, die vom völlig unterfinanzierten Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) betrieben werden sollen, ins Spiel gebracht) und er ist zugleich ein erklärter Gegner des Kirchenasyls in Deutschland (und wenn man einen Moment nachdenkt, dann kann man durchaus nachvollziehen, dass zwischen diesen beiden scheinbar unabhängigen Punkten ein innerer Zusammenhang besteht).

Für Prantl ist der Vorschlag Ausdruck für eine Globalisierung einer elenden Politik: »Aus den Augen, aus dem Sinn. Aus den alten Kolonialländern werden nun neue. Sie werden eingespannt zur Flüchtlingsentsorgung … Die Europäer finanzieren, die anderen sollen parieren.«

Und auch seine abschließende Bewertung muss an dieser Stelle wortwörtlich zitiert werden, drücken sie doch in aller Prägnanz aus, was da ablaufen würde, wenn es denn so kommt:

»Erst werden die Flüchtlinge Opfer von Schleppern, die ihnen das Geld abnehmen; dann werden sie Opfer von europäischen Rechtsstaaten, die ihnen kein Recht gewähren – und schließlich Opfer von nordafrikanischen Staaten, die für Europa die Drecksarbeit erledigen. Das ist die Flüchtlingspolitik des Friedensnobelpreisträgers EU.«

Das alles ordnet sich ein in eine überaus wirkkräftige Logik in Richtung Lagerbildung. Nun wird der eine oder die andere an dieser Stelle stirnrunzelnd einwenden, ob das nicht zu weit geht, eine Phase der Lagerbildung vorherzusehen bzw. Teilen der Politik vorzuwerfen, dass sie in diese Richtung zu marschieren gedenken. Diesem Zweifel kann man zumindest die ersten Ausformungen einer lagerbasierten Flüchtlingspolitik gleichsam als Indiz entgegenhalten.

So berichtete das Politikmagazin „Report Mainz“ in seiner Sendung am 17.02.2105 unter der Überschrift Asylhölle Ukraine. Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa verschwinden über Jahre in ukrainischen Gefängnissen:

»Seit Jahren unterstützt die EU die Ukraine mit Millionenbeträgen, um Gefängnisse für Migranten aus- und aufzubauen. Gleichzeitig schickt sie Flüchtlinge, die es doch über die Außengrenzen in die EU geschafft haben, einfach zurück. Damit soll die so genannte Ost-Transitroute in die EU dichtgemacht werden – auf Kosten der Schutzsuchenden.«

Dazu auch der Artikel Abschiebung zu Folterern von Jana Frielinghaus. Die Flüchtlinge werden in ukrainische Gefängnisse – die von der EU kofinanzert werden – bis zu einem Jahr unter unwürdigen Bedingungen interniert. Und teilweise auch gefoltert. Es handele sich um Tausende Menschen, die in der Ukraine mit Wissen und Unterstützung von EU-Verantwortlichen wie Gefangene behandelt würden. Und auch hier wieder die elenden sprachlichen Reinwaschungsversuche. Mit den Vorwürfen konfrontiert erklärte die EU-Kommission in Brüssel lediglich, »die Gelder dienten dazu, die „Standards“ in den Gefängnissen zu verbessern.« So kann man das auch ausdrücken.

Und auch an anderen Stellen und vor allem Grenzgegenden trifft man auf Lager. Dazu sei hier nur auf die multimediale Reportage Europas tödliche Grenzen hingewiesen: »Spanien-Marokko, Griechenland-Türkei, Ungarn-Serbien: Orte entlang dieser drei Grenzen zeigen, mit welch rabiaten Methoden sich Europa gegen Arme und Schutzsuchende abschottet. SPIEGEL-Reporter Maximilian Popp und Fotograf Carlos Spottorno reisten zu Schutzzäunen und in Auffanglager, sie begleiteten Patrouillen auf See und trafen Flüchtlinge, die alles riskieren für eine Zukunft in Europa.«

Und abrundend ein Blick auf die Entwicklungsgeschichte der neueren deutschen Flüchtlingspolitik, die bei grober Zuspitzung sehr wohl ein gewisses Muster, eine bestimmte Richtung erkennen lässt, was man auf diese Formel bringen kann:

Abschottung durch die Konstruktion „sicherer Drittstaaten“ um uns herum => Verlagerung der Abschottungsversuche gegen die neueren Flüchtlingswellen an die Außengrenzen der EU und Herausbildung von Frontex => möglicherweise als nächste Phase das Outsourcing der Abschottungsversuche in das Nirwana hinter den natürlichen Außengrenzen der EU, vor allem jenseits des Mittelmeers, einhergehend mit dortiger Lagerbildung und „Rückführungsaktionen“

Und wenn man studieren will, welche Ausformungen dieses Abstoßungsdenken und -handeln annehmen kann, dann sei an dieser Stelle auf Australien verwiesen, wo sich eine unglaubliche Verrohung hinsichtlich der Flüchtlingspolitik in breite Teile der Gesellschaft gefressen hat. Dazu beispielsweise mit aller Schärfe schon in der Überschrift der Artikel Australien – der Folterstaat: »Kein westliches Land geht mit Asylsuchenden härter um als Australien: Verstümmelungen und Selbstmorde sind in den Lagern Alltag. Selbst Kinder leben hinter Stacheldraht, dem Wahnsinn nahe. Und das Volk klatscht Beifall.« Oder der Artikel Für eine zivilisierte Nation völlig unwürdig: »Kinder von asylsuchenden Flüchtlingen werden auf dem Fünften Kontinent eingesperrt und misshandelt. Das Leben in den Lagern sei „durchaus bewusst unangenehm und brutal“. Eine Schande.«

Und Australien gehört bekanntlich zur westlichen „Wertegemeinschaft“.

Integration wollen alle. Und Integrationskurse für Migrantinnen werden gekürzt. Das passt nicht. Das gilt auch für die Existenz der pädagogischen Tagelöhner

Jenseits der großen, zumeist sehr grobschlächtigen Debatten über das Für und Wider von Zuwanderung und den – angeblich – erheblichen Integrationsproblemen eines Teils der Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, liegen die Mühen der Ebene. Und eine wichtige Rolle spielen die Integrationskurse, die von ganz unterschiedlichen Trägern angeboten werden (vgl. zu den unterschiedlichen Integrationskursen die statistische Informationen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge).  Ein ganz besonderes Angebot in diesem Bereich sind niedrigschwellige Integrationskurse für Frauen. Mit diesen Kursen will man Einwanderinnen ansprechen, die durch konventionelle Integrationsangebote oft nicht erreicht werden. Die Bundesregierung selbst ist begeistert von diesem Angebot und erläutert die Zielsetzung so: »Insbesondere sollen bildungsferne Frauen aus ihrer Isolation geholt und zur Inanspruchnahme weiterführender allgemeiner Integrationsangebote ermutigt und unterstützt werden. Die Kurse vermitteln dabei Kenntnisse über die deutsche Gesellschaft, über das Bildungssystem und dienen der Stärkung der Erziehungskompetenz, der Rechte der Frauen sowie der Gewaltprävention«, so die Ausführungen in der Antwort auf die Kleine Anfrage „Bundesförderung für sogenannte niedrigschwellige Integrationskurse für Frauen“ der Grünen im Deutschen Bundestag (BT-Drs. 18/4056 vom 20.02.2015). In Zeiten, in denen Deutschland als zweitgrößtes Einwanderungsland nach den USA gilt, da mehr als 200.000, dieses Jahr möglicherweise bis zu 300.000 Asylbewerber  kommen – und Zehntausende als Ehepartner aus dem Ausland -, machen solche Angebote Sinn. Aber die Realität sieht mal wieder anders aus – wie Roland Preuß in seinem Artikel Lernen schwer gemacht mitteilen muss. Zum Einstieg nur einige wenige frustrierende Fakten: »Die Bundesregierung hat Mittel für Integrationskurse für Migrantinnen deutlich gekürzt. Konnten 2012 noch fast 2100 solcher Kurse angeboten werden, so waren es im vergangenen Jahr nur noch 975.«

An diese Entwicklung sollte man sich erinnern, wenn mal wieder die mangelhaften Deutschkenntnisse oder die Abschottung bestimmter Personengruppen in der öffentlichen Debatte kritisiert und vorwurfsvoll herausgestellt wird. Gerade die von den Kürzungen betroffenen niedrigschwelligen Angebote haben Frauen erreichen können, die ansonsten schlichtweg nirgendwo auftauchen (können).

Und damit nicht genug. Das Fallbeil der Kürzungen wütet auch an anderen Stellen:

»Bei den frühen Angeboten für Migranten läuft es ähnlich: Die sogenannte Migrationsberatung soll Einwanderern frühzeitig den Weg zu einer Integration in Deutschland weisen, es werden Vereinbarungen geschlossen, die Aufgaben und Ziele festhalten, denn der Weg durch die deutsche Bürokratie ist für Migranten mitunter mehr als unübersichtlich. Im Koalitionsvertrag hatte man noch vereinbart, dass alle Neuzuwanderer eine solche „Erstberatung“ erhalten sollen – doch auch hier fehlt offenbar das Geld.

Die Zahl der Beraterstellen ist in den vergangenen fünf Jahren sogar geschrumpft, auf weniger als 500, obwohl die Bundesrepublik mittlerweile die größte Zuwandererzahl seit 20 Jahren zu bewältigen hat. Rein rechnerisch hat jeder Berater mittlerweile 300 Fälle im Jahr zu betreuen, vorgesehen waren einmal 60. In den Anlaufstellen werde „deutlich mehr Beratungsarbeit geleistet“, räumt auch das Innenministerium ein. „Qualitätsverluste können nicht ausgeschlossen werden.“«

„Die Zahl der Beratungsfälle stieg um 60 Prozent, doch die Bundesregierung streicht die zur Durchführung notwendigen Personalstellen“, so wird Volker Beck von den Grünen in dem Artikel zitiert.

Und wenn wir schon dabei sind, sei an dieser Stelle auf ein weiteres, den gesamten Bereich der Integrationskurse betreffendes Strukturproblem aufgerufen. Es geht um die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte in diesem gesellschaftspolitisch so wichtigen und pädagogisch so herausfordernden Bereich. Darüber informiert die Initiative Bildung Prekär, die sich sehr kritisch mit den Arbeitsbedingungen auseinandersetzt. Wie steht es um diejenigen, auf deren Schultern die Aufgabe der so wichtigen und vor allen geforderten Sprachvermittlung ruht, also die Deutschlehrer in den Integrationskursen? Dazu beispielhaft der Beitrag Integrationskurslehrer: Jahrelang ohne Arbeitsvertrag! von Aglaja Beyes, einer freiberufliche Journalistin, Autorin und Kursleiterin von Integrationskursen in Wiesbaden. Sie beschreibt die Situation der Lehrkräfte so:

»Diese Lehrer sind nach ihrem arbeitsrechtlichen Status gar keine Lehrer. Sie sind fast ausschließlich Kursleiter ohne Festanstellung. Ob bei Volkshochschulen, der Caritas oder dem Goethe-Institut: Einen regulären Arbeitsvertrag hat fast niemand, nicht einmal einen befristeten. Stattdessen gibt es Honorarverträge über jeweils einige hundert Unterrichtsstunden, was wenigen Monaten entspricht. Ein Honorarvertrag folgt dem anderen, als “Kettenverträge” über Jahre, manchmal über ein Jahrzehnt und mehr. Das BAMF … überweist pro Teilnehmer und Unterrichtsstunde 2,94 Euro an die jeweiligen Träger, zum Beispiel die Volkshochschulen … Ob die Lehrkräfte von dem bewilligten Geld angestellt werden oder jahrelang Kettenverträge als Scheinselbständige bekommen, interessiert weder das Bundesamt noch das Innenministerium … am Jahresende (gibt es) für das Finanzamt eine Bescheinigung über “nebenberufliche Tätigkeit” – obwohl Vollzeitarbeit.«

Aglaja Beyes spricht in ihrem Beitrag von Scheinselbständigkeit – und das ganze Arrangement hat sehr negative Folgen: »Deutschlehrer ohne Arbeitsvertrag, geschweige denn Tarifvertrag, haben keinen Anspruch auf Geld im Krankheitsfall. Sie schleppen sich krank zur Arbeit … Junge Mütter und Väter haben keinen Anspruch auf Erziehungsgeld. Und auf alle wartet Altersarmut. Von ihren mageren Honoraren hätten sie den Arbeitgeber- und den Arbeitnehmeranteil für die Rentenversicherung abführen müssen. Dazu ist nicht jeder in der Lage … Und wie steht es mit der Mitbestimmung? Ebenfalls Fehlanzeige. Betriebsräte sind für Menschen ohne Arbeitspapiere nicht zuständig. Schutzbestimmungen am Arbeitsplatz greifen ebenfalls nicht. Die Folge: Viele Kollegen unterrichten an bestimmten Wochentagen regelmäßig bis zu vierzehn Unterrichtsstunden in drei Schichten …  Eine Arbeitslosenversicherung gibt es nicht, Kündigungsschutz genauso wenig.«
Sie zitiert eine Kollegin in ihrem Artikel mit der zusammenfassenden Bilanzierung: „Wir sind Tagelöhner, wir müssen nehmen, was kommt“.

Und der Artikel endet mit einer Erfahrung, die man leider oft machen muss im Getriebe der Politik:
»Im September 2012 stellte die SPD-Fraktion im Bundestag als Opposition einen Antrag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Lehrkräften in Integrationskursen. Darin wird die schwarz-gelbe Bundesregierung aufgefordert, ein Konzept vorzulegen, “wie die Quote festangestellter Lehrer erhöht werden kann.” Seit über einem Jahr ist die SPD inzwischen selbst Teil der Regierung. Auf das Konzept warten wir immer noch – gespannt.«

Dass sich hinsichtlich der Integrationskurse ein gewaltiger Bedarf aufgestaut hat, verdeutlicht dann auch so eine Meldung: Arbeitsagentur fordert Sprachförderung von Flüchtlingen: »Die Arbeitsagentur fordert Investitionen im dreistelligen Millionenbereich für die Sprachförderung für Asylsuchende und Flüchtlinge. Sonst drohten viel höhere Folgekosten.« Die Bundesagentur verweist auf eine weitere Schwachstelle im bestehenden System: »Aktuell gibt es erhebliche Förderungslücken bei der Deutschförderung von Asylbewerbern und Geduldeten. Sie haben keinen Zugang zu Integrationskursen, in denen vor allem allgemeinsprachliche Grundlagen vermittelt werden. Diese ersten elementare Deutschkenntnisse sind aber Voraussetzung für die Teilnahme an berufsbezogenen Sprachkursen.« Was man tun sollte, sagt die BA auch: »Um diese Hürden für alle Asylsuchenden abzubauen, müsste aus Steuermitteln jährlich ein dreistelliger Millionenbetrag zusätzlich für allgemeine und berufsbezogene Sprachförderung aufgewendet werden. Laut Bundesagentur für Arbeit sind das notwendige und sinnvolle Grundinvestitionen. Denn wenn die Integration in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft nicht gelinge, drohe ein Vielfaches an Folgekosten.«

Ach ja: Zum Auftakt der Bildungsmesse Didacta am Dienstag in Hannover hatte sich Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) für eine bessere Integration von Zuwanderern in das deutsche Bildungssystem ausgesprochen. Womit wir wieder am Anfang dieses Beitrags angekommen wären.

Die Kosovaren stehen vor den Toren von München und Essen. Zur Ambivalenz eines Ausschnitts der Zuwanderung nach Deutschland

In der BILD-Zeitung war diese Tage die Schlagzeile „Kosovaren-Ansturm auf Bayern“ zu lesen. „Allein 800 an einem Tag“. Bereits am 8. Februar 2015 kam die BILD am SONNTAG mit dieser Titelschlagzeile auf den Markt: „Asyl-Lawine“ aus dem Kosovo. Und darunter war zu lesen: »Diplomaten fordern Massen-Abschiebungen per Flugzeug! So sollen illegale Einwanderer abgeschreckt werden.«

Nun könnte man das – nicht unberechtigt – als einen weiteren Versuch der billigen Stimmungsmache gegenüber Zuwanderern verbuchen. Allerdings markieren diese Schlagzeilen eine reale Entwicklung, die sich als hoch problematisch erweisen kann (und wird) im Kontext der sich aufheizenden Diskussion über die zunehmende Zuwanderung nach Deutschland und die den Menschen, die zu uns kommen, (noch) sehr zugewandte Stimmung in weiten Teilen der Bevölkerung. Aber auch unabhängig von diesen grundsätzlichen Fragen stellen sich handfeste sozialpolitische Probleme, denn die vielen Menschen müssen – und sei es bis zur Ablehnung ihres Asylgesuchs – untergebracht und versorgt werden. Die Abbildung mit der Entwicklung der Asylerstantragszahlen in den drei Jahren 2012 bis 2014, ergänzt um den Wert für Januar 2015, verdeutlicht den kontinuierlichen Anstieg der nach Deutschland kommenden Asylbewerber und den erheblichen Sprung, der für Januar 2015 festzustellen ist. Allein in diesem Monat wurden 21.679 Erstanträge beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verzeichnet. Im Vergleich zum Januar 2014 (12.556 Personen mit einem Asylerstantrag), ist das eine Steigerung um 72,7%. Von allen Asylerstanträgen entfallen 14% auf Menschen aus dem Kosovo, eine gewaltige Steigerung von +572,7% gegenüber dem Vorjahr. Was ist hier los?

Exodus aus Kosovo, so die knappe Überschrift eines Artikels der Süddeutschen Zeitung. Es wird von einer „massiven Auswanderung“ aus dem bettelarmen Kosovo berichtet – offensichtlich hat sich hier ein sich selbst befeuerndes Wanderungsgeschehen entwickelt. Selbst Bernd Mesovic von der Organisation Pro Asyl muss zugestehen, »dass es unter den albanischen Kosovaren in der Regel keine politische Verfolgung gibt; und die große Mehrheit der Roma habe bereits das Land verlassen.« „Die um sich greifende Frustration ist eines der treibenden Motive“, so wird Mesovic zitiert. Wenn man sich nur einen Teil dessen vorzustellen versucht, was aus diesem wirklich gebeutelten Landstrich  in Europa berichtet wird, dann wird verständlich, warum viele Menschen nach jedem Strohhalm greifen, um die Aussichtslosigkeit und Tristesse zu verlassen. Viele von uns würden sich selbst nicht anders verhalten, wären wir nicht auf der Sonnenseite der Weltkugel. Zur Situation im Kosovo vgl. beispielsweise den Artikel „Wir haben kein Geld mehr für Essen“.

Aber bei allem Verständnis – das stellt dann eine besondere Herausforderung für aufnehmende Länder dar, wenn das Wanderungsgeschehen so abläuft, wie es abläuft: Eben nicht gleichverteilt und damit ein Stück weit die Auswirkungen relativierend, sondern die Menschen versuchen natürlich und verständlicherweise dahin zu gelangen, wo es Andockstellen für sie gibt, wo Familienangehörige oder Bekannt schon leben, wo es entsprechende Auffangstrukturen gibt bzw. zu geben scheint. Und das schafft nicht nur ganz lebenspraktische Probleme der Bewältigung des Zustroms, sondern birgt natürlich auch die Gefahr einer Thematisierung und Instrumentalisierung innerhalb eines Ressentiments und mehr verstärkenden Diskurses – vgl. hierfür nur beispielhaft die sicher nicht zufällig an ein Wahlslogan von NPD und AfD erinnernde Kommentierung Kein Sozialamt für die Welt von Peter Hahne in der BILD-Zeitung, der zugleich den Lesern dieser Boulevardzeitung scheinbar einfache Lösungen an die Hand gibt, die sich – wie wir noch sehen werden – in der wirklichen Realität als gar nicht so einfach herausstellen. Hahne schreibt:

»Wenn ständig mehr Menschen das Kosovo Richtung Deutschland verlassen, weil bei uns die Abschiebepraxis so schleppend ist, gibt es nur ein Rezept: Die Asylverfahren beschleunigen, um die Menschen schnell wieder zurückzuschicken. Unser Land wäre nicht mehr attraktiv für Leute, die nicht verfolgt werden, sondern sich „nur“ bessere Lebensbedingungen erhoffen. Man kann doch nicht warten, bis ein Sechstel der Gesamtbevölkerung des Kosovo bei uns ist! Stattdessen wurde diffamiert, wer warnte, dass Deutschland kein Sozialamt für die Welt sein kann. Dieses falsch verstandene Gutmenschentum macht AfD, Pegida, Sarrazin & Co. zu politischen Hauptgewinnern. Die können jetzt sagen: Wir wussten doch, dass mit der Einwanderung etwas schief läuft.Kein Wunder, dass die größte Volkspartei die der Nichtwähler ist.«

Nun mag man angesichts der heiligen Einfalt, die hier wieder mal an den Tag gelegt wird, den Kopf schütteln. Aber dennoch muss man sich mit den realen Auswirkungen und Folgen auseinandersetzen und dabei eben auch zur Kenntnis nehmen, dass es keine einfachen Lösungen geben kann, dennoch oder gerade deshalb intensiv und offen gestritten werden muss, wie man mit dem Thema umgeht.

Täglich kommen Hunderte Asylbewerber aus dem Kosovo – so die aktuelle Lagebeschreibung beispielsweise aus Nordrhein-Westfalen. Der Artikel berichtet aus der Dortmunder Erstaufnahme-Einrichtung. »In der Erstaufnahme-Einrichtung in Dortmund melden sich jeden Tag Hunderte Flüchtlinge aus dem Kosovo. Die Bezirksregierung Arnsberg organisiert Bustransporte für diese Menschen zu den 23 zentralen Unterbringungseinrichtungen in NRW. Von dort aus werden sie in sämtliche Gemeinden des Landes geschickt.« Man muss sich einfach die Größenordnung klar machen, um die es hier geht:

»Seit etwa einer Woche melden sich in Dortmund jeden Tag zwischen 400 und 800 Asylbewerber, die meisten stammen aus dem Kosovo. Viele von ihnen sind offenbar von Schleppern ins Land gebracht worden und haben viel Geld für diese „Dienstleistung“ bezahlt. Eine vierköpfige Familie habe allein für die Busfahrt 1.100 Euro zahlen müssen, heißt es. Dazu kommt das „Honorar“ für den Schleuser.«

Dabei – auch das gehört zur Wahrheit – sind die Chancen auf Asyl in Deutschland für Kosovaren minimal. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge berichtet für das vergangene Jahr von einer Quote in Höhe von 1,1%. Und das Bundesamt verweist ebenfalls darauf, dass die Asylverfahren bei Antragstellern aus dem Kosovo heute schon schneller beendet werden als üblich: durchschnittlich vier statt sieben Monate. Aber damit ist es ja nicht zu Ende und die Menschen nicht wirklich wieder weg.

Wie es vor Ort aussieht und welche ganz handfesten Dilemmata sich in der Praxis ergeben, beschreibt Peter Renzel, der Sozialdezernent der Stadt Essen, in einem lesenswerten Beitrag auf seiner Facebbok-Seite. In diesem Beitrag setzt er sich auch auseinander mit dem (scheinbaren) Problemlösungsvorschlag, der derzeit auf der großen politischen Bühne diskutiert wird, also den Kosovo zu einem „sicheren Drittstaat“ zu erklären. Dazu Renzel in aller Klarheit und zugleich mit weiterführenden Hinweisen:

»Diese Debatte hilft uns Kommunen nicht! Bisher zeigt die letztjährige Einstufung der Westbalkanländer „Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina“ als Sichere Herkunfstländer keinerlei Wirkung für unsere Kommunen. Die Verfahren dauern. Wir müssen unsere Aufgaben alle trotzdem erledigen … Damit die Armutswanderung gestoppt wird, muß die EU erstens die Visumspflicht für die Westbalkanländer wieder einführen und zweites gleichzeitig ihre internationale Verantwortung wahrnehmen und die betreffenden Länder konsequent finanziell mit einer „europäischen Entwicklungshilfe“ unterstützen, damit Bildungsförderung und Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsförderung für die die Menschen in Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Kosaovo und Albanien wirsam aufgebaut wird. Ohne Bildung und Arbeit bleibt es dabei: Die Menschen machen sich auf den Weg! Die EU muss Möglichkeiten entwickeln, wie die Korruption in diesen Ländern bekämpft wird und die europäischen Fördermittel nicht versickern.«

Nun fordern viele Politiker und auch kommunale Spitzenverbände die Deklarierung des Kosovo als „Sicherer Drittstaat“. Renzel ist hier zu Recht mehr als skeptisch und begründet das auch, in dem er darauf hinweist

»… dass den Kommunen die bisherige Einstufung von Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina keinerlei Entlastung gebracht hat. Die Asylverfahren dauern weiterhin mindestens 3,5 – 4,5 Monate, danach werden die regelmäßigen Widersprüche und Klagen bearbeitet. Bis die Asylbewerber aus dem Westbalkan tatsächlich „vollziehbar ausreisepflichtig“ sind, vergehen oft 1 – 1,5 Jahre. Jedes Jahr reisen mehr Personen aus den Westbalkanstaaten ein, als freiwillig wieder ausreisen. Mitarbeiter im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge haben mir telefonisch erläutert, dass sich das Verfahren auch bei Einstellung und Einarbeitung der insgesamt noch einzustellenden 650 zusätzlichen Entscheidern maximal um rund 2 Wochen verkürzen läßt. Allein in unserer Stadt Essen leben in unseren städtischen Unterkünften 816 Asylbewerber aus den drei schon als sicher eingestuften Westbalkanländer. Zählen wir Kosovo und Albanien dazu, sind es 989 Asylbewerber von insgesamt 1268 Asylbewerbern in Einrichtungen, das sind also knapp 80 %. In Essen sind im Jahr 2014 nur 267 Bürger aus den Westbalkanstaaten freiwillig ausgereist. Es konnten nur 53 Bürger abgeschoben werden, weil entweder die Flugtermine kurzfristig bekannt wurden und die Asylbewerber bei Abholung dann nicht mehr da sind oder es kurzfristige neue „Erkrankungen“ gibt, die erst wieder gutachterlich geklärt werden müssen. Dazu hat die Landesregierung NRW am 22.12.2014 dann einen weitere Hürde eingeführt, nämlich eine neuen Erlass zur stärken Einzelfallprüfung für Asylbewerber aus den Balkanstaaten.«

Aber was folgt daraus aus Sicht eines kommunalen Praktikers? Hier wird es dann unangenehm für alle diejenigen, die grundsätzlich gegen Abschiebungen sind. Renzel schreibt in seinem Blog-Beitrag:

»Die Bundesländer müssen die Abschiebung nach erfolgter Bearbeitung der Asylanträge zentral und konsequent organisieren. Ohne eine zentrale Organisation von Seiten der Länder, z.B. hier in NRW, kommen wir keinen Millimeter weiter. Die Asylbewerber aus den Westbalkanstaaten dürfen von den Ländern aus den Erstaufnahme- oder den Zentralen Unterbringungseinrichtungen erst gar nicht mehr in die Kommunen verteilt werden. Sobald sie in den Einrichtungen der Kommunen angekommen sind und eine Abschiebung nur mit der Amtshilfe der kommunalen Ausländerbehörden möglich ist, verlängert sich der Aufenthalt in Deutschland drastisch.
Die Menschen aus diesen Ländern wissen das übrigens alles sehr genau, sind mit ihren Verwandten und Mitbürgern in ihren Heimatländer bestens vernetzt und holen weitere Personen nach. Wir können tatsächlich nur zuschauen und unseren „Pflichtaufgaben“ nachkommen: Unterbringen, Versorgen, Aufpassen und Bewachen, Unterstützen und Betreuen, Beschulen und Leistungen nach dem AsylblG auszahlen.«

Letztendlich warnt der Sozialdezernent davor, dass die Politik wieder einmal Potemkinsche Dörfer aufbaut: »Wenn die betreffenden Länder gesetzlich zwar als „Sichere Herkunftsstaaten“ eingestuft wurden, sich aber an den Verfahren überhaupt nichts ändert, ist der Bund und die Länder zu kurz gesprungen und den Kommunen und den Bürgerinnen und Bürgern wird mit den Forderungen und den veränderten Möglichkeiten der Einstufung als „Sichere Herkunftsstaaten“ nur etwas vorgemacht, was so erst gar nicht eintreten kann, weil die angestrebten Verfahren sich in keiner Weise beschleunigen.«

Auch wenn das unangenehm ist für alle Seiten – über diese Punkte muss offen diskutiert und gestritten werden. Nicht nur, aber eben auch um zu verhindern, dass die noch sehr flüchtlingsfreundliche Haltung vieler Menschen in ihr Gegenteil umschlägt und von radikalen Kräften für ihre Zwecke instrumentalisiert werden kann. Da hilft es gerade nicht, wenn man – sicher oftmals mit guten Motiven – alle Flüchtlinge in einen Topf wirft und eine durchaus kritische Auseinandersetzung beispielsweise mit der Frage der Abschiebung bestimmter nicht-anerkannter Flüchtlinge von vornherein zu verhindern versucht. Summa summarum, ein gesellschaftspolitisches Handlungsfeld, bei dem man sich so oder so die Finger schmutzig machen muss, außer man verschanzt sich in der reinen Lehre. Man sollte nur wenigstens versuchen, das Ausmaß zu begrenzen.