„Mütterrente“: Wenn die scheinbaren Spendierhosen in der Realität zu heiß gewaschen werden, dann laufen sie ein

In den vergangenen Monaten ist heftig diskutiert und gestritten worden über das so genannte „Rentenpaket“ der Bundesregierung. Das besteht aus vier Bausteinen: Der „Rente mit 63“, der „Mütterrente“, Veränderungen bei der Erwerbsminderungsrente sowie ein höheres Reha-Budget. In der öffentlichen Diskussion gab es eine Schieflache dergestalt, dass fast ausschließlich über die „Rente mit 63“ gestritten wurde und dann noch über allgemeine Finanzierungsfragen, also die Finanzierung der Maßnahmen im Wesentlichen über die Beitragszahler und die Rentner selbst durch eine systembedingte Absenkung der anstehenden Rentenerhöhungen.

Eher selten waren Beiträge, die sich mit der so genannten „Mütterrente“ beschäftigen (ganz korrekt müsste man hier von einer Rente für Erziehungsleistungen sprechen, die ggfs. auch von Männern in Anspruch genommen werden kann, was aber den Ausnahmefall darstellt). Schon bei einem groben Blick auf die damit verbundenen finanziellen Auswirkungen irritiert die relative Nicht-Thematisierung der „Mütterrente“ im Kontext der zahlreichen Vorwürfe der finanziellen Überlastung der Rentenkasse, denn während sich die zusätzlichen Ausgaben für die heftig umstrittene „Rente mit 63“ auf „langfristig“ 3 Mrd. Euro im Jahr belaufen sollen, werden für die „Mütterrente“ seitens der Bundesregierung jährliche Kosten »von derzeit rund 6,7 Milliarden Euro« in Ansatz gebracht. Nicht nur das ist diskussionsbedürftig, auch die formale Begründung und die Realität der Umsetzung wirft zahlreiche Fragen auf, die im folgenden Beitrag aufgeschnürt werden sollen. Bevor wir hinabsteigen in die (Un-)Tiefen des Rentenrechts gleich eine prophylaktische Entschuldigung bzw. ein Warnhinweis: Der Verfasser kann nichts für die zu skizzierende Hyperkomplexität und die sich daraus ergebenden Frustrationseffekte bei dem einen oder der anderen. Dafür ist nicht der Überbringer der (schlechten) Nachrichten verantwortlich, sondern wenn schon, dann das „System“.

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Die Rentendiskussion ist sicher: Die IG Metall will gegen die „Rente mit 63“ klagen und in der Union soll es eine flügelübergreifende Sehnsucht nach der „Flexi-Rente“ geben

Sicherlich hatte man in der Großen Koalition gehofft, dass man das Thema Rente vorerst an die Seite schieben und aus der öffentlichen Debatte bekommen kann, nachdem die „Rente mit 63“ und die „Mütterrente“ gleich am Anfang der Legislaturperiode abgearbeitet worden sind. Und eine der bekannten Einordnungen der Komponenten des „Rentenpakets“ der Bundesregierung lautet: Die „Rente mit 63“ (für einige wenige Jahrgänge und nur unter besonderen Voraussetzungen) sei das „Wahlgeschenk“ an die Gewerkschaften und die „Mütterrente“ das der Unionsparteien an die (vermeintliche) Wählergruppe der Älteren, vor allem der älteren Frauen mit Kindern, die vor 1992 geboren worden sind. Also müssten die doch alle zufrieden sein. Vor diesem Hintergrund scheint es dann überraschend, wenn man lesen muss: Gewerkschaften wollen Rente mit 63 vom Verfassungsgericht prüfen lassen oder Gewerkschaften bereiten Klage gegen Rente mit 63 vor, um bei der Komponente des Rentenpakets der Bundesregierung zu bleiben, das sich vor allem an die Industrie-Gewerkschaften richtet (vgl. hierzu beispielsweise Rente ab 63 ist eine Männerrente, denn aufgrund der Anspruchsvoraussetzungen, die erfüllt sein müssen, richtet sich diese Regelung vor allem an männliche Industrie-Arbeitnehmer oder auch Handwerker). Warum sind die jetzt unzufrieden mit „ihrem Geschenk“?

Um das zu verstehen, muss man sich in Erinnerung rufen, dass bei der gesetzgeberischen Konkretisierung immer und unvermeidbar Abgrenzungen vorgenommen werden müssen, die in bestimmten Fallkonstellationen als „Ungerechtigkeit“ wahrgenommen werden (können). Und genau um ein solche Unwucht bei der Operationalisierung der zu erfüllenden Zugangskriterien geht es jetzt: Die IG Metall sieht in einem Teil des Gesetzes eine willkürliche Ungleichbehandlung von Arbeitslosen und deshalb werden jetzt Musterverfahren gegen die Rente mit 63 vorbereitet. Es geht um Ausnahmeregelungen, die im letzten Moment in das Gesetz aufgenommen wurden, um die Union zu besänftigen, worauf Thomas Öchsner in seinem Artikel Rente mit 63 vor Gericht hinweist: »Bis Ende November wurden bereits 186 000 Anträge gestellt. 141 000 hat die Deutsche Rentenversicherung bereits abgearbeitet und in der Regel bewilligt.

Dennoch zeichnet sich schon jetzt neuer Ärger mit der neuen vorzeitigen Rente ab: Die in letzter Minute aufgenommenen Ausnahmen werden wohl bald die deutschen Sozialgerichte beschäftigen.«
Stefan Sauer bringt das Problem in seinem Artikel auf den Punkt:

»Versuche, mittels eines Gesetzes jede Eventualität präzise zu regulieren, gehen oft schief. Der Wunsch nach Einzelfall-Gerechtigkeit mündet nicht selten in komplizierten Durchführungsbestimmungen, neuen Ungerechtigkeiten  und juristischen Auseinandersetzungen. Dieses Schicksal droht nun der Rente mit 63, genauer: einzelnen Gesetzespassagen, mit denen der begünstigte Personenkreis möglichst genau eingrenzt werden soll.«

Schauen wir uns also in einem ersten Schritt den Sachverhalt genauer an, der diese Entwicklung ausgelöst hat: »Die Rente ab 63 ohne Abzüge vom Altersgeld erhält, wer 45 Beitragsjahre in der Rentenversicherung nachweisen kann. Dabei werden auch Zeiten anerkannt, in denen Arbeitslosengeld I (nicht Hartz IV) bezogen wurde. Es gibt aber eine Ausnahme, die den Wirtschaftsflügel der Union besänftigen sollte: Bei den letzten zwei Jahren vor dem jeweiligen Rentenbeginn werden Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht angerechnet, um Frühverrentungen mit 61 zu vermeiden«, so Öchsner. Bei dieser Sonderregelung stand die Überlegung Pate, dass es ansonsten die „Gefahr“ geben könnte, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf eine Entlassung zum 61. Lebensjahr verständigen und die Betroffenen die Zeit bis zur Inanspruchnahme der abschlagsfreien „Rente mit 63“ mit Arbeitslosengeld I und ergänzenden Leistungen des Arbeitgebers überbrücken. Dann wäre aus der „Rente mit 63“ eine „Rente mit 61“ geworden. Es soll hier nicht darauf eingegangen werden, dass das eine teilweise sehr konstruiert wirkende Gefahrenbeschreibung war. Durch die Ausnahmeregelung die letzten beiden Jahre vor Eintritt in die abschlagsfreie Rente bei der Anrechnungsmöglichkeit von Arbeitslosengeld I-Bezug schien man das „Problem“ beseitigt zu haben – und hatte gleichzeitig ein neues zum Leben erweckt, denn die Regelung mag das Ausgangsproblem einer bewusst herbeigeführten Frühverrentung blockieren, aber was ist mit den Fällen, in dem der betroffenen Arbeitnehmer gegen seinen Willen den Arbeitsplatz verloren hat, also unfreiwillig? Und dem beispielsweise gerade ein oder zwei Jahre fehlen, um die 45 Beitragsjahre erfüllen zu können, die ihm einen Zugang zum abschlagsfreien Bezug der Altersrente ermöglichen würde?

Natürlich wurde dieses Problem erkannt und man versuchte, dem mit einer neuen Sonderregelung innerhalb der Sonderregelung zu begegnen. Stefan Sauer dazu: Für die erste Ausnahmeregelung »wurde, auf Druck der SPD, aber eine zweite Ausnahme ins Gesetz geschrieben: Ist die Arbeitslosigkeit vor Rentenantritt durch die vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers – etwa wegen einer Insolvenz -bedingt, so ist die Zeit der Arbeitslosigkeit bis zu zwei Jahre vor Rentenantritt doch anzurechnen. Damit sollte Arbeitnehmern Gerechtigkeit widerfahren, die ohne eigenes Verschulden ihren Job verlieren. So weit, so gut.«

Wie immer in der hyperkomplexen Sozialpolitik unserer Tage liegt der Teufel im Detail der semantischen Operationalisierung. Denn bei der Umsetzung des Willens des Gesetzgebers ergab sich eine Ausnahme Nummer drei, »die gestützt auf den Gesetzestext in den Arbeitsanweisungen der Rentenversicherung enthalten ist: Eine „vollständige Geschäftsaufgabe“ ist danach nur gegeben, wenn Unternehmen „ihre gesamte Betriebstätigkeit auf Dauer einstellen“, nicht aber, wenn lediglich einzelne Unternehmensteile stillgelegt werden«, so Sauer. Der Kern des aktuellen Problems liegt in dem scheinbar klaren Begriff der „vollständigen Geschäftsaufgabe“ des Unternehmens, denn daraus ergeben sich zwangsläufig nicht begründbare Ungleichbehandlungen, was Stefan Sauer in seinem Artikel an einem Beispiel illustriert:

»Beispiel: Opel-Mitarbeiter, die mit der Schließung des Werks in Bochum ihre Stellen verloren, würden bei der Beitragszeitanrechnung benachteiligt, weil zwar ihr Werk, aber nicht Opel als ganzes Unternehmen dicht gemacht wurde. Dabei ist unstrittig, dass die Bochumer Opelaner den Jobverlust gewiss nicht willentlich herbeiführen oder auch nur beeinflussen konnten. Sie sind ebenso schuldlos an ihrer Arbeitslosigkeit wie zum Beispiel Kollegen eines Zuliefererbetriebs, die aufgrund der Opel-Werksschließung ihren Job verlieren. Ginge ihr Betrieb pleite,  würde ihnen aber die Arbeitslosigkeit vor Rentenantritt angerechnet. Plausibel ist das nicht.«

Fakt ist: Arbeitnehmer, die ihren Job nicht freiwillig verlieren, werden höchst unterschiedlich behandelt, weil die Deutsche Rentenversicherung in ihren Arbeitsanweisungen den Willen des Gesetzgebers dergestalt konkretisiert, dass der Begriff der vollständigen Geschäftsaufgabe „eng auszulegen“ sei. Auch wieder „beispielhaft“ das Hin-und-Herschieben“ von Verantwortlichkeiten, wie man sie in der Sozialpolitik zur Genüge kennt: Die Rentenversicherung kennt das Problem. Man habe sich beim Formulieren der Arbeitsanweisungen „an den Gesetzeswortlaut gehalten“, sagt ein Sprecher. Das Arbeitsministerium teilt wiederum mit, die Auslegung der Rechtsvorschriften „obliegt den Trägern der gesetzlichen Rentenversicherung“, so Thomas Öchsner.

Man darf an dieser Stelle daran erinnern, dass das jetzt an die Oberfläche gespülte Problem bereits vor Monaten in Aussicht gestellt wurde – vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestags. Dazu der Artikel Rente mit 63 möglicherweise verfassungswidrig vom 9. Juli 2014: In dem damaligen Gutachten, das der rentenpolitische Sprecher der Grünen, Markus Kurth, beantragt hatte, ging es genau um die Ausnahme von der Ausnahme, die jetzt wieder aufgerufen wird. Die Nicht-Berücksichtigung von betriebsbedingten Kündigungen bei der Anrechnung auf die zu erfüllenden Beitragszeiten dürfte „wohl gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3, Abs. 1 GG verstoßen“, heißt es in der juristischen Bewertung des Wissenschaftlichen Dienstes. Die Gutachter hatten bereits damals schwerwiegende Bedenken hinsichtlich der Angemessenheit der Ungleichbehandlung formuliert.  Nach ihrer Bewertung sei es problematisch, dass „Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen unter Generalverdacht gestellt“ werden, obwohl es bereits an Kenntnissen über den Umfang eines möglichen Missbrauchs fehle. Es sei mithin „nicht nachvollziehbar, dass diejenigen, die aufgrund einer betriebsbedingten Kündigung ausscheiden und infolgedessen tatsächlich unfreiwillig arbeitslos werden, weniger schutzwürdig sein sollen als diejenigen, die aufgrund einer Insolvenz oder vollständigen Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden“.

Wie ein Bumerang kommen diese Bedenken jetzt wieder zurück. Die IG Metall sammelt bereits Fälle für mögliche Klagen und will die „willkürliche Ungleichbehandlung“ vor dem Bundesverfassungsgericht klären lassen.

Und das ist nicht der einzige Punkt, der die aktuelle Rentendebatte prägt. Bereits in den vergangenen Tagen wurde über eine (freiwillige) „Rente mit 70“ berichtet. Und offensichtlich bewegt das Thema große Teile innerhalb der Union: Drei Flügel der CDU werben für Flexi-Rente, kann man beispielsweise lesen. Das hört sich irgendwie nett an – „Flexi-Rente“.

»Es geht um bessere Bedingungen für Menschen, die auch im Rentenalter noch arbeiten möchten – oder müssen«, so beginnt der Artikel und zeigt damit zugleich auch schon, dass es möglicherweise nicht nur um die Ermöglichung eines lustvollen Weiterarbeitens im Alter geht. Die Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung, die Senioren-Union und die Junge Union haben nun ein gemeinsames Positionspapier veröffentlicht. „Wir müssen jetzt endlich Nägel mit Köpfen machen“, so heißt es darin und gemeint ist: es solle einen „Flexi-Bonus“ für beschäftigte Rentner geben. Hört sich auch erst einmal nett an. Konkret geht es um folgendes:

»Der Rentenversicherungsbeitrag, den Arbeitgeber auch für Mitarbeiter im Rentenalter zahlen müssen, solle die Rente des Betroffenen künftig erhöhen – anders als bisher. „Konkret soll dieser Beitrag jährlich auf die laufende Rentenzahlung als Zuschlag aufgestockt werden.“ Die Mittelstandsvereinigung hatte diesen Vorschlag bereits im Herbst gemacht. Zudem fordern die drei CDU-Flügel nun eine Abschaffung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung für Ältere und einen deutlich flexibleren Übergang auch in die Beamten-Pension.«

Mehr Geld also für arbeitende Rentner. Will man dagegen sein? Bereits in dem Blog-Beitrag Was für ein Jahresanfangsdurcheinander: Die Rente mit 70 (plus?), ein Nicht-Problem und die Realität des (Nicht-)Möglichen am 3. Januar 2015 im Kontext der Vorschläge einer (- noch – freiwilligen) „Rente mit 70“ wurde versucht zu zeigen, dass hier im Grunde ein Nicht-Problem adressiert wird.

In entsprechender Deutlichkeit kann man das auch in einem Beitrag aus dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln) nachlesen und nachvollziehen: Finanzielle Förderung unsinnig und unnötig, so die zutreffende Überschrift.

»Arbeitnehmer (können) schon heute freiwillig länger arbeiten. Und: Wer sich mit seinem Arbeitgeber einigt und erst später als vorgesehen Rente beantragt, der erhöht seinen Rentenanspruch nicht nur entsprechend der zusätzlichen Beitragszahlung – obendrauf gibt es einen Zuschlag von 0,5 Prozent pro Monat. Ein westdeutscher Durchschnittsverdiener, der ein Jahr dranhängt, erhöht so seinen Rentenanspruch um 30,33 statt nur um 28,61 Euro pro Monat (27,97 statt 26,39 Euro in den neuen Bundesländern).«

Nun kann man an dieser Stelle einwenden, dass es um diese Fälle bei der „Flexi-Rente“ nicht geht, sondern um die, die bereits in Rente sind und dann weiterarbeiten (wollen/sollen/müssen), denen will man ja den „Flexi-Bonus“ gewähren, also einen Zuschlag auf ihre neben dem Arbeitseinkommen ausgezahlte Rente. Hierzu das IW, die zugleich erklären, warum in diesen Fällen der Arbeitgeber seinen Beitragsanteil an die Rentenversicherung (und auch an die Arbeitslosenversicherung) weiter zahlen muss, obgleich sich die Rente des betroffenen Arbeitnehmers dadurch nicht erhöht und aufgrund des Rentner-Status auch keine Ansprüche gegenüber der Arbeitslosenversicherung bestehen:

»Aber auch, wer seine Rente mit 65 bezieht, kann weiter sozialversicherungspflichtig arbeiten. Er bekommt dann das Nettogehalt zusätzlich zur gesetzlichen Rente. Während die Arbeitnehmerbeiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung wegfallen, muss der Arbeitgeber seinen Beitragsanteil weiter zahlen. Damit wird der Rentenanspruch allerdings nicht weiter erhöht. Die Beitragspflicht für Unternehmen soll lediglich verhindern, dass Rentner aufgrund niedrigerer Lohnnebenkosten junge Arbeitnehmer aus dem Betrieb verdrängen.«

Das ist der Punkt. Das Positionspapier aus der CDU führt also – würde man das umsetzen – dazu, dass der Rentenversicherungsbeitragsanteil der Arbeitgeber nicht mehr an die Rentenversicherung fließen würde, sondern als „Stimulus“ für die Rentner fungieren soll, (wieder) arbeiten zu gehen, weil sie dann neben dem Arbeitseinkommen auch noch einen Zuschlag auf ihre normale Rente bekommen. Bezahlt werden muss das aus der Sozialkasse. Und gleichzeitig würde der Arbeitgeber noch entlastet, weil seine Zahlung an die Arbeitslosenversicherung gestrichen werden soll, so dass der ältere Arbeitnehmer tatsächlich günstiger werden würde.

Abschließend: Die ganze Diskussion über eine „Flexi-Rente“ wird jetzt entwickelt und vorangetrieben mit dem Hinweis, man wolle doch nur vereinfachen, anreizen und alles sei freiwillig. Wie so oft im Leben sollte man aber mögliche mittel- und langfristige Auswirkungen nicht aus den Augen verlieren. Denn „Sinn“ macht eine solche Aufweichung vor allem mit Blick auf die stetig zunehmende Altersarmut durch die vergangenen Eingriffe in das Sicherungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung. Wenn es immer mehr Rentner geben wird, die mit ihrer kargen Rente nicht über die Runden kommen (können), dann kann man sie verweisen auf die Möglichkeiten, sich etwas dazu zu verdienen und zugleich bekommen sie noch eine etwas höhere Rente. Und alles ganz „freiwillig“ natürlich.

Sie wächst und wird weiter wachsen – die Altersarmut. Neue bedrückende Zahlen am Anfang einer bitteren Wegstrecke

Fast genau eine halbe Million Menschen sind es, die in den Statistiken auftauchen als Empfänger von Leistungen der Grundsicherung für Ältere nach SGB XII, also dem „Hartz IV“ eigener Art für ältere Menschen. Die Bundesstatistiker erfüllen ihre Berichtspflicht ordnungsgemäß mit einem Tabellenwerk und einer knappen Pressemitteilung dazu: 2013: Zahl der Empfänger/-innen von Grund­sicherung ab 65 Jah­ren um 7,4 % gestiegen. Ergänzend kann man den Zahlenangaben zu den Älteren noch entnehmen: »Neben den rund 499.000 Empfängerinnen und Empfängern von Grundsicherung im Alter ab 65 Jahren gab es am Jahresende 2013 deutschlandweit rund 463.000 Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung wegen dauerhafter Erwerbsminderung im Alter von 18 bis unter 65 Jahren. Damit bezogen am Jahresende 2013 rund 962.000 volljährige Menschen in Deutschland Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII.« Diese fast eine Millionen Menschen, die sich im SGB XII befinden, müssen also noch zu den derzeit 6.012.781 Menschen hinzugezählt werden, die aktuell Leistungen aus dem eigentlichen „Hartz IV“-System beziehen, also dem SGB II.

Die Abbildung zeigt den Anstieg der Empfänger-Zahlen in der Grundsicherung für Ältere seit 2003. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre hat sich die Zahl der älteren Grundsicherungsempfänger schlichtweg verdoppelt. Und man muss an dieser Stelle sogleich anfügen: Es handelt sich hier um die Älteren, die auch tatsächlich Leistungen beziehen – wenn es um das Thema Altersarmut geht, dann müsste man natürlich noch die älteren Menschen hinzuzählen, die eigentlich Anspruch hätten auf die Grundsicherungsleistungen, diese aber aus ganz unterschiedlichen Gründen faktisch nicht in Anspruch nehmen. Dabei handelt es sich um keine kleine Gruppe.

Es geht hierbei um das Problem der „verdeckten Armut“. Die Verteilungsforscherin Irene Becker hat dazu 2012 einen Beitrag publiziert, in dem sie die Ergebnisse einer Untersuchung vorgestellt hat, die der Frage nachgegangen ist, wie sich die verdeckte Armut unter Älteren seit der 2003 erfolgten Einführung der „Grundsicherung im Alter“ entwickelt hat (vgl. Irene Becker: Finanzielle Mindestsicherung und Bedürftigkeit im Alter. In: Zeitschrift für Sozialreform, Heft 2, 2012, S. 123-148). Man muss hier erinnern: Das „Grundsicherungsgesetz“ (für Ältere wie auch für dauerhaft Erwerbsgeminderte, 2005 dann in das SGB XII übernommen) muss als ein Antwortversuch verstanden werden auf den lange vorher beklagten Tatbestand der erheblichen „verdeckten Armut“ unter den älteren Menschen. Bereits in den 1990er-Jahren war nach den damals vorliegenden empirischen Studien deutlich geworden:

»Auf jeden Sozialhilfeempfänger könnte ein Sozialhilfeberechtigter kommen, der seine Ansprüche nicht einlöst. Und unter Älteren war die verdeckte Armut besonders verbreitet. Deshalb wurde 2003 die „Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“ eingeführt. Sozialhilfeempfänger im Rentenalter brauchen nun in der Regel nicht mehr zu fürchten, dass das Amt sich das Geld bei ihren Kindern zurückholen könnte. Und die Rentenversicherung wurde verpflichtet, Kleinrentner auf ihren potenziellen Grundsicherungsanspruch aufmerksam zu machen«, so die Erläuterungen in einem Artikel über die Ergebnisse der Untersuchung von Irene Becker.

Ihre damaligen Berechnungen beruhen auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) für das Jahr 2007. Aus den Zahlen der repräsentativen Befragung ergibt sich: Von gut einer Million Menschen ab 65 Jahren, denen damals Grundsicherung zustand, bezogen nur 340.000 tatsächlich Leistungen. Die „Quote der Nichtinanspruchnahme“, so der technische Begriff für die Dunkelziffer der Armut, betrug 68 Prozent (vgl. auch die Abbildung „Verdeckte Armut oft bei Älteren“).

Nun haben sich die Verhältnisse – möglicherweise – seit damals geändert. Wir wissen darüber aber nichts genaues und es ist durchaus plausibel, immer noch von einer nicht unerheblichen Dunkelziffer auszugehen, gerade bei den älteren Menschen, bei denen beispielsweise Scham-Faktoren eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Auf alle Fälle sollte nicht vergessen werden, dass die – auch jetzt wieder – in der öffentlichen Wahrnehmung stehende Zahl an Grundsicherungsempfängern bei den Älteren nur als eine Untergrenze anzusehen ist.

Zurück zu den aktuellen Daten. Die Berichterstattung greift die Zahlen auf und ordnet sie ein in das Thema wachsende Altersarmut: Die Alten werden immer ärmer, so Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung oder Altersarmut nimmt in Deutschland zu. Öchsner schreibt zu den (möglichen) Gründen: »Für die wachsende Menge der hilfebedürftigen alten Menschen gibt es mehrere Gründe: Einerseits nimmt die Zahl der Alten schlicht zu – und damit auch die Gruppe derjenigen, deren Einkünfte nicht zur Deckung des Existenzminimums reichen. Zudem haben Frauen in Westdeutschland häufig nur Anspruch auf eine Mini-Rente, weil sie zu wenig gearbeitet und verdient haben. Auch reichen bei vielen der sogenannten etwa 1,6 Millionen Erwerbsminderungsrentner, die wegen einer Krankheit vorzeitig mit dem Arbeiten aufhören mussten, die eingezahlten Beiträge für eine auskömmliche Rente nicht aus.«

Der entscheidende Punkt aber ist: Wenn wir die Systeme so weiterlaufen lassen, wie sie mittlerweile aufgestellt sind, dann wird es in den vor uns liegenden Jahren nicht nur einen weiteren Anstieg der Altersarmut aus den bereits ins Feld geführten Gründen geben, sondern auch Menschen, die unter alten Bedingungen eine Rente bekommen hätten, die oberhalb des Grundsicherungssystems liegt, werden unter diese Schwelle rutschen. Das ist nun von vielen und an vielen Stellen und schon seit längerem nachgewiesen worden (vgl. dazu nur beispielhaft für das vergangene Jahr den Blog-Beitrag Altersarmut?! Von einer „Tabelle der Schande“ über halbe Wahrheiten bis hin zu einer Sau, die durch das Rentendorf getrieben wird vom 11.06.2013 oder auch Altersarmut von unten und von denen, die früher mal oben gewesen wäre vom 08.07.2013). Zur Debatte über die vor uns liegende Entwicklung vgl. auch die Übersichtsarbeit Zukünftige Altersarmut vom DIW.