War da nicht noch was mit der unmöglichen „24-Stunden-Betreuung“? Der Großbaustelle fehlt weiterhin das rechtssichere Fundament. Andere werfen einen Blick auf die Menschen, die das machen

Wenn man einen Blick wirft in den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP vom 7. Dezember 2021, dann findet man dort auf der Seite 64 diesen einen schlanken, zugleich wegweisenden Satz: 

»Wir gestalten eine rechtssichere Grundlage für die 24-Stunden-Betreuung im familiären Bereich.« 

Na endlich, werden ganz viele Menschen denken, wenn man sie darüber informieren würde, dass sich die Ampel-Koalition vorgenommen hat, die seit vielen Jahren im Grunde in der zwangsläufigen Illegalität ablaufende Inanspruchnahme der Dienstleistungen zumeist osteuropäischer Frauen in den Privathaushalten in unserem Land auf ein rechtssicheres Fundament zu stellen. Und da steht ja auch, dass man das gestalten wird, also nicht wir überlegen oder prüfen oder erwägen mal, so etwas möglicherweise zu tun.

Gelegentlich schimmert die hier angesprochene Schattenwelt im Strom der Berichterstattung für einen dieser kurzatmigen Momente durch. Blicken wir beispielsweise zurück auf den Sommer des Jahres 2021: Aus der Schattenwelt des deutschen Pflegesystems: Die un-mögliche „24-Stunden-Betreuung“ als Geschäftsmodell ist beim Bundesarbeitsgericht aufgelaufen, so ist ein Beitrag zur damaligen Entscheidung des höchsten deutschen Arbeitsgerichts überschrieben, der hier veröffentlicht wurde. Das höchste deutsche Arbeitsgericht hatte am 24. Juni 2021 mitgeteilt: »Nach Deutschland in einen Privathaushalt entsandte ausländische Betreuungskräfte haben Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn für geleistete Arbeitsstunden. Dazu gehört auch Bereitschaftsdienst. Ein solcher kann darin bestehen, dass die Betreuungskraft im Haushalt der zu betreuenden Person wohnen muss und grundsätzlich verpflichtet ist, zu allen Tag- und Nachtstunden bei Bedarf Arbeit zu leisten.« Das liest sich leider unmissverständlicher, als es dann in der Umsetzungspraxis daherkommt. 

Im September 2022 wurde hier dann nachgelegt mit dem Beitrag Ein Update aus einem Teil der Schattenwelt des deutschen Pflegesystems: Der Mindestlohnanspruch in der unmöglichen 24-Stunden-Betreuung bleibt. Darin ging es zum einen um den konkreten Fall, mit dem sich das Bundesarbeitsgericht beschäftigt hatte, der an das zuständige Landesarbeitsgericht zurückverwiesen wurde, die sollten eine abschließende Beurteilung vornehmen, was auch passiert ist. Auch hier wurde der Mindestlohnanspruch weitgehend bestätigt, mit handfesten Folgen im Sinne einer Nachzahlung für die Klägerin. Aber hier soll es um etwas anderes gehen, was am Ende des damaligen Beitrags aufgerufen wurde:

»Es gibt unterschiedliche Konfigurationen bei der praktischen Ausgestaltung der „Live-in-Betreuung“, also dem, was umgangssprachlich leider, weil unmöglich und fehlerhaft, als „24-Stunde-Pflege“ tituliert wird. Im hier besprochenen Fall handelt es sich um ein Modell, bei dem die betreuungsbedürftige Person bzw. ihre Angehörige eine deutsche Agentur eingeschaltet haben, die wiederum auf Agenturen im Heimatland der Betreuungskräfte zurückgreift, die dann ihre Arbeitskräfte als Arbeitnehmer entsenden nach Deutschland. Das ist aber nicht der Mehrheitsfall bei der sogenannten „24-Stunden-Betreuung“. Der Regelfall in diesem Bereich sind angeblich selbstständige Personen, die aber faktisch nach unserem Rechtsgefüge als Scheinselbstständige in den Privathaushalten unterwegs sind. Bei den Solo-Selbstständigen besteht ein großes Risiko der Scheinselbständigkeit, was zu einer nachträglichen Feststellung der Sozialversicherungspflicht führen würde, so dass Beiträge und Steuern nachgezahlt werden müssen. Wenn … ja wenn der Tatbestand der Scheinselbstständigkeit festgestellt und nachgewiesen wird. An dieser Stelle kommt erschwerend hinzu – selbst wenn es Kontrollen geben sollte oder könnte – dass es für die Behörden schwierig wird, da man Privathaushalte nicht wie „normale“ Arbeitsstätten behandeln kann. Und in Privathaushalten gibt es so gut wie keine Kontrollen.«

Ausnahme- bzw. Regelfall der Beschäftigung der überwiegend osteuropäischen Frauen in Privathaushalten, in denen sie mit pflegebedürftigen Menschen zusammenleben. Was aber sagen die Betroffenen selbst zu ihrer Situation?

Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) hat vier Berichte zu den Betreuungskräften veröffentlicht, die man befragt hat:

➔ Ulrike Rösler et al. (2023):  Arbeit in der häuslichen Betreuung I: Menschen und Arbeitssituationen, Oktober 2023

➔ Ulrike Rösler et al. (2024): Arbeit in der häuslichen Betreuung II: Anforderungen und Ressourcen im Arbeitsalltag, Januar 2024

➔ Ulrike Rösler et al. (2024): Arbeit in der häuslichen Betreuung III: Gesundheit und Zufriedenheit, Februar 2024

➔ Ulrike Rösler et al. (2024): Arbeit in der häuslichen Betreuung IV: Dringender Handlungsbedarf, Februar 2024

Mehr als 4 Millionen Pflegebedürftige werden in Deutschland zu Hause versorgt. Eine Gruppe, die dafür seit Jahren einen wichtigen Beitrag leistet und bislang wenig Aufmerksamkeit im ambulanten Versorgungssetting erfuhr, sind die schätzungsweise 300.000 bis 600.000 häuslichen Betreuungskräfte. 

Anhand der Ergebnisse einer Onlinebefragung von 429 Betreuungskräften aus Polen, Bulgarien, Kroatien und Rumänien werden soziodemografische und beschäftigungsbezogene Merkmale dieser Gruppe beschrieben.

Bislang fehlt es in Deutschland sowohl an einem sicheren rechtlichen Rahmen für diese Betreuungsarbeit in Privathaushalten als auch an Daten zu den Arbeitsbedingungen. Bei den Daten will die BAuA einen Beitrag zur Verkleinerung des Problems leisten. Grundlage dafür bildet die Studie „Ermittlung der Arbeits- und Gesundheitssituation häuslicher Betreuungskräfte in Deutschland“, die 2023 durchgeführt wurde.

Die 429 befragten Betreuungskräfte hat man über soziale Medien gewonnen. Das mittlere Alter liegt bei 55 Jahren. Die große Mehrheit sind Frauen (93 %). Knapp 50 Prozent der häuslichen Betreuungskräfte haben eine polnische Staatsangehörigkeit, 30 Prozent eine bulgarische, 13 Prozent eine kroatische und vier Prozent eine rumänische. Die Befragten arbeiten im Mittel (Median) seit sechs Jahren als häusliche Betreuungskraft in Deutschland.

Die meisten Betreuungskräfte arbeiten als Auftragnehmerin bzw. Auftragnehmer (43 %), 39 Prozent arbeiten im Angestelltenverhältnis und elf Prozent als Selbständige. Die Hälfte der Betreuungskräfte verfügt über einen schriftlichen Vertrag. Knapp drei Viertel haben diesen mit einer Vermittlungsagentur geschlossen. 7 Prozent der Betreuungskräfte mit einem Vertrag haben diesen vor Arbeitsbeginn nicht zur Kenntnis erhalten. Bei knapp einem Drittel enthält der Vertrag keine Festlegungen zu den zu leistenden Arbeitsstunden pro Woche.

Hinweise auf einen massiven Missbrauch bei der Arbeitszeit der Betreuungskräfte 

Gefragt nach der üblichen Anzahl der Arbeitstage pro Woche geben 77 Prozent sieben Tage, 19 Prozent sechs Tage und vier Prozent fünf Tage an. Das muss man erst einmal sacken lassen: Die durchschnittliche Wochenstundenarbeitszeit liegt bei den häuslichen Betreuungskräften bei rund 72 Wochenstunden! Ein Großteil der Betreuungskräfte arbeitet auch abends (88 %) und nächtliches Aufstehen im Rahmen der Betreuung wird von 63 Prozent der Befragten erwartet. Arbeit am Wochenende gehört für fast alle häuslichen Betreuungskräfte dazu (97 %). Festzuhalten ist, dass Dreiviertel der Betreuungskräfte mit Vertrag und 90 Prozent jener ohne Vertrag berichten, dass ihre Überstunden weder finanziell noch durch Freizeitausgleich abgegolten werden. 

Der Bericht Arbeit in der häuslichen Betreuung I bilanziert:

»Auffällig sind die sehr langen Arbeitszeiten – pro Woche (häufig 7 Tage) aber auch pro Tag (mehr als 10 Stunden) – in einer Zeit, in der in Deutschland vermehrt über eine 4-Tage-Arbeitswoche diskutiert wird. Es ist kritisch zu fragen, inwiefern die im Arbeitszeitgesetz (ArbZG) definierten Vorgaben zur Arbeitszeit (tägliche Höchstarbeitszeit, Ruhezeiten, Aufzeichnung der Arbeitszeit etc.) auch bei häuslichen Betreuungskräften gewährleistet sind. Vermutlich arbeitet diese für den Arbeitsschutz insgesamt und die für den Vollzug der arbeitszeitrechtlichen Vorgaben zuständigen Institutionen wenig sichtbare Gruppe in einer davon abgekoppelten Arbeitszeitrealität. Hier besteht dringender Prüfbzw. Handlungsbedarf zum Schutz der Betreuungskräfte.«

Was machen die Betreuungskräfte?

Die Betreuungskräfte wurden gefragt, welche Aufgaben regelmäßig zu ihrer Arbeit gehören. Körperbezogene Pflegemaßnahmen (z. B. Ganzkörperwaschungen), pflegerische Betreuungsmaßnahmen (z. B. Unterstützung bei der Alltagsgestaltung) und hauswirtschaftliche Tätigkeiten (z. B. Geschirrspülen) führen fast alle Betreuungskräfte aus. Bei gut zwei Dritteln der Betreuungskräfte (68 %) gehören Tätigkeiten der häuslichen Krankenpflege, wie zum Beispiel die Medikamentenverabreichung oder das Anziehen von Kompressionsstrümpfen, zu den regelmäßigen Aufgaben. Fast 40 Prozent der Betreuungskräfte müssen immer oder oft körperlich schwer arbeiten.

Heftig fallen die Einschätzungen zur Häufigkeit schwieriger Kontakte mit Pflegebedürftigen oder deren Angehörigen sowie zu sexueller Belästigung während der Arbeit aus. So berichtet jede fünfte Betreuungskraft, dass sie im vergangenen Jahr mehrmals beschimpft oder beleidigt wurde, und jede zehnte berichtet von Gewalterfahrungen während der Arbeit sowie unerwünschter körperlicher Annäherung.

In der Bilanzierung des Berichts Arbeit in der häuslichen Betreuung II heißt es dann, dass die »Daten darauf hin(weisen), dass Betreuungskräfte zu einem substanziellen Anteil auch häusliche Krankenpflege erbringen, die laut SGB V Pflegefachpersonen vorbehalten ist. Dies entspricht einer illegitimen Aufgabenerweiterung und ist mit Blick auf die Versorgungsqualität sowie in Bezug auf die damit einhergehende Verantwortungsübernahme und eine mögliche Überforderung der Betreuungskräfte nicht akzeptabel und nicht legitim.«

Wie ist es um die eigene Gesundheit der Betreuungskräfte bestellt? Wie zufrieden sind häusliche Betreuungskräfte mit ihrer Arbeit und welchen Einfluss haben Arbeitsmerkmale auf ihre Gesundheit und Zufriedenheit? 

Bei häuslichen Betreuungskräften zeigen sich im Mittel höhere Ausprägungen von Burn-out-Symptomen als im Durchschnitt der Bevölkerung. Gut ein Drittel der Betreuungskräfte fühlt sich oft/immer körperlich und knapp die Hälfte oft/immer emotional erschöpft. Ein überdurchschnittlich hohes Niveau zeigen auch Ausprägungen von Präsentismus, das heißt Arbeiten trotz Krankheit.

Im Bericht Arbeit in der häuslichen Betreuung III wird zusammenfassend ausgeführt: »Die hier berichteten Befragungsergebnisse zur Gesundheit häuslicher Betreuungskräfte belegen, dass diese im Mittel stärker von Burn-out-Symptomen betroffen sind und häufiger krank die Arbeit aufnehmen, als dies in der Altenpflege oder allgemeinen Erwerbsbevölkerung der Fall ist. Auffällig sind insbesondere die Werte zur emotionalen Erschöpfung.

Welche Vorschläge für dringend notwendige Verbesserungen ihrer Arbeitssituation machen die Betreuungskräfte selbst?

In der Online-Befragung haben sich 293 von 429 Betreuungskräften, also knapp 70 Prozent der Befragten, dazu geäußert. 

Besonders viele Forderungen adressieren die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben zur Arbeitszeit, eine faire Entlohnung sowie die Notwendigkeit der Verschriftlichung und Durchsetzung angemessener arbeitsvertraglicher Regelungen.

Im Rahmen der häuslichen Betreuung kommt es zu erheblichen Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz. Die Notwendigkeit einer Begrenzung der täglichen sowie wöchentlichen Arbeitszeit und der regulären Gewährung von Pausen wird folglich in fast jedem dritten Verbesserungsvorschlag thematisiert (30 %). Nachdrücklich wird mindestens ein freier Tag pro Siebentagewoche gefordert.

In jedem fünften Verbesserungsvorschlag (22 %) wird eine höhere Vergütung der erbrachten Arbeit gefordert. 

➔  Eine Betreuungskraft formuliert dies drastisch: „Ich bin nur ein Mensch, keine Maschine. Ich hasse diese endlose Ausbeutung für lächerliche 1.500 Euro“ (ID 1186). Die in diesem Zitat benannte Entlohnung würde mindestlohnkonform 31 Wochenstunden bedeuten. Die Realität zeigt, dass häusliche Betreuungskräfte im Durchschnitt 72 Stunden/Woche arbeiten.

Ein Großteil der häuslichen Betreuungskräfte arbeitet ohne schriftlichen Arbeitsvertrag in Deutschland. Verbreitet sind am ehesten noch Dienstleistungsverträge zwischen Agentur und Betreuungskraft. Die in Arbeitsverträgen definierten Pflichten und Verantwortlichkeiten von Arbeitgebern, z. B. für den Arbeitsschutz, kommen daher für Betreuungskräfte häufig nicht zur Geltung.

In mehreren Vorschlägen werden angemessene vertragliche Regelungen zu den zu erbringenden Arbeitszeiten und Leistungen, inklusive der Kontrolle von deren Einhaltung, gefordert. 

„Die Agenturen in unserer Branche müssen kontrolliert werden und eine Gewerkschaft … gegründet werden. Wir sind jetzt einfach in der Mitte von Nirgendwo, jeder nutzt … unsere Arbeit aus.“ (ID 2569)

„Unternehmen, die Betreuungskräfte beschäftigen, sollten fairerweise Sozialversicherungsbeiträge in Höhe des nationalen Mindestdurchschnitts zahlen, nicht bei den Löhnen schummeln – keine Pauschalen anstelle von Löhnen zahlen.“ (ID 821)

„Die Agenturen, die unsere Tätigkeit organisieren, sollen ihre Kundenfamilien korrekter informieren und die Einhaltung guter Standards für den Arbeitsschutz von Betreuungskräften verlangen.“ (ID 1922)

„Immer genügend Essen zu haben und das Recht haben, das Essen selbst auszuwählen und nicht das, was sie uns geben.“ (ID 2582)

„Es wird gelogen über den Zustand des Patienten, Diagnosen werden aus den Fragebögen gestrichen, sodass man, wenn man an den Arbeitsplatz kommt, schockiert ist.“ (ID 1302)

Als Fazit wird in dem Bericht Arbeit in der häuslichen Betreuung IV, bezeichnenderweise ergänzt um die Überschrift „Dringender Handlungsbedarf“, auf ein Zitat aus der Befragung zurückgegriffen – das leider für sich spricht: 

„Es kann viel über die Probleme und Lösungen gesagt werden, und es wird auch gesagt, aber nur bis dahin! Niemand ist daran interessiert, die dringend notwendigen Änderungen vorzunehmen!“ (ID 689)