Die einen hadern mit der lahmen Anerkennungsbürokratie, die anderen warnen vor „zu vielen“ – und beide müssen sich Fragen gefallen lassen. Es geht um ausländische Ärzte in Deutschland

So ist das bei allen sozialpolitischen Themen. Auch wenn sie nur punktuell mal aufschimmern in der öffentlichen Wahrnehmung oder es gar für einige Tage bis in die Talkshows schaffen – danach verschwinden die meisten in der Versenkung und der nicht professionell damit beschäftigte oder inhaltlich selbst betroffene Mensch könnte zu dem Eindruck gelangen, das Thema ist weg, hat sich erledigt, ist gelöst oder auf sonstige Art und Weise erledigt worden.
Dem ist aber meistens nicht so. Sondern der Mantel des Schweigens hat sich über die Angelegenheit gelegt (bzw. wurde gelegt). Bis es wieder eine Gelegenheit gibt, sich daran zu erinnern, dass da doch mal was war.

Auch in diesem Blog kann man nur auf den ersten Blick erstaunliche Wiederholungen bestimmter Themen nachvollziehen, wenn man denn will. Aber in unserer schnelllebigen Zeit ist es auch die Pflicht der Medien und damit der Berichterstatter, immer wieder nachzuschauen, was denn aus einer Sache geworden ist. Insofern passen aktuelle Meldungen zu einem Beitrag, der hier vor fast einem Jahr, am 27. April 2015, unter der Überschrift Ärztemangel und Ärzteimport: Immer mehr und doch zu wenig. Und dann das Kreuz mit der deutschen Sprache veröffentlicht worden ist. Der damalige Beitrag wurde beendet mit dieser Feststellung: » … wenn man irgendwann feststellen sollte, dass man zu wenig Mediziner ausgebildet hat, dann wird man das nicht per Knopfdruck heilen können. So eine Ausbildung muss organisiert werden und sie dauert einige Jahre.« Und genau daran könnte man anknüpfen, wenn man aktuelle Berichte aus der Krankenversorgungswelt zur Kenntnis nimmt – zugleich Artikel, die den medaillenhaften Charakter vieler sozialpolitischen Themen verdeutlichen können, in dem Sinne, dass eine Medaille immer zwei Seiten hat. 

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„Schöne neue Heilewelt“? Wenn der „schlaue“ Computer den Arzt ersetzen soll. Eine Exkursion in die Tiefen und Untiefen des „Big Business“ Krankenhaus

Fundamentale Veränderungen in der Art und Weise, wie wir arbeiten und wie mit uns umgegangen wird, kommen nicht plötzlich über uns, sondern sie schleichen sich in unser Leben und gerade am Anfang kann man sich oftmals gar nicht vorstellen, welche Kraft in dem, was manche „Pioniere“ ausprobieren, steckt. Wobei der Begriff der „Pioniere“ für die meisten von uns sehr positiv besetzt ist, denn das sind doch die, die Innovationen vorantreiben, Neues wagen usw.

Aber wenn wir ehrlich sind, dann wissen wir doch alle, dass viele Entwicklungen vor allem deshalb vorangetrieben werden, weil sie an Verwertungsinteressen gebunden sind, weil man über sie neue Geschäftsfelder erschließen und mehr Gewinn machen kann. Daran ist ja auch erst einmal nichts auszusetzen in der normalen Welt der Wirtschaft.

So ist das aber auch und zunehmend in der Gesundheits- bzw. besser genauer: Krankenversorgung. Dort tummeln sich im Bereich der Krankenhäuser mittlerweile zahlreiche private, auf Gewinn gerichtete Unternehmen, große profitgetriebene Krankenhauskonzerne sind relevante Player auf dem „Markt“, der allerdings ein ganz anderer ist als die „normalen“ Märkte, auf denen wir uns sonst so bewegen. Die privaten Krankenhausträger haben in den vergangenen Jahren kontinuierlich ihren Anteil an der Krankenhausversorgung ausgebaut und expandieren weiter. Größter Verlierer in diesem Prozess waren und sind die öffentlichen Kliniken, also vor allem die Krankenhäuser in kommunaler Trägerschaft.


Eine dieser großen privaten Player im Krankenhausbereich ist die Rhön-Klinikum AG. Die ist verbandelt mit dem HELIOS-Konzern. Die HELIOS-Kliniken-Gruppe ist einer der größten Anbieter von stationärer und ambulanter Patientenversorgung Europas. Zur Gruppe gehören seit dem 28. Februar 2014 nach der Übernahme von 38 Rhön-Kliniken insgesamt 111 Kliniken, 52 Medizinische Versorgungszentren (MVZ), fünf Rehazentren, zwölf Präventionszentren und 15 Pflegeeinrichtungen. HELIOS beschäftigt rund 68.000 Mitarbeiter. Im Jahr 2014 erwirtschaftete das Unternehmen einen Umsatz von rund 5,2 Milliarden Euro. Die Klinikgruppe gehört zum Gesundheitskonzern Fresenius. Der eine oder andere wird mit Fresenius das hier verbinden: Beim Gesundheitskonzern Fresenius läuft es rund, so ist einer der vielen Pressemitteilungen über die „Erfolgsstory“ dieses Unternehmens betitelt. „In aller Bescheidenheit: Es war wirklich ein grandioses Jahr“, so wird der Vorstandsvorsitzende Ulf Schneider zitiert. »Man habe schon im vergangenen Jahr die eigentlich erst für 2017 gesetzten Ziele erreicht. Eine der Ideen für die Zukunft: ein kostenpflichtiges Patientennetzwerk«, so Michael Braun in seinem Bericht.

Die sich hier bereits andeutende unternehmerische Energie, sich nicht auf den Erfolgen der Vergangenheit auszuruhen, sondern in neue, natürlich: Wachstumsfelder (mit Gewinnperspektiven) vorzustoßen, kann man auch im Krankenhausbereich studieren. Dazu ein Blick auf die Rhön-Uniklinik Marburg. Eine Uniklinik und ein privater Krankenhauskonzern? Ja, man darf kurz erinnern: Bundesweit einmalig war die Privatisierung des Uniklinikums Marburg-Gießen Anfang 2006. Die Rhön-Klinikum AG erwarb für 112 Millionen Euro einen Geschäftsanteil von 95 Prozent. Eine (bis heute) mehr als umstrittene Sache war das, die Proteste dagegen reißen nicht ab. Vgl. dazu auch die Artikel-Sammlung der Frankfurter Rundschau.

In Marburg steigt man jetzt ein in den nächsten Schritt, die „Effizienzmaschine“ Krankenhaus 2016 noch mal und so richtig zu beschleunigen. Ein Blick auf den Sachverhalt:

Am 25.02.2016 kam eine dieser Pressemitteilungen von Unternehmen, die oftmals kaum oder gar nicht beachtet werden, was sich durchaus als Fehler erweisen kann: RHÖN-KLINIKUM AG kooperiert mit IBM bei Optimierung der Patientensteuerung, so ist die überschrieben. Tauchen wir ein in die ganz spezielle Sprache der Betriebswirte:

»Ziel der Kooperation ist es, künftig bereits in der vorklinischen Phase eine datengestützte, versorgungsgerechte Patientennavigation entweder in den ambulanten oder den stationären Bereich sicherzustellen. Zeit- und kostspielige Fehlzuweisungen können dadurch vermieden werden. Zudem dient die Nutzbarmachung von Patientendaten dazu, weitergehende Behandlungsempfehlungen zu unterstützen. IBM bringt in dieses Gemeinschaftsprojekt neue „Cognitive-Computing“-Technologien ein. Kognitive Systeme verstehen natürliche Sprache, können logische Schlüsse ziehen und sind lernfähig. Damit können Daten im Kontext interpretiert und neue Einsichten gewonnen werden – eine wichtige Kompetenz für eine künftig immer stärker IT-gestützte und personalisierte Patientenbehandlung inklusive Diagnose- und Therapievorschlägen. Mit „IBM Watson“ verfügt das Unternehmen zurzeit über eine weltweit führende Technologieplattform für das Cognitive Computing. In der ersten Phase soll das „Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen“ am Universitätsklinikum Marburg von einem kognitiven Assistenzsystem bei der arbeitsintensiven Bearbeitung dieser Fälle unterstützt werden.«

Es lohnt sich, die geschwurbelten Ausführungen zu übersetzen.
Jutta Rippegather hat das versucht mit dieser provozierend daherkommenden Überschrift: Computer ersetzt Arzt. „Optimierung der Patientensteuerung“ hört sich für viele in diesen ökonomistischen Zeiten erst einmal positiv an, zumindest irgendwie neutral. Man kann das aber auch ganz anders sehen, wie beispielsweise der im Artikel zitierte Marburger Kinder- und Jugendarzt Stephan Heinrich Nolte, der sich um die Beziehung zwischen Arzt und Patient sorgt – und nicht nur das:

»Der Kranke werde nach seiner Ankunft im Krankenhaus nicht mehr als Erstes von einem Menschen untersucht, sondern von einem Computer. Dieser schlage dann den diagnostischen Weg vor. Und zwar denjenigen, der für das Unternehmen besonders lukrativ sei.«

Nolte übersetzt das Projekt zwischen Rhön und IBM mit „schöne neue Heilewelt“. Der Computer sei schlau. Es handele sich um „kognitive Systeme“, denen Rhön wahre Wunder zutraut, was man ja auch der Pressemitteilung des Unternehmens entnehmen kann. Aber wenn man dieses Projekt weiter denkt, dann lässt sich eine höchst problematische Entwicklungslinie identifizieren:

 »Der Computer ersetzt den Arzt. „Das würde viele Personalkosten sparen“, sagt Nolte, Mitglied der privatisierungskritischen Initiative Notruf 113. Mit dem Projekt käme Rhön-Gründer Eugen Münch seiner Vorstellung einer medizinischen Versorgung der Zukunft ein ganzes Stück näher: „Der Patient wird erst mal unter den Scanner gelegt und der sagt sofort, was der hat und welches Medikament er braucht.“«

Der Hinweis auf die möglichen Einsparungen bei den Personalkosten ist ein wichtiger, wenn man sich die Kostenstruktur der deutschen Krankenhäuser in Erinnerung ruft, denn zu 60 Prozent handelt es sich um Personalkosten und darunter stellen mittlerweile nicht mehr die Pflegekräfte anteilig den größten Kostenblock, sondern der ärztliche Dienst. Während man in der Vergangenheit angesichts des Kostenanteils vor allem versucht hat, bei den Pflegekräften über Abbau von Stellen und Arbeitsverdichtung eine Kostenentlastung herbeizuführen (mit all den Folgen, die wir heute unter Begriffen wie „Pflegenotstand“ usw. diskutieren müssen), kann man auf diesem „klassischen“ Weg im ärztlichen Dienst nicht vorankommen. Hier muss man den Weg einschlagen einer Automatisierung von Kernkompetenzen der Ärzte, also genau in den angesprochenen Bereichen Diagnostik und Therapie. Denn darüber könnte man je nach Breite der Vorfeldarbeit, die von Maschinen erledigt werden, tatsächlich eine erhebliche Reduktion des ärztlichen Personalbedarfs herbeiführen.

Zusätzlich problematisch wird diese Entwicklung – die uns sicher als eine für die Patienten ganz tolle verkauft werden wird, weil die „schlauen“ Computer alles überprüfen, nichts vergessen und ganz bestimmt die beste Therapieempfehlung geben werden – durch die Verwertungsinteressen eines privaten Klinikbetreibers. Mal ganz nüchtern: Was wäre denn rationales Verhalten eines solchen Unternehmens, wenn es über diese Möglichkeit verfügen würde? Na klar, man wird Strategien entwickeln, die nicht nur „kosteneffiziente“ Behandlungen vorschlagen, sondern das wird sich mischen mit einer „Kunden“-Segmentierung. Wetten, dass Privatpatienten eine ganz andere Diagnostik und Therapie erfahren werden als Kassenpatienten – schlichtweg aufgrund anderer Abrechnungsmechanismen?

Und wenn wir schon im visonären Bereich sind: Welche Perspektiven tun sich auf, wenn man in Zeiten, in denen die Krankenhäuser nach „Qualität“ unterschiedlich vergütet werden sollen, berechnen kann, wie die Erfolgswahrscheinlichkeit bestimmter Therapieansätze ist, vor allem, wenn man dann in der Zukunft auf die personenbezogenen Daten einer „Elektronischen Patientenakte“ zugreifen kann, die vielleicht irgendwann einmal mit Daten über die individuelle Lebensweise der Patienten verknüpft wird? Vgl. hierzu ergänzend den Blog-Beitrag Das war ja zu erwarten. Krankenkassen wollen Fitnessdaten nutzen. Auf der Rutschbahn in eine Welt, die nur am Anfang nett daherkommen wird vom 9. Februar 2016 sowie den Artikel Veräußerung des Innersten und „Eine fundamentale Entsolidarisierung“. Krankheiten sind nicht nur Ausdruck der eigenen Lebensführung. Gespräch mit Stefan Sell).

Eine ganz praktische Empfehlung könnte lauten: Kauft Aktien von solchen Unternehmen. Werdet wohlhabend, wenn ihr genug Geld übrig habt, das man da anlegen kann. Aber ob das alles wirklich anstrebenswert ist, darüber ließe sich mehr als streiten. Man muss darüber streiten, bevor es zu spät sein wird.

100 Prozent Sozialabbau oder doch eine innovative Durchbrechung des Entweder-Oder? Zur Debatte über die Vorschläge einer Teil-Krankschreibung

Vor kurzem hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen im Auftrag der Bundesregierung ein Sondergutachten zum Thema Krankengeld vorgelegt und darin revolutionär daherkommende Vorschläge zur Veränderung der bisherigen Praxis der Krankschreibung von Arbeitnehmern, die dem Entweder-Oder-Modell folgt, zur Diskussion gestellt. Vgl. hierzu den Blog-Beitrag Ein Viertel Krankschreibung könnte doch auch mal gehen. Experten haben sich Gedanken über das Krankengeld gemacht vom 07.12.2015. »An erster Stelle der 13 Vorschläge steht die Teilkrankschreibung nach schwedischem Modell. Statt der in Deutschland geltenden „Alles-oder-nichts-Regelung“ könnte ein Arbeitnehmer je nach Schwere der Erkrankung und in Abstimmung mit seinem Arzt zu 100, 75, 50 oder 25 Prozent krankgeschrieben werden«, so Andreas Mihm in seinem Artikel Braucht Deutschland den Teilzeit-Kranken?

Dieser Vorschlag ist vielerorts auf Skepsis und Ablehnung gestoßen. So bilanziert der Beitrag In Zukunft nur noch teil-krank? Abschied von der Arbeitsunfähigkeit im Betriebsrat Blog: »Worin die angepriesene Flexibilität für Arbeitnehmer liegt und welche Vorteile ihnen die Neuregelung bietet, bleibt erstmal unklar. Sehr greifbar sind dagegen bereits jetzt die Nachteile, denn der Druck auf die Beschäftigten wird durch derartige Regelungen unweigerlich zunehmen. Bereits beim Arztbesuch geriete man als Kranker zukünftig in eine Art Verhandlungssituation: 100% oder vielleicht doch nur 75%? Oder sogar nur 50? Wieviel soll’s denn sein? Und anschließend geht es dann mit der Rechtfertigung bei den Kollegen und Vorgesetzten weiter: Denn mit nur 25% teil-krank ist man ja eigentlich gefühlt noch ziemlich gesund und mit 50% irgendwie noch nicht so richtig voll-krank. Wie krank aber ist krank?« Die Schlussfolgerung überrascht dann nicht: »Unterm Strich erweisen sich die Vorschläge jedenfalls als zu 50% unausgegoren, zu 75% praxisfern und darüberhinaus zu vollen 100% als sozialunverträglich. Dennoch: Der Angriff auf die sozialen Systeme und Standards hat schon vor längerer Zeit begonnen. Dies hier dürfte ein Teil davon sein. Da wird noch einiges kommen.«

Und was sagen die Ärzte zu den Vorschlägen des Sachverständigenrats, die das ja mit den Patienten umsetzen müssten? Die Idee haut Ärzte nicht vom Hocker, so haben Anno Fricke und Jana Kötter ihren Beitrag dazu überschrieben. Sie sehen nicht, wie sich die Teil-AU in der Praxis umsetzen lassen könnte. Hier einige Stimmen, die in dem Beitrag zitiert werden:

„Eine an sich vernünftige Idee“, sagte Ulrich Weigeldt, Vorsitzender des Deutschen Hausärzteverbands, der „Ärzte Zeitung“. Dann jedoch folgte das große Aber: Die Umsetzung dürfte für Ärzte eine enorme, zusätzliche Last bedeuten, weil Arzt und Patient über den Prozentsatz des Restleistungsvermögens diskutieren müssten, sagte Weigeldt.

„Kein Vorschlag, der bis zum Ende durchdacht ist“, lautete auch die erste Einschätzung von Dr. Wolfgang Wesiack, Präsident des Berufsverbands Deutscher Internisten (BDI). Krankheit habe eine objektive und eine wenig konstante subjektive Komponente. Hier zu objektivieren sei nicht möglich. Die Empfehlung des Sachverständigenrates sei geeignet, Ärzte in ein Verhandlungsgeschäft mit den Patienten zu treiben, für das es keine Kriterien gebe, sagte Wesiack der „Ärzte Zeitung“.

Es bestünden erhebliche Unterschiede zwischen einem Sachbearbeiter, einem Dachdecker und einem Piloten, sagte der stellvertretende Vorsitzende des NAV-Virchow-Bundes, Dr. Veit Wambach. Nicht alle Arbeitnehmer könnten gleichermaßen teilgesund geschrieben werden. „Unsere Gesellschaft muss sich fragen, was schwerer wiegt: die ökonomische Leistungsfähigkeit der Arbeitswelt oder Arbeitnehmerschutz und Patientenwohl.“

Immer wieder hervorgehoben werden (mögliche bzw. erwartbare) Probleme in der Rechtssicherheit. Schon heute sei es für einen praktizierenden Arzt „gar nicht möglich, etwa in einem BU/EU-Gutachten rechtssicher genaue prozentuale Abstufungen des verbliebenen Leistungsvermögens vorzunehmen“, wird ein Arzt zitiert.

Vor dem Hintergrund der deutlichen Kritik und Ablehnung ist es natürlich interessant, was die Urheber dieser Diskussion an Argumenten für ihren Vorschlag vortragen. Hierzu hat die Ärzte Zeitung ein Interview mit dem Vorsitzenden des Sachverständigenrates, Professor Ferdinand Gerlach, geführt: „Die jetzige Praxis der Krankschreibung ist realitätsfern“, so ist das Gespräch mit ihm überschrieben. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie sich die Teilzeit-Krankschreibung praktisch umsetzen lässt.

Einleitend verweist Gerlach darauf, dass es das Modell einer Teil-AU auch bei uns schon längst geben würde:

»Was wir vorschlagen, gibt es in Deutschland ja schon. Ab der siebten Woche können Krankgeschriebene nach dem Hamburger Modell schrittweise in den Arbeitsprozess zurückkehren. Das wird gerne genutzt und hat sich in Deutschland absolut bewährt. Wir sagen lediglich, dass man diese Möglichkeit zukünftig nicht erst ab der siebten Woche zur Verfügung haben sollte, sondern in Fällen, in denen das passt, auch schon vorher.«

Bei dem von ihm angesprochenen „Hamburger Modell“ geht es um eine stufenweise Wiedereingliederung in das Arbeitsleben: Ziel der stufenweisen Wiedereingliederung ist es, Beschäftigte unter ärztlicher Aufsicht wieder an die volle Arbeitsbelastung zu gewöhnen. Die stufenweise Wiedereingliederung ist eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation. Grundsätzlich haben alle Beschäftigten nach längerer Krankheit Anspruch auf eine stufenweise Wiedereingliederung durch die Kranken- oder Rentenversicherung. Allerdings gibt es Abweichungen zu den Vorschlägen der Sachverständigen, denn die fordern in ihrem Modell einer Teil-AU die Zahlung eines Teil-Krankengeldes. Das ist im Fall der Rehabilitation anders: Beschäftigte beziehen während der stufenweisen Wiedereingliederung Krankengeld oder Übergangsgeld. Sie gelten auch in dieser Zeit als arbeitsunfähig. Die Gesetzliche Krankenversicherung zahlt während der stufenweisen Wiedereingliederung Krankengeld in voller Höhe. Es gelten dieselben Voraussetzungen, die auch für Zahlung von Krankengeld für Arbeitsunfähigkeit gelten. Bei der Rentenversicherung wird Übergangsgeld gezahlt.

Aber wieder zurück zur Argumentation von Gerlach für die neuen Vorschläge. Er verweist auf vorliegende internationale Erfahrungen:

»In Schweden wird das seit 25 Jahren genau so praktiziert, wie wir das jetzt auch für Deutschland vorschlagen. Das Modell ist dort ausführlich evaluiert worden. Aufgrund der sehr positiven Erfahrungen haben auch Dänemark, Norwegen und Finnland es übernommen. In Österreich wird aktuell darüber diskutiert, es ebenfalls einzuführen. Das könnte allen zu denken geben, die glauben, dass die Teil-AU eine vollkommen abwegige Idee wäre.«

Er betont die Freiwilligkeit der Teil-AU, denn sie »soll nur dann angewendet werden, wenn Arzt und Patient davon überzeugt sind, dass das im Einzelfall eine sinnvolle Maßnahme ist. Ein Fernfahrer kann nicht teilweise arbeiten, ein Dachdecker muss bei seinen Einsätzen zu 100 Prozent fit sein.«
Und für wen könnte das neue Modell passen?

»Denken wir mal an eine Verkäuferin die schwanger ist und sich geschwächt fühlt. Sie sagt, acht Stunden Stehen halte ich nicht mehr durch. Ich könnte vielleicht einen halben Tag arbeiten. Hier hat der Arzt keine Alternative. Er muss sie komplett krankschreiben.
Ein anderes Beispiel: Sie kommen aus dem Skiurlaub zurück und haben sich den Fuß verstaucht. Es gibt viele Arbeitsplätze, an denen Sie dann trotzdem noch am Schreibtisch sitzen und Ihre E-Mails bearbeiten könnten.«

Angesprochen auf die beiden häufigsten Auslöser von Langzeit-Krankschreibungen, Rückenbeschwerden und psychische Störungen, argumentiert Gerlach so:

»… in beiden Fällen wissen wir, dass es vielfach nicht sinnvoll ist, dass Patienten entweder sechs Wochen lang alleine zuhause sitzen, ohne soziale Kontakte, oder sich sechs Wochen lang ins Bett legen und sich schonen.
Im Gegenteil: Es ist medizinisch sinnvoll, dass sie nicht ganz aussteigen, dass sie weiter unter Leute kommen, dass sie sich bewegen. Für den ein oder anderen Patienten mit Rückenleiden könnte es in den ersten sechs Wochen einer Krankschreibung durchaus sinnvoll sein, dass er vormittags zum Beispiel vier Stunden arbeiten und nachmittags zur Physiotherapie geht. Ich weiß aus meiner eigenen zwanzigjährigen Praxiserfahrung, dass es auch viele Patienten gibt , die von sich aus sagen, sie würden gerne wieder arbeiten gehen, weil ihnen sonst zu Hause die Decke auf den Kopf falle.Sie wissen, dass ihre Kollegen für sie mitarbeiten müssen, aber sie selbst halten, auch angesichts der heutigen Arbeitsverdichtung, noch nicht wieder den vollen Stress aus.«

Aus sozialpolitischer Sicht interessant ist natürlich der Vorwurf, hier gehe es nur darum, auf Kosten der Arbeitnehmer zu sparen, was auch durch den Auftrag an den Sachverständigenrat verstärkt wird, denn die Bundesregierung wollte Vorschläge haben, wie man den starken Anstieg der Krankengeldausgaben der Kassen eindämmen kann. Hier verweist Gerlach darauf, dass das nicht der Fall sei, sondern ganz im Gegenteil sogar eine Verbesserung für den Arbeitnehmer erreicht werden könne:

»In den ersten sechs Wochen bekommt jeder Versicherte eine vollständige Lohnfortzahlung. Ab der siebten Woche kommt das Krankengeld, das 70 Prozent des Bruttolohns ausmacht, maximal 90 Prozent vom Netto.
Wenn Sie jetzt das Hamburger Modell anwenden, so wie es heute ist, und Sie gehen halbtags arbeiten, dann bekommen Sie trotzdem nur das Krankengeld. Sie bekommen auch dann nicht mehr, wenn Sie 75 Prozent arbeiten gehen. Der Arbeitgeber muss ja erst dann wieder einen Cent zahlen, wenn Sie 100 Prozent gesund sind.«

Und das Modell des Sachverständigenrates sieht ja vor, dass Krankengeld nur noch als Teil-Leistung für die Teil-AU geleistet wird, während für die Zeit, wo gearbeitet wird, der Arbeitgeber Zahlen muss. Man muss aber genauer hinschauen: Eine Verbesserung im Vergleich zum heutigen „Hamburger Modell“ kann man schon erkennen, keine Frage. Aber die Vorschläge des Sachverständigenrates mit der Teil AU zielen ja vor allem darauf, von Anfang an mit diesem Instrumentarium einer Teil-Kranzschreibung zu arbeiten, also auch in den ersten sechs Wochen, in denen die betroffenen Arbeitnehmer Anspruch haben auf volle Lohnfortzahlung des Arbeitgebers. Wenn man jetzt von Anfang an zu 50 Prozent krank geschrieben wird, dann bekommt man natürlich auch nur 50 Prozent volle Lohnfortzahlung, aber 50 Prozent reduziertes Krankengeld – und muss zugleich noch 50 Prozent arbeiten, so bereits der Hinweis in meinem ersten Blog-Beitrag zu den Vorschlägen.

Aber auch Gerlach sieht diese Problematik und benennt sie auch – er differenziert die „Gewinner und Verlierer“-Bewertung entlang der Scheidelinie einer AU, die in die ersten sechs Wochen mit Lohnfortzahlungsanspruch fällt und eine AU, die darüber hinaus andauert:

»Wenn unser Vorschlag umgesetzt würde, dann hätten die Betroffenen mehr Geld im Portemonnaie. Würde jemand halbtags arbeiten, hätte er nach unserem Modell für diesen halben Tag den vollen Lohn und für die andere Tageshälfte dann die 70 Prozent Krankengeld. Das könnte sogar ein Anreiz sein für die Versicherten, von der Wiedereinstiegsmöglichkeit Gebrauch zu machen.
Während der ersten sechs Wochen hätte allerdings der Arbeitgeber den Vorteil, weil er im Gegensatz zu heute einen Teil der Arbeitskraft als Gegenleistung für die Lohnfortzahlung bekäme.«

Ärztemangel und Ärzteimport: Immer mehr und doch zu wenig. Und dann das Kreuz mit der deutschen Sprache

In der öffentlichen Diskussion tauchen neben den Ingenieuren immer wieder die Ärzte auf, wenn es um die Illustration eines (angeblichen bzw. tatsächlichen) Fachkräftemangels geht. Teilweise muss man den Eindruck bekommen, ganze Landstriche in Deutschland sind ärztefreie Zonen geworden, folgt man der vielerorts dominierenden Medienberichterstattung. Schon ein erster alltagsbezogener Blick auf die komplexe Thematik eröffnet den Blick für die erheblichen Differenzen, die sich bei genauerem Hinschauen offenbaren. Da gibt es tatsächlich zahlreiche eher ländlich strukturierte Regionen, in denen demnächst die letzten Praxen niedergelassener Ärzte, vor allem er so wichtigen Hausärzte, schließen werden, weil die Praxisinhaber in den Ruhestand übertreten. Und selten werden diese Praxen neu besetzt. Auf der anderen Seite gibt es einen verschwenderisch daherkommenden Überschuss vor allem an Fachärzten, die sich in den Groß- und attraktiven Mittelstädten zuweilen stapeln und auf die Gunst der Kunden hoffen. Die Landschaft ist also gekennzeichnet von einer erheblichen Heterogenität der Versorgungslage. Diese massive Ungleichverteilung sollte man im Hinterkopf behalten, wenn dann gleichzeitig die trocken daherkommende Ärztestatistik einen kontinuierlichen Anstieg der Zahl der berufstätigen Ärztinnen und Ärzte offenlegt. Das muss kein Widerspruch sein, ist aber erst einmal für viele irritierend. „Etwas mehr und doch zu wenig“, so bilanziert Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), die Ergebnisse der Ärztestatistik für das Jahr 2014. Die Zahl der ärztlich tätigen Mediziner ist im vergangenen Jahr um 2,2 Prozent auf 365.247 weiter angestiegen – und gleichzeitig wird teilweise der Zusammenbruch der ärztlichen Versorgung an die Wand gemalt. Aber die Wirklichkeit ist – wie so oft – wesentlich bunter als der große Blick von weit oben auf die Zahlen. 

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Wenn Symbolpolitik von der Bürokratie mit Leben gefüllt wird. Die Termingarantie für Krankenkassenpatienten – ein weiteres trauriges Lehrstück aus der Rubrik „Heftpflaster-Politik“

Gesundheit ist für viele Bürger ein Thema, das bei ihnen ganz weit oben steht. Alles, was sich um Gesundheit dreht, wird höchst sensibel verfolgt und viele reagieren allergisch, wenn Sie den Eindruck haben, dass ihre Versorgung im Krankheitsfall eingeschränkt ist bzw. werden soll. Die Politik weiß das sehr genau und ist aus durchaus verständlichen Gründen gerne bereit, mit Symbolpolitik die emotionale Ebene zu bedienen. Genau als eine solche muss man die Ankündigung der Großen Koalition werten, den Kassenpatienten nach immer wiederkehrenden Berichten über tatsächlich oder angeblich sehr lange Wartezeiten für einen Termin bei einem Facharzt. Das regt viele Kassenpatienten auf, befeuert durch den Verdacht bzw. Berichte, dass Privatpatienten mal wieder besser gestellt sind. Vor diesem Hintergrund erkannte man in der Politik die Möglichkeit, diese Gefühlsebene mit einer knackig daherkommenden Idee – nämlich den Betroffenen einen Anspruch auf einen solchen Behandlungstermin innerhalb einer Vier-Wochen-Frist zu gewähren – zu adressieren und das dann auch noch gleich ohne eigene Kosten, denn die Rechnung für die Kosten der Umsetzung sollten praktischerweise andere, in diesem Fall die Kassenärztliche Vereinigungen bezahlen. Und jetzt starten die Gesetzgebungsbürokraten offensichtlich durch.

Ausgangspunkt für das, was sich vor unseren Augen abspielt, waren die Vereinbarungen zwischen den Unionsparteien und der SPD, die im Koalitionsvertrag festgehalten wurden. Dort findet sich auf der Seite 54 der folgende Passus:

»Für gesetzlich Versicherte wollen wir die Wartezeit auf einen Arzttermin deutlich reduzieren. Sie sollen sich zukünftig bei Überweisung an einen Facharzt an eine zentrale Terminservicestelle bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) wenden können. Diese vermittelt innerhalb einer Woche einen Behandlungstermin. Für den Termin soll im Regelfall eine Wartezeit von vier Wochen nicht überschritten werden. Gelingt dies nicht, wird von der Terminservicestelle ein Termin – außer in medizinisch nicht begründeten Fällen – zur ambulanten Behandlung in einem Krankenhaus angeboten. Die Behandlung erfolgt dann zu Lasten des jeweiligen KV- Budgets. Diese Terminservicestellen können in Kooperation mit Krankenkassen betrieben werden.«

Die tun was für uns und gegen die ungerechte Warterei in bzw. vor den Arztpraxen, so die Botschaft an den Wähler. Im Sommer dieses Jahres gab es dann eine erste Diskussion über die Umsetzung dieses Vorhabens.

Mittlerweile gibt es einen Arbeitsentwurf für das „Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung“, in dem auch die Termingarantie geregelt werden soll. Daneben gibt es in diesem geplanten Gesetz viele weitere (und wesentlich wichtigere) Punkte – beispielsweise die Fortschreibung der seit Jahren erkennbaren schrittweisen Lockerung der klassischen, tradierten Dichotomie der Versorgungslandschaft in Einzelpraxen niedergelassener Ärzte hier und Krankenhäuser dort (vgl. dazu Entwurf für ein neues Versorgungsgesetz kursiert in Berlin sowie Ein Gesetz für junge Ärzte). Gerade die weitere Ermöglichung von teamorientierten Versorgungsstrukturen sind wichtige und richtige Schritte zur Sicherung und Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen.

Aber für die „Termingarantie“ gilt das nicht. Bereits im Sommer dieses Jahres wurde das Thema kontrovers und ablehnend diskutiert. In dem Beitrag Kassenärzte: Lange Wartezeiten sind nur ein Komfortproblem konnte man beispielsweise lesen:

»Nach einer aktuellen Erhebung der Forschungsgruppe Wahlen hat es nur jedem Zehnten bei seinem letzten Arztbesuch mit der Terminvergabe zu lange gedauert. Und drei von vier Patienten legen Wert darauf, im Fall des Falles von ihrem Wunsch-Facharzt behandelt zu werden und nicht von irgendeinem Mediziner, der ihnen von einer Terminvergabestelle vermittelt wird.«

Der Befragung der Versicherten kann man weitere Details entnehmen: »Der Studie zufolge, für die mehr als 6000 Bundesbürger befragt wurden, erhielten 62 Prozent der Patienten im vergangenen Jahr innerhalb von drei Tagen einen Arzttermin. Allerdings gaben auch 24 Prozent an, beim letzten Versuch länger als drei Wochen auf eine Behandlung beim Facharzt gewartet zu haben. Zudem belegt die Umfrage, dass es sich dabei vor allem um ein Problem der gesetzlich Versicherten handelt. Von den Privatpatienten mussten sich nur vier Prozent länger als drei Wochen gedulden.« Für eine längere Wartezeit kann es viele Gründe geben – von einer Unterversorgung vor Ort über Organisationsprobleme in den Praxen, aber auch der Tatsache, dass man sich mehr Zeit nimmt für die Behandlung bis hin zu einer Überinanspruchnahme seitens der Patienten. In der Berichterstattung und in der Wahrnehmung vieler Versicherter geht es aber – ob bewusst oder unbewusst – überwiegend um die Annahme, dass den Kassenpatienten bewusst Zugänge zu einer fachärztlichen Behandlung verwehrt werden.

Wie dem auch sei – nun soll sie also kommen, die „Termingarantie“ und der Aufbau einer neuen Infrastruktur in Form der Terminvergabestellen. Immerhin werden dann Arbeitsplätze geschaffen, könnte man zynisch anmerken.

Aber der Teufel treibt sich bekanntlich sehr gerne im Detail herum. In diesem Fall im Detail der gesetzgeberischen Umsetzung. Und was sagt jetzt der kursierende Arbeitsentwurf aus dem Bundesgesundheitsministerium?
Termingarantie wird aufgeweicht, berichtet Timot Szene-Ivanyi. Rudert man also schon zurück? Hat man erkannt, dass bei einer Umsetzung die Lebensweisheit „Außer Spesen nichts gewesen“ Realität werden wird? Wenn dem so wäre … Tatsächlich aber bläht man das zweifelhafte Unterfangen noch mehr auf, denn:

»Die Verpflichtung der geplanten ärztlichen Servicestellen, jedem gesetzlich Versicherten einen Termin beim Facharzt  mit einer Wartezeit von maximal vier Wochen zu vermitteln, soll lediglich unter bestimmten Voraussetzungen gelten … Danach muss die Vier-Wochen-Frist nur dann eingehalten werden, wenn eine Behandlung  innerhalb dieses Zeitraumes tatsächlich auch  „medizinisch erforderlich“ ist. Eine Terminvergabe innerhalb der vier Wochen ist nach der Gesetzesbegründung zum Beispiel dann nicht nötig, „wenn keine Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand ohne Behandlung verschlechtert oder eine längere Verzögerung zu einer Beeinträchtigung des angestrebten Behandlungserfolges führt“. In diesem  Fall müssen die Service-Stellen einen  Termin nur noch in einer „angemessenen Frist“ vermitteln.«

Oh mein Gott – jeder, der sich ein wenig auskennt, weiß, was das bedeutet bzw. bedeuten kann. Man führt also nicht nur die an sich schon fragwürdige „Termingarantie“ ein, sondern verschlimmbessert die auch noch. Denn wann ist eine Behandlung wirklich „medizinisch erforderlich“ und wann nicht? Und wer entscheidet darüber? Auf welcher Grundlage? Und muss dann der Betroffene nicht auch die Möglichkeit zum Widerspruch bekommen? Eine gigantische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Gesetzgebungsausleger und -interpretierer tut sich hier auf. Auf alle Fälle » bekommen die Servicestellen, die von den Ärzten und ihren Verbänden ohnehin strikt abgelehnt werden,  einen erheblichen Ermessensspielraum bei der Bearbeitung der Anfragen von Patienten.« Das ganze Unternehmen wird – sollte das Gesetz werden – erst frühestens zum Herbst 2015 wirksam werden können, denn die Ärzte und die KVen haben nach Verkündigung des Gesetzes (was für das Frühjahr 2015 geplant ist) sechs Monate Zeit, bevor sie die Servicestellen umsetzen müssen.

Und warum ist der ganze Ansatz grundfalsch? Weil den Versicherten vorgegaukelt wird, dass sich an ihrer Versorgung etwas verändert, das aber nicht nur nicht passieren wird, sondern zugleich befördert die Politik auch ein fragwürdiges Verständnis von solidarischer Versorgung bei einem Teil der Versicherten:

  • Zum ersten Punkt: Wie schon die Versichertenbefragung gezeigt hat, finden die Versicherten eine Termingarantie zwar toll, aber „selbstverständlich“ in Form eines Wunschtermins bei ihrem Wunscharzt. Wir können uns schon rein gedanklich vor Augen führen, was mit vielen Terminvorschlägen der „Servicestellen“ passieren wird, wenn die Betroffenen erfahren, dass sie zu einem ganz anderen, ihnen unbekannten Arzt gehen müssen. Und diese Termine mussten dann vorher zwischen Servicestelle und der Arztpraxis vereinbart werden, wobei viele Termine dann abgesagt oder nicht in Anspruch genommen werden. Und auch die wohlfeile Regelung, dass man – wenn es nicht gelingt , irgendeinen Termin bei irgendeinem Facharzt zu bekommen – in das Krankenhaus gehen kann und sich dort ambulant behandeln lassen kann, wird zu Begeisterungsstürmen on den Kliniken führen, die offensichtlich mit dem Problem nicht ausgelasteter Kapazitäten konfrontiert sind. Ironie aus.
  • Zum zweiten Punkt: Wenn man konsequent mit Blick auf das eigentliche Problem gewesen wäre, dann würde man die eben auch vorhandene problematische Verhaltensweise eines Teils der Versicherten/Patienten nicht einfach völlig ausschließen. Denn viele Arztpraxen berichten, dass oftmals vereinbarte Termine seitens der Patienten nicht wahrgenommen, aber auch nicht vorher abgesagt werden. Das führt dann dazu, dass es auf einmal Leerzeiten gibt in den Praxen bzw. diese reagieren darauf, in dem sie das antizipieren und „doppelt“ besetzt einladen, was allerdings zu erheblichen Wartezeiten in der Praxis führen kann, weil weniger Termine ausfallen, als man erwartet hatte. Letztendlich – ob bewusst oder unbewusst herbeigeführter Kollateralschaden – verstärkt man die teilweise mehr als problematische Anspruchshaltung eines Teils der Versicherten/Patienten.

Fazit: Einfach mal sein lassen, diese ressourcenfressenden Selbstbeschäftigungsschleifen als Folge einer „Pflaster-Politik“, die man nur als Aktivitätssimulation bezeichnen muss, die aber in der Konsequenz eine Menge Nerven und Arbeitszeit kosten wird und sich lieber der tatsächlichen Verbesserung oder wenigstens Sicherstellung des noch vorhandenen Leistungsangebots widmen. Und da gibt es wahrlich genug zu tun.

Foto: © Stefan Sell