Wenn „Dialoger“ um Mitglieder für das Gemeinwohl werben und sich dabei in sittenwidrigen Vergütungsmodellen verfangen

Es gibt zahlreiche Verbände, die sich das Gemeinwohl auf die Fahnen geschrieben haben – und die für die Umsetzung ihrer Ziele vor allem Mitglieder brauchen. Besonders gebraucht werden zahlende Mitglieder neben denen, die ehrenamtlich der eigenen Organisation ihre Zeit und ihr Engagement zur Verfügung stellen. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus verständlich, dass diese Organisationen immer wieder auf die Suche gehen müssen nach neuen Mitgliedern, um die eigene Existenz sichern zu können. Zuweilen – denn das ist heutzutage ein mehr als mühsames Unterfangen – werden dann auch professionelle Agenturen beauftragt, sich dieser Aufgabe zu widmen und effektiver und effizienter als mit Bordmitteln möglich den auftraggebenden Organisationen die neuen Ressourcen zuzuführen. Verständlicherweise wollen die Agenturen dafür bezahlt werden, denn sie machen das ja nicht für Gottes Lohn. Und die, mit denen sie das dann umsetzen, die wollen und sollen natürlich auch bezahlt werden. Und bei denen fängt das Problem an.

Werber für DRK und BUND arbeiten oft für Hungerlöhne, so die prägnante Überschrift eines Artikels von Hannes Koch. Und er berichtet von Dingen, die hinter denen, die an vielen Haustüren klingeln (müssen), ablaufen und die so gar nicht zu dem passen, wofür sie da werben.
Koch berichtet beispielhaft von einem Berliner Schüler, der sich auf eine Anzeige gemeldet hat, die attraktive Arbeitsbedingungen versprach, unter anderem eine „Vergütung von etwa 2000 Euro pro Monat plus Prämien“. Mehrere Wochen sollte er Mitglieder werben für den Umweltverband BUND. Konkret: »Die Tätigkeit bestand darin, von Haustür zu Haustür zu gehen, zu klingeln, vielleicht 100 Gespräche am Tag zu führen und auf diese Art zahlende Unterstützer für den Umweltverband zu gewinnen.« Solche Leute nennt man heute „Dialoger“.

Das Ergebnis allerdings war ernüchternd: »Als Entlohnung für zwölf Arbeitstage mit jeweils neun Stunden im Spätsommer  2013 habe er unter dem Strich 201,20 Euro erhalten, erklärt er unserer Redaktion. Umgerechnet ergibt dies einen Stundenlohn von rund zwei Euro.«

Screenshot des „Sozialökonomischen Impulszentrentrums“
von „holub.stein.partner“: www.hsp-werbung.com (27.04.2014)

Der zum „Dialoger“ mutierte Berliner Schüler war unterwegs im Auftrag der Agentur Holub, Steiner und Partner GmbH. Der Zweig des Unternehmens, der professionelles Fundraising für Non-Profit-Unternehmen anbietet (und sich selbst mit dem Phantasienamen „Sozialökonomisches Impulzentrum“ tituliert), firmiert in Herbolzheim.

Dieses Unternehmen betreibt Werbung für den BUND, das Deutsche Rote Kreuz, den Malteser Hilfsdienst und andere Organisationen. Die Rubrik „Referenzen“ auf der Webseite des Unternehmens – auf der man mit Fotos von Werbeaktionen für das DRK wie auch den BUND für sich selbst zu werben versucht – ist (mittlerweile?) allerdings leer.

Zurück zu dem Berliner Schüler, der behauptet, 201,20 Euro für zwölf Arbeitstage erhalten zu haben. Dem widerspricht das Unternehmen, denn nach dessen Angaben »betrug der „Verdienst“ des Schülers allerdings 496,87 Euro. Davon seien jedoch 246,30 Euro für Kosten abgezogen worden, die die Firma ausgelegt habe. Außerdem habe die Agentur eine „Stornorücklage“ einbehalten, die erst 2015 an den Schüler ausgezahlt werde, falls die von ihm geworbenen BUND-Mitglieder weiterhin Beiträge entrichten.« So kann man das dann eindampfen.

Bei der Bezahlung setzt die Agentur auf ein Provisionsmodell. In der ersten Woche werden die „Kosten für Quartier, Benzin und Auto“ übernommen. „Ab der zweiten Woche arbeitet der Dialoger auf reiner Erfolgsbasis“, so wird der Geschäftsführer Horst Holub in dem Artikel von Hannes Koch zitiert. Und weiter erfahren wir von Holub zu dem hier wirkenden Geschäftsmodell:
Weil die Werber als Selbstständige tätig seien, „müssen sie natürlich ab der zweiten Arbeitswoche ihre Wohnung, anteilige Benzinkosten und so weiter selber bezahlen. Und dass die Kosten für die eigene Verpflegung von Anfang an selbst getragen werden, ist selbstverständlich.“

Die Logik des Provisionsmodells einer fast vollständigen Risikoverlagerung auf die Dialoger an der Front lässt sich so ausdrücken: »Wer, wie der Berliner Schüler, wenige Neumitglieder für den BUND wirbt, verdient sehr wenig.« Und dann kann man ja immer behaupten, dass es aber andere geben soll, die angeblich ganz viel Geld verdienen. Weil sie eben besser sind.

Nun ist es so, dass Arbeitsgerichte Verträge, die eine ausschließlich provisionsorientierte Bezahlung festlegen, oftmals für unwirksam erklären. Weil die Arbeitnehmer das vollständige Risiko der Tätigkeit trügen, würden solche Arbeitsverhältnisse als sittenwidrig nach Paragraph 138 des Bürgerlichen Gesetzbuches eingestuft. In dem Artikel wird ein Arbeitsrechtler zitiert mit der Aussage: „In der Regel gilt, dass höchstens ein Viertel des Entgelts erfolgsabhängig gezahlt werden darf.“
Der BUND arbeitet bereits seit Mitte der 1990er Jahre mit der Agentur zusammen und deren Vergütungsmodell gilt auch für die Werber, die für andere Organisationen unterwegs sind, also auch für das DRK.

Der DRK-Bundesverband ist Mitglied im Spendensiegel des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen, einem Ethikkodex für wohltätige Organisationen. In dessen Leitfaden steht, dass „eine ausschließlich erfolgsabhängige Vergütung“ untersagt ist. „Der erfolgsabhängige Anteil beträgt höchstens 50 Prozent der jeweiligen Vergütung.“

Das ist natürlich ein gewisser Widerspruch zu der Bezahlungspraxis für die Dialoger der Agentur, die im Auftrag des DRK unterwegs sind. Wie kann das zusammen gehen?

»DRK-Sprecher Dieter Schütz: Nicht der Bundesverband betreibe die Mitgliederwerbung, „sondern die rechtlich völlig selbstständigen 500 Kreisverbände des DRK“. Das Rote Kreuz wisse jedoch, dass „Verbesserungsbedarf“ bestehe. Deswegen laufe ein „verbandlicher Abstimmungsprozess“.«

Ach ja, der immer wiederkehrende Spagat zwischen gut Reden und schlecht Handeln. Nun muss aber abschließend – und die Verantwortung der auftraggebenden Organisationen sogar noch zuspitzend – darauf hingewiesen werden, dass es nicht nur eine Drückerkolonnen-Welt bei der Werbung um neue Mitglieder für die vielen guten Sachen gibt, sondern andere Organisationen gehen offensichtlich anders damit um, was dann auch wieder Hoffnung macht, die anderen als das zu markieren, was sie sind: schwarze Schafe:

»Dialoger, die für Greenpeace arbeiten, bekommen beispielsweise einen Grundlohn von 8,50 Euro pro Stunde unabhängig von ihrem Werbeerfolg. Diese Vereinbarung gilt laut den Arbeitsverträgen zunächst für eine Probezeit von einem halben Jahr. Bei der Organisation Foodwatch erhalten Unterschriftensammler derzeit mindestens acht Euro pro Stunde, 8,50 Euro ab Mai 2014.« Geht doch.

Rente mit 63 (für einige) in Zeiten der Rente mit 67 bei uns, die Rente mit 72 möglicherweise in den Niederlanden und in China streiken die Arbeiter für irgendeine Rente

In diesen sozialpolitisch wieder einmal bewegten Tagen kreist die Debatte neben dem anstehenden gesetzlichen, mehr oder weniger flächendeckenden Mindestlohn in Deutschland vor allem um das Rentenpaket der Großen Koalition und dabei vor allem um die „Rente mit 63“, die heftige Kontroversen auslöst. Zuweilen muss man den Eindruck bekommen, wir werden konfrontiert mit der unseligen Formel „Mindestlohn von 8,50 Euro + abschlagsfreie Rente mit 63 = Untergang des deutschen Wirtschaftssystems“. In dieser Gemengelage hat sich sogar über die scheinbar ansonsten themenarmen Osterfeiertage ein EU-Kommissar namens Oettinger zu Wort gemeldet mit dem Hinweis, eigentlich bräuchte man in Deutschland die Rente mit 70. Da liegt die Frage nahe: Bietet jemand mehr? Geht da noch was? Unabhängig von der Feststellung, dass man die tatsächlichen oder auch nur angeblichen Rentenprobleme konsequent lösen könnte, wenn alle so lange arbeiten, bis sie in die Kiste fallen, betreten nun scheinbar die Niederländer die Bühne, um sich als Meistbietende zu platzieren: In Rente mit 72, so ist ein Artikel von Gert-Jan Dennekamp überschrieben.

Bevor wir zu den 72 Jahren kommen, einige wenige kursorische Hinweise auf die Besonderheiten des Alterssicherungssystems in den Niederlande (für eine genauere Darstellung vgl. ausführlicher Das niederländische Rentensystem Eine Übersicht über die wichtigsten Aspekte): Dort gibt es eine Basisrente für alle. Unabhängig von Löhnen und eingezahlten Beiträgen. Es gibt eine wichtige Voraussetzung für den Bezug der Basisrente: Man muss 50 Jahre in den Niederlanden gelebt haben. Das “Algemene Ouderdomswet” (AOW) ist ein Basiseinkommen und seine Höhe ist an den gesetzlichen Mindestlohn gekoppelt. Verheiratete und gleichgestellte unverheiratet Lebenspartner erhalten 50% des Mindestlohns (ca. 700 Euro Brutto im Monat). Alleinstehende erhalten mehr, nämlich 70% des Mindestlohns (ca. 1.000 Euro Brutto im Monat). Auch Personen, die nicht arbeiten, erwerben im Laufe der Jahre einen Anspruch auf die Basisrente. Diese erste Säule des niederländischen Rentensystems wird im Umlageverfahren von den Berufstätigen finanziert, hinzu kommen allgemeine Steuermittel.

Die zweite Säule besteht aus der kollektiven betrieblichen Altersversorgung. Diese Form der Altersversorgung kann bei einem Pensionsfonds oder bei einer Versicherung untergebracht sein. In den Niederlanden sind Pensionsfonds rechtlich und finanziell von den Unternehmen getrennt. Die meisten Rentengelder werden von Pensionsfonds verwaltet. Diese zweite Säule basiert auf der Kapitaldeckung. In den Niederlanden gibt es drei Arten von Pensionsfonds: Branchenpensionsfonds (für eine gesamte Branche, zum Beispiel Beamte, Bau, Gaststätten oder Einzelhandel), Unternehmenspensionsfonds (für ein einzelnes Unternehmen oder einen Konzern) und Pensionsfonds für Freiberufler, wie zum Beispiel medizinische Fachkräfte oder Zahnärzte. Wichtig zu wissen: Pensionsfonds sind nicht gewinnorientiert. Es handelt sich um Stiftungen, die als eigenständige juristische Person nicht zu einem Unternehmen gehören. Die Verwaltungskosten der Pensionsfonds und en Niederlanden wurden mit niedrigen 3,5% angegeben – man muss diese Werte sehen im Vergleich zu den Lebensversicherungen, die individuelle Leibrentenversicherungen anbieten. Für diese wurden durchschnittliche Kosten (zu denen bei den Versicherungen auch die typischerweise anfallenden erheblichen Marketingkosten sowie die Gewinnspannen gehören) von 25,7% ausgewiesen, die dann natürlich nicht für den Aufbau von Rentenansprüchen der Versicherten zur Verfügung stehen können. Mehr als 90% der Arbeitnehmer sind Mitglied eines Pensionsfonds. Auch in den Niederlanden gibt es eine dritte Säule, die individuellen Rentenprodukte, mit denen man sich – teilweise steuerlich gefördert – eine Zusatzrente aufbauen kann.

Jetzt wieder zurück zu den 72 Jahren: Die demografische Entwicklung belastet auch die Pensionsfonds. Für die zu erwartenden zusätzlichen Rentenjahre aufgrund der Erhöhung der Lebenserwartung haben die Arbeitnehmer bislang keine zusätzlichen Prämien gezahlt.

»Vor einigen Jahren haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer deshalb beschlossen, das Alter, ab dem die Beschäftigten ihre Zusatzrente ausgezahlt bekommen, automatisch an die steigende Lebenserwartung zu knüpfen.
Die damalige liberal-konservative Regierung hat diesen Plan aufgenommen. Das Parlament beschloss vor knapp zwei Jahren, dass das Rentenalter von bislang 65 Jahren auf 66 Jahre im Jahr 2019 und 67 im Jahr 2023 steigt. Die aktuelle Regierung, an der neben den Rechtsliberalen auch die sozialdemokratische Partei der Arbeit beteiligt ist, will das ganze nun beschleunigen. Schon 2021 soll das Renteneintrittsalter bei 67 Jahren liegen.
Aber damit noch nicht genug: Sollte die durchschnittliche Lebenserwartung wie erwartet zunehmen, soll auch das Renteneintrittsalter über 67 hinaus angehoben werden. Für einen jungen Niederländer, der heute 25 Jahre alt ist, könnte das bedeuten, dass er bis zum 72. Lebensjahr arbeiten muss«, so Dennekamp in seinem Artikel.

Dass die Pensionsfonds seit einigen Jahren in Schwierigkeiten sind, hat aber nicht nur damit zu tun, dass zu wenige Prämien eingezahlt und den Rentnern zu viel Rente versprochen wurde. Pensionsfonds gerieten im Zuge der Finanz- und Eurokrise in erhebliche finanzielle Schwierigkeiten. Ihre Reserven verdampften – ein Aspekt, der erneut auf ein besonderes Grundrisiko kapitalgedeckter Systeme verweist.

Angeblich würde die Mehrheit der Niederländer mittlerweile die Pläne hinsichtlich der Rente mit 67 akzeptieren, nicht aber den nun in Aussicht gestellten weiteren Anstieg.
Die Debatte über die Rente mit 67 und die dahingehend vorgenommenen Weichenstellungen haben ihre Spuren in den Zahlen des Renteneintrittsalters hinterlassen:

»Fast die Hälfte aller neuen Rentner der vergangenen Jahre waren mehr als 65 Jahre alt. Im Schnitt gingen die Niederländer mit 63,9 Jahren in Rente. Zum Vergleich: In Deutschland gehen Männer im Schnitt mit 61,2 Jahren und Frauen mit 60,8 Jahren in Rente.«

So weit ein Lagebericht aus dem Nachbarland. Und China? Was hat China in der Rentendebatte verloren? Dazu gibt es einen interessanten Blog-Beitrag von Felix Lee: China hat ein riesiges Rentenproblem. Er weist darauf hin, dass lange Zeit an irgendeine institutionelle Altersversorgung gar nicht zu denken war: Als ab den frühen neunziger Jahren Millionen von jungen Chinesinnen und Chinesen vom Land in die Industrieregionen der südchinesischen Provinz Guangdong zogen, ging es nur um die laufenden Einkommen, die Menschen bekamen wenige Hundert Yuan im Monat, umgerechnet unter 50 Euro.

»Die Löhne der Wanderarbeiter in der Region sind inzwischen zwar gestiegen  auf inzwischen mehrere Hundert Euro im Monat. Die Fabrikarbeiter sind zugleich aber auch älter geworden. Lag ihr Durchschnittsalter zu Beginn der neunziger Jahre noch bei unter 20 Jahre, haben viele von ihnen nun das 50. oder 60. Lebensjahr erreicht,«, schreibt Lee in seinem Beitrag.

»Eine ausreichende Sozial- und Altersversorgung bietet ihnen die Mehrzahl der Unternehmer trotz eindeutig staatlicher Vorgaben jedoch nicht. Das ist der Grund, warum Zehntausende Fabrikarbeiter beim weltgrößten Zulieferer für Schuh- und Sportartikel Yue Yuen Industrial seit drei Wochen streiken …  Bei Yue Yuen arbeiten etwa 40.000 Menschen. Das Unternehmen beliefert neben Adidas unter anderem auch Puma, Nike und Timberland. Vergangenes Jahr wurden nach Firmenangaben etwa 300 Millionen Paar Schuhe hergestellt … Der Arbeitsausstand bei Yue Yuen ist der größte und am längsten andauernde Arbeiterprotest in China seit Langem … Doch das Problem ist nicht auf Yue Yuen beschränkt und es zeigt einen wunden Punkt im rudimentären chinesischen Sozialsystem. Die erste Generation der Wanderarbeiter, die China zur prosperierenden Werkbank der Welt machte, steht mittlerweile vor dem Ruhestand. Für Millionen von ihnen sind jedoch die Rententöpfe leer. Arbeitsmarktexperten weisen seit einigen Jahren darauf hin, dass Unterfinanzierung der Sozialfonds durch die Betriebe ein Problem ist, das sozialen Zündstoff birgt.«

Allein in diesem Jahr gab es nach Angaben der Arbeiterrechte-Organisation China Labour Bulletin bislang fast ein Drittel mehr Streiks als vor Jahresfrist. Dies ist der stärkste Zuwachs seit der globalen Finanzkrise. Ein spannender Nebenaspekt: Die Zentralregierung in Peking scheint derzeit die Proteste laufen zu lassen. Felix Lees Erklärungsansatz: »Über viele Jahre war es der Regierung nicht gelungen, die arbeitsrechtlichen Bestimmungen gegenüber den Unternehmern durchzusetzen. Der Protest soll es nun offenbar richten.«

Die Apologeten der „privaten Vorsorge“ haben viel zu tun diese Tage – neben der Rettung der Rentengeschäfte jetzt auch noch die Pflegebaustelle

Es ist aber auch wirklich viel los auf den sozialpolitischen Baustellen der Republik – neben dem Mindestlohn und dem „Rentenpaket“ soll nun auch eine „Pflegereform“ kommen. Und bei Rente und Pflege muss die wissenschaftlich daherkommende Prätorianergarde der Finanzindustrie an die Front geworfen werden. Was die meistens schon von alleine tun. Neben dem Werben um die – verständlicherweise – verunsicherten Menschen hinsichtlich ihrer (sinkenden) Bereitschaft, privat für den eigenen Ruhestand Riester- und sonstige Verträge abzuschließen und der Propagierung der noch nicht so verbrannten, obgleich bei genauerem Hinschauen äußerst fragilen betrieblichen Altersvorsorge als neues Geschäftsfeld für Banken und Versicherungen (vgl. hierzu: Rürup „rettet“ wieder mal die Rente. Fragt sich nur, welche), widmet man sich nun der anstehenden „Reform“ der Pflegeversicherung – und dabei insbesondere der geplanten Einführung eines so genannten „Vorsorgefonds“, der mit über einer Milliarde Euro aus Beitragsmitteln der Pflegeversicherung gespeist werden soll. Diesem „Vorsorgefonds“ kann man aus einer „klassischen“ sozialpolitischen Sicht nur mit einem irritierten Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen, denn es ist schon ein einmalige Sache, dass man in einer umlagefinanzierten Sozialversicherung ein kapitalgedecktes Sparbuchmodell installieren will (dazu bereits: Die Pflege und das Geld: Wiederbelebungsversuche der „Bürgerversicherung“ und Wiederauferstehung der Kapitaldeckung im Mäntelchen eines „Vorsorgefonds“). Aber nun muss man ebenfalls zur Kenntnis nehmen, dass Rürup, Raffelhüschen & Co. auch gegen den Fonds Sturm laufen. Sind die übergelaufen in das Lager derjenigen, die von der Sinnhaftigkeit eines umlagefinanzierten, allerdings anders als heute aufgestellten sozialen Sicherungssystems überzeugt sind?

Um jede Hoffnung gleich im Keim zu ersticken – so ist es leider nicht, sondern man lehnt etwas ab, was auf den ersten Blick doch den eigenen immer wiederkehrenden Forderungen nach mehr Kapitaldeckung entspricht, das aber deshalb bekämpft werden muss, weil es die wirklichen Geschäfte gefährden könnte.

Ihre Stimme hat Gehör gefunden in solchen Artikeln: Ökonomen nennen Pflegereform „Unfug“, so ein Beitrag von Dorothea Siems. Schon der Untertitel offenbart die Stoßrichtung: »Jetzt Geld in einem Topf sammeln, um ab 2030 damit die Pflegekosten zu dämpfen. Dieser Plan der Regierung entsetzt Experten. Die Vergangenheit zeige, dass Politiker Ersparnisse oft zweckentfremden.«
„Deutschlands führende Sozialexperten“ – darunter macht man es heutzutage semantisch nicht mehr – warnen die große Koalition vor einer falschen Weichenstellung in der Pflegeversicherung, meint Frau Siems. So wird der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen zitiert mit den Worten, die geplante Pflegereform des Bundesgesundheitsministers Größe (CDU)  bedeute eine „Verteilung von Wohltaten und verschärfe die langfristig ohnehin großen Finanzierungsprobleme erheblich“.

  • Raffelhüschen ist Mitglied im Aufsichtsrat der ERGO Versicherungsgruppe sowie der Volksbank Freiburg. Des Weiteren ist er als wissenschaftlicher Berater für die Victoria Versicherung AG in Düsseldorf tätig. Er ist außerdem Mitglied des Vorstands der Stiftung Marktwirtschaft. Darüber hinaus ist er als Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft tätig, einer Lobbyorganisation der Metall-Arbeitgeber.
Raffelhüschen plädiert für eine „Rückbesinnung auf die Eigenverantwortung“. Was aber solle das heißen? Sicher nicht die Eigenverantwortung der Menschen, die sich darin niederschlägt, dass sie jeden Monaten viel Geld als Beiträge in die Sozialversicherung einzahlen, wenn sie nicht Beamte oder sonstige Ausnahmefälle sind. Er meint etwas anderes:

»“Wir sollten in der Pflegestufe I eine Karenzzeit einführen, während der die Sozialversicherung noch keine Leistungen auszahlt“, fordert der Ökonom. Man könnte mit drei oder sechs Monaten starten und dann die Karenzzeit auf ein Jahr ausweiten. „Statt die Solidargemeinschaft für jeden Pflegefall zahlen zu lassen, sollen wir uns in der Sozialversicherung darauf beschränken, das Großrisiko der teuren Langzeitpflege abzudecken“, so Raffelhüschen.«

In diesem Konzert darf Bert Rürup nicht fehlen: »Der frühere Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Bert Rürup, nannte Gröhes Vorhaben, bei der Bundesbank einen staatlichen Vorsorgefonds aufzulegen, „Unfug“.« Und noch einer wird in Stellung gebracht bzw. tut das selbst: »“Mit der geplanten Pflegereform wird – ebenso wie mit den neuen Rentenleistungen – die verdeckte Staatsverschuldung erhöht“, warnte der Direktor des Max Planck Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik, Axel Börsch-Supan

Der nun wiederum zeigt, dass auch Wissenschaftler ganz volksnah sprechen können:

»Auch Börsch-Supan hält nichts von dem geplanten Pflegefonds. „Man lässt den Hund nicht auf den Wurstvorrat aufpassen.“ Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigten, dass Regierungen angespartes Kapital immer nutzten, um Haushaltslöcher zu stopfen, so der Ökonom.«

»Bert Rürup warnt ebenfalls: „Kapital einer öffentlichen Kasse ist – auch wenn es von der Bundesbank verwaltet wird – nicht vor dem Zugriff durch die Politik gefeit.“«

Sie sind richtig besorgt um die anzulegenden Gelder und sollen die bei vielen Bürgern tief  verankerten Abwehrreflexe gegen „den“ Staat wecken.
Rürup argumentiert wieder einmal – zumindest wenn man der vorliegenden Berichterstattung folgt – am stringentesten:

»Der Minister gehe fälschlicherweise davon aus, dass die Beitragsbelastung nur in den Jahren 2035 bis 2055 sehr hoch sei, weil dann die geburtenstarken Jahrgänge hochbetagt sein würden und die Zahl der Pflegefälle dann besonders groß sei … „Wir stehen … nicht vor einem Berg an Pflegebedürftigen, den man untertunneln könnte, sondern vor einem Plateau“, stellte der Wissenschaftler klar. „Wenn der Kapitalstock Mitte der 2050er Jahre aufgebraucht ist, springt der Beitragssatz wieder genau auf die Höhe, auf der er auch ohne diese temporäre Kapitalrücklage liegen würde.“«

Ja warum kritisieren die denn ein Modell, das doch eigentlich – prima facie – all dem entspricht, was sie ansonsten immer gerne propagieren? 
Die Antwort darauf ist relativ einfach und ernüchternd: Man will wie so oft im geschäftlichen Leben lästige Konkurrenz vermeiden. Denn wenn der Staat einen Vorsorgefonds einrichtet und von der Bundesbank verwalten lässt, dann könnten ja die Betroffenen auf die Idee kommen, dass man sich dann nur noch weniger oder gar nicht privat gegen das Pflegebedürftigkeitsrisiko absichern muss.
Und die eigentliche Stoßrichtung der Akteure wird in solchen Zitaten erkennbar:

»Ein Großteil der Leistungen der Pflegeversicherung gehe heute an Menschen, die gar nicht darauf angewiesen seien. Denn 80 Prozent der Menschen seien finanziell durchaus in der Lage, privat Vorsorge zu betreiben. Für den Rest habe die Gesellschaft auch schon vor der Einführung der Pflegeversicherung die Leistungen über die Sozialhilfe finanziert«, so Raffelhüschen. »Börsch-Supan plädiert gleichfalls dafür, das Pflegerisiko über private Versicherungen abzudecken.«

Darum geht es. Um nicht mehr, aber auch um nicht weniger.
Übrigens: Wie distanziert manche dieser Wissenschaftler von der Realität der sozialpolitischen Problemlagen sind, verdeutlicht dieses Zitat über die Sicht der Welt aus der Brille eines Herrn Rürup: Die Einbeziehung der Demenzkranken in die Pflegeversicherung sei eigentlich ja verständlich und richtig, aber: »Der Demenzgrad sei nicht so eindeutig diagnostizierbar und messbar wie ein körperliches Gebrechen. „Die Gefahr bei der geplanten Erweiterung des Pflegebegriffs ist, dass dies zum Einfallstor für eine deutliche Leistungsausweitung wird.“«
Warum denn keine deutliche Leistungsausweitung, Herr Rürup?

Rürup „rettet“ wieder mal die Rente. Fragt sich nur, welche

Bert Rürup war mal der sozialpolitische „Super-Berater“ in der deutschen Politik: 1992-2002 war er wissenschaftlicher Berater der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages Demografischer Wandel; 1996–1998 Mitglied der Kommission der Bundesregierung Fortentwicklung der Rentenversicherung; 1999-2001 Mitglied im Expertenkreis des Bundesarbeitsministers zur Vorbereitung der Rentenreform 2001, von 2000 bis 2009 Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung. Zeitgleich war er auch einer der so genannten „fünf Wirtschaftsweisen“: Denn ebenfalls im Jahr 2000 wurde er in den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung berufen, dessen Vorsitz er von März 2005 bis zu seinem Ausscheiden im Februar 2009 übernommen hat. Von April bis Dezember 2009 war Rürup Chefökonom beim Finanzdienstleister AWD des Carsten Maschmeyer, einer der schillerndsten Figuren der deutschen Finanzindustrie. Seine Aufgabe bestand u.a. in der Erschließung neuer Märkte für betriebliche und private Altersvorsorge. Gemeinsam mit dem AWD-Gründer Carsten Maschmeyer rief Rürup dann eine Beratungsgesellschaft für Banken, Versicherungen wie auch Regierungen ins Leben: die MaschmeyerRürup AG. Nach dreijähriger Tätigkeit ist er dann Ende 2012 aus diesem Unternehmen ausgeschieden, um sich wieder stärker der Wissenschaft zu widmen. Seit Januar 2013 leitet Bert Rürup als Präsident das Handelsblatt Research Institute, ein Ableger der Verlagsgruppe Handelsblatt. Und er produziert wieder Gutachten. Auch zur Rente.

Rürup hat maßgeblich die damaligen rot-grünen „Rentenreformen“ vorangetrieben, deren Auswirkungen heute an so vielen Ecken und Enden Probleme bereiten. Vor diesem Hintergrund ist es fast schon logisch, dass sich Rürup auch in der aktuellen Rentendebatte zu Wort meldet, die zumindest mit der „Rente mit 63“ einige „seiner“ Weichenstellung – wenn auch nur temporär – außer Kraft setzen will. Zugleich ist er wie andere Apologeten einer stärkeren kapitalgedeckten Altersvorsorge konfrontiert mit der Tatsache, dass die „Riester“- und „Rürup“-Renten, also die mit erheblichen Steuergeld gepamperte private Altersvorsorge aufgrund einer breiten kritischen Berichterstattung in den vergangenen Jahren wie aber auch angesichts der erheblichen Verwerfungen im Gefolge der Finanzkrise von 2008 zunehmend in Legitimationsschwieirgkeiten geraten ist, was natürlich schlecht ist für das Geschäft der Banken und Versicherungen. Vgl. hierzu nur als ein Beispiel von vielen die SWR-Reportage „Was tun für die Rente? Im Dschungel der Altersvorsorge„, die im Januar 2014 ausgestrahlt wurde.

Und solche aktuellen Meldungen beispielsweise sind Gift für das Geschäft: „Auch große Lebensversicherer sind gefährdet„: »Die Bundesfinanzaufsicht Bafin befürchtet bei einem Anhalten der aktuellen Niedrigzinsphase Probleme bei Lebensversicherern. Es könne durchaus auch größere Anbieter geben, die Probleme bekommen.«

Damit aber nicht genug. Denn große Aufgaben warten auf die Handelsreisenden in Sachen kapitalgedeckte Altersvorsorge – denn die Große Koalition hat sich die aus Sicht der Finanzindustrie  „wahre“ Rentenreform für die zweite Jahreshälfte aufgehoben. Werfen wir einen Blick in den Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. Dort findet man den folgenden aufschlussreichen Passus:

Private und betriebliche Altersvorsorge stärken
Die Alterssicherung steht im demografischen Wandel stabiler, wenn sie sich auf mehrere starke Säulen stützt. Deswegen werden wir die betriebliche Altersvorsorge stärken. Sie muss auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Klein- und Mittelbetrieben selbstverständlich werden. Daher wollen wir die Voraussetzungen schaffen, damit Betriebsrenten auch in kleinen Unternehmen hohe Verbreitung finden. Hierzu werden wir prüfen, inwieweit mögliche Hemmnisse bei den kleinen und mittleren Unternehmen abgebaut werden können. Wir werden auch im europäischen Kontext darauf achten, dass die guten Rahmenbedingungen für die betriebliche Altersvorsorge erhalten bleiben. (Koalitionsvertrag, S. 52)

Das muss jetzt schnell vorbereitet und mit Leben gefüllt werden, denn eine Umsetzung im Sinne einer erheblichen Ausweitung der staatlichen Förderung auf noch mehr Arbeitnehmer würde Milliarden-Steuermittel in die Kassen des finanz-industriellen Komplexes spülen.

In diesem Kontext muss man eine neue Studie einordnen, die von Rürups Handelsblatt Research Institute in Zusammenarbeit mit Prognos im Auftrag des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) erstellt wurde:

Handelsblatt Research Institute/Prognos (2014): Die Zukunft der Altersvorsorge. Vor dem Hintergrund von Bevölkerungsalterung und Kapitalmarktentwicklungen

Die Kernaussagen der Studie finden sich im Fazit – und damit auch die zentrale Stoßrichtung, um die es den Verfassern geht:

»Die Reformen der vergangenen Jahre im Bereich der Alterssicherung waren in der Sache richtig und zielführend. Die von der amtierenden Bundesregierung geplanten rentenpolitischen Maßnahmen stehen in großen Teilen den Zielen des nicht erst seit Anfang des Jahrtausends eingeschlagenen rentenpolitischen Kurses – zumindest für einen längeren Zeitraum – entgegen. Sie beeinträchtigen für mehr als zwei Jahrzehnte die finanzwirtschaftliche Stabilität der gesetzlichen Rentenversicherung. Eine Konsequenz wird sein, dass ohne eine weitere Anhebung der Bundeszuschüsse die Beitragssatzobergrenze von 22 Prozent bis zum Jahr 2030 nicht eingehalten werden kann. Zudem wird das Leistungsniveau stärker sinken als bei einer Fortschreibung des rentenrechtlichen Status ex ante.

Eine Kombination aus umlagefinanzierter und kapitalgedeckter Altersvorsorge kann für die nächsten Generationen am ehesten Alterseinkommen gewährleisten, die es erlauben, in etwa den in der Erwerbsphase gewohnten Konsumstandard auch im Alter aufrechtzuerhalten. Dabei wird die gesetzliche Rentenversicherung ungeachtet des noch zu erwartenden moderaten Rückgangs des Rentenniveaus weiterhin die bedeutendste Säule der Altersversorgung bleiben. Um aber von dem derzeitigen Anteil der kapitalgedeckten Rentenansprüche von weniger als 20 Prozent auf einen Anteil von etwa 30 Prozent zu kommen sind verbesserte Informationen und staatliche Anreize erforderlich.

Ohne eine Erhöhung des Verbreitungsgrads der staatlich geförderten privaten und betrieblichen Alterssicherung wird keine lebensstandardsichernde Versorgung breiter Bevölkerungsschichten möglich sein. Dabei sollte – nach den Erfahrungen, sowohl im Ausland wie auch hierzulande – gerade auch auf einen Ausbau der (kollektiven) betrieblichen Versorgungssysteme gesetzt werden.

Kurzfristig niedrige Zinsen sind kein mittel- und langfristig tragendes Argument gegen einen Ausbau des Drei-Säulen-Systems der Alterssicherung.

Die künftig zu erwartenden Renditen im Kapitaldeckungs- und im Umlageverfahren zeigen, dass nur ein Altersvorsorgemix eine sinnvolle und lebensstandardsichernde Absicherung gegen das Langlebigkeitsrisiko bietet.

Das Ausschöpfen von Anlagemöglichkeiten im Ausland und die internationale Diversifizierung über Anlagen in Titel international tätiger Unternehmen sollten daher vereinfacht werden.« (Handelsblatt Research Institute/Prognos 2014: 81)

Also zusammenfassend: Der Anteil der privaten, kapitalgedeckten Altersversorgung soll sogar noch angehoben werden (von 20 auf 30 Prozent), was natürlich angesichts der derzeitigen, aber auch für die nächsten Jahren absehbaren Niedrigzinswelt ein „ambitioniertes“ Unterfangen darstellt: Während man dem Niedrigzinsumfeld mit dem Zulassen riskanterer Anlagen im Ausland sowie in Aktien gegensteuern will, müssen mehr Kunden generiert werden für den Abschluss einer privaten Altersvorsorge. Wenn die Autoren scheinbar harmlos von einem „Ausbau der (kollektiven) betrieblichen Versorgungssysteme“ sprechen, dann meinen sie eine Zwangskollektivierung der Arbeitnehmer in betriebliche Altersvorsorgesysteme, beispielsweise nach dem „opt-out“-Modell statt dem heute gegebenen „opt-in“-Modell, was also bedeuten würde, dass alle erst einmal in eine betriebliche Altersvorsorge integriert werden, außer sie widersprechen ausdrücklich. Wenn man dann noch bedenkt, dass mittlerweile immer mehr Unternehmen zur „Entgeltumwandlung“ übergehen (vgl. kritisch dazu z.B. schon meinen Beitrag aus dem Jahr 2012), bei der die Unternehmen sparen, der Sozialversicherung Beitragseinnahmen entgehen und die Arbeitnehmer die volle Finanzierungslast zu tragen haben, dann wird klar, wohin die Reise gehen soll. Passen wir also auf im Herbst dieses Jahres – und vorher, wenn die Begleitmusik komponiert wird.

Taxifahrer eingeklemmt zwischen dem Mindestlohn ante portas, (Schein)Selbständigkeit und einer App. Und die deutsche Gurke ist auch noch in Gefahr

Je näher die Realität des gesetzlichen Mindestlohns kommt, um so mehr Problematisierungen aus einzelnen Branchen gelangen in das mediale Rampenlicht. Immer wieder gerne als Beispiel werden die Taxifahrer angeführt. „Mindestlohn bringt Unruhe ins Taxigewerbe„, so ist ein aktueller Artikel überschrieben: »Die meisten Taxifahrer erhalten einen Anteil am Umsatz, nicht einen Stundenlohn. Dem Mindestlohn entkommt die Branche damit aber nicht – mit womöglich unangenehmen Folgen für die Kundschaft«, so Manfred Köhler. »Die Taxibranche fürchtet den Mindestlohn, manche Unternehmen haben Angst vor einer Pleite« schreibt Thomas Öchsner  in seinem Artikel „Überleben am Steuer„. »Die 200.000 Taxifahrer Deutschlands gehören zu den am schlechtesten bezahlten Beschäftigten der Nation. 87 Prozent von ihnen arbeiten zu einem Niedriglohn. Im Durchschnitt kommt der Mann oder die Frau hinter dem Steuer eines Taxis auf 6,85 Euro pro Stunde.«
Manfred Köhler berichtet über seine Recherchen aus dem Taxigewerbe, dass man sich dort gegenwärtig recht missmutig mit den Folgen der gesetzlichen Lohnuntergrenze von 8,50 Euro, die 2015 in ganz Deutschland eingeführt werden soll, beschäftigt. Durchaus bezeichnend ist diese Feststellung: »Die erste, unangenehme Folge ist schon, dass auf einmal so viele wissen wollen, was denn Taxifahrer eigentlich verdienen. Welche Verträge sie haben. Wie eigentlich überhaupt das ganze Taxigewerbe organisiert ist.«

Die scheinbar banale Frage danach erweise sich, so Köhler, wie ein Stich ins Wespennest. Die eine Seite der Branche: »Alle Taxen in einer Farbe. Gut durchorganisierte Taxizentralen. Hoheitlich festgelegte Tarife.« Aber wer sich für die andere Seite der Branche interessiert, »wer nach den Arbeitsbedingungen fragt, bekommt bemerkenswert unscharfe Auskünfte.« Köhler nähert sich dieser Schattenseite am Beispiel der Stadt Frankfurt:

»In Frankfurt kommen auf 1.700 Taxis 1.100 Unternehmer. Das heißt: Ganz oft sitzt der Chef selbst hinterm Steuer. Für Unternehmer aber gilt der Mindestlohn nicht …  Doch auch … Angestellte finden sich in der Branche natürlich in großer Zahl. Neben zahlreichen Ein-Mann-Betrieben sind in Frankfurt auch Taxiunternehmen mit 30 und mehr Fahrzeugen am Markt. Alles in allem verdienen in der Stadt an die 4.500 Fahrer ihr Geld, wie zu hören ist.«

Und auch angestellte Fahrer sind nicht annähernd unter einem Dach zu vereinen – da gibt es die, die von dem Taxifahrer-Job ihren Lebensunterhalt bestreiten bis hin zu den vielen Aushilfen, die teilweise nur ein paar Stunden pro Woche nebenbei jobben. Und auch bei denen, die ein Taxi in Vollzeit fahren, gibt es solche mit halbwegs normaler Arbeitszeit und eben andere, die 16 Stunden am Tag hinter dem Steuer sitzen. Vor allem »… Zuwanderer sehen es als Chance, rasch an Geld zu kommen. Der Ausländer, ein Rumäne vielleicht, der Tag für Tag durch Frankfurt fährt, der unter äußerst dürftigen Umständen wohnt – hier hat er einen mäßig bezahlten Job, zu Hause ist er der König, der mehr verdient als alle sonst im Dorf.«

Eine besondere Problematik hinsichtlich der Frage, wie sich der Mindestlohn auswirken wird, ist die vorherrschende Art und Weise der Vergütung:

»Entlohnt werden die Fahrer … in der Mehrzahl nach Umsatz. 35 bis 45 Prozent der Tageseinnahmen können sie behalten … Deutlich kleiner scheint die Gruppe zu sein, die einen Stundenlohn bekommt. Mal ist von 6,50 Euro die Rede, mal von 7,10 Euro. Tarifvertrag? Natürlich nicht. Jedenfalls keinen aktuellen. Viele Fahrer hätten 450-Euro-Jobs, heißt es noch.«

Das Bundesarbeitsministerium kann kein Problem erkennen, denn der Mindestlohn gelte auch dort und dann, wenn eine Umsatzbeteiligung gewährt wird. Diese müsse halt so hoch sein, dass der Mindestlohn pro Stunde erreicht wird. Wenn es so einfach wäre, man denke hier nur an die vielen Zeiten, in denen der Umsatz tatsächlich so niedrig ist, dass allein die mindestlohnkonformen Personalkosten diesen bei weitem übersteigen würden.

Der Deutsche Taxi- und Mietwagenverband schlussfolgert angesichts des Kostenschubs im Gefolge der Umsetzung des Mindestlohns: Taxifahrten müssen teuerer werden, der erforderliche Anstieg der Tarife wird auf 20 bis 25 Prozent geschätzt.

Das nun wieder hört sich einfacher an als es ist.

Denn erstens muss hier beachtet werden: »Taxipreise legen die Städte und Landkreise fest. Mehr als 800 Tarifordnungen gibt es in Deutschland. Bis die alle geändert sind, kann es Jahre dauern, wenn die Stadt- und Kreisräte überhaupt bereit sind, den Bürgern die drastischen Preissteigerungen zuzumuten«, so Thomas Öchsner in seinem Artikel.

Und zweitens muss man natürlich in Rechnung stellen, dass eine solche Preisanhebung auch auf dem Markt durchsetzbar sein muss. Nun handelt es sich bei Taxifahrten zumindest teilweise um ein substitutives Gut und entsprechend sind Nachfragerückgänge – vor allem bei einer so deutlichen Anhebung der Beförderungspreise – plausibel zu erwarten, weil die Kunden ausweichen (können bzw. auch budgetbedingt müssen).

Hinzu kommt: Die geforderte Erhöhung der Tarife um 20 bis 25 Prozent geht davon aus, dass die Kostensteigerungen durch die Einführung des Mindestlohnes erforderlich sei – nur gilt der lediglich für die angestellten Fahrer, nicht aber für die vielen Selbständigen, die in der Branche tätig sind. Das an sich schon gegebene Gefälle zwischen den Polen des Geschäftsmodells einer selbständigen Selbstausbeutung und dem einer Beschäftigung von angestellten Fahrern unter Beachtung der arbeits- und sozialrechtlichen Bedingungen wird sich noch weiter vertiefen.

Köhler bringt in seinem Artikel die Gemengelage auf den Punkt und zitiert den Vorsitzenden der Taxi-Vereinigung Frankfurt am Main, Hans-Peter Kratz: »… eine Tariferhöhung werde zwangsläufig zu einer niedrigeren Nachfrage führen … bevor die Fahrer ohne Arbeit dastehen, werden sie schauen, dass sie ins Lager der Selbständigen wechseln. Dem widerspricht nun Thomas Schmidt. Er vertritt das Taxigewerbe in der Vollversammlung der IHK Frankfurt. Das wäre ja Scheinselbständigkeit, sagt Schmidt.«

Kann es da überhaupt eine Lösung geben? Wahrscheinlich wird es sich irgendwo in der Mitte einpendeln, also man wird die Gebührensätze für die Taxinutzung schrittweise anheben und gleichzeitig wird man die Umsatzbeteiligung mit einem Basis-Stundenlohn kombinieren, um formal den Mindestlohn und seine Anforderungen einhalten zu können.

Das ändert aber nichts an dem angesprochenen Dilemma der Wettbewerbsverzerrung zwischen dem Selbständigkeits- und dem Angestelltenmodell – aber das gilt auch für viele andere Bereiche und insofern werden wir nicht nur im Taxigewerbe nach Einführung des Mindestlohnes Zeuge werden einer Ausbreitung von Scheinselbständigkeit.

Und als wenn das nicht alles schon genug wäre, wird das Taxigewerbe derzeit auch noch an einer anderen grundsätzlichen Front herausgefordert: Gemeint ist hier der Angriff auf das traditionelle Geschäftsmodell der Taxiunternehmen – manche Kritiker sprechen gerne vom Taxikartell – durch die zunehmende Konkurrenz durch Limousinenservices und nun auch noch durch eine App auf den Smartphones vieler (potenzieller) Kunden.

»Ein neuer Trend mischt aktuell das Taxigewerbe auf, besonders in der deutschen Hauptstadt. 7.600 Taxen und 15.000 Fahrer sind in Berlin unterwegs, viele der Unternehmer oder der angestellten Chauffeure kommen aber aufgrund des großen Wettbewerbs nur schwer über die Runden. Und jetzt biegt auch noch eine Konkurrenz um die Ecke, die mit Unterstützung von mächtigen Konzernen wie Sixt oder Daimler das Feld neu aufrollt. Gemeint sind die neuen Vermittler von Limousinenservices, die sich „Blacklane“ oder „My Driver“ nennen«, so Pascal Brückmann in seinem Kommentar. Die Limousinendienste operieren überwiegend mit Festpreisen, was sie gerade für Firmen attraktiv macht. Interessant am Rande ist auch der Tatbestand, dass Daimler sich an dem Unternehmen Blacklane beteiligt hat, was zu erheblichen Spannungen zwischen dem bisherigen Hoflieferanten der Taxi-Unternehmen und den betroffenen Anbietern führt (vgl. dazu diesen Artikel).

Die neueste Zuspitzung in diesem Angriff auf das klassische, manche werden sagen tradierte Geschäftsmodell der Taxi-Branche ist eine Smartphone-App und trägt den Namen „Uber„. Es handelt sich um ein Start-Up aus San Francisco und vermittelt private Fahrer per Smartphone-App:

»Via GPS gibt man einfach seinen Standort ein, und die App sucht einen Fahrer in der Nähe. Man kann dann nicht nur sehen, wer der Fahrer ist und wie er von anderen bewertet wurde, sondern auch, wie lange es noch dauert, bis er da ist. Bezahlt wird ebenfalls per App, 20 Prozent des Fahrpreises gehen an Uber. Das Konzept erinnert an Angebote wie die Mitfahrzentrale oder Flinc, nur dass Uber eigene Fahrer hat, die dieser Arbeit hauptberuflich nachgehen. Bei der Mitfahrzentrale stellen hingegen in der Regel Privatleute Fahrten ein, die sie ohnehin machen wollen – und für die sie die Spritkosten senken wollen, indem sie noch jemanden mitnehmen«, kann man dem Artikel „Der Kampf um die Taxis“ entnehmen. Uber ist auch nach Berlin expandiert und hat sogleich den Widerstand der Branche zu spüren bekommen, die darin eine „rechtswidrige gewerbliche Personenbeförderung“ sehen.

Mittlerweile wird der Kampf gegen die neue (und ungleiche) Konkurrenz auch vor Gericht ausgetragen. Das Landgericht Berlin hat dem amerikanischen Limousinenservice Uber per einstweiliger Verfügung untersagt, „im Bundesland Berlin mittels der Smartphone App Uber taxenähnlichen Verkehr zu betreiben“, so der Artikel „Berliner Gericht verbietet Limousinenservice Uber„. Aber: Das Unternehmen Uber hat angekündigt, alle Rechtsmittel auszuschöpfen und das an sich erfolgreiche Taxi-Unternehmen verzichtet derzeit auf die Vollstreckung der Unterlassungsverfügung aus Angst vor Schadensersatzklagen.

Aber abschließend wieder zurück zum anstehenden Mindestlohn. Nicht nur die Taxifahrer sind davon betroffen – auch in anderen Branchen erhebt sich ein entsprechendes Wehgeklage. Nehmen wir die deutsche Gurke, die – folgt man einem Teil der Berichterstattung – kurz vor dem Exitus steht: „Die deutsche Gurke ist in Gefahr„, so immerhin eine Überschrift in der seriösen FAZ.
Die Feldgurkenernte ist ein saisonales Geschäft, für die man im Juli und August einen Schwung arbeitsamer Helfer braucht. »Die Arbeit auf dem sogenannten Gurkenflieger ist hart: Auf dem breiten Ausleger eines Treckers schweben die Pflücker auf dem Bauch liegend über das Feld. Deutsche lassen sich dafür schon lange nicht mehr gewinnen.« Also sind seit Jahren Saisonarbeiter aus Polen und anderen osteuropäischen Ländern in diesem Bereich tätig. In dem Artikel wird der Landwirt Walter Jäger aus Hückelhoven am Niederrhein zitiert, der Gurken anbaut und von solchen Saisonarbeitern ernten lässt:

»Bisher zahlte Jäger seinen Erntehelfern rund 7 Euro die Stunde. Doch nach dem Willen der Bundesregierung soll er ihnen vom kommenden Jahr an den neuen Mindestlohn von 8,50 Euro gewähren. „Das würde bedeuten, dass unsere Lohnkosten schlagartig um rund ein Fünftel steigen“, rechnet der Landwirt vor … Jäger liefert seine geernteten Gurken direkt an das Unternehmen Stollenwerk in Düren, wo das junge Gemüse sogleich weiterverarbeitet wird. Aber damit ihm Stollenwerk höhere Preise zahlen könnte, müsste es dem Familienbetrieb seinerseits gelingen, gegenüber dem Einzelhandel deutlich höhere Preise durchzusetzen. Jäger bezweifelt, dass dies möglich ist. „Aldi, Lidl, Edeka & Co halten da den Daumen drauf.“ Selbst der deutsche Marktführer im Geschäft mit Gewürzgurken, die Carl Kühne KG aus Hamburg, kann sich nicht vorstellen, künftig 50 bis 80 Cent mehr für jedes Glas verlangen zu können.«

Die Produzenten bewegen sich auf sehr unsicherem Terrain. Bleiben wir bei den Gurken:

»Wie schmal der kalkulatorische Grat ist, lässt sich an den Cornichons ablesen. Diese kleineren Gurken bezieht Kühne schon zum größten Teil aus der Türkei, weil deren Ernte wegen der geringen Größe des Gemüses verhältnismäßig viel Handarbeit erfordert. „Das lohnt sich für die deutschen Bauern nicht.“ Anders verhält es sich bei den klassischen großen Gewürzgurken. Diese bezieht Kühne noch zu 80 Prozent von heimischen Bauern.«

Auch hier stellt sich natürlich die Frage nach einem Ausweg aus dem angeblichen bzw. tatsächlichen Dilemma: Eine Möglichkeit wäre, wenn der Mindestlohn von 8,50 Euro nicht schon Anfang 2015, sondern stufenweise erst bis Ende 2016 eingeführt werden müsste. Aber auch bei diesem Beispiel kann man zwei Einwände vortragen:

  • Zum einen gibt es bereits heute nicht wenige Landwirte, die ihren Saisonarbeitern gerade aufgrund der existenziellen Abhängigkeit von der Ernte in einem kurzen Zeitraum des Jahres so ordentliche Entgelte zahlen, dass der Mindestlohn von 8,50 Euro kein Thema ist. Diese andere Seite illustriert der Deutschlandfunk-Beitrag „Gesetz zum Mindestlohn – 8,50 Euro für (fast) jeden“ von Tonia Koch am Beispiel des Gartenbaubetriebs von Erwin Faust in Saarlouis: »Ohne die rumänischen Mitarbeiter, die im Schnitt jeweils vier Monate vor Ort sind, könne der Betrieb einpacken, sagt Erwin Faust. Er brauche vor allem Kontinuität und Leute, die wissen, was zu tun sei auf dem Feld und in den Gewächshäusern … „und da machen wir auch Lohnkonzessionen, weil am Ende die Leistung auch herausspringt. Das Problem ist, wir müssen anstinken gegen die, die die Leute in den Container stecken und fürs halbe Geld arbeiten lassen. Was heißt das letztendlich? Die Supermärkte lachen sich kaputt, die Discounter lachen sich kaputt, weil sie billiges Zeug kaufen können.“ Der zum Teil ruinöse Wettbewerb über die Löhne sei der falsche Ansatz. Der Gemüsebauer hält daher eine Mindestlohnregelung für überfällig. „Wir zahlen auch über Mindestlohn unsere Leute. Der geringste Bruttolohn, den wir haben, liegt bei 9,20 Euro, der geringste, für Aushilfen. Da steh‘ ich voll dahinter, und das ist auch bei unseren Rumänen so.“«
  • Zum anderen muss die Politik nicht unplausibel davon ausgehen, dass sich sofort zahlreiche andere Branchen zu Wort melden werden und aus ihrer Sicht teilweise gut begründet Argumente für eine (wenigstens zeitliche) Herausnahme aus dem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn vortragen können. An dem sich dann ausbreitenden Flickenteppich würden sich wiederum die Apologeten eines flächendeckenden Mindestlohns abarbeiten und die Regierung kritisieren.

Es ist und wird eine klebrige Sache mit dem Mindestlohn.