Wir reden beim Thema Erwerbsminderungsrenten nicht von einer kleinen Gruppe oder gar Einzelfällen. Beispiel 2021: In diesem Jahr wurden 848.000 Altersrenten neu bewilligt, hinzu kamen 166.000 Erwerbsminderungsrenten, die neu bewilligt und ausgezahlt wurden. In den vergangenen Jahren lag der Anteil der neuen Erwerbsminderungsrenten an allen neuen Renten immer zwischen 16,2 bis 18,2 Prozent. Man muss zudem berücksichtigen, dass zahlreiche Anträge auf eine EM-Rente abgelehnt worden sind bzw. werden: Insgesamt wurden im Jahr 2021 knapp 352.000 Anträge auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit gestellt. Bewilligt wurden gut 175.000 (vgl. zu diesem Thema bereits den Beitrag Über den (Nicht-)Zugang zur Erwerbsminderungsrente vom 22. April 2019). Das durchschnittliches Zugangsalter in Erwerbsminderungsrenten betrug 2021 bei den Männern 54,1 Jahre und bei den Frauen 53,1 Jahre.
Und immer wieder wurde in den vergangenen Jahren angemahnt, die finanzielle Situation der Erwerbsminderungsrentner zu verbessern – was die Politik durchaus in mehreren Schritten auch gemacht hat, also zumindest für einen Teil dieser Rentner, im Regelfall für die nach der gesetzlichen Neuregelung dann neu hinzukommenden Erwerbsminderungsrenten. Bis vor kurzem sind die vielen, die sich bereits im Bezug einer solchen Rente befanden, von den Verbesserungen auf der Leistungsseite ausgeschlossen worden.
Der Gesetzgeber hat in den zurückliegenden Jahren mehrfach an der wichtigen Stellschraube der „Zurechnungszeiten“ gedreht, um die finanzielle Situation der Erwerbsminderungsrentner zu verbessern.
➔ Von besonderer Bedeutung ist dabei die mit dem Rentenversicherung-Leistungsverbesserungsgesetz von 2014 eingeführte Ausweitung der Zurechnungszeiten um zwei Jahre auf das vollendete 62. Lebensjahr für EM-Neuzugänge (bis dahin war es so, dass man bei der Rentenberechnung bei Menschen, die eine Erwerbsminderungsrente vor dem 60. Lebensjahr in Anspruch nehmen mussten, so getan hat, als hätte der/die Versicherte in dieser Zeit bis zum 60. Lebensjahr weiter verdient bzw. Beiträge bezahlt). Hinzu kommen die weiteren Ausweitungen durch das EM-Leistungsverbesserungsgesetz von 2017 und durch das RV-Leistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetz von 2018, durch die die Zurechnungszeit für Neuzugänge ab 2019 auf 65 Jahre und 8 Monate angehoben worden ist. In den Jahren danach erfolgt eine schrittweise Erhöhung der Zurechnungszeiten bis auf 67 Jahre im Jahr 2030.
Immer wieder war »von Verbesserungen die Rede, die aber … nur die zum jeweiligen Zeitpunkt der gesetzlichen Änderung zukünftigen Renter greifen, nicht aber für die, die schon drin sind im Bezug einer Erwerbsminderungsrente. Das hat in der Vergangenheit regelmäßig große Frustrationen verursacht, wenn deutlich wurde, dass die Bestandsrentner nichts von den Verbesserungen haben«, so die Formulierung in diesem Beitrag vom 10. Juni 2020: Die Erwerbsminderungsrenten steigen. Aber wie so oft kommt es darauf an, wie man was rechnet. Dann aber konnte endlich mit Blick auf die bislang leer ausgegangenen Bestandsrentner am 4. April 2022 berichtet werden: Erwerbsminderungsrente: Eine „erhebliche Verbesserung“ soll es geben – und diesmal nicht nur für zukünftige Rentner. Wie immer in den Tiefen und Untiefen des Sozialrechts muss man genau hinschauen, denn es wurde keine Gleichstellung der Bestandsfälle mit den besseren Regelungen für die Neurentner beschlossen, sondern eine Teil-Kompensation der Altfälle:
➔ Dabei geht es um überschaubar höhere Leistungen auch für die Bestandsrentner über einen pauschalen prozentualen Zuschlag. Der Gesetzgeber hat also nach jahrelangem Nichtstun nachgebessert und für die sogenannten Bestandsrentner, deren EM-Beginn zwischen dem 1. Januar 2001 und dem 31. Dezember 2018 lag, Zuschläge beschlossen. Je nach Rentenbeginn liegen diese Zuschläge bei 4,5 bzw. 7,5 Prozent.*
Aber: Die Zuschläge werden erst ab dem 1. Juli 2024 gezahlt. Hinzu kommt: Von vielen Seiten werden die Zuschläge als zu niedrig kritisiert wird – so müssten die Zuschläge nach Auffassung der Sozialverbände VdK und SoVD doppelt so hoch sein, um eine echte Gleichbehandlung herstellen zu können.
*) 4,5 Prozent der Rente am 30.06.2024 für alle, deren EM-Rente in der Zeit zwischen dem 01.07.2014 bis 31.12.2018 begonnen hat. 7,5 Prozent der Rente am 30.06.2024 für die Altfälle, deren EM-Rente in der Zeit vom 2001 bis zum 30.06.2018 begonnen hat. Für alle, die das in Euro-Beträgen brauchen: Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung wird sich der pauschale Zuschlag auf durchschnittlich 70 Euro pro Monat belaufen bei denjenigen, die 7,5 Prozent bekommen, bei den jüngeren Altfällen, die nur Anspruch auf die 4,5 Prozent haben, sollen es durchschnittlich 40 Euro pro Monat sein.
Die beiden Sozialverbände VdK und SoVD sind vor Gericht gezogen – bis fast ganz noch oben
Gegen die angesprochene Ungleich- und Schlechterbehandlung haben sich betroffene „Bestandsrenter“ vor Gericht gewehrt und sind dabei von den beiden Sozialverbänden VdK und SoVD gemeinsam unterstützt worden. In einem Revisionsverfahren beim Bundessozialgericht (BSG) aufgrund der die Klagen zurückgewiesenen Urteile der sozialgerichtlichen Vorinstanzen.
➔ »Die in den beiden Revisionsverfahren klagenden Rentner erhalten aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen, die einer weiteren Erwerbstätigkeit entgegenstehen, bereits seit 2004 beziehungsweise 2014 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Sie gehören damit zur Gruppe der Bestandsrentner. Nach den in den Jahren 2018 und 2019 in Kraft getretenen gesetzlichen Regelungen kommen die – teilweise erheblichen – Verbesserungen bei der Berechnung der Erwerbsminderungsrenten nur den Neurentnern zugute. Die Kläger forderten eine Gleichbehandlung und deshalb eine Berücksichtigung der verlängerten Zurechnungszeiten auch bei ihren Renten. Der Rentenversicherungsträger und die Vorinstanzen lehnten das ab.« Das kann man den Vorberichten zu den Verhandlungen B 5 R 29/21 R sowie B 5 R 31/21 R, die den Revisionsverfahren beim BSG zugrundelagen, entnehmen.
Und was hat das höchste deutsche Sozialgericht entschieden?
»Rentner, deren Erwerbsminderungsrente bereits vor dem 1. Januar 2019 begann, haben keinen Anspruch auf eine Neuberechnung ihrer Rente nach den inzwischen geltenden, deutlich günstigeren Regelungen. Sie können nicht verlangen, dass bei ihrer Rente Zurechnungszeiten in demselben Umfang berücksichtigt werden, wie das bei den ab 2018 und vor allem bei den ab 2019 neu bewilligten Renten geschieht. Das hat der 5. Senat des Bundessozialgerichts am 10. November 2022 entschieden.« So das BSG am 10. November 2022 unter der nun wirklich unmissverständlichen Überschrift Keine höhere Erwerbsminderungsrente für Bestandsrentner. Und zugleich hatte das BSG eine Vorlage des strittigen Sachverhalts beim höchsten deutschen Gericht, also dem Bundesverfassungsgericht, mit dieser Begründung zurückgewiesen:
»Der 5. Senat konnte sich nicht davon überzeugen, dass die Begrenzung der zum 1. Januar 2018 und 1. Januar 2019 eingeführten Leistungsverbesserungen auf die ab diesen Stichtagen neu hinzukommenden Erwerbsminderungsrentner dem Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes widerspricht. Bei Anwendung des vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Prüfungsmaßstabs für solche Stichtagsregelungen war ein Verstoß gegen Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz nicht feststellbar. Die vom Gesetzgeber angeführten Gründe für die Differenzierung zwischen Bestands- und Neurentnern sind sachlich nachvollziehbar und nicht willkürlich. Es entspricht einem Strukturprinzip der gesetzlichen Rentenversicherung, dass Leistungsverbesserungen ebenso wie Leistungskürzungen grundsätzlich nur für neu bewilligte Renten gelten. Der Gesetzgeber durfte auch auf den erheblichen organisatorischen und finanziellen Mehraufwand bei sofortiger Einbeziehung der Bestandsrentner abstellen. Zudem war zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber mittlerweile für die Bestandsrentner einen Zuschlag zu ihrer Erwerbsminderungsrente und ebenso zu einer daran anschließenden Altersrente eingeführt hat, der ihnen ab dem 1. Juli 2024 zustehen wird. Der 5. Senat hat deshalb davon abgesehen, die Verfahren – wie von den Klägern gefordert – auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, ob die gesetzliche Regelung verfassungswidrig ist.«
Und damit das an dieser Stelle nicht untergeht: Von dieser Entscheidung sind nicht nur einige wenige klagefreudige Senioren betroffen. Das Urteil ist von Bedeutung für rund 1,8 Millionen Erwerbsminderungsrentner, die zwischen 2001 und 2019 in Rente gegangen sind.
Die beiden Sozialverbände VdK und SoVD haben sofort nach dem Urteil des BSG verkündet, dass sie das dennoch dem Bundesverfassungsgericht vorlegen und klären lassen wollen, ob die derzeitige Gesetzgebung gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes verstößt. Das haben sie auch gemacht.
Im vergangenen Jahr wurde hier in einer Besprechung der damaligen ablehnenden Entscheidung des BSG und der Ankündigung, den Sachverhalt vom BVerfG prüfen zu lassen, diese Einschätzung abgegeben (vgl. Wer „zu früh“ da war, darf von späteren Verbesserungen ausgeschlossen werden. Das Bundessozialgericht hat entschieden: Keine höhere Erwerbsminderungsrente für Bestandsrentner, 15.11.2022):
»Aber auch wenn das Bundesverfassungsgericht das Schlusswort haben wird, sollte man keine übertriebenen Hoffnungen haben, dass sich das BVerfG gegen die Argumentation der sozialrechtlichen Rechtsprechung stellen wird, also auf eine verfassungsrechtlich schwerwiegende Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes erkennen wird. Vor allem, wenn man berücksichtigt, dass sich der Gesetzgeber mit dem Rentenanpassungs- und Erwerbsminderungsrenten-Bestandsverbesserungsgesetz bereits bewegt hat. Hinzu kommt in solchen Verfahren oftmals die Formel vom „weiten Gestaltungsspielraum“, die seitens des Verfassungsgerichts dem Gesetzgeber zugeschrieben wird.«
Bei dem, um was es hier geht, würde man gerne hinsichtlich der pessimistischen Prognose widerlegt werden. Aber es ist so gekommen, wie vermutet.
Das Bundesverfassungsgericht will nicht. Die Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2022 wird gar nicht erst angenommen
Mit Bezug auf den Beschluss vom 12. Juni 2023 – 1 BvR 847/23 hat die 3. Kammer des Bundesverfassungsgerichts nun mitgeteilt: „Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.“ Die Begründung beginnt mit einem formal daherkommenden Hinweis: „Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil kein zwingender Annahmegrund nach § 93a BVerfGG vorliegt und auch sonst kein Grund für ihre Annahme ersichtlich ist.“
Schaut man in den § 93a BVerfGG, dann kann man diesem Paragrafen entnehmen, dass eine Verfassungsbeschwerde dann zur Entscheidung anzunehmen ist (Abs. 2), a) „soweit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt“ oder b) „wenn es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 genannten Rechte angezeigt ist; dies kann auch der Fall sein, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entsteht.“
Offensichtlich erkennt das BVerfG in der vom VdK und dem SoVD gemeinsam betriebenen Verfassungsbeschwerde keine „grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung“.
Die beiden Sozialverbände haben sich zu Wort gemeldet: Bundesverfassungsgericht weist Verfassungsbeschwerde von VdK und SoVD gegen Ungleichbehandlung bei EM-Renten zurück. Dort wird nochmals der aus ihrer Sicht vorliegende Tatbestand einer Ungleichbehandlung zusammenfassend dargelegt, die man als verfassungswidrig einstuft, was man gerne hätte prüfen lassen wollen:
»Die Sozialverbände waren nach Karlsruhe gezogen, um die Ungleichbehandlung von Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentnern zu stoppen. Denn Personen, deren EM-Rentenbezug zwischen 2001 und 2018 begann, erhalten weniger Rente als Neurentner, die seit 2019 ihre EM-Rente beziehen.
Das liegt daran, dass unterschiedliche Zurechnungszeiten gelten. Wer ab dem 1. Januar 2019 eine EM-Rente erhält, den behandelt die Rentenversicherung so, als hätte sie oder er bis zur Regelaltersgrenze gearbeitet. Das Problem: Von dieser Erhöhung profitieren jene Personen nicht, die vor dem 1. Januar 2019 eine EM-Rente beantragen mussten. Mehr als 1,8 Millionen Menschen haben deshalb nichts von dieser Verbesserung.«
Und dann wird der Tenor der Abweisung der Verfassungsbeschwerde so zusammengefasst:
»Das Bundesverfassungsgericht hat nun entschieden, dass diese Stichtagsregelung rechtens ist. In seiner Begründung heißt es, dass der Gesetzgeber „zur Regelung bestimmter Lebenssachverhalte“ Stichtage einführen kann. Dabei räumt das Gericht ein, dass jeder Stichtag unvermeidlich gewisse Härten mit sich bringt.«
Schaut man in den Beschluss des BVerfG zur Nicht-Annahme der Verfassungsbeschwerde, dann wird – wie in dem Beitrag aus dem November 2022 prognostiziert – ein Abstellen auf den „weiten Gestaltungsspielraum“ des Gesetzgebers erkennbar:
»Dem Gesetzgeber ist es … durch Art. 3 Abs. 1 GG grundsätzlich nicht verwehrt, zur Regelung bestimmter Lebenssachverhalte Stichtage einzuführen, obwohl jeder Stichtag unvermeidlich gewisse Härten mit sich bringt … Dies gilt auch bei der Einführung von neuen Vorschriften, die einzelne Personengruppen begünstigen und wegen des Stichtages andere von der Begünstigung ausnehmen … Die verfassungsrechtliche Prüfung von Stichtags- und Übergangsvorschriften beschränkt sich grundsätzlich darauf, ob der Gesetzgeber den ihm zukommenden Spielraum in sachgerechter Weise genutzt hat, ob er die für die zeitliche Anknüpfung in Betracht kommenden Faktoren hinreichend gewürdigt hat und die gefundene Lösung im Hinblick auf den Sachverhalt und das System der Gesamtregelung als sachlich vertretbar oder als willkürlich erscheint.«
Damit bleibt es dabei: Die Ungleichbehandlung der Bestandsrentner in der Erwerbsminderungsrente kann fortgeführt werden. Eine teilweise Abmilderung der damit verbundenen finanziellen Schlechterstellung der Alt- gegenüber den Neufällen wird durch die pauschalen prozentualen Zuschläge, die ab Juli 2024 ausgezahlt werden und mit denen die Politik auf die jahrelange Kritik an der Nicht-Berücksichtigung der Bestandsfälle reagiert hat, erreicht. Nicht mehr, nicht weniger.