Wer „zu früh“ da war, darf von späteren Verbesserungen ausgeschlossen werden. Das Bundessozialgericht hat entschieden: Keine höhere Erwerbsminderungsrente für Bestandsrentner

In der vergangenen Jahren wurde hier immer wieder über die Situation der Menschen berichtet, die auf eine Erwerbsminderungsrente angewiesen sind – es handelt sich dabei um Menschen, die vor dem Erreichen der normalen Altersgrenzen so krank sind, dass sie nicht mehr voll oder gar keiner Erwerbsarbeit nachgehen können. Und es wurde dabei auch immer wieder über gesetzgeberische Aktivitäten in diesem Bereich berichtet, bei denen es darum ging, die prekäre Situation der Erwerbsminderungsrentner zu verbessern. Da ist durchaus einiges bewirkt worden.

Wir reden beim Thema Erwerbsminderungsrenten nicht von einer kleinen Gruppe oder gar Einzelfällen. Beispiel 2021: In diesem Jahr wurden 848.000 Altersrenten neu bewilligt, hinzu kamen 166.000 Erwerbsminderungsrenten, die neu bewilligt und ausgezahlt wurden. Bei den Erwerbsminderungsrenten zeigt sich zwischen 2000 und 2006/2007 ein Rückgang von 237.000 bis auf bis auf 160.000. Seitdem bewegt sich die Anzahl der Neuzugänge in Erwerbsminderungsrenten innerhalb eines Korridors von 160.000 bis etwa 180.000 Personen.

In den vergangenen Jahren lag der Anteil der neuen Erwerbsminderungsrenten an allen neuen Renten immer zwischen 16,2 bis 18,2 Prozent. Man muss zudem berücksichtigen, dass zahlreiche Anträge auf eine EM-Rente abgelehnt worden sind bzw. werden: Insgesamt wurden im Jahr 2021 knapp 352.000 Anträge auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit gestellt. Bewilligt wurden gut 175.000. Das durchschnittliches Zugangsalter in Erwerbsminderungsrenten betrug 2021 bei den Männern 54,1 Jahre und bei den Frauen 53,1 Jahre.

Wenn man nun weiß, dass Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit wie Altersrenten berechnet werden, also die Bruttorente im Monat ergibt sich aus der Summe der persönlichen Entgeltpunkte multipliziert mit dem aktuellen Rentenwert, dann wird angesichts eines durchschnittlichen Alters bei den Neuzugängen von 53 bzw. 54 Jahre schnell verständlich, dass es bei vielen Erwerbsminderungsrenten nur um sehr überschaubare Größenordnungen gehen kann, was die Höhe der Leistungen angeht – außer, man stockt die viel zu niedrigen Entgeltpunkte auf. Genau das war in den vergangenen Jahren der Hauptansatzpunkt der gesetzgeberischen Aktivitäten, mit deren Hilfe die finanzielle Situation „der“ Erwerbsminderungsrentner verbessert werden sollten.

Und der Gesetzgeber hat in den zurückliegenden Jahren mehrfach an dieser wichtigen Stellschraube gedreht, um die finanzielle Situation der Erwerbsminderungsrentner zu verbessern: Von besonderer Bedeutung ist dabei die mit dem Rentenversicherung-Leistungsverbesserungsgesetz von 2014 eingeführte Ausweitung der Zurechnungszeiten um zwei Jahre auf das vollendete 62. Lebensjahr für EM-Neuzugänge (bis dahin war es so, dass man bei der Rentenberechnung bei Menschen, die eine Erwerbsminderungsrente vor dem 60. Lebensjahr in Anspruch nehmen mussten, so getan hat, als hätte der/die Versicherte in dieser Zeit bis zum 60. Lebensjahr weiter verdient bzw. Beiträge bezahlt). Hinzu kommen die weiteren Ausweitungen durch das EM-Leistungsverbesserungsgesetz von 2017 und durch das RV-Leistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetz von 2018, durch die die Zurechnungszeit für Neuzugänge ab 2019 auf 65 Jahre und 8 Monate angehoben worden ist. In den Jahren danach erfolgt eine schrittweise Erhöhung der Zurechnungszeiten bis auf 67 Jahre im Jahr 2030.

Offensichtlich mit Erfolg, wenn man sich diese Abbildung des vom IAQ betriebenen Portals „Sozialpolitik aktuell“ anschaut:

»Dargestellt wird die durchschnittliche Höhe der seit 2000 jeweils neu zugegangenen Erwerbsminderungsrenten, unterschieden nach West und Ost sowie Geschlecht. Es lässt sich erkennen, dass sich bis zum Jahr 2011 die durchschnittlichen Zahlbeträge der Zugangsrenten kontinuierlich nach unten entwickelt haben. Der Rückgang betrifft vor allem die Erwerbsminderungsrenten für Männer: In Westdeutschland wie in Ostdeutschland hat sich für sie der durchschnittliche Zahlbetrag der jeweils neu zugehenden Renten um 18,5 Prozent und 17,3 Prozent verringert. In den Jahren seit 2012 zeigt sich jedoch ein deutlicher Wiederanstieg.« Dies kann man auf die bereits angesprochenen Leistungsverbesserungen seitens des Gesetzgebers zurückführen.

Aber man muss genau hinschauen – die Autoren schreiben selbst in ihren Erläuterungen: »Beziffert wird in der Darstellung nur, wie hoch die durchschnittlichen Erwerbsminderungsrenten im jeweiligen Zugangsjahr ausgefallen sind. Dabei bleibt unbeachtet, dass die neu zugegangenen Renten in den Folgejahren nach Maßgabe des neuen aktuellen Rentenwerts angehoben werden.« Also haben sie sich das auch mal genauer angeschaut. Herausgekommen ist diese Abbildung:

Wenn man nur die durchschnittlichen Zahlbeträge der Zugänge in die Erwerbsminderungsrente nach Zugangsjahr anschaut, wie das in der ersten Abbildung gemacht wurde, dann führt dieser Vergleich über den Zeitverlauf zu irreführenden Ergebnissen. »Denn unberücksichtigt bleibt, dass die durchschnittlichen Erwerbsminderungsrenten in den Zugangsjahren vor 2021 auf deutlich niedrigen aktuellen Rentenwerten basieren als die Altersrenten im Jahr 2021. Die jeweilige Höhe des aktuellen Rentenwerts und dessen Anpassung im Zeitverlauf müssen also eingerechnet werden, um einen sinnvollen Vergleich durchführen zu können … Diese (im Prinzip) jährliche Erhöhung des aktuellen Rentenwerts geht in die Berechnung jeder Rente ein, nicht nur in die neu zugehenden Renten des aktuellen Jahres, sondern auch in die Berechnung der in den Jahren zuvor zugegangenen Renten (Prinzip der dynamischen Rente). Die neu bewilligten Renten der vorvergangenen Jahre liegen insofern – nach Maßgabe der Anpassungssätze – im Jahr 2021 deutlich höher als im Jahr ihres Zugangs. Zugleich muss bedacht werden, dass in den Jahren des Beobachtungszeitraums die Eigenbeiträge der Rentner zur Krankenversicherung und zur Pflegeversicherung schrittweise angehoben worden sind, was wiederum den Zahlbetrag verringert.«

Genau das hat man dann in der zweiten Abbildung umgesetzt. Denn wenn man die beiden genannten Faktoren rechnerisch umsetzt, dann »zeigt sich, dass die Erwerbsminderungsrenten, die im Jahr 2000 zugegangen sind, im Jahr 2021 (alte Bundesländer) Werte von 1.040 Euro (Männer) bzw. 803 Euro (Frauen) erreichen. Für die neuen Bundesländer errechnen sich Werte von 1.047 Euro (Männer) bzw. 1.015 Euro (Frauen).«

Fazit: »Je später der Zugang desto niedriger der aktuelle Rentenzahlbetrag! Erstmalig bei den Zugängen des Jahres 2014 hat sich der Wert der EM-Renten gegenüber den Zugängen der Vorjahre erhöht. Die mit den Leistungsverbesserungsgesetzen eingeführte Ausweitung der Zurechnungszeiten für EM-Neuzugänge sowie die Günstigerprüfung dürften ein zentraler Grund für diese Verbesserung sein. Gleichwohl liegen die Neurenten von 2021 noch immer unter dem Niveau des Zugangsjahres von 2000 (mit Ausnahme der EM-Renten von Frauen in den alten Bundesländern).«

Die ganze Thematik wird auch in dieser Veröffentlichung behandelt:
➔ Johannes Steffen (2022): Rentenzahlbeträge 2000 – 2021. Sinkflug der Erwerbsminderungsrenten scheint gestoppt, Berlin, 09.06.2022

Es wurde was getan. Aber nicht für alle

»Die Bundesregierung weist immer wieder gerne darauf hin, dass man die Situation „der“ Erwerbsminderungsrentner in den vergangenen Jahren mehrfach verbessert habe durch konkrete gesetzliche Veränderungen«, konnte man beispielsweise in dem Beitrag Die Erwerbsminderungsrenten steigen. Aber wie so oft kommt es darauf an, wie man was rechnet lesen, der hier am 10. Juni 2020 veröffentlicht wurde. Aber: Es wurde auch darauf hingewiesen, dass »von Zahlen berichtet wird, die sich auf die Zugänge in eine Erwerbsminderungsrente in einem der dargestellten Jahre beziehen, also auf Neurentner, nicht auf alle Erwerbsminderungsrentner. Und es war von Verbesserungen die Rede, die aber ebenfalls nur die zum jeweiligen Zeitpunkt der gesetzlichen Änderung zukünftigen Renter greifen, nicht aber für die, die schon drin sind im Bezug einer Erwerbsminderungsrente. Das hat in der Vergangenheit regelmäßig große Frustrationen verursacht, wenn deutlich wurde, dass die Bestandsrentner nichts von den Verbesserungen haben.«

So war das bislang immer mit diesen Verbesserungen der Erwerbsminderungsrente. Das wurde nicht nur kritisiert, sondern immer wieder wurde eine Korrektur zugunsten der „Vergessenen“ angemahnt. Auch da hat sich am aktuellen Rand nach langen Jahren etwas getan, wie man diesem Beitrag entnehmen kann, der am 4. April 2022 veröffentlicht wurde: Erwerbsminderungsrente: Eine „erhebliche Verbesserung“ soll es geben – und diesmal nicht nur für zukünftige Rentner. Dabei geht es um überschaubar höhere Leistungen auch für die Bestandsrentner über einen pauschalen prozentualen Zuschlag. Der Gesetzgeber hat also nach jahrelangem Nichtstun nachgebessert und für die sogenannten Bestandsrentner, deren EM-Beginn zwischen dem 1. Januar 2001 und dem 31. Dezember 2018 lag, Zuschläge beschlossen. Je nach Rentenbeginn liegen diese Zuschläge bei 4,5 bzw. 7,5 Prozent. Aber: Die Zuschläge werden erst ab dem 1. Juli 2024 gezahlt. Hinzu kommt: Von vielen Seiten werden die Zuschläge als zu niedrig kritisiert wird – so müssten die Zuschläge nach Auffassung der Sozialverbände VdK und SoVD doppelt so hoch sein, um eine echte Gleichbehandlung herstellen zu können.

Und was hat nun das Bundessozialgericht mit dieser Problematik zu tun?

Unter der nun wirklich unmissverständlichen Überschrift Keine höhere Erwerbsminderungsrente für Bestandsrentner veröffentlichte das Bundessozialgericht in Kassel am 10. November 2022 eine für viele sicher frustrierende Mitteilung:

»Rentner, deren Erwerbsminderungsrente bereits vor dem 1. Januar 2019 begann, haben keinen Anspruch auf eine Neuberechnung ihrer Rente nach den inzwischen geltenden, deutlich günstigeren Regelungen. Sie können nicht verlangen, dass bei ihrer Rente Zurechnungszeiten in demselben Umfang berücksichtigt werden, wie das bei den ab 2018 und vor allem bei den ab 2019 neu bewilligten Renten geschieht. Das hat der 5. Senat des Bundessozialgerichts am 10. November 2022 entschieden.«

Hier die beiden Sachverhalte (ausführlicher dazu die Vorberichte zu den Verhandlungen B 5 R 29/21 R sowie B 5 R 31/21 R), die den Revisionsverfahren beim BSG zugrundelagen:

»Die in den beiden Revisionsverfahren klagenden Rentner erhalten aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen, die einer weiteren Erwerbstätigkeit entgegenstehen, bereits seit 2004 beziehungsweise 2014 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Sie gehören damit zur Gruppe der Bestandsrentner. Nach den in den Jahren 2018 und 2019 in Kraft getretenen gesetzlichen Regelungen kommen die – teilweise erheblichen – Verbesserungen bei der Berechnung der Erwerbsminderungsrenten nur den Neurentnern zugute. Die Kläger forderten eine Gleichbehandlung und deshalb eine Berücksichtigung der verlängerten Zurechnungszeiten auch bei ihren Renten. Der Rentenversicherungsträger und die Vorinstanzen lehnten das ab.«

Die ablehnende Haltung der Vorinstanzen wurde vom Bundessozialgericht nun bestätigt – mit dieser Argumentation und zugleich der Entscheidung, die strittige Frage nicht dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen:

»Der 5. Senat konnte sich nicht davon überzeugen, dass die Begrenzung der zum 1. Januar 2018 und 1. Januar 2019 eingeführten Leistungsverbesserungen auf die ab diesen Stichtagen neu hinzukommenden Erwerbsminderungsrentner dem Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes widerspricht. Bei Anwendung des vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Prüfungsmaßstabs für solche Stichtagsregelungen war ein Verstoß gegen Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz nicht feststellbar. Die vom Gesetzgeber angeführten Gründe für die Differenzierung zwischen Bestands- und Neurentnern sind sachlich nachvollziehbar und nicht willkürlich. Es entspricht einem Strukturprinzip der gesetzlichen Rentenversicherung, dass Leistungsverbesserungen ebenso wie Leistungskürzungen grundsätzlich nur für neu bewilligte Renten gelten. Der Gesetzgeber durfte auch auf den erheblichen organisatorischen und finanziellen Mehraufwand bei sofortiger Einbeziehung der Bestandsrentner abstellen. Zudem war zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber mittlerweile für die Bestandsrentner einen Zuschlag zu ihrer Erwerbsminderungsrente und ebenso zu einer daran anschließenden Altersrente eingeführt hat, der ihnen ab dem 1. Juli 2024 zustehen wird. Der 5. Senat hat deshalb davon abgesehen, die Verfahren – wie von den Klägern gefordert – auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, ob die gesetzliche Regelung verfassungswidrig ist.«

Von dieser Entscheidung sind nicht einige wenige Fälle betroffen: Das Urteil ist von Bedeutung für rund 1,8 Millionen Erwerbsminderungsrentner, die zwischen 2001 und 2019 in Rente gegangen sind.

Die Sozialverbände VdK und SoVD haben die Revisionsverfahren beim BSG gemeinsam betrieben. Die sind natürlich nicht begeistert von der Entscheidung der Bundessozialrichter: VdK und SoVD:„Jetzt gehen wir nach Karlsruhe!“, so ist deren Reaktion überschrieben. Darin wird die Präsidentin des VdK, Verena Bentele, mit diesen Worten zitiert: Verena Bentele: „Das Bundessozialgericht hat unserer Revision nicht entsprochen. Für alle Erwerbsminderungsrentner, die wegen einer Erkrankung oder Behinderung nicht mehr arbeiten können, ist das eine bittere Entscheidung. Allerdings ist hier das letzte Wort noch nicht gesprochen. Das Bundesverfassungsgericht muss nun klären, ob die derzeitige Gesetzgebung gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes verstößt. Der SoVD und wir als VdK gehen deswegen nun nach Karlsruhe.“

Noch also ist diese Frage nicht abschließend geklärt. Aber auch wenn das Bundesverfassungsgericht das Schlusswort haben wird, sollte man keine übertriebenen Hoffnungen haben, dass sich das BVerfG gegen die Argumentation der sozialrechtlichen Rechtsprechung stellen wird, also auf eine verfassungsrechtlich schwerwiegende Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes erkennen wird. Vor allem, wenn man berücksichtigt, dass sich der Gesetzgeber mit dem Rentenanpassungs- und Erwerbsminderungsrenten-Bestandsverbesserungsgesetz bereits bewegt hat. Hinzu kommt in solchen Verfahren oftmals die Formel vom „weiten Gestaltungsspielraum“, die seitens des Verfassungsgerichts dem Gesetzgeber zugeschrieben wird.