»Alle Beschäftigten in der Altenpflege erhalten im Jahr 2020 einen gestaffelten Anspruch auf eine einmalige Sonderleistung (Corona-Prämie) in Höhe von bis zu 1.000 Euro. Die höchste Prämie erhalten Vollzeitbeschäftigte in der direkten Pflege und Betreuung.« Und nicht nur das: »Auch Auszubildende, Freiwilligendienstleistende, Helfer im freiwilligen sozialen Jahr und Leiharbeiter sowie Mitarbeiter in Servicegesellschaften sollen eine Prämie erhalten.«
Das konnte man am 23. Mai 2020 auf der Seite des Bundesgesundheitsministeriums lesen unter der Überschrift: Zweites Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite.
Als das Gesetz mit der Sonderregelung für eine „Corona-Prämie“ für die Altenpflege in Kraft trat, lagen schon einige Wochen Diskussion hinter uns – bei der was vor allem wie so oft um die Frage ging, wer denn die Rechnung übernehmen soll bzw. muss (vgl. dazu den Beitrag Nur nicht sich selbst bewegen und mit dem Finger auf andere zeigen: Die Sonderprämie für Beschäftigte in der Altenpflege und die Reise nach Jerusalem bei der Frage: Wer zahlt (nicht)? vom 27. April 2020). In dem Gesetz (Bundesgesetzblatt 2020 Nr. 23 vom 22.05.2020) wurde erst einmal die Beitragszahlergemeinschaft herangezogen und eine wolkige Inaussichtstellung einer möglichen Finanzierung aus Steuermitteln vermerkt: »Arbeitgebern in der Pflege werden die Prämien im Wege der Vorauszahlung zunächst von der sozialen Pflegeversicherung erstattet. In der zweiten Hälfte des Jahres 2020 werden das Bundesministerium für Gesundheit und das Bundesministerium der Finanzen miteinander festlegen, in welchem Umfang die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung Zuschüsse des Bundes zur Stabilisierung der jeweiligen Beitragssätze (auch zur Refinanzierung der Corona-Prämien) erhalten«, so das Bundesgesundheitsministerium.
Aber wenigstens war bei diesem Anlauf klar, dass alle Beschäftigten in der ambulanten und stationären Altenpflege einen Anspruch auf die „Corona-Prämie“ hatten (also die, die in dem eingefügten § 150a SGB XI in den Absätzen 1-3 explizit aufgezählt wurden). Und nicht nur das – die Prämie war auch nicht auf höchstens 1.000 Euro gedeckelt: »Die Länder und die Arbeitgeber in der Pflege können die Corona-Prämie ergänzend bis zur Höhe der steuer- und sozialversicherungsabgabenfreien Summe von 1.500 Euro aufstocken.« Und in dieser Formulierung steckt dann auch schon die Antwort auf die mögliche Frage, warum man denn bis zu 1.500 Euro „Corona-Prämie“ zahlen konnte: Die Höhe leitet sich ab aus der Tatsache, dass der Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) eine Regelung erlassen hatte, dass Arbeitgeber ihren Beschäftigten 2020 Corona-Sonderprämien bis zu 1.500 Euro gewähren können, ohne dass darauf Steuern und Sozialbeiträge erhoben werden. Brutto für netto.
Jenseits des Hauen und Stechens hinter den Kulissen hinsichtlich der Frage, aus welcher Schatulle der Bundesanteil für die Prämie geholt wird ist diese Formulierung im Gesetz von entscheidender Bedeutung und von nahezu wunderschön anmutender Eindeutigkeit:
»Die zugelassenen Pflegeeinrichtungen werden verpflichtet, ihren Beschäftigten im Jahr 2020 zum Zweck der Wertschätzung für die besonderen Anforderungen während der Coronavirus-SARS-CoV-2-Pandemie eine für jeden Beschäftigten einmalige Sonderleistung nach Maßgabe der Absätze 2 bis 6 und 8 zu zahlen (Corona-Prämie)« (§ 150a SGB XI Abs. 1).
Die Arbeitgeber werden verpflichtet, was also bedeutet, dass den Beschäftigten in der ambulanten und stationären Altenpflege ein Rechtsanspruch auf diese Sonderleistungen zugestanden wurde – und damit haben wir eine deutlich bessere Regelung als das, was dann später als „Corona-Prämie“ für die Krankenhauspflegekräfte nachgeschoben wurde. Oder sagen wir es genauer: Für einen ausgewählten Kreis unter den Pflegekräften, die in Kliniken unterwegs sind (vgl. dazu die Anmerkungen in dem Beitrag Wenn eine am Anfang sicher gut gemeinte Anerkennungsprämie zu einem toxischen Spaltpilz mutiert. Bei der Corona-Prämie für Pflegekräfte sortiert und differenziert man sich ins Nirwana vom 3. September 2020).
Da wir uns nun schon im April des Jahres 2021 können wir also das Thema eigentlich zu den Akten legen und uns einem der zahlreichen aktuellen Baustellen widmen. Könnte man meinen, wenn da nicht so eine Meldung reinkommen würde:
»Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) kritisiert scharf die Arbeitgeber, die ihren Beschäftigten in Pflegebetrieben die gesetzlich zustehende Corona-Prämie von bis zu 1.500 Euro vorenthalten haben.« So beginnt diese Meldung der Gewerkschaft: Altenpflege: Viele Unternehmen zahlen Beschäftigten keine gesetzliche Corona-Prämie – ver.di fordert Betroffene zur Geltendmachung auf. Bitte? Es gab doch im vergangenen Jahr – wie zitiert – sogar einen in das Gesetz geschriebenen Rechtsanspruch auf die „Corona-Prämie“.
„Ausgerechnet Beschäftigten, die oft nur Mindestlohn bekommen und in der Corona-Pandemie extrem gefordert und gefährdet sind, auch noch die gesetzlich geregelte Prämie zu verweigern, ist einfach nur noch schändlich. Was läuft in dieser Branche noch alles schief, wenn selbst Geld, für das es einen Rechtsanspruch gibt und das die öffentliche Hand für diese außerordentliche Beanspruchung übernimmt, nicht bei den Beschäftigten ankommt?“, so wird Sylvia Bühler, Mitglied im ver.di-Bundesvorstand, zitiert. Und wir erfahren weiter: »Viele Beschäftigte, denen eine Prämie zusteht, hätten diese nicht erhalten, vor allem bei privaten Diensten in der ambulanten Altenpflege.«
Wie kommt die Gewerkschaft, die bekanntlich in der Altenpflege lediglich einen Organisationsgrad bei den Beschäftigten hat, den man als molekular bezeichnen muss, zu solchen Erkenntnissen?
Die Gewerkschaft beruft sich auf eine aktuelle Studie der Steuerberatung ETL Advision zum Lohnvergleich in der Pflegebranche. Diese Studie kommt zu dem Ergebnis, dass bundesweit bis Dezember 2020 mehr als 40 Prozent der Beschäftigten in den untersuchten ambulanten und teilstationären Pflegebetrieben die ihnen zustehende steuerfreie Corona-Prämie nicht erhalten haben. Für die Studie wurden mehr als 360.000 Datensätze ausgewertet, sie umfasst mehr als 1.000 Pflegedienste. Finanziert wurde die Prämie aus Mitteln des Bundes und der Bundesländer, die Auszahlung erfolgte über den Arbeitgeber.
Das muss man sich mal vorstellen – 40 Prozent der Beschäftigten haben nicht die Ihnen zustehende Prämie von ihrem Arbeitgeber ausgezahlt bekommen, so die Daten von mehr als 1.000 Pflegediensten. Interessant auch dieses Detail vor dem Hintergrund, dass ansonsten meistens die Beschäftigten in Ostdeutschland noch schlechter dran sind: »So erhielten in der Region Ost wesentlich mehr Pflegekräfte die Prämie als in der Region West. Ähnliche Unterschiede zeigten sich bei der Höhe der Auszahlungen.«
Und nun?
Was schlägt die Gewerkschaft vor? »Wir empfehlen den betroffenen Beschäftigten dringend, ihre Ansprüche gegenüber ihrem Arbeitgeber schriftlich geltend zu machen … Diese würden zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Erstattungen durch die Pflegekassen mehr bekommen, aber das hätten sie sich selbst zuzuschreiben. Gewerkschaftsmitgliedern werde auch Rechtsschutz gewährt, wenn der Arbeitgeber den Anspruch nicht erfülle. Es sei zwar juristisches Neuland, aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Gerichte den Anspruch gegenüber dem Arbeitgeber bestätigen, sei sehr hoch.«