Diesseits und jenseits der Herausforderungen durch das Coronavirus: Bereits unter Normalbedingungen läuft es vielerorts nicht gut bei der Kindertagesbetreuung

Die Medien kennen nur ein Thema: die Folgen des Herunterfahrens vieler so selbstverständlicher Funktionalitäten unseres alltäglichen Lebens angesichts der Herausforderungen, die Ausbreitung der Infektionsfälle zu verlangsamen. Dazu gehört nun auch die Schließung von Schulen und – besonders relevant für die meisten Eltern, weil die jüngsten Kinder betreffend, die man nicht alleine lassen kann – auch der Kindertageseinrichtungen. Das Wochenende war für viele Eltern damit ausgefüllt, die Betreuung der Kinder zu organisieren bzw. das zu versuchen – was zugleich dadurch erschwert wird, dass von der Inanspruchnahme des ansonsten bei vielen Eltern in solchen Situationen an erster Stelle stehenden Ausfallbürgen Großeltern angesichts der besonderen Vulnerabilität der älteren Menschen abgeraten wird.

Neben der Tatsache, dass nun und so richtig in den kommenden Tagen und Wochen die berühmte, hier aber im Vergleich zur Finanzkrise aus dem letzten Jahrzehnt ganz anders gelagerte „Systemrelevanz“ der Kindertagesbetreuung für die Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt erkenn- und spürbar werden wird (worüber hier wie in den meisten anderen Beiträgen derzeit in den Medien nur mehr oder weniger sinnenhafte Spekulationen angestellt werden könnten, weshalb das nicht passieren soll), lohnt an dieser Stelle ein Blick auf das vielgestaltige und so bedeutsame System der Kindertagesbetreuung, aus dem heraus gerade kurz vor der Coronavirus-Krise bedenkliche Mangelmeldungen zu vernehmen waren. Insofern gibt es bedenkliche Parallelen zur Welt der Alten- und Krankenpflege, wo ja auch schon seit langem an vielen Stellen bezogen auf den Normalzustand „Land unter“ gemeldet wird (vgl. zur Pflege den Beitrag Der Irrsinn mit den Kräften in der Pflege. Oder: Folge dem Geld, dann wird aus dem offensichtlichen Irrsinn ein betriebswirtschaftlich durchaus rationales Vorgehen vom 10. März 2020).

Aktuell geht es um die massiven Verwerfungen, die im Kontext mit der nun verfügten Schließung der Einrichtungen und zugleich der Herausforderung, eine Notfallbetreuung für die Kinder bestimmter Eltern organisieren zu müssen, entstehen. Allein für Berlin sprechen wir hier von 300.000 jüngeren Kindern, die nun weitgehend auf ihre Familien angewiesen sein werden. Und auch die angekündigte Notbetreuung hört sich einfacher an, als sie zu organisieren sein wird. Ursprünglich hatte man wohl geplant, in einigen Einrichtungen ein solches Angebot zu installieren: »Besonders schwierig wird es für die Kitakinder, deren Eltern sich nicht frei nehmen können, weil sie „systemrelevanten Tätigkeiten“ nachgehen, also den Bereichen Gesundheit und Pflege oder öffentliche Sicherheit und Energieversorgung: Sie müssen unter Umständen in fremde Kitas ausweichen, sofern es keine Verwandten oder Freunde gibt, die auf sie aufpassen können.«

Da gab es sogleich Widerspruch: »Der Chef-Virologe der Charité Berlin Christian Drosten warnte auf Twitter vor einer Neugruppierung durch die Notbetreuung. Hierdurch würden neue primäre und sekundäre Kontaktnetzwerke durch die Eltern entstehen, die eine Infektion befeuern.« Der Berliner Tagesspiegel berichtete dazu ausführlicher: Da Schulen und Kitas geschlossen werden, soll es zum Beispiel für Kinder von Krankenhausmitarbeitern eine Notbetreuung geben. Der Charité-Virologe Christian Drosten warnt jetzt vor neuen Infektionsketten, wenn Kinder dafür neu gruppiert würden. „Die Infektion wird dadurch befeuert.“ Drosten spricht sich für die „österreichische Lösung“ aus. Demnach sollten bestehende Gruppen beibehalten, aber ausgedünnt werden. Die vertrauten Lehrer/innen oder Erzieher/innen sollten einfach deutlich weniger Kinder pro Gruppe oder Klasse betreuen. Durch eine Neugruppierung fürchtet der Charité-Virologe noch einen weiteren negativen Effekt: Für kleine Kinder könnte das eine Belastung sein, eine neue Eingewöhnung, die wiederum jenen Eltern Schwierigkeiten machen würde, die derzeit besonders gefordert sind. „Kritische Berufsgruppen fallen dann aus“, warnt Drosten. „Eltern junger Kinder sind die Leistungsträger in vielen Berufen.“

Offensichtlich hat man sich in Berlin dieser Argumentation nicht verschlossen. Aber die Realisierung wird in den kommenden Tagen noch eine große Herausforderung werden. »Die Notbetreuung rasch zu organisieren, ist zwar nicht einfach, aber wir werden das hinbekommen. In den ersten Tagen wird es hier sicher noch ruckeln. Denn wir müssen Bescheinigungen der Arbeitgeber für bestimmte Berufsgruppen erhalten, dass Eltern am Arbeitsplatz unbedingt gebraucht werden«, kann man diesem Interview entnehmen: Städtetags-Hauptgeschäftsführer Dedy: Kommunen werden Notbetreuung realisieren. Und man sollte die zahlreichen Schwierigkeiten nicht unterschätzen, die sich durch die durchaus plausible Variante einer fortgeführten Betreuung der dann deutlich geringeren Anzahl an Kindern in ihren angestammten Settings ergeben werden, denn unterm Strich bedeutet das natürlich, dass man die bestehenden Einrichtungen eben nicht schließt. Nur für viele Kinder. Das Personal in den Kitas muss weiter vorgehalten werden und man wird schnell Lösungen finden müssen, wer das wie finanziert. Aber hier sind wir dann schon in der angesprochenen Welt der Spekulation.

Berichte aus einem der deutschen Mangellandschaften

Kurz bevor die Kitas (und auch die Kindertagespflege sollte hier ausdrücklich erwähnt werden, wo fast 50.000 Tageseltern unterwegs sind und einen wichtigen Beitrag zur Versorgung leisten) in den Strudel der Coronavirus-Folgen gezogen wurden, gab es mal wieder Zahlen aus der Welt des Mangels:

»Die Personalsituation an deutschen Kitas hat sich laut einer Studie weiter verschlechtert: Demnach muss jede vierte Kita fast die Hälfte der Zeit mit zu wenig Personal arbeiten – und Fachkräfte sind kaum zu finden«, so diese Meldung: Personalmangel wird schlimmer. »In deutschen Kindertagesstätten hat sich die Personalsituation weiter verschlechtert. Das geht aus einer repräsentativen Befragung von fast 2800 Kita-Leitern in Deutschland hervor. Jede vierte Kita-Leitung gab demnach an, in über 40 Prozent der Betreuungszeit mit zu wenig Personal gearbeitet zu haben. Im Vergleich zum Vorjahr sei das eine Steigerung entsprechender Rückmeldungen durch Kita-Leitungen um acht Prozent, kritisierte der Vorsitzende der Verbands Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann.«

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) hat unter der Überschrift Wachsender Personalmangel: Bildungs- und Betreuungsqualität massiv beeinträchtigt ausgeführt: „Vor einem Jahr bewerteten wir die Ergebnisse der DKLK-Studie 2019 mit den Worten ‚Alarmstufe Rot‘. Damals musste bereits ein Sechstel der Kitas in diesem Zustand arbeiten. Dass sich die Situation trotz dieser Warnsignale aus dem Jahr 2019 binnen 12 Monaten nochmals derart verschlechtert hat, ist ein Skandal, das unzureichende Handeln der Politik ist schockierend und verantwortungslos. Dass zudem nicht einmal jede zehnte Kita durchgehend mit einer ausreichenden Personalausstattung arbeiten konnte belegt, dass wir einen flächendeckend dramatischen Zustand haben“, so dort der VBE-Vorsitzende Udo Beckmann. „Dass fast 7 von 10 Befragten die Arbeitsbelastung für die in Kita engagierten Fachkräfte als akut gesundheitsgefährdend beurteilen, ist erschreckend, vor dem Hintergrund des massiven Personalmangels aber gleichermaßen nicht verwunderlich. Was wir beobachten, ist ein sich selbst verstärkender Teufelskreis. Der Personalmangel führt zu zusätzlichen Belastungen bei den Erzieherinnen und Erziehern. Höhere Krankenstände sind die Folge, wenn Menschen sich über ihre Belastungsgrenze hinweg aufopfern. Das erhöht wiederum die Arbeitsbelastung der verbleibenden Fachkräfte und gefährdet deren Gesundheit zusätzlich“, so Beckmann.

Der VBE bezieht sich dabei auf diese Studie:

➔ Wolters Kluwer (2020): DKLK-Studie 2020. Kita-Leitung zwischen Digitalisierung und Personalmangel. Köln: Wolters Kluwer, März 2020

Es handelt sich um eine Umfrage, welche zum sechsten Mal erhoben wurde. Daran haben 2.795 Kita-Leitungen teilgenommen.

Der von Beckmann gegebene Hinweis auf einen „sich selbst verstärkenden Teufelskreis“ – Personalmangel führt zu zusätzlichen Belastungen bei den Erzieherinnen und Erziehern, höhere Krankenstände sind die Folge, das erhöht wiederum die Arbeitsbelastung der verbleibenden Fachkräfte und gefährdet deren Gesundheit zusätzlich – wurde bereits an anderer Stelle ausführlich beschrieben. Vgl. dazu den Beitrag Aus der Welt des realen Fachkräftemangels: Pädagogische Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen fehlen immer mehr und länger und andere fallen aus vom 20. Januar 2020. Ebenfalls wurde der erneut beklagte Personalmangel (der nicht nur ein quantitativer, sondern auch ein Qualitativer ist) bereits im vergangenen Jahr in diesem Beitrag mit Zahlen unterfüttert dargestellt: Neue alte Zahlen aus dem Land der Rechtsansprüche und des strukturellen Mangels: Die Kitas und ihr Personal (29. September 2019).

Zurück zu der neuen Studie: 94 Prozent der Kitas haben nach Angaben der befragten Leitungskräfte für unter dreijährige Kinder eine Fachkraft-Kind-Relation, die hinter der wissenschaftlichen Empfehlung von 1 zu 3 zurückbleibt. Bei den über Dreijährigen verfehlen demnach 76 Prozent den statistischen Betreuungsschlüssel von 1 zu 7,5. Kritisiert wurde auch das zum 1. Januar 2019 bundesweit in Kraft getretene „Gute-Kita-Gesetz“: Es setze oft die falschen Prioritäten, da Familien zwar finanziell entlastet, aber zu wenig Mittel in die Einrichtungen investiert würden.

In der Studie wird darauf hingewiesen: »… allein für den Bereich der Kindertagesbetreuung wird bis 2025 von einem zusätzlichen Personalbedarf von rund 310.000 Fachkräften ausgegangen … Bleibt es bei den aktuellen Ausbildungskapazitäten und schließen jährlich etwa 30.000 Personen erfolgreich ihre Ausbildung zum/zur Erzieher/in ab, wäre damit nicht einmal der Bedarf an Personal gedeckt, der für die demografischen Veränderungen, die Erfüllung des Rechtsanspruchs sowie den Ersatz desjenigen Personals, das aus unterschiedlichen Gründen (z.B. alters- oder krankheitsbedingt) das Arbeitsfeld verlässt, benötigt wird … Zudem ist zu erwarten, dass bei der Umsetzung des Rechtsanspruches auf Ganztagsschulbetreuung weitere pädagogische Fachkräfte benötigt werden und beide Einsatzfelder in Konkurrenz stehen.« (S. 4).

Und auch diesen Hinweis sollte man zur Kenntnis nehmen: »Der Trend scheint aktuell dahin zu gehen, durch eine Absenkung des Qualifikationsniveaus die Ausbildungszeiten zu verkürzen bzw. den Weg über den Quereinstieg in das Berufsfeld noch stärker zu öffnen. So haben mehrere Bundesländer bereits ihre Fachkräfte-Kataloge/Personalvereinbarungen für weitere Berufsgruppen geöffnet (z.B. Nordrhein-Westfalen). Die Kultusministerkonferenz diskutiert aktuell zudem eine verkürzte Erstausbildung auf DQR-4-Niveau, zur/ zum sogenannten „Fachassistentin bzw. -assistent für frühe Bildung und Erziehung“ unterhalb der Erzieherausbildung, die im Sinne des SGB VIII als Fachkräfte für die Tätigkeit in Kindertageseinrichtungen anerkannt sein sollen. Die Gefahr, die damit einhergeht, ist eine generelle Absenkung der professionellen Standards im Berufsfeld, was den Professionalisierungsbemühungen der letzten Jahre zuwiderlaufen würde.« Diese Entwicklung wurde hier bereits 2018 dargestellt und kritisiert – vgl. dazu den Beitrag Die Schattenseite der großen Zahlen: Man braucht mehr Personal – und senkt die Ausbildungsstandards. Das Beispiel der Kindertagesbetreuung vom 28. Juni 2018.

Dem einen oder anderen werden die Parallelen zur Altenpflege auffallen – auch dort werden wir mit eindeutigen Signalen einer Deprofessionalisierung konfrontiert: So kommt beispielsweise die „Rothgang-Studie“ zu dem Ergebnis, dass zahlreiche Pflegekräfte fehlen, um dann aber in einem Abwasch den offensichtlichen Personalbedarf im Wesentlichen zu reduzieren auf einen Bedarf an Hilfskräften. Vgl. dazu ausführlicher Die Zukunft der stationären Altenpflege zwischen Mindestlohn und wenn, dann mehr Hilfskräften? Kritische Anmerkungen angesichts einer doppelten Absenkung in einem ganz besonderen Arbeitsfeld vom 25. Februar 2020 sowie ergänzend Appell der Verzweiflung: Für die Pflege nehmen wir alle. Was für ein Schuss ins Knie vom 29. Februar 2020.

Durch solche Entwicklungen werden diese beiden im wahrsten Sinne des Wortes „systemrelevanten“ Handlungsfelder (wie man derzeit schmerzhaft erfahren muss) – also die Altenpflege und die Kindertagesbetreuung, wo zudem noch mit den verletzlichsten Menschen in unserer Gesellschaft gearbeitet wird – mit Sicherheit nicht attraktiver gemacht für eine Welt, in der in den kommenden Jahren zum einen der großen Abgang der Babyboomer-Generation aus dem Erwerbsleben ansteht und zugleich die potenzielle Nachfolge-Gruppe aufgrund der demografischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte erheblich kleiner ausfallen wird, um die dann auch andere Bereiche heftig konkurrieren werden.

Wer an weiteren Daten sowie an der Sichtweise der Regierung zum Thema Personal und er Kindertagesbetreuung interessiert ist, der sei ergänzend auf diese Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion im Bundestag verwiesen:

➔ Zur Situation von Erzieherinnen und Erziehern in Deutschland 2019, Bundestags-Drucksache 19/17412 vom 27.02.2020