Die Schattenseite der großen Zahlen: Man braucht mehr Personal – und senkt die Ausbildungsstandards. Das Beispiel der Kindertagesbetreuung

»Unübersehbar aber ist der Trend hin zu einer Absenkung von Standards und Anforderungen, um das alles dominierende Problem des quantitativen Personalmangels irgendwie in den Griff zu bekommen. Das kann und wird sich aber rächen. Vergleichbare Entwicklungen sehen wir derzeit auch in den Pflegeberufen.« Diesen Passus findet man am Ende des Beitrags Auch der Bildungsbericht 2018 berichtet von Gewinnern und Verlierern. Und was die Kitas mit der Pflege gemeinsam haben, der hier am 24. Juni 2018 veröffentlicht wurde. Darin wurde in einem vergleichenden Blick auf Pflegekräfte und den pädagogischen Fachkräften in den Kindertageseinrichtungen darauf hingewiesen, dass es in beiden Bereichen eine Gleichzeitigkeit der strukturellen Probleme gibt: Ein bereits bestehender und täglich zunehmender quantitativer Personalmangel (der mit der quantitativen „Erfolgsgeschichte“ einer in den vergangenen Jahren stetig expandierenden Nachfrage sowohl nach Pflege wie auch Kindertagesbetreuung korreliert), zugleich aber auch ein qualitativer Mangel dergestalt, dass die Anforderungen an die Arbeit steigen, man also nicht nur mehr Fachkräfte benötigt, sondern diese auch (eigentlich) noch besser qualifiziert werden müssten, um den Herausforderungen der Arbeit mit denen ihnen anvertrauten sehr jungen und meistens sehr alten, mithin also überaus vulnerablen Menschen gerecht werden zu können.

Was aber sehen wir in der wirklichen Wirklichkeit? Interessierte Kreise fordern beispielsweise in der Altenpflege eine Absenkung des einzigen halbwegs greifbaren Personalstandards, der Fachkraftquote von 50 Prozent, um mehr un- und angelernte Kräfte einsetzen zu können, gleichzeitig bringt man eine Reform der Pflegeausbildungen auf den Weg, bei der entgegen des ursprünglichen Ansatzes die von den Zugangsvoraussetzungen und den Erwartungen abgesenkte Altenpflege-Ausbildung konserviert werden soll. Und in den Kindertageseinrichtungen

Dieser Bereich steht einerseits für eine echte „Boom-Branche“. So wurden vor allem seit 2007  im Westen Deutschlands hunderttausende neuer Kita-Plätze geschaffen. Die gewaltige Expansion der Kindertagesbetreuung kann man sich mit einem Blick auf die Beschäftigtenzahlen verdeutlichen. 2006 arbeiteten 415.018 Beschäftigte in den deutschen Kindertageseinrichtungen – 2017 waren es bereits 692.643. Das ist ein Anstieg von fast 70 Prozent. Hinzu kommen – was oft in der „Kita“-Debatte vergessen wird – die Kindertagespflegepersonen. 2006 waren das 30.427. Deren Zahl stieg bis 2014 auf 44.860 und geht seitdem leicht zurück, auch aufgrund der teilweise nur als desaströs zu bezeichnenden Vergütungsverhältnisse in diesem Bereich. Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Die Vergessenen in real existierenden Kita-Welten. Von einem löchrigen Rechtsanspruch, schon heute und demnächst so richtig fehlenden Fachkräften und ja, dem Kindeswohl vom 7. März 2018.

In der Vergangenheit konnte der steigenden Personalbedarf in diesem expandierenden Feld noch durch Abgänger aus dem Ausbildungssystem sowie durch die Mobilisierung von Fachkräften, sie sich eigentlich zurückgezogen hatten aus dem Berufsfeld, halbwegs bewältigt werden. Doch jetzt wird es zunehmend schwieriger, schon unter den herrschenden Bedingungen überhaupt noch Personal zu finden – geschweige denn das zusätzliche Personal, das notwendig wäre, um die – eigentlich – nach allen Fach-Standards erforderlichen besseren Personalschlüssel realisieren zu können.

In diesem Beitrag habe ich geschrieben: »Im Kita-Bereich müssen wir nun aufpassen, dass es nicht zu einer vergleichbaren „panischen Reduktion“ im Sinne einer Irgendwie-Personalbeschaffung kommt wie in der Pflege.« Genau das aber lässt sich derzeit leider beobachten. Das wurde bereits am Beispiel der Entwicklungen in Berlin beschrieben, wo ganz offensichtlich die Qualität der Ausbildung leidet. Und gleichsam täglich erreichen uns entsprechende Meldungen aus anderen Regionen des Landes.

Beispiel Hamburg: Der reduzierte Blick auf einige wenige Zahlen ergibt auch hier alle Merkmale einer echten „Erfolgsstory“: »In Hamburg werden 87.000 Jungen und Mädchen in Kitas und Vorschulen betreut. Das ist eine Steigerung um 30 Prozent seit 2011. Damit wird mittlerweile fast jedes zweite Kind im Krippenbereich (44,6 Prozent) und fast alle Kinder im Elementarbereich (97,8 Prozent) betreut. Kita-Ausbau und Qualitäts-Verbesserungen kosten die Steuerzahler viel Geld. Die Ausgaben für Kindertagesbetreuung sind von 2011 bis 2017 um rund 412 Millionen Euro auf 822 Millionen Euro gestiegen. Für 2020 rechnet die Behörde mit einem Anstieg auf eine Milliarde Euro.« Das hört sich beeindruckend und prächtig an, dahinter verbergen sich aber massive Probleme, die man dann dem Artikel, aus dem die Zahlen stammen, entnehmen kann: Hilferuf der Fachschul-Lehrer: Brandbrief zeigt: Kita-Not immer größer:

»Der bundesweite Erziehermangel hat in Hamburg dramatische Auswirkungen auf die Qualität der Kinder-Betreuung. So steht es in einem Brandbrief, den Lehrer der Fachschule für Sozialpädagogik in Altona geschrieben haben. Das Problem: Um schnell zusätzliches Personal an die Kitas zu bekommen, wurden die Ausbildungs-Standards erheblich gesenkt. Ein Schulleiter hat schon bei seinen Vorgesetzten angemeldet, dass er die Anweisung zwar umsetzen werde, sie aber nicht verantworten könne.«

„Die an den Stadtteilschulen übrig gebliebenen Schüler werden jetzt auf kleinste Kinder losgelassen“, so wird ein sehr erfahrener Fachlehrer einer der sozialpädagogischen Fachschulen in Hamburg von der Zeitung zitiert. »Damit möglichst schnell zusätzliches Personal an die Kitas kommt, dürfen jetzt auch Hauptschüler eine Ausbildung zum sozialpädagogischen Assistenten machen. „Das sind Jugendliche, die früher in die Hauswirtschaft gegangen und dann in den Küchen gelandet sind“, so der Sozialpädagoge. „Die sind nett und engagiert, aber sie haben einfach nicht das Zeug zum Kita-Beruf.“«

»Laut einer Kita-Erzieherin kommen durch den Notstand jetzt junge Leute in die Kitas, die den Kindern nicht einmal ein Buch vorlesen können – weil sie selbst nicht gut genug lesen können. Vom Schreiben ganz zu schweigen …  „Kaschiert wird diese Entwicklung, indem nur noch die Rede von sogenannten pädagogischen Fachkräften ist. Aber was bitte schön verbirgt sich hinter dem Begriff?“ Immer seltener eine gut ausgebildete Erzieherin.«

In dem erwähnten Brandbrief von Fachschullehrern findet man diese Hinweise: »Die Maßnahmen zur Fachkräftegewinnung kommen verspätet und gleichzeitig zu schnell: Seit Jahren trifft die Politik Entscheidungen („Recht auf Kitaplatz“, „Gebührenbefreiung für alle“) ohne Hinweise ernst zu nehmen, dass dafür entsprechend ausgebildetes Personal fehlt. So schnell geht es nicht.«

Die Fachschullehrer befürchten: »Die Öffnung durch Herabsetzung der Zulassungsvoraussetzungen wird zu einer qualitativen Herababsenkung in der Ausbildung führen. Daran anschließend wird es zu weiteren Beschäftigungsverhältnissen kommen, von denen die Menschen ihre Lebenskosten nicht bestreiten können.« Und sie weisen darauf hin, dass die Expansion der Ausbildungszahlen ja nicht im luftleeren Raum stattfinden kann, sondern man dafür tatsächlich reale Räume und Menschen braucht: Ihre eigene sozialpädagogische Fachschule »platzt aus allen Nähten, wir nähern uns 1.800 SchülerInnen aus den unterschiedlichsten Ausbildungsgängen (vor nicht allzu langer Zeit lernten hier 800 Menschen). Die personelle Entwicklung, die räumliche Ausstattung hält dem Tempo nicht stand.« Und wie es an der Ausbildungsfront aussieht, kann man auch so einem Hinweis entnehmen: Die Klassen sollten nicht mit 30 Schülern starten, obwohl die Räume von der Größe nur für 21 ausgelegt seien, wo also schon ein Schwund einkalkuliert ist, damit wenigstens nach 6 Monaten jeder einen Stuhl, bzw. Platz im Unterrichtsraum finden kann.

Im vergangenen Jahr haben knapp 30 Prozent der Hauptschüler, die sozialpädagogische Assistenten werden wollten, das erste Halbjahr nicht überstanden und abbrechen müssen.

Und das Herumdoktern an der Art und Weise, wie Erzieher/innen ausgebildet werden (wobei man darauf hinweisen muss, dass es bei der Ausbildung Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern gibt und zugleich viele Uneingeweihte sicher überraschend, dass es sich im Regelfall nicht etwa um eine bezahlte Ausbildung handelt), zeigt durchaus ambivalente Züge.

Beispiel Mecklenburg-VorpommernTrotz Erziehermangel kaum Anreize für Berufsanfänger, so haben Sinje Stadtlich und Katrin Kampling ihren Artikel dazu überschrieben. Nach dem Ländermonitoring der Bertelsmann-Stiftung fehlen allein in Mecklenburg-Vorpommern 6.700 Vollzeit-Fachkräfte. Und diese Zahlen sind nur eine Momentaufnahme – berücksichtigt man den weitergehenden Kita-Ausbau und die anstehenden Verrentungen, wären sie noch höher. Und würde, so sei hier angefügt, die eigentlich und gerade in Ostdeutschland aufgrund der vergleichsweise miserablen Betreuungsschlüssel besonders notwendige Verbesserung der Personalschlüssel auch noch berücksichtigt werden, dann reden wir über ein sehr großes Delta zwischen Ist und Soll.
»Fragt man Experten, woher dieser dramatische Mangel kommt, werden verschiedene Gründe genannt. Ein wesentlicher ist dabei die Organisation der Erzieher-Ausbildung: Sie dauert normalerweise vier Jahre und wird nicht bezahlt. Das führt dazu, dass Erzieher-Schüler wie Christine Loraj aus Rotenburg (Wümme) neben ihrer Ausbildung noch Nebenjobs haben, um überhaupt über die Runden zu kommen. Nach Christines Arbeitstag in der Kita beginnt um 16 Uhr ihre Schicht im Supermarkt. Kisten auspacken, Ware sortieren, an der Kasse sitzen, für 430 Euro im Monat.«

Und wie reagiert man auf diese Problematik? »Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat auf den Erzieher-Mangel reagiert und im Sommer 2017 eine neue Form der Ausbildung eingeführt. Sie ist stärker praxisorientiert, dauert nur drei Jahre, und die Auszubildenden werden bezahlt.« Mittlerweile »machen 100 Schüler die neue Form der Ausbildung. Sie werden vorbereitet auf die Arbeit mit 0 bis Zehnjährigen und nicht wie die klassischen Erzieher auf die Arbeit mit 0 bis 27-Jährigen. Deswegen argumentieren Kritiker dieser neuen Ausbildung, sie würden „Schmalspur-Erzieher“.« Was von anderen nicht geteilt wird, denn die argumentieren, dass die neue Ausbildung eben gezielt auf eine Tätigkeit in der Kita oder in einem Hort vorbereiten soll. Die Landesregierung will angeblich auch prüfen, ob später eine Weiterbildung zum klassischen Erzieher möglich ist, damit die Fachkräfte auch Jugendliche betreuen können.

Während die Tatsache, dass überhaupt eine Vergütung gezahlt wird, schon als Fortschritt zu verbuchen ist, weisen Kritiker auf Problemstellen des neuen Ansatzes hin: »Problematisch sei beispielsweise, dass die Absolventen des neuen Ausbildungsganges auf Mecklenburg-Vorpommern beschränkt seien. Bislang ist die Ausbildung nicht bundesweit anerkannt.Die Erziehergewerkschaft GEW befürchtet nach eigenen Angaben eine höhere Arbeitsbelastung, weil die Auszubildenden auf den Personalschlüssel ihrer Kita angerechnet werden.«

Während es also auf der einen Seite eine zunehmende Tendenz gibt, gemäß des Reaktionsmusters einer „Irgendwie-Personalbeschaffung“ die Ausbildungsstandards und die Zugangsvoraussetzungen abzusenken, hat das Feld „oben“, bei den qualifizierten Kräften ein weiteres Problem, das aus der defizitären Ausgestaltung des Berufsfeldes resultiert: eine hohe „Schwundquote“. Dazu liegen jetzt Ergebnisse einer neuen Studie vor:

Kirsten Fuchs-Rechlin und Ivo Züchner (Hrsg.) (2018): Was kommt nach dem Berufsstart? Mittelfristige berufliche Platzierung von Erzieherinnen und Erziehern sowie Kindheitspädagoginnen und Kindheitspädagogen. WiFF Studien Nr. 27, München: Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, 2018

Über die neue Studie berichtet die WIFF unter der Überschrift Ein Viertel der Nachwuchskräfte verlässt das Arbeitsfeld Kita: Nachwuchskräfte für die Kindertagesbetreuung sind gefragt wie nie. Laut einer Prognose des Deutschen Jugendinstituts benötigen Krippen, Kindergärten und Grundschulbetreuung bis zum Jahr 2025 bis zu 329.000 zusätzliche pädagogische Fachkräfte. Das Ausbildungssystem der Frühen Bildung ist in den letzten Jahren deutlich gewachsen. 2014/15 begannen deutschlandweit 43% mehr Personen eine Ausbildung in dem Bereich als noch 2007/08. Bei den Erzieherinnen und Erziehern waren es sogar 71%. Doch was kommt nach dem Berufsabschluss? Das hat das Forschungsprojekt „Übergang von fachschul- und hochschulausgebildeten Fachkräften in den Arbeitsmarkt“ (ÜFA) untersucht. Befragt wurden dafür Erzieherinnen und Erzieher sowie Bachelor-Absolventinnen und -Absolventen der Kindheitspädagogik in den ersten fünf Jahren des Berufseinstiegs. Und die Ergebnisse?

»Am Ende von Ausbildung und Studium gaben lediglich 54% der Erzieherinnen und Erzieher an, in der Kindertagesbetreuung arbeiten zu wollen. Sie bevorzugten andere pädagogische Arbeitsfelder, für die die Fachschulen für Sozialpädagogik ausbilden. Bei den Kindheitspädagoginnen und -pädagogen lag der Anteil mit Wunschberuf Kita sogar nur bei 33%.« Tatsächlich haben dann aufgrund der realen Nachfrageverhältnisse schließlich 68% aller Befragten ihren ersten Job in der Kita gefunden.Und auch die Befunde zu der Frage, wie es nach dem Berufseinstieg weitergegangen ist, geben Hinweise auf strukturelle Probleme: »Knapp 20% der befragten Erzieherinnen und Erzieher wurden nach ihrem Abschluss unterhalb des in Tarifverträgen vorgesehenen Gehalts für ihre Berufsgruppe bezahlt … Knapp ein Drittel der Befragten hat in den ersten fünf Jahren nach dem Berufsstart mindestens einmal die Stelle gewechselt. Fast ein Viertel der Nachwuchskräfte verlässt in diesem Zeitraum das Arbeitsfeld Kita ganz.«
Übrigens – bei den studierten Kindheitspädagoginnen und -pädagogen sind es nicht an sich schon weniger gewesen, die in das Arbeitsfeld Kita gegangen sind, sondern es waren noch mehr, die nach fünf Jahren die Kitas verlassen haben. Dazu kann man der Studie entnehmen: »Das liegt zum einen an ungünstigen formalen Beschäftigungsbedingungen wie Befristung, niedrigen Löhnen und mangelnden Karrierewegen. Zum anderen spielen ungünstige Arbeitsbedingungen eine Rolle, vor allem fehlende Einarbeitung sowie Konflikte im Team oder mit der Leitung. Dabei waren bei den Teilnehmenden der Studie vor allem qualitative Merkmale der Tätigkeit ausschlaggebend für einen Wechsel. Allen voran wurden fehlende Möglichkeiten bemängelt, professionelle Vorstellungen auch gegen etablierte Praktiken erfahrener Kolleginnen und Kollegen umzusetzen. „Konflikte lösen die jungen Fachkräfte über Stellenwechsel, die nicht selten aus dem Arbeitsfeld herausführen. So gehen wichtige Ressourcen verloren“, bilanzieren die Forscherinnen und Forscher.«