Ers vor kurzem wurde der seit langem erwartete Abschlussbericht über ein System der Personalbemessung für die stationäre Langzeitpflege veröffentlicht (vgl. dazu Rothgang et al. 2020). Während in der Medienberichterstattung vor allem die eine große Zahl herumgereicht wurde – nach dem Gutachten müsste die Zahl der Pflegekräfte in den Einrichtungen bei Anwendung des vorgeschlagenen Personalbemessungssystems um insgesamt 36 Prozent oder mehr als 100.000 erhöht werden, von jetzt rund 320.000 auf dann knapp 440.000 -, wurde kaum darüber diskutiert, dass die Gutachter damit weniger bis gar nicht Pflegefachkräfte gemeint haben, sondern der zusätzliche Personalbedarf, der bereits für die heutige Personalausstattung in den Heimen identifiziert wird, soll fast ausschließlich im Bereich der „Assistenzkräfte“ anfallen. Vgl. dazu ausführlich die kritischen Anmerkungen in dem Beitrag Die Zukunft der stationären Altenpflege zwischen Mindestlohn und wenn, dann mehr Hilfskräften? Kritische Anmerkungen angesichts einer doppelten Absenkung in einem ganz besonderen Arbeitsfeld vom 25. Februar 2020.
Das Gutachten bezieht sich ausschließlich auf den Bereich der stationären Alten- bzw. Langzeitpflege. Geht es um den Personalbedarf insgesamt, dann muss man natürlich auch die ambulanten Pflegedienste berücksichtigen und die Pflegekräfte in den Krankenhäusern. Und das alles dann unter dem Vorzeichen, dass der Bedarf an neuen und zusätzlichen Pflegekräften nicht nur deshalb enorm zunehmen wird, weil viele Pflegekräfte in den kommenden zehn, fünfzehn Jahren altersbedingt das Feld verlassen werden, sondern auch, weil wir es mit einem stark steigenden Pflegebedarf in der Bevölkerung zu tun haben.
Natürlich kommt angesichts des bereits bestehenden Fachkräftemangels in allen Segmenten der Pflege verständlicherweise die Frage auf, wie man denn die bereits heute offensichtliche personelle Unterdeckung, geschweige denn den aus mehreren Gründen weiter steigenden Bedarf an Pflegekräften decken kann, also wo sollen die notwendigen Menschen denn herkommen?
Offensichtlich glauben einige Akteure, dass man mit dem Schwenk hin zu einer Umdeutung des Personalbedarfs auf den Bereich der Hilfskräfte, wie er mit dem Rothgang et al.-Gutachten präsentiert wird, diese Frage dahingehend „lösen“ kann, dass eben Hilfskräfte anders als die Pflegefachkräfte in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen bzw. man eine ausreichende Menge davon backen kann.
Alle rein in die Pflege?
Und dafür muss man vor dem Hintergrund der rein quantitativen Herausforderung, was den zusätzlichen Personalbedarf angeht, konsequenterweise alle Schotten öffnen, damit man überhaupt in die Nähe einer (rein mengenmäßig) erfolgreichen Rekrutierung zusätzlicher Kräfte kommen kann. In diesem Kontext ist dann so eine Meldung einzuordnen:
»Karl-Josef Laumann (CDU), Gesundheits- und Pflegeminister in Nordrhein-Westfalen, will die Eintrittsbarrieren für die Pflegeausbildung aufheben. Sein Vorschlag: Jeder, der in die Pflege möchte, soll einen Ausbildungsplatz garantiert bekommen«, erfahren wir unter der Überschrift Pflegeminister fordert Ausbildungsgarantie in der Pflege. Und weiter wird der Minister so zitiert: „Wir lassen in NRW immer noch nicht alle in die Pflegeschulen, die dort lernen wollen“, so Laumann auf der Ruhrgebietskonferenz Pflege. »Neben einer generellen Ausbildungsgarantie in Pflegeberufen schlug er vor, die einjährige Ausbildung für Pflegeassistenten zu fördern, um neue Personenkreise über ein niedrigschwelliges Angebot an die Pflege heranzuführen.« Da sind sie, die Hilfskräfte. Und man ahnt es schon – wenn wir auf diesem Niveau angekommen sind, dann darf der Blick auf Ausländer nicht fehlen: »Der CDU-Politiker sprach sich auch dafür aus, die „Willkommenskultur“ gegenüber Pflegefachpersonen aus dem Ausland zu verbessern. Die Verantwortung dafür sieht er auch bei der Bevölkerung: „Sonntags AfD wählen und montags erwarten, dass eine ausländische Pflegekraft einem den Popo abwischt – das geht nicht zusammen“, so Laumann.«
Man kann jetzt sofort ins kritische Detail gehen, was die Äußerungen des Ministers Laumann angehen und darauf verweisen, dass es wohl kaum so einfach sein kann und vor allem sein darf. Dass hier gerade der Bereich der Altenpflege einer unglaublichen Abwertung der Anforderungen der Arbeit unterworfen wird, die sich auch – sicher nicht bewusst beabsichtigt, aber eben explizit vorhanden und prägend – bis in den semantischen Umgang ausbreitet, beispielsweise „einem den Popo abwischt“ als Beschreibung dessen, was in diesem Fall ausländische Pflegekräfte tun. Diese Diskussion ist dringend erforderlich und die Pflegeverbände würden gut daran tun, hier mit aller Deutlichkeit reinzugrätschen, denn es geht um substanzielle Fragen der Professionalität, die der Pflege zunehmend abgesprochen wird bzw. die abgesenkt wird aus der Not der Verhältnisse heraus.
Man kann und muss aber auch einmal einen Blick werfen auf die Realität der Ausbildungszahlen, sowohl im Bereich der Pflegefachkräfte wie auch der Hilfskräfte, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was hier in den vergangenen Jahren (nicht) passiert ist.
Ein nüchterner Blick auf die Ausbildungszahlen – für Pflegefachkräfte, aber auch für die Hoffnungsträger aus dem „Assistenzbereich“
Die Ausbildungen in Berufen des Gesundheitswesens, einschließlich des Bereichs der Altenpflege, werden an Schulen des Gesundheitswesens sowie – aufgrund der unterschiedlichen Strukturen im föderalen Schulsystem – an Berufsfachschulen und Fachschulen durchgeführt. Wirft man einen Blick auf die aktuellsten Zahlen, dann kann man den Daten entnehmen, dass sich beispielsweise im Schuljahr 2018/19 in Deutschland 64.512 Menschen in einer Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger befanden und 69.525 in einer Ausbildung zum Altenpfleger. Diese Zahlen berücksichtigen alle Ausbildungsjahre und nicht nur einen Jahrgang. Das hört sich beeindruckend an. Schauen wir einmal genauer hin. Mit Blick auf die Nachwuchsgewinnung sowohl im Bereich der Pflegefachkräfte wie auch der Hilfskräfte in der Pflege sind die Anfängerzahlen relevant, also diejenigen, die eine der pflegerelevanten Ausbildungen beginnen. Und da sieht die Situation mit Blick auf die Entwicklung der vergangenen Jahre so aus:
Hinsichtlich der Altenpflege muss ergänzend darauf hingewiesen werden, dass ein nicht unerheblicher Zufluss an neuen Pflegekräften über von der Bundesagentur für Arbeit geförderte Umschulungsmaßnahmen erfolgt. Hier sieht die zahlenmäßige Entwicklung so aus:
Man muss die Zahlen aus der ersten mit denen aus der zweiten Abbildung verbinden und sollte nicht auf Idee kommen, dass die in der zweiten Abbildung dargestellten Zahlen zusätzlich sind. Sondern man muss die so lesen:
»Die Förderung der beruflichen Weiterbildung leistet … einen wichtigen Beitrag zur Ausbildung von Altenpflegefachkräften. Von den 24.300 Personen, die sich 2017/2018 laut
Statistischem Bundesamt im 1. Schuljahr der Ausbildung zum examinierten Altenpfleger befanden, wurde rund jede vierte durch die BA im Rahmen der beruflichen Weiterbildung gefördert«, so die Bundesagentur für Arbeit (2019) in ihrem Bericht „Arbeitsmarktsituation im Pflegebereich“ (S. 17). 25 Prozent aller Schüler/innen in der dreijährigen Ausbildung zum Altenpfleger/in werden also von der Bundesagentur für Arbeit gefördert.
Wenn man sich nun nur die quantitative Entwicklung der Anfängerzahlen in den unterschiedlichen Pflegeausbildungen anschaut, dann wird man einen Befund sicher nachvollziehen können: Eigentlich müssten die Zahlen in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen sein, denn die Diskussion über einen immer größer werdenden Mangel an Pflegekräften nicht nur in der Alten-, sondern auch in der Krankenpflege wird ja nicht erst seit gestern geführt, sondern sie ist seit Jahren auch in den Medien sehr breit vertreten. Und allein der anstehende reine Ersatzbedarf für die in den kommenden Jahren altersbedingt ausscheidenden Pflegekräfte hätte eine deutliche Erhöhung der Auszubildenden-Zahlen mit sich bringen müssen.
Und wir sprechen hier noch nicht von den zusätzlichen Personalbedarf schlichtweg durch die demografische Entwicklung. Und was man bei der Interpretation der hier präsentierten Daten auch unbedingt berücksichtigen sollte: Nicht alle, die sich im 1. Schuljahr einer der Pflegeausbildungen befindet, kommt auch als Absolvent/in aus dem System wieder raus. Zwischen Beginn und Ende der Ausbildung liegen Ausbildungsabbrüche („Schwundquote 1“) und selbst wenn die Ausbildung erfolgreich absolviert wurde, geht ein Teil der dann ausgebildeten Kräfte dem Arbeitsfeld Pflege aus ganz unterschiedlichen Gründen früher oder später verloren („Schwundquote 2“).
Und der sorgenvolle Blick auf die bislang ausgebliebene, aber schon in der vergangenen Jahren überfällige deutliche Expansion der Ausbildungszahlen wird auch dadurch noch sorgenvoller, wenn man berücksichtigt, dass zum Jahresbeginn 2020 eine verwerkelte Reform der bisherigen Pflegeausbildungen in Kraft getreten ist, die derzeit eine Menge Sand ins Getriebe der Ausbildungseinrichtungen geworfen hat und möglicherweise gerade für die Altenpflege, wo schon heute der größte Fachkräftemangel zu beobachten ist, erheblich negative Auswirkungen haben kann/wird.
Also doch wie von Laumann gefordert jeden in die Pflege lassen und wenn der oder die nicht bis drei auf dem Baum ist, wird mit einer Ausbildungsgarantie gewunken?
Man muss sich mal klar machen, was hier für ein Frontalangriff nicht nur auf den Kern, sondern auf die gesamte Professionalität der Pflegeberufe transportiert wird. „Jeder, der in die Pflege möchte, soll einen Ausbildungsplatz garantiert bekommen.“ So wird der Minister zitiert. Was ist mit den jahrzehntelangen Debatten über die qualifikatorischen Mindestanforderungen an die Pflegeberufe? Selbst wenn man an dieser Stelle darauf hinweist, wahrscheinlich geht es dem Minister darum, jeden zuzulassen, um eine der Helferausbildungen zu machen – selbst dann ist die Inaussichtstellung einer Ausbildungsgarantie „für jeden, der will“ gerade vor dem Hintergrund des Arbeitsfeldes, um das es hier geht, eine Katastrophe. Man darf gerne mal mit Leuten aus den Pflegeschulen sprechen, wo immer wieder gerade am Anfang der Ausbildung Schüler/innen gekündigt werden, weil sie schlichtweg nicht geeignet sind. Will man wirklich jeden für eine Ausbildung zulassen, in einem Bereich, wo später beispielsweise pflegebedürftige alte Menschen vollständig dem Tun der Pflegekräfte ausgeliefert sind? Das kann nicht wirklich wahr sein. Gerade nicht jeder ist für die Pflege geeignet. So ist das nun mal, auch wenn die Not der Verhältnisse, die aber auch nicht erst heute vom Himmel gefallen ist, nach einem „Wir lassen alle rein, die halbwegs laufen können“ schreit.
Auch in den vergangenen ein, zwei Jahren, in denen überall davon gesprochen wurde, dass die Pflegeberufe unbedingt attraktiver werden müssen, hat man weiter gepennt. Wo ist die dringend erforderliche deutliche Anhebung der Vergütungen gerade in der ambulanten und stationären Altenpflege, mit denen man ein starkes Signal hätte setzen können? Man hat doch was geliefert – ja genau, man hat Mindestlöhne nicht nur für Hilfskräfte, sondern nun auch für Pflegefachkräfte vereinbart. Für eine anspruchsvolle dreijährige Ausbildung in der Pflege muss es ab Juli des nächsten Jahres stolze 15 Euro brutto in der Stunde geben. Also mindestens. Genau das ist aber das Problem: es geht um das Mindeste, leider nicht um das, was wirklich notwendig wäre.