Nothilfe für die Zeitungsverleger: Noch eine Ausnahme beim flächendeckenden Mindestlohn (eigentlich) ohne Ausnahmen?

Seit Monaten wird die Politik mit Forderungen nach Ausnahmen von dem zu erwartenden gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohn bombardiert. Ursprünglich sollte der Mindestlohn ohne irgendeine Ausnahme seine Funktion als unterste Haltelinie im Lohngefüge entfalten können. Doch schon die Formulierung im Koalitionsvertrag, dass man mit den Branchen über die Umsetzung des Mindestlohnes sprechen und verhandeln wolle, öffnete die Tür für Ausnahmeregelungen. Bislang haben sich vor allem drei Bereiche herauskristallisiert, bei denen der Mindestlohn keine Anwendung finden wird: Zum einen gilt er nicht für die Jugendlichen bis 18 Jahre, auch alle Langzeitarbeitslosen sollen in den ersten sechs Monaten ihre Beschäftigung von der Anwendung des Mindestlohns ausgenommen werden können und bestimmte Praktika sind ebenfalls ausgegliedert worden. Hinzu kommt, dass es eine Übergangslösung dergestalt gibt, dass in Branchen, die tarifvertraglich niedrigere Löhne vereinbart haben als die vorgesehenen 8,50 € pro Stunde Mindestlohn, bis Ende 2016 auf die Anwendung des eigentlich höheren Mindestlohnsatzes verzichtet werden kann.
In den vergangenen Wochen sind zahlreiche Branche Sturm gelaufen gegen ihre Nicht-Berücksichtigung bei den Ausnahmeregelungen: beispielsweise die Taxi-Branche, die Landwirte für die bei ihm beschäftigten Saisonarbeiter oder der gesamte Bereich der Gastronomie. Bislang erfolglos. Aber eine Branche scheint durchgekommen zu sein: die Zeitungsverleger.

Nach Angaben des Bundesverbandes der Deutschen Zeitungsverleger (BDZV) gibt es etwa 160.000 Zeitungsausträger. Die Mehrzahl davon sind geringfügig Beschäftigte, also Minijobber. Und die Verleger haben Zeter und Mordio geschrieen und sie sind offensichtlich erhört worden in den heiligen Hallen des Bundesarbeitsministeriums. Zumindestens scheint man ihnen ein Kompensationsangebot zu machen, folgt man solchen Meldungen: Nahles will Verleger beim Mindestlohn entlasten. Danach soll es so aussehen, dass zwar der Mindestlohn grundsätzlich auch für die Zeitungsausträger Anwendung finden würde, gleichzeitig man aber die damit verbundenen höheren Kosten an einer anderen Stelle teilweise kompensieren will, indem den Arbeitgebern ein Teil der Sozialabgaben erlassen wird:

»Den Zeitungsverlegern würden für fünf Jahre befristet geringere Sozialabgaben für Minijobber unter den Zeitungsboten eingeräumt. Dadurch würden nach Nahles‘ Worten etwa 60 Prozent der Mindestlohn-Mehrkosten für die Zeitungsverleger ausgeglichen. Diese hatten argumentiert, durch die Umstellung auf einen Mindestlohn von 8,50 Euro in der Stunde entstünden ihnen Mehrkosten von 225 Millionen Euro … Die Regierungskoalition bietet den Zeitungsverlegern den Angaben nach an, dass sie für fünf Jahre für Minijobber nur die geringeren Sozialabgaben wie in Privathaushalten zahlen. Das macht einen Unterschied von rund 18 Prozentpunkten aus: Für Minijobs im privaten Bereich fallen inklusive der Pauschalbesteuerung für Arbeitgeber 12,5 Prozent des Lohns an Abgaben an. Im gewerblichen Bereich sind es 30 Prozent.«

Wenn es zu dieser Lösung kommt, die jetzt diskutiert werden muss von den Regierungsfraktionen, dann wäre die Zeitungsbranche die einzige, die eine spezielle Ausnahmeregelung zugestanden bekommt. Da drängt sich natürlich sofort die Frage auf, ob es nicht auch für andere Branchen dann weitere gute Gründe gibt, auf Ausnahmeregelungen zu pochen. Die Kritik seitens der Opposition lässt nicht lange auf sich warten:

»Die Grünen-Politikerin Brigitte Pothmer nannte es ein Unding, dass Nahles der Zeitungsbranche „eine Rabatt-Regelung bei den Minijobs“ anbiete: „Dieser Kuhhandel müsste sofort wieder vom Tisch, denn sonst würden auch andere Branchen mit vielen Minijobs wie zum Beispiel die Gastronomie eine solche Sonderregelung verlangen.“ Die Zeche zahlen müssten die Sozialversicherungen, denen Beitragseinnahmen entgingen.« (Quelle: Lockerung für Mindestlohn der Zeitungsträger).

Man könnte natürlich auch die Hypothese aufstellen, dass die Politik hier gegenüber einer ganz speziellen Branche deshalb nach einer Ausnahmeregelung sucht, weil sie die Meinungsmacht und die Einflussmöglichkeiten über das, was da ausgetragen wird, fürchtet. Wie dem auch sei, ein „Geschmäckle“ hat die ganze Sache schon. Darüber hinaus muss man sehen, dass auch die jetzt diskutierte „Lösung“ das betriebswirtschaftliche Grundproblem der Zeitungsbranche hinsichtlich Ihrer Zeitungsausträger nicht löst, denn das besteht in der Tatsache, dass bislang ein Stück Lohn gezahlt wird, denn nun auf einen Stundenlohn umgestellt werden muss. An diesem grundsätzlichen Wechsel wird auch bei dem Kompensationsangebot festgehalten. Man wird sehen, wie die Branche auf diesen Vorschlag seitens der Politik reagiert. Bislang haben sich die Verleger noch nicht zu Wort gemeldet, sie müssen sich noch sortieren.

Sollte die Lösung so kommen, wie über sie derzeit berichtet wird, dann kann man deren Charakter als ein „Notnagel“ auch daran erkennen, dass es keine wirklich systematische Lösung ist, um das noch nett auszudrücken. Denn wenn es eine Entlastung bei den Abgaben für die geringfügig Beschäftigten geben sollte, dann stellt sich natürlich die Frage, was dann mit Zeitungsausträgerin ist, die oberhalb der Schwelle des geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses liegen. Für die gäbe es dann ja gar keine Entlastung. Das wirkt doch alles mehr als unausgegoren und vermittelt den Eindruck, dass hier eine Baustelle notdürftig versorgt werden soll.

Glücklicher Konsum, unglückliche Überschuldung. Und die Hoffnung: Zurück auf Start für die im Unglück geht demnächst schneller. Wirklich? Zur Reform der Verbraucherinsolvenz

Das sind doch Nachrichten, die das Herz der Volkswirtschaft höher schlagen lassen: Die Deutschen kaufen, als gäbe es kein Morgen mehr: »Ob Essen, Urlaub oder Kleidung: Der Sparerfrust durch Mini-Zinsen und höhere Einkommen entlädt sich in einem wahren Konsumrausch«, so  Anja Ettel und Michael Gassmann in ihrem Artikel. Angesichts der in der Vergangenheit gerade von vielen kritischen Ökonomen beklagten schwachen Binnennachfrage in Deutschland ist das doch erst einmal eine gute Botschaft. Aber wie immer hat die Medaille eine zweite Seiten, denn bekanntlich gibt es keine homogene Masse, sondern es gibt die, die mehr als bislang konsumieren, daneben aber auch die, die mehr konsumieren möchten, es aber nicht können, weil ihnen die Einkommensbasis dafür fehlt – oder sogar völlig weggebrochen ist, weil sie sich in der Überschuldung befinden.
Wir sprechen von einer richtig großen Zahl, wenn wir Überschuldung behandeln:

»Im Oktober 2013 zählt Deutschland 6,58 Mio. überschuldete Privatpersonen … Die Schuldnerquote betrug … im Jahr 2013 … 9,81 Prozent … Die aktuelle Quote der Schuldner von 9,81 Prozent errechnet sich auf der Basis von 67,13 Millionen volljährigen Erwachsenen. 3,33 Mio. Haushalte sind überschuldet und nachhaltig zahlungsgestört«, berichtet die Creditreform in ihrem SchuldnerAtlas Deutschland 2013. Bei einer genaueren Analyse der Ursachen für Überschuldung weist Creditreform auf folgenden Punkt hin: So »zeigt sich in Zeiten volkswirtschaftlicher Stabilität eine Kehrseite der Sicherheit: Verbraucher trauen sich die Finanzierung ihres Konsums eher zu. Entsprechend hat der Anteil von Überschuldung mit leichter Intensität (weniger Gläubiger, geringere Forderungen und keine Eintragungen in Schuldnerverzeichnissen) gegenüber den Fällen mit harter Intensität zugenommen.« Zu den Menschen mit Überschuldung vgl. auch den Beitrag von Anja Liersch: Überschuldungsstatistik 2012: die amtliche Statistik zur Situation überschuldeter Personen in Deutschland, in: Wirtschaft und Statistik, Heft 11/2013, S. 795 ff.

Aber es gibt doch seit Jahren die Möglichkeit, der dauerhaften Überschuldung zu entfliehen über den Weg der Verbraucherinsolvenz. Und bei der gibt es ab Juli 2014 einige Veränderungen mit dem Ziel, die Situation für Menschen mit einer Überschuldung besser und schneller als bislang zu verändern.

Was hat es mit diesem Weg auf sich und welche Veränderungen sind hier vorgenommen worden mit dem Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte vom 15. Juli 2013 (BGBl. I Seite 2379), der so genannten zweiten Stufe der Insolvenzrechtsrechform, die nun zum Juli 2014 seine Wirkung entfalten soll? Das Ziel des Verbraucherinsolvenzverfahrens ist einerseits die Entschuldung privater Personen. Andererseits soll damit ein Ausgleich zwischen überschuldeten oder zahlungsunfä­higen Schuldnern und ihren Gläubigern geschaffen werden. Vor der Eröffnung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens erfolgt ein außergerichtlicher Einigungsversuch zwischen Schuldner und Gläubiger, meistens ist daran ein Schuldnerberater beteiligt, der einen Plan erarbeitet, der Wege und Methoden zur Tilgung der Schulden vorsieht. Wenn alle Gläubiger dem Plan zustimmen, dann ist dieses außergerichtliche Verfahren erfolgreich beendet. Nun kann man sich vorstellen, dass das in der Praxis kaum passiert, vor allem, wenn man nicht nur mit einem oder zwei Gläubigern, sondern vielen konfrontiert ist. Wenn das scheitert, dann kann der Schuldner innerhalb von sechs Monaten einen Antrag auf Verbraucherinsolvenz bei dem dafür zuständigen Amtsgericht stellen, verbunden mit einem Antrag auf Restschuldbefreiung.

Aber bevor das eigentliche Insolvenzverfahren eingeleitet werden kann, muss eine weitere Hürde genommen werden, der Versuch, über einen gerichtlichen Schuldenregulierungs­plan eine Einigung herzustellen. Auch hier geht es um Wege zur Schuldentilgung im jeweiligen Fall. Der Unterschied zur ersten Stufe – also dem außergerichtlichen Einigungsversuch – besteht darin, dass das Gericht befugt ist, Minderheitenstimmen auf der Gläubigerseite zu ersetzen, es müssen also nicht alle Gläubiger zustimmen. Erst wenn diese Hürde nicht genommen werden kann, beginnt das eigentliche Verbraucherinsolvenzverfahren im engeren Sinne. Zu den Größenordnungen: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wurden im Jahr 2012 insgesamt 95.560 Verbraucherinsolvenzverfahren eröffnet, in 1.694 Fällen wurde ein Schuldenbereinigsplan angenommen.

Das Verfahren geht danach in die „Wohlverhaltensphase“ über. Während dieser Zeit – aktuell sind es noch sechs Jahre – ist das pfändbare Einkommen des Schuldners an den Treuhänder abzutreten.

Mit der Insolvenzordnung (InsO) vom 1. Januar 1999 hat der Gesetzgeber die so genannte Restschuldbefreiung eingeführt, die für jeden redlichen Schuldner nach einer derzeit sechsjährigen Verfahrensdauer die Befreiung von den restlichen Verbindlichkeiten eröffnet. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten natürliche Personen keine Möglichkeit, sich von ihren Schulden zu befreien und mussten unter Umständen lebenslang für diese einstehen.
Das Bundesjustizministerium erläutert in einem Infoblatt „Reform der Verbraucherentschuldung“ die Motive für eine Veränderung des Verfahrens – und beschreibt zugleich das Spannungsfeld, in dem man sich hier zwischen den unterschiedlichen Interessen bewegt:

»Die Zeit bis zur Restschuldbefreiung wird von vielen Menschen als zu lang empfunden. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Verschuldung der privaten Haushalte, die häufig auf nicht steuerbare Faktoren zurückzuführen ist (z. B. Arbeitslosigkeit, Krankheit, Scheidung), hat der Gesetzgeber die Notwendigkeit gesehen, diesen Menschen die Möglichkeit eines schnelleren Neustarts zu eröffnen. Im Gegenzug zu der schnelleren Restschuldbefreiung für den Schuldner wurden verschiedene Maßnahmen vorgesehen, um auch die Rechte der Gläubiger im Verfahren zu stärken und ihren Forderungsausfall zu verringern.
So soll der Schuldner insbesondere durch ein Anreizsystem motiviert werden, für eine möglichst hohe Befriedigung seiner Gläubiger zu sorgen.«

Das angesprochene „Anreizsystem“ besteht darin, dass zukünftig bei Erfüllung einer „Mindestbefriedigungsquote“ eine vorzeitige Restschuldbefreiung erteilt werden kann. In allen Verfahren, die ab dem 01.07.2014 beantragt werden, kann konkret bereits nach Ablauf von drei Jahren, also nach der Hälfte der Verfahrenslaufzeit, eine Restschuldbefreiung erteilt werden. Diese deutliche Verkürzung der „Wohlverhaltensphase“ ist aber an Bedingungen geknüpft – und die wiederum sind so ausgestaltet, dass Kritiker vortragen, dass es nur wenige schaffen werden, in den Genuss der Verkürzung zu kommen. Stephan Radomsky beschreibt die Problematik in seinem Artikel „Schneller schuldenfrei“, der in der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 21.06.2014 erschienen ist:

»Um in den Genuss der halben Frist zu kommen, müssen in dieser Zeit 35 Prozent der Ausstände und die Verfahrenskosten bezahlt werden. „Die Restschuldbefreiung mit Ablauf von drei Jahren nach Insolvenzeröffnung wird damit wahrscheinlich irrelevant sein“, prophezeit Rechtsanwalt Axel Seubert aus Stuttgart. „Die allermeisten Schuldner werden die Rückzahlungen nicht schaffen oder lieber ein Planverfahren vereinbaren.“ Fünf Jahre dauert eine Privatinsolvenz künftig, wenn der Schuldner in dieser Zeit zumindest die Verfahrenskosten abstottert, in der Regel 2.000 bis 3.000 Euro. „Das wird sicher sehr wichtig werden, weil es wahrscheinlich mehr als die Hälfte aller Fälle betrifft“, schätzt Insolvenzspezialist Seubert. Wer auch das nicht schafft, für den bleibt es wie gehabt bei sechs Jahren, bis die Restschuld erlassen wird.«

Auch andere Experten warnen vor jeglicher Euphorie: „Nur die wenigsten verschuldeten Personen, die ein Insolvenzverfahren mit anschließender Restschuldbefreiung durchlaufen, werden in den Genuss der kurzen Laufzeit von 3 Jahren gelangen“, meint Claudia Both, Leiterin der Schuldner- und Insolvenzberatung der Verbraucherzentrale Berlin. »Denn der Schuldner muss dafür 35 Prozent der Forderungen der Gläubiger beglichen haben. Außerdem sind die Verfahrenskosten zu begleichen, wozu auch die Vergütung des Insolvenzverwalters gehört. Allein diese Vergütung beträgt bereits 40 Prozent der eingezogenen Forderungen bis zu einer Höhe von 25.000 Euro. Hinzu kommen noch die Auslagen des Insolvenzverwalters, die Umsatzsteuer und die Gerichtskosten« (Quelle: Strenge Bedingungen für verkürztes Privatinsolvenzverfahren).

Fazit: Ganz wenige werden es in Zukunft schon in drei Jahren schaffen, sich zu entschulden und wieder neu anfangen zu können, mehr werden nach fünf Jahren und der Rest weiterhin nach sechs Jahren von den Restschulden befreit sein.

Der »TV-Schuldnerberater Peter Zwegat dürfte also auch für die nächsten Staffeln noch genügend Fälle finden«, so die Einschätzung von Stephan Radomsky.

Letztendlich bewegt sich die vorsichtigen, kleinschrittige Reform des Verbraucherinsolvenzverfahrens in Deutschland in einem Spektrum, das auf der einen Seite von der Gläubigerperspektive bzw. -hoffnung auf eine „Irgendwann-einmal-Bedienung“ der aufgelaufenen Schulden ausgeht, so dass der Schuldner ausreichend lange verpflichtet werden müsste, dem nachzugehen. Auf der anderen Seite des Spektrums steht die Auffassung, dass die Restschuldbefreiung wesentlich schneller realisiert werden sollte, damit die Betroffenen aus ihrer Situation herauskommen und einen Neuanfang machen können. Für diese Perspektive steht beispielsweise der Ansatz in den USA, wo es deutlich mehr Privatkonkurse gibt als in Deutschland. Im US-amerikanischen Insolvenzrecht gibt es beispielsweise das Chapter 7: Überschuldete Privatpersonen setzen ausschließlich ihre Vermögenswerte, nicht jedoch ihr monatlich verfügbares Einkommen zur Entschuldung ein und erlangen in der Regel binnen weniger Wochen Restschuldbefreiung. Nach 6 Jahren kann erneut ein Verfahren nach Kapitel 7 durchgeführt werden. zu so einem weit reichenden Schritt nach vorne hat man sich in Deutschland auch vor dem Hintergrund der eigenen Philosophie nicht durchringen können. Herausgekommen ist eine Reform der Verbraucherinsolvenz, die hohes juristisches Detailwissen erfordert, deren Auswirkungen auf die Lebenslage vieler überschuldete Menschen aber begrenzt sein wird.

Böse Anwälte, gute Anwälte? Wie Rechtsanwälte mit dem (angeblichen) Geschäftsmodell „Hartz IV-Klagen“ in die Medien-Mangel genommen werden und warum da was fehlt

Das sind Schlagzeilen, die ein Skandalisierungspotenzial in Aussicht stellen: Wie Anwälte mit der Armut verdienen oder Manche Anwälte leben auf Staatskosten gut von Hartz-IV-Klagen, um nur zwei Beispiele zu zitieren. »Die Erfolgsquote von Klagen gegen Jobcenter ist hoch. Für manche Anwälte ein Geschäftsmodell: Ob sie gewinnen oder verlieren – der Staat bezahlt sie immer«, so Joachim Jahn in seinem Artikel, der sich auf ein Buch des Fernsehjournalisten Joachim Wagner stützt: Vorsicht Rechtsanwalt. Ein Berufsstand zwischen Mammon und Moral. Dem Autor ist auf Spiegel Online reichlich Platz eingeräumt worden, für sein Buch Werbung machen zu können und seinen Vorwurf eines „Geschäftsmodells fabrikmäßig operierender Hartz-IV-Anwälte“ auszubreiten.

Wagner beschreibt in seinem Artikel beispielsweise den Berliner Rechtsanwalt Raymond Schäfer, der von Hartz IV lebt, allerdings mit vier Angestellten in seiner Kanzlei in Schöneberg. Neun von zehn seiner Fälle seien Widersprüche und Klagen von Menschen gegen Jobcenter. Der Anwalt bietet Jobcenter-„Kunden“ die „kostenlose Überprüfung“ ihrer Bescheide an, was ihm eine entsprechende Nachfrage sichert.

»Sein Geld verdient der Anwalt, indem er bei Gericht zunächst einen Antrag auf Beratungshilfe stellt. Wird dieser bewilligt, bekommt er in der Regel 50 Euro für die Erstberatung. Wenn er dann mehr unternimmt, etwa Briefe schreiben, kassiert er 100 Euro. Schwierige Fälle mit mündlicher Verhandlung bringen Schäfer bis zu 800 Euro ein. Lehnt das Gericht den Antrag auf Beratungshilfe ab, verzichtet er auf Honorar – wie viele seiner Kollegen.«

Nach Wagner wurde mit der Einführung des SGB II neues Geschäftsfeld für Juristen geboren: »Hartz-IV-Anwälte, deren Haupteinnahmequelle die Vertretung von Arbeitslosengeld-II-Beziehern ist. Tausende Juristen verdienen auf diese Weise ihr Geld, einige Massenkläger generieren sogar mehrere Hunderttausend Euro pro Jahr.« Es sei eine „Rechtsanwaltsindustrie“ rund um die Behörden entstanden, bei der die an sich niedrigen Gebühren im Sozialrecht durch die Masse von Widersprüchen und Klagen kompensiert werden können – und durch den Umstand, »dass die meisten Anträge auf Beratungs- und Prozesskostenhilfe genehmigt werden.« Wagner verweist mit Blick auf die Auslöser für diese Entwicklung, dass das SGB II im Gefolge der Umsetzung der „Agenda 2010“ mit der heißen Nadel gestrickt und zudem seit 2005 mehr als 60 Änderungen unterworfen wurde.

»Die hohe Fehlerquote der Jobcenter macht es den Anwälten leicht, die Rechnung zahlt der Staat. 2012 gab die Bundesagentur für Arbeit 39,6 Millionen für Anwaltshonorare der Hilfsempfänger aus.«
Nur an einer Stelle in dem Artikel taucht der Hinweis auf, dass nicht nur die Anwälte der klagenden Hilfeempfänger gezahlt werden müssen – es gibt auch eine andere Seite, also die Anwälte, die für die Jobcenter arbeiten: »Das Jobcenter Gifhorn zum Beispiel musste Anwalt Wellnitz im Jahr 2012 mehr als 72.000 Euro Honorar überweisen. Schmerzhafter für die Arbeitsvermittler war, dass sie zudem mehr als 600.000 Euro an eine spezialisierte Anwaltskanzlei zahlten, die für das Jobcenter Prozesse führt. Einen Teil des Geldes musste das Jobcenter aus dem Topf für Arbeitsvermittlung nehmen.«

Nun könnte man an dieser Stelle argumentieren, dass ja der Ausgangspunkt für viele Klagen die hohen Erfolgsquoten sind, was auf das eigentliche Problem, also die schlechte Arbeit in den Jobcentern verweist. Wagner sieht allerdings einen eigenständigen Bestimmungsfaktor für die Zahl der Klagen in einer regional unterschiedlich ausgestalteten „Rechtsanwaltsindustrie“ sowie einem differierenden Niveau der Nicht-Akzeptanz gegenüber Hartz IV und versucht das am Beispiel Ostdeutschland zu belegen:

»Zwischen Rostock und Erfurt legen Hilfsbedürftige doppelt so häufig Widerspruch gegen Bescheide ein wie im Westen. Eine schlechtere rechtliche Qualität der Bescheide kann laut einem internen Bericht der Bundesagentur für Arbeit nicht die Ursache sein. In Sachsen etwa liegt die Fehlerquote niedriger als in Nordrhein-Westfalen, trotzdem legten die sächsischen Hilfsempfänger etwa dreieinhalbmal so häufig Widerspruch ein wie die an Rhein und Ruhr.«

Wagners Thesen wurden auch in anderen Berichten aufgegriffen, vgl. beispielsweise den Artikel Anwälte in Essen verdienen gut an Fehlern des Jobcenters von Janet Lindgens. Sie berichtet, dass das Jobcenter Essen jährlich einen hohen sechsstelligen Betrag an Anwälte zahlt, die mit Erfolg gegen die Behörde geklagt haben. Einige Anwälte leben mittlerweile fast ausschließlich von Fehlern des Amtes. Und die Erläuterungen in dem Artikel scheinen die Aussagen von Wagner zu bestätigen:
»Nach Auskunft der Stadt sind 2013 rund 6.000 Widersprüche gegen das Jobcenter eingereicht worden. Etwa die Hälfte war erfolgreich. Emsige Anwälte … bringen es auf 600 Widersprüche im Jahr.« Pro erfolgreichem Widerspruch wird dem Jobcenter 300 Euro in Rechnung gestellt.
Dann aber kommt ein Satz, der eine weitere Perspektive öffnet: Diese Anwälte »sehen sich jedoch nicht als Abkassierer, sondern vielmehr als Helfer der Armen.« Und weiter: „In unseren kostenlosen Beratungen leisten wir auch Dinge, die Aufgabe des Jobcenters wären“, so wird einer der Rechtsanwälte zitiert. Ein anderer geht noch weiter: »Er habe den Eindruck, dass die Stadt Bedürftige bewusst nicht über deren Ansprüche aufkläre und somit Geld spare. Die Anwaltskosten seien dann das kleinere Übel.«

Aber noch einmal zurück zu Wagner und seiner zentralen These von einem „Geschäftsmodell fabrikmäßig operierender Hartz-IV-Anwälte“. In einer Rezension des Buches auf der Verlagsseite schreibt der Rechtsanwalt Reinhard Jantos:

»Beschrieben werden auch die die Auswüchse neuer anwaltlicher Geschäftsmodelle. Rechtsanwälte überziehen Verbraucher mit Massenabmahnungen aus vermeintlich illegaler Internettätigkeit, Inkassoanwälte treiben fiktive Rechnungen ein, Hartz IV-Anwälte belasten die Gerichte kostenintensiv mit Massenverfahren und Kleinanleger werden zum zweiten Mal mit aussichtslosen Sammelklagen abgezockt.«

An dieser Stelle wird es höchst problematisch, wenn man sich anschaut, in welche – moralisch verwerfliche – Reihe die von Wagner so titulierten „Hartz IV-Anwälte“ hier gestellt werden. Einen anderen, nüchternen Blick hat – das zitiert übrigens Wagner in seinem Artikel selbst – das Bundesverfassungsgericht geworfen. Konkret ging es um den Versuch einiger Sozialgerichte, die Klageflut im Bereich der so genannten Bagatell-Verfahren (also bei einem Streitwert unter 50 Euro) dadurch einzudämmen, dass in diesen Fällen keine Prozesskostenhilfe gewährt werden soll. Dieser Vorstoß wurde vom BVerfG in einer Entscheidung abgelehnt, »da es den Grundsatz der Waffengleichheit zwischen Bemittelten und Unbemittelten verletze. Jobcenter würden von Juristen vertreten, also müssten auch Hartz-IV-Bezieher das Recht auf einen Anwalt haben, so die Karlsruher Richter.«

Genau das ist der eine Punkt: Die Verfassungsrichter haben sehr wohl erkannt, dass gerade im Feld des Sozialrechts das Individuum einem großen Apparat gegenübersteht. Darüber hinaus kann man aus einer funktionalistischen Sicht auf den Sachverhalt auch argumentieren, dass die Klagen eine wichtige Korrektivfunktion in einem offensichtlich gar nicht rund laufenden bürokratischen System haben und als solche auch gebraucht werden.

Ein grundsätzlicher Einwand von meiner Seite bezieht sich auf den Tatbestand, dass Wagner – wenn überhaupt – problematische Ausformungen beschreibt, die sich in einem hoch konfliktären Bereich herausgebildet haben. Indem er Einzelfälle von Rechtsanwälten, die sich a) zum einen auf den Hartz IV-Bereich spezialisiert haben und die b) weniger das Interesse ihrer Klienten im Auge haben, sondern über viel Masse versuchen, so viel wie möglich an Einnahmen zu generieren, besonders herausstellt, trägt er dazu bei, über eine solche Skandalisierung das gesamte sozialrechtliche Feld innerhalb des Grundsicherungssystems zu desavouieren. Das ist natürlich völlig kontraproduktiv und angesichts der Tatsache, dass es hier um existenzielle Leistungen für Menschen geht, auch völlig daneben. Man muss an dieser Stelle ganz besonders aufpassen, dass man nicht Opfer der in unserer Mediengesellschaft so beliebten einseitigen Skandalisierung wird.

Eine durchaus passende Analogie zu  dem, was Wagner hinsichtlich der so genannten „Hartz IV-Anwälte“ macht, kann man im Bereich der beruflichen Weiterbildungsförderung gerade für Langzeitarbeitslose finden. Auch dort gibt es massenweise skandalisierend daherkommenden Berichte über wirklich auch unakzeptable Zustände in Maßnahmen, für die der Steuerzahler eine Menge Geld ausgeben muss. Vgl. aus der Vielzahl des Materials nur beispielhaft die Fernsehberichte Weiterbildung statt Job – Die Tricks der Bildungsträger sowie Stricken fürs Amt, beide vom MDR-Fernsehen produziert. Allerdings – so meine Kritik – wird der Zuschauer völlig alleine gelassen mit der ausschließlich skandalisierenden Aufarbeitung des Themas. Das wird bei vielen am Ende dazu führen, dass sie den gesamten Bereich der beruflichen Weiterbildungsförderung mit diesen Ausformungen von wirklich schlechten Maßnahmen gleichsetzen. Dem Zuschauer wird an keiner Stelle aber der Hinweis gegeben, dass das völlig zu Recht zu beklagende Verhalten solcher „Bildungsträger“ a) nur auf einen Teil der Träger zutrifft und b) dass es zahlreiche wirklich gute Bildungsträger gibt, die vernünftige Angebote machen bzw. machen könnten, die aber nicht zum Zuge kommen, weil die eigentliche Verantwortung für diese Entwicklung nicht auf der Ebene einzelner Träger abschließend lokalisierbar ist, sondern in dem System von Ausschreibungen und Vergabe seitens der Bundesagentur für Arbeit, über das ein extremer Verdrängungswettbewerb induziert wurde, da – allen anderen Beteuerungen der BA zum trotz – ein radikaler Preiswettbewerb zwischen den Anbietern von solchen Maßnahmen ausgelöst wurde und wird, da am Ende nur die billigsten Anbieter zum Zuge kommen können und werden. Die Anbieter der Maßnahmen bewegen sich in einem „monopsonistischen“ Markt, also einem Nachfragemonopol. Und dort beobachtet man regelmäßig Preisdumping (mit der Folge von Lohn- und Qualitätsdumping auf Seiten der Anbieter) bis hin zu ruinöser Konkurrenz. Und wenn man ausschließlich die besonders problematischen Qualifizierungsmaßnahmen an den Pranger stellt, ohne aber darauf hinzuweisen, dass es gerade für die Langzeitarbeitslosen, von denen viele über keine Berufsausbildung verfügen, von zentraler Bedeutung wäre, wenn sie „vernünftige“ Fördermaßnahmen bekommen, zu denen auch Qualifizierungsmaßnahmen gehören, die zu einem neuen bzw. für viele ersten Berufsabschluss führen, dann berichtet man im Ergebnis nicht nur deutlich unterkomplex, sondern man verbaut sich einen realistischen Blick auf die jeweilige Branche bzw. auf das Teilgebiet.

Nun wird bereits seit langem über die so genannte „Klageflut“ im SGB II-Bereich berichtet und gestritten. Immer wieder wird von den Kritikern darauf abgestellt, dass die so genannte „Einzelfallgerechtigkeit“ zu diesen vielen Verfahren führen muss und darüber hinaus insgesamt erhebliche administrative Folgekosten auslöst. Gleichsam wie eine Art Zauberformel taucht dann in den Diskussionen darüber, wie man diese Entwicklung stoppen und umkehren kann, der Hinweis auf mehr Pauschalierung auf. Wie schwierig das dann aber zuweilen in der Realität sein kann, verdeutlicht der folgende Aspekt, der in dem Beitrag Alle 20 Minuten wird geklagt von Olga Gala über die vielen Klagen in der „Hartz IV“-Hauptsadt angesprochen wird:

»Berlin hat versucht, mit einer pauschalen Regelung die Zahl der Klagen zu reduzieren. Einem Haushalt mit zwei Personen stehen demnach 60 Quadratmeter zu. Kosten darf die Wohnung maximal 381 Euro kalt. Hinzu kommen begrenzte Leistungen für Heizung sowie Zuschüsse zur Warmwasserversorgung.«

Das hört sich vernünftig an und es konnten auch Effekte nachgewiesen werden. Marcus Howe, Richter und Pressesprecher am Sozialgericht Berlin, wird mit diesen Worten zitiert: »… die sogenannte Wohnaufwendungsverordnung … (habe) die Arbeit der Jobcenter erleichtert.« Aber die Pauschalierung ist offensichtlich nicht von Dauer, denn:

»Nur hat das Bundessozialgericht die Regelung Anfang Juni kassiert: Die Richter entschieden, dass die Pauschale insbesondere bei den Heizkosten zu hoch sei. Zudem ist nach Ansicht des Gerichts nicht sachgerecht, wie die Beträge ermittelt wurden. Jetzt soll es wieder mehr Einzelfallprüfungen geben. Und damit vermutlich mehr Verfahren, mutmaßt Howe.«

Eine nächste Runde ist vorprogrammiert.

Foto: Buchcover C.H. Beck Verlag