Gesetzlicher Mindestlohn: Von krampfhaft konstruierten Beispielen zu seinen angeblich schlimmen Folgen über parteipolitische Aufforderungen, der Staat möge sich selbst stilllegen bis hin zu den echten Baustellen, über die kaum einer spricht

Kaum ist die Tinte trocken, geht es weiter mit den Angriffswellen gegen die neue, nicht für alle, aber für viele geltenden gesetzlichen Lohnuntergrenze von 8,50 Euro pro Stunde. Am 28. Januar 2015 wurde hier in dem Blog-Beitrag Noch auf der Entbindungsstation wird am Mindestlohn gezerrt und gerüttelt. Und manche Forderungen nach „Entbürokratisierung“ erweisen sich als Scheunentor für „Mindestlohn light“-Strategen davor gewarnt, dass man aus parteipolitischen Motiven heraus faktisch Beihilfe leisten will für eine Ermöglichung des Unterlaufens der neuen Mindestlohnregelung. Konkret wurde dieser Vorwurf illustriert am Beispiel der Forderung, der Arbeitszeit-Dokumentation bei den geringfügig Beschäftigten, umgangssprachlich auch als Minijobber bekannt, aufzuweichen bzw. abzuschaffen.

In der neuen Print-Ausgabe des SPIEGEL (Heft 6/2015) wurde das Thema gesetzlicher Mindestlohn und seine Infragestellung ebenfalls aufgegriffen unter der bezeichnenden Überschrift „Irrfahrt der Lobbyisten“ (S. 60 ff.): »Um Punkte bei der eigenen Klientel zu machen, entfacht die Union eine Kampagne gegen das Mindestlohngesetz von Arbeitsministerin Andrea Nahles. Nur: Das angebliche Bürokratieproblem existiert in Wahrheit nicht.«

Neben anderen Klarstellungen geht der Artikel auch ein auf die Minijobber und entkräftet die „Bürokratiemonster“-Stimmung, die hier derzeit entfaltet wird:

»Privathaushalte sind ohnehin von der Zettelpflicht befreit, sie gilt nur für Unternehmen. Und ein Blick in die Vorgaben verrät, dass die Belastung sich in Wahrheit wenig verändert. Schon seit Jahren sind Arbeitgeber bei Minijobs per gemeinsame „Geringfügigkeits-Richtlinien“ der Sozialversicherungen und der Bundesagentur für Arbeit verpflichtet, in den „Entgeltunterlagen“ von Minijobbern neben dem monatlichen Salär und der Beschäftigungsdauer auch „die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit und die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden“ aufzuzeichnen.«

Und so ist man derzeit bemüht, auch mehr als skurrile Beispiele für die angeblich schädlichen Wirkungen des Mindestlohns ans Tageslicht zu zerren, vielleicht frei nach dem Motto, auch wenn das ausgemachter Unsinn ist, irgendwas wird schon hängen bleiben von der Message, der Mindestlohn ist schlecht. Ein Beispiel für dieses Genre ist der Artikel Wandergesellen und das Problem mit dem Mindestlohn von Thomas Walbröhl. Es geht um ein Bild, das bei vielen Menschen positive Gefühle wecken wird, weil es einen romantischen Nerv trifft: Handwerkergesellen, die auf die Walz gehen. Was für ein schönes Zucken aus der berufsständischen Vergangenheit. Da gibt es Handwerker, die als „Freireisende“ auf Walz gehen, während sich die meisten an den so genannten „Schächten“ gebunden haben, das sind Handwerkervereinigungen, die sich dafür einsetzen, das Brauchtum der Walz zu pflegen und den Kontakt mit den Gesellen zu halten. Ja nach Schacht kommen aus unserer heutigen Sicht mehr als denkwürdige Vorschriften für die zumeist dreijährige Wanderszeit hinzu: »Wer auf die Walz gehen will, muss zum Beispiel den Gesellenbrief in der Tasche haben, unverheiratet, schuldenfrei und jünger als 30 Jahre alt sein. Wandergesellen dürfen keine Kommunikationsgeräte mitnehmen, nur Papier und Stift. Laptop und Handy sind tabu. Für Kost und Logis darf der Reisende kein Geld ausgeben und sich seinem Heimatort nicht weiter als 50 Kilometer nähern.«

Natürlich empfindet man gerade in den heutigen Zeiten irgendwie Sympathie und Wohlwollen für die Menschen, die sich eine Zeit lang auf einen solchen Lebensweg einlassen. Eine bewahrenswerte Tradition, die allerdings die gleichen Probleme hat, wie viele andere Traditionen auch: Irgendwie fehlt es an Nachwuchs und die alte Bedeutung dessen, was man da tut, ist verlustig gegangen. Wir reden hier in Deutschland von 800 Bäcker, Zimmerer oder Dachdecker, die derzeit unterwegs sind. Nicht mehr, wenn auch jeder Einzelfall etwas ganz Besonderes ist.

Und um die wird nun eine weitere Mindestlohn-Baustelle eröffnet, die sich bei genauerem Hinsehen dann auch noch als ein Fake erweist. Walbröhl lässt in seinem Artikel die Funktionäre zu Wort kommen:

Der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) fürchtet, dass das soziale Netzwerk der Wandergesellen gefährdet ist. „Der Mindestlohn bedroht die Tradition der Walz“, hieß es im Dezember beim ZDH. Auch der Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks zeigt sich besorgt. Die nach dem zweiten Weltkrieg größtenteils zum Erliegen gekommene Tradition lebe endlich wieder auf, heißt es beim Verband. „Die Walz ist gerade wieder ein zartes Pflänzchen, das wir mit unserer Initiative Bäckerwalz beleben wollen“, sagt Präsident Peter Becker. „Wir fürchten, dass mit dem Mindestlohn die Bereitschaft von Betrieben in manchen Gebieten sinkt, Gesellen überhaupt aufzunehmen.“

Das ist aber nicht gut – wenn es denn so wäre. Und der eine oder die andere wird an dieser Stelle bedenklich den Kopf wiegen und sich daran erinnern, dass wir hier von und über Handwerksgesellen sprechen, die eine ordentliche Berufsausbildung absolviert haben. Wo genau soll denn jetzt das Problem liegen? Der Artikel entlarvt die fragwürdige Argumentation der Berufsfunktionäre selbst am Beispiel des 23-jährigen Maurice, der als Bäckergeselle auf der Walz ist:

»Maurice hat bei seinen befristeten Tätigkeiten bisher immer nur nach jeweiligem Ortstarif gearbeitet, und der liegt für ausgelernte Bäcker höher als der Mindestlohn. „Das ist auch Verhandlungssache. Ich bin gut ausgebildet, eine Fachkraft. Ich würde nie unter dem ortsüblichen Tarif arbeiten. Dann würde ich eher weiterziehen.“ Auch bei den anderen Gesellen, die er kennengelernt habe, sei das nicht anders. „Das hat auch mit Solidarität zu tun.“ Bei sozialen Projekten wird ausnahmsweise auch mal nur für Kost, Logis und Krankenversicherung gearbeitet. Auf der letzten Sommerbaustelle zum Beispiel hat Maurice gemeinsam mit Gesellen anderer Zünfte für eine Kinder-Betreuungseinrichtung ein Haus hochgezogen.«

Und Kommentatoren weisen darauf hin, dass der von den Funktionären vorgebrachte Vorwurf, dass mit dem Mindestlohn die Bereitschaft von Betrieben in manchen Gebieten sinkt, Gesellen überhaupt aufzunehmen, angesichts der Tatsache, dass wir hier a) über 8,50 Euro pro Stunde reden und b) dass eine zeitweilige Beschäftigung eines Handwerksgesellens für viele Handwerksunternehmen eine attraktive Sache ist, eine ziemlich verwegene These darstellt. Man kann es aber auch anders formulieren: Gerade die wenigen Handwerker, die noch auf die Walz gehen, sollten doch nun wirklich mehr wert sein als die 8,50 Euro pro Stunde, die man allen, auch un- und angelernten Arbeitnehmern gewährt bzw. jetzt gewähren muss.

Es ist derzeit aber auch ärgerlich – auf dem real existierenden Arbeitsmarkt sind die großen Wellen mindestlohneinführungsbedingter Arbeitslosigkeit bislang ausgeblieben, mit denen man die Bevölkerung in Angst und Schrecken hätte versetzen können. Aber die Akteuere geben nicht auf und nutzen allgemeine Bekundungen, dass der Mindestlohn schlecht sei, für ein allerdings höchst gefährliches und verwerfliches Unterfangen: CSU will „Monster“ Mindestlohn entschärfen, kann man beispielsweise einer Artikel-Überschrift entnehmen. In diesem Beitrag wird beispielsweise Gerda Hasselfeldt zitiert, die im Bundestag die CSU-Landesgruppenchefin ist:

»Wir müssen dringend nachjustieren, die Dokumentationspflichten reduzieren und praxistaugliche Lösungen finden. Bis Änderungen vorgenommen sind, sollten wir die Kontrollen des Mindestlohns durch den Zoll aussetzen.«

Das ist natürlich schon mehr als frech – der Staat soll sich gleichsam selbst entmannen und auf die Kontrolle der Einhaltung eines seiner Gesetze verzichten – was natürlich eine offene Einladung wäre an alle die Arbeitgeber, die sich bemühen, die neue, für alle Betriebe geltende Lohnuntergrenze durch Umgehungsstrategien zuungunsten der Arbeitnehmer zu unterlaufen. Würde der Staat seine eigenen, übrigens angesichts der vorhandenen Kapazitäten beim Zoll reichlich unterdimensionierten Kontrollaktivitäten auch noch einstellen, dann würde das den schwarzen Schafen unter den Arbeitgebern einen kräftigen Schub geben und zugleich die Arbeitgeber, die sich korrekt (oder sogar noch besser) verhalten gegenüber ihren Mitarbeitern, bestrafen und ihnen staatlich unterstützte Wettbewerbsnachteile gegenüber denen, die sich nicht an die Regeln halten, bescheren.

Hier werden ganz offensichtlich die falschen Schlachten geschlagen, um sich einen Sympathiepunkt bei den Verbänden und Unternehmen einzufangen. Trotzdem gibt es offensichtlich publizistische Schützenhilfe für diese Position – beispielsweise der Kommentar Mindestlohn funktioniert nur auf einsamen Inseln von Olaf Gersemann, der nur einen Moment beim Verfassen seiner Überschrift nach links der rechts hätte schauen müssen, um zu erkennen, dass das Bild mit der Insel Humbug ist, denn die meisten Länder um uns herum haben einen gesetzlichen Mindestlohn oder für alle verbindliche tarifliche Lohnuntergrenzen – insofern wird ein Schuh daraus, dass Deutschland bislang eine Insel war, die daraus Vorteile gezogen hat, beispielsweise Lohndumping gegenüber den Nachbarn. Man möge hierzu nur ein Blick werfen in die deutsche Fleischindustrie, die vor dem Hintergrund der Nicht-Existenz einer Lohnuntergrenze in der Vergangenheit zum europäischen Billigschlachthaus degeneriert ist mit der Folge, dass die europäischen Nachbarn mit ihren besseren Arbeitsbedingungen aus Konkurrenzgründen in die Knie gegangen sind.

Aber wie tief wir gesunken sind beim Umgang des Staates mit sich selbst, verdeutlich der folgende Bericht über Aussagen des Bundesfinanzministers Schäuble (CDU):

»Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) fordert, das für die Kontrolle des Mindestlohns notwendige Geld lieber in die Terrorabwehr zu stecken. „Wenn wir in Deutschland mehr Personal im Sicherheitsbereich brauchen, würde ich zum Beispiel darüber diskutieren, ob wir wirklich so viel Personal bei der Kontrolle eines im internationalen Vergleich sehr komplizierten Mindestlohns brauchen oder ob wir nicht sagen, andere Prioritäten wie die Polizei sind jetzt wichtiger“, sagte Schäuble der „Welt“.« Man muss sich einmal klar machen, welche Signale hier von der obersten Staatsspitze ausgesendet werden.

Dabei gibt es ganz andere Baustellen, über die man dringend offen sprechen sollte – gerade wenn man ein Befürworter des Mindestlohns ist:

Da ist beispielsweise der Bereich der sozialen Dienste, die natürlich auch vom Mindestlohn betroffen sind – die aber das Problem haben, dass sie teilweise oder auch vollständig refinanziert werden müssen aus öffentlichen Mitteln. Man kann das Dilemma deutlich machen an der neueren Rechtsprechung, was denn vom Mindestlohn – der ja bewusst konzipiert worden ist als ein Stundenlohn – umfasst wird. Ein strittiges Thema hierbei waren die Bereitschaftsdienste – und man möge an dieser stelle einmal kurz nachdenken darüber, wie viele soziale Dienstleistungen erbracht werden, bei denen man bisher einen Teil der Zeit als Bereitschaftsdienst ausgewiesen und entsprechend niedriger vergütet hat, was zugleich auch Grundlage der Refinanzierung aus den öffentlichen Kassen war und ist.

Zum Thema Bereitschaftsdienste wurde bereits 2013 in diesem Blog anlässlich eines Urteils des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg ausgeführt:

»Schon die Artikelüberschrift „Mindestlohn im Schlaf verdient“ des Arbeitsrechtlers Jobst-Hubertus Bauer ist Programm. Was ist das Problem? „Gehört Bereitschaftsdienst zur Arbeitszeit dazu? Ein Gericht entschied jetzt: ja. Damit bekommt eine Altenpflegerin 1000 Euro mehr Gehalt.“ Das hört sich doch erst einmal gut an, man freut sich für die ansonsten ja nun eher unterbezahlten Pflegekräfte – aber der Arbeitsrechtler Bauer ist ganz anderer Meinung: Der Gesetzgeber muss einschreiten, sonst wird Pflege unbezahlbar. Hintergrund ist eine neue Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg (LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 28. November 2012, Az. 4 Sa 48/12). Bauer beschreibt in seinem Artikel den Sachverhalt, der dem Urteil zugrunde liegt:

„Geklagt hatte eine Pflegehelferin, die von einem privaten Pflegedienst in sogenannten Rudu-Diensten („Rund um die Uhr“) zur Betreuung von zwei dementen Nonnen in einem katholischen Pflegeheim eingesetzt wurde. Vereinbart war ein Bruttomonatslohn von 1885,85 Euro. Die Einsätze erstreckten sich jeweils über zwei Wochen, danach hatte die Klägerin jeweils knapp zwei Wochen frei. Während der Dienste wohnte und schlief die Klägerin in dem Pflegeheim. Sie fand, die gesamte Zeit der Rudu-Dienste sei als Arbeitszeit zu werten, die mit dem Mindestlohn von damals 8,50 Euro zu vergüten sei. Pro vierzehntätiger Rudu-Schicht wäre demnach eine Vergütung von 24 x 14 x 8,50 Euro zu zahlen, also unterm Strich 2856 Euro. Der Arbeitgeber hielt dagegen, es habe erhebliche Zeiten ohne Arbeitsanfall gegeben. Schon rein physisch sei es nicht möglich, zwei Wochen am Stück durchzuarbeiten, weil die Klägerin zum Beispiel auch schlafen und essen muss. Das Landesarbeitsgericht gab aber der Klägerin überwiegend recht.“
Zwar hat das LAG eine Revision zum Bundesarbeitsgericht zugelassen, aber Bauer geht davon aus, dass auch dort die Entscheidung des LAG bestätigt wird.«

Genau das ist zwischenzeitlich passiert. Im November 2014 wurde auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ berichtet:

Das Bundesarbeitsgericht hat … ein wichtiges Urteil verkündet zum Thema Mindestlohn in der Pflege: Der Mindestlohn in der Pflegebranche muss auch für Bereitschaftsdienste voll gezahlt werden … Der entscheidende Passus hinsichtlich der Entscheidung der obersten Arbeitsrichter, der sich zusammenfassen lässt mit „oben sticht unten“:

»Das Mindestentgelt nach § 2 PflegeArbbV ist „je Stunde“ festgelegt und knüpft damit an die vergütungspflichtige Arbeitszeit an. Dazu gehören nicht nur die Vollarbeit, sondern auch die Arbeitsbereitschaft und der Bereitschaftsdienst. Während beider muss sich der Arbeitnehmer an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort bereithalten, um im Bedarfsfalle unverzüglich die Arbeit aufzunehmen. Zwar kann dafür ein geringeres Entgelt als für Vollarbeit bestimmt werden. Von dieser Möglichkeit hat der Verordnungsgeber im Bereich der Pflege aber keinen Gebrauch gemacht. Deshalb sind arbeitsvertragliche Vereinbarungen, die für Bereitschaftsdienst in der Pflege ein geringeres als das Mindestentgelt nach § 2 PflegeArbbV vorsehen, unwirksam.«
Man kann das auf zahlreiche andere Fallkonstellationen übertragen, auf die man bei den sozialen Diensten trifft – man denke hier nur an die Jugendhilfe, an die Behindertenhilfe oder an die Wohnungslosenhilfe mit ihren stationären Einrichtungen. Das wäre alles kein Problem, wenn sich die Kostenträger – und das sind oftmals die Bundesländer – zu ihrer den Mindestlohn ermöglichenden Verantwortung bekennen würden und deshalb die Refinanzierung dieser Dienste auf das Niveau anheben, das erforderlich ist, damit die höheren Personalkosten auch wieder ausgeglichen werden können. Man muss keine prophetischen Gaben besitzen um vorherzusagen, dass wir in der kommenden Zeit zahlreiche Konflikte zwischen den Sonntagsreden pro Mindestlohn und dem tatsächlichen Verhalten der Kostenträger bei einer Anpassung der Refinanzierung der sozialen Dienste erleben werden. Kurzum: Wir werden in den kommenden Monaten genau beobachten müssen, was Bundesländer, die ansonsten auf der Verlautbarungsebene große Befürworter eines gesetzlichen Mindestlohns sind, praktisch tun werden, wenn wir z.B. in der Wohnungslosenhilfe erhebliche Kostensteigerungen haben im Zuge einer Umsetzung des BAG-Urteils. Wird dann das Bundesland hingehen und diese offensichtliche Lücke wieder schließen?

Und ein zweiter Aspekt: Immer und teilweise ausschließlich dreht sich die kritische Debatte über den Mindestlohn um die Fälle, in denen es angeblich oder auch tatsächlich nicht möglich ist, den Mindestlohn zu zahlen, weil man das betriebswirtschaftlich nicht darstellen kann (oder will). Es gibt aber auch eine andere, durchaus bedenkliche Entwicklungslinie: Der Mindestlohn als Referenzlohn nach unten. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es durchaus die Fälle gibt, in denen Unternehmen einen bislang höheren Lohn gezahlt haben, sich nun aber bei Neueinstellungen am niedrigeren Mindestlohn orientieren. Man schaue – um nur ein Beispiel zu nennen – einmal auf die Branche der beruflichen Weiterbildung, die einen branchenbezogenen Mindestlohn haben, der über den 8,50 Euro pro Stunde liegt. Dort konnte man die angedeutete Entwicklung bei einigen großen Trägern der beruflichen Weiterbildung beobachten mit der Konsequenz einer Zweiteilung der Belegschaften in die „Alt“- oder „Bestandsfälle“, die noch nach den besseren früheren Bedingungen vergütet werden und den „Neuen“, die deutlich abgesenkte Vergütungen bekommen, weil sich die Unternehmen hier an dem Branchenmindestlohn orientieren.

Fazit: Ungerechtfertigte Angriffe gegen den gesetzlichen Mindestlohn müssen abgewehrt werden, vor allem, wenn sie auf Unwahrheiten basieren. Daneben ist eine genau Beobachtung und Bewertung der realen Arbeitsmarktentwicklungen erforderlich, um an der einen oder anderen Stelle Korrekturen vornehmen zu können. Aber was machen viele der Anbieter von Leistungen, die sich überwiegend oder ausschließlich öffentlich finanzieren lassen müssen. Sie werden angewiesen sein auf eine „mindestlohnkonfrome“ Politik der Kostenträger. Mal sehen, ob das funktioniert oder aber ob nicht die Träger wieder auf sich selbst verwiesen werden, was natürlich dazu führen muss, dass es auch bei sozialen Dienstleistern zu Umgehungspraktiken kommen muss. Vielleicht aber auch zu einer offenen Debatte über das, was man leisten kann auf der Basis der refinanzierten Mittel. Und was nicht.

Zunehmend abgehängt. Langzeitarbeitslose im Hartz IV-System und ihre (Nicht-)Integration in irgendwelche Jobs

Es waren – eigentlich und von oben betrachtet – „gute“ Jahre auf dem deutschen Arbeitsmarkt, auf die wir zurückblicken können. Die Zahl der Beschäftigten ist gestiegen und die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen hat abgenommen. Das schlägt sich dann beispielsweise in solchen Schlagzeilen nieder: Zahl der Arbeitslosen auf Rekordtief. So wurde das Jahr 2014 mit dem niedrigsten Wert in einem Dezember seit der Wiedervereinigung beendet. Und auch mit Blick auf die Beschäftigtenzahlen dominieren die Erfolgsmeldungen: So viele Erwerbstätige wie nie zuvor vermeldete das Statistische Bundesamt: »Im Schnitt 42,6 Millionen Männer und Frauen in Deutschland hatten 2014 Arbeit – so viele wie nie zuvor. Es ist das achte Rekordjahr in Folge.« Alles gut – oder?

Es geht bei einer Präzisierung des Fragezeichens nicht um einen nachfliegenden Blick auf die Frage, was das denn für Jobs waren bzw. sind, die da rekordträchtig geschaffen worden sind (vgl. hierzu die Blog-Beiträge „Irre Beschäftigungseffekte“, „wirklich tolles Land“: Wenn Ökonomen sich überschlagen, lohnt ein Blick auf die Zahlen sowie Das deutsche „Beschäftigungswunder“ im europäischen Vergleich. Immer auch eine Frage des genauen Hinschauens mit einem kritischen Blick auf die nackten Zahlen). Es geht hier um den Aspekt, dass auch der „Erfolg“ auf dem Arbeitsmarkt wie fast alles im Leben sehr ungleich verteilt ist, also neben den, die profitiert haben gibt es auch andere, bei denen man sogar davon sprechen muss, dass sie zunehmend abgehängt werden, trotz der an sich „guten“ Rahmenbedingungen. Und dazu gehören viele Langzeitarbeitslose im Hartz IV-System.

„Das ist eine erschütternde Bilanz“, so wird der DGB-Arbeitsmarktexperte Wilhelm Adamy in einem Artikel zitiert und meint damit den Blick auf die Beschäftigungschancen der Langzeitarbeitslosen. Der Artikel von Flora Wisdorff, dem das Zitat von Adamy entnommen wurde, ist bezeichnenderweise überschrieben mit Wer ein Jahr arbeitslos ist, bleibt das meist auch. Die dort auf der Basis einer neuen Studie des DGB präsentieren Zahlen sind mehr als ernüchternd:

»Mit 14,3 Prozent hat 2013, im Jahr mit den aktuellsten Daten, noch nicht einmal jeder fünfte langzeitarbeitslose Hartz-IV-Empfänger einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden oder sich selbstständig machen können … 2011 waren es immerhin 20 Prozent.«

Aber das ist nur die „rohe“ Quote des Abgangs in irgendeine Beschäftigung. Noch nicht berücksichtigt ist in diesem Wert, wie lange denn die neue Beschäftigung andauert, also ob es sich um einen „nachhaltigen“ Abgang in Beschäftigung handelt. Die vom DGB präsentierten Daten stimmen skeptisch: »Untersucht man, ob dieselben vermittelten Langzeitarbeitslosen sowohl einen Monat später als auch sechs Monate später in Beschäftigung waren, dann halbiert sich die Zahl jener, die noch arbeiten, auf nur 7,5 Prozent«, referiert Wisdorff aus der ihr vorliegenden Studie des DGB. Das bedeutet, die Hälfte der in Beschäftigung abgegangenen langzeitarbeitslosen Menschen kommt innerhalb weniger Monate wieder zurück in die Arbeitslosigkeit. Problemverschärfend wäre außerdem zu berücksichtigen, dass viele dieser Übergänge in Beschäftigung nur mit Hilfe von Lohnkostenzsuchüssen zustande gekommen sind (es wäre ein eigenes Thema zur Vertiefung, wie viele dieser Einstellungshilfen auf Fälle entfallen, die innerhalb weniger Monate wieder beendet wurden bzw. Arbeitslose betreffen, die eigentlich nicht zur Zielgruppe dieses Instrumentariums gehören). Außerdem müsste natürlich bei einer detaillierten Bewertung auch die Frage nach der Art und Weise der Beschäftigungsverhältnisse gestellt werden.

Kurz vor der Berichterstattung über die neue DGB-Studie hatte bereits O-Ton Arbeitsmarkt über das Thema geschrieben: Hartz IV-Empfänger: Nur rund zwei Prozent finden monatlich Arbeit, so lautet die Überschrift eines Artikels. Der dort gewählte Zugangsweg auf der Basis der Daten der Bundesagentur für Arbeit stützt die Aussagen der DGB-Studie: »Die Arbeitsmarktchancen von Hartz IV-Empfängern sind mehr als schlecht. Pro Monat finden nur rund zwei Prozent eine Arbeit. Lediglich die Hälfte von Ihnen bleibt dauerhaft beschäftigt. Hinzu kommt: Meist bringt der Job kein Ende der Hilfebedürftigkeit.« Die Bezugsbasis der hier präsentierten Werte sind übrigens nicht die offiziell als arbeitslos registrierten Hartz IV-Empfänger, sondern die „erwerbsfähigen“ Grundsicherungsempfänger, denn zahlreiche Erwerbsfähige werden aus unterschiedlichen Gründen nicht  formal als „arbeitslos“ ausgewiesen, obgleich sie es faktisch sind. Auf dieser Grundlage und bei einer monatlichen Betrachtungsweise ergeben sich die folgenden Befunde:

»Zwischen September 2013 und September 2014 fanden monatlich nur rund 94.000 von insgesamt 4,4 Millionen erwerbsfähigen Hartz IV-Empfängern eine Beschäftigung, machten sich selbstständig oder begannen eine Ausbildung – das entspricht 2,1 Prozent. Eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung fanden sogar nur rund 79.000 von ihnen, 1,8 Prozent aller erwerbsfähigen Hartz IV-Empfänger. Von Dauer ist das Arbeitsverhältnis zudem nur für etwa die Hälfte (47 Prozent) der 79.000, die eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung fanden. Sie waren auch nach zwölf Monaten sowie an den Stichtagen nach drei und sechs Monaten beschäftigt. Hier gilt allerdings: Dass das Arbeitsverhältnis durchgängig Bestand hatte, kann nur vermutet werden, denn zwischen den Stichtagen sind Phasen der Arbeitslosigkeit möglich, die die Statistik nicht erfasst.«

Natürlich wird an dieser Stelle von den Kritikern sofort darauf hingewiesen, dass die Bezugsbasis mit allen erwerbsfähigen Hilfeempfängern „zu groß“ sei, denn von denen seien ja nicht alle auch wirklich arbeitsuchend. O-Ton-Arbeitsmarkt hat an anderer Stelle (auf Twitter) darauf hingewiesen, dass die monatliche Abgangsrate nur bezogen auf die Gruppe der auch offiziell als arbeitslos registrierten erwerbsfähigen Arbeitslosen mit durchschnittlich 3,2 Prozent auch nicht deutlich besser ausgefallen ist.

Außerdem wird hier auch darauf hingewiesen, dass der Abgang in irgendeine Beschäftigung keineswegs automatisch mit einer Beendigung der Hilfebedürftigkeit gleichgesetzt werden kann und darf, denn eine solche kann weiter bestehen, wenn man beispielsweise zu wenig verdient. Auch hierzu liefern die amtlichen Daten einige Hinweise:

»Der Großteil der Hartz IV-Empfänger, die einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz fanden, konnte die Hilfebedürftigkeit nicht beziehungsweise nicht dauerhaft überwinden. Nur ein Drittel (34 Prozent) bezog an Stichtagen drei, sechs und 12 Monate nach der Beschäftigungsaufnahme keine Hartz IV-Leistungen mehr. Die übrigen Personen waren an mindestens einem der Stichtage weiterhin hilfebedürftig. Bei den Langzeitleistungsbeziehern schafft dies sogar nur jeder Fünfte.«

Fazit: Man kann es drehen und wenden wie man will. Was wir hier erkennen müssen ist das, was man als „Verfestigung“ und „Verhärtung“ der Langzeitarbeitslosigkeit bezeichnet und was auch zum Teil erklären kann, warum trotz der an und für sich günstigen arbeitsmarktlichen Rahmenbedingungen die Beschäftigungschancen – nicht „der“, aber „dieser“ – Arbeitslosen schlechter geworden ist und sich erwartbar weiter verschlechtern wird, wenn man nicht anders als bislang gegenzusteuern versucht. Dies folgt einem einfachen, aber brutal wirksamen Mechanismus: Je länger die Arbeitslosigkeit anhält und gleichzeitig je weniger für und mit den Betroffenen gemacht wird, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass diese Menschen keinen Zugang mehr bekommen werden zu irgendeiner Form der Beschäftigung.

Viele von ihnen werden gleichsam auf Dauer „passiviert“, also faktisch stillgelegt im Leistungsbezug und wenn etwas getan wird, dann oftmals nur noch Spielarten dessen, was man zynisch als „Aktivitätssimulationen“ bezeichnen muss. Mit nicht selten verheerenden Auswirkungen auf die Betroffenen und auch auf die Sache, um die es doch eigentlich gehen soll: Wenn man beispielsweise von den Betroffenen verlangt, jeden Monat eine vorgegebene Anzahl von x Bewerbungen nachzuweisen, von denen man weiß, dass sie erfolglos bleiben werden und dass noch nicht einmal eine Absage zurückkommt, dann wird das die Motivation der Arbeitsuchenden sicher nicht erhöhen, ganz im Gegenteil. Und wenn dann die „Fallmanager“, „persönlichen Ansprechpartner“ oder wie auch immer die genannt werden, die sich in den Jobcentern um diese Menschen kümmern sollen, noch nicht einmal mehr einen – in anderen Zusammenhängen häufig kritisierten – „Ein-Euro-Job, also eine Arbeitsgelegenheit für einige wenige Monate, anbieten können, weil die Fördermittel in den vergangenen Jahren um mehr als 50 Prozent eingedampft worden sind, dann wird für jeden, der vorurteilsfrei an die Sache rangeht, klar erkennbar, dass sich die vorhandenen Problemlagen kumulativ verstärken werden müssen. Wenn „Förderung“ passiert, dann handelt es sich – haushaltsbedingt, aber auch aufgrund des völlig restriktiven und lebensfremden Förderrechts – um nur punktuelle, fragmentierte Interventionen, die im Ergebnis oftmals dazu führen, dass die Betroffenen danach in ein noch tieferes Loch fallen, was sich dann problemverschärfend auswirkt auf die eigentlich angestrebte Vermittlung in Beschäftigung.

Die zwangsläufige Konsequenz ist eine deutliche Zunahme des „verfestigten“, „harten“ Kerns der Langzeitarbeitslosigkeit. Wissenschaftler der Hochschule Koblenz weisen das regelmäßig nach auf der Basis einer Sonderauswertung der PASS-Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit – vgl. hierzu den Beitrag Neue Zahlen zur Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit im Grundsicherungssystem vom 6.11.2014. Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2012 (im Vergleich zu 2011; die Auswertung für das Jahr 2013 läuft derzeitnoch). In der aktuellen Studie kommen die Wissenschaftler zu folgendem Ergebnis:

»… mehr als 480.000 Menschen in Deutschland sind zwar erwerbsfähig, aber gleichzeitig so „arbeitsmarktfern“, dass ihre Chancen auf Arbeit gegen Null tendieren. Ebenfalls von der Lage ihrer Eltern betroffen sind 340.000 Kinder unter 15 Jahren, die in den Haushalten der besonders benachteiligten Arbeitslosen leben. Besonders alarmierend: Die Lage der Arbeitsmarktfernen verschlechtert sich zusehends. Bereits im Vorjahr hatte das IBUS ihre Zahl berechnet und war zu deutlich geringeren Werten gekommen. Mit 435.000 Menschen gab es 2011 noch zehn Prozent weniger Betroffene. Und auch die Zahl der Kinder ist gestiegen. 2011 lebten 305.000 unter 15-Jährige in den Haushalten der Arbeitsmarktfernen, 11,5 Prozent weniger als 2012.«

Bei der Interpretation dieser Zahlen muss man berücksichtigen, dass es „nur“ um den „harten“ Kern der Langzeitarbeitslosigkeit im SGB II-System geht, denn hier werden Personen als arbeitsmarktfern definiert, wenn sie in den letzten drei Jahren nicht beschäftigt waren und mindestens vier Vermittlungshemmnisse aufweisen, was aufgrund vorliegender empirischer Evidenz dazu führt, dass sie so gut wie keine Beschäftigungschance mehr unter den gegebenen Rahmenbedingungen haben (werden).

Aber gibt es nicht Zeichen der Hoffnung? Flora Wisdorff schreibt in ihrem Artikel: »Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat deshalb die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit zu einem ihrer zentralen Themen gemacht.« Auch wenn das diejenigen überraschen wird, die sich intensiver mit der herrschenden Arbeitsmarktpolitik beschäftigen – hier die Aufklärung, woraus sich diese Einschätzung speist:

»Mithilfe von Mitteln aus dem Europäischen Sozialfonds sollen Menschen, die mindestens zwei Jahre lang arbeitslos waren, wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden, und zwar in die Privatwirtschaft. „Betriebsakquisiteure“ der Jobcenter sollen ausschwärmen, um private Arbeitgeber zu überzeugen, Langzeitarbeitslose einzustellen.
In den ersten sechs Monaten bekommen die Arbeitgeber einen Lohnkostenzuschuss von 75 Prozent, der dann stufenweise nach 18 Monaten auf null sinkt. Danach müssen die Unternehmen die geförderten Arbeitnehmer sechs Monate lang weiterbeschäftigen und allein bezahlen.
Die Arbeitslosen werden intensiv von Coaches betreut. Arbeitslose, die bereits seit fünf Jahren nicht mehr gearbeitet haben, sollen noch großzügiger gefördert und intensiver betreut werden.«

Das hört sich doch erst einmal sehr gut an. Aber das „aber“ folgt sogleich: »Allerdings sollen die Mittel nur für 33.000 Arbeitslose bereit gestellt werden. Bei einer Zahl von einer Million Langzeitarbeitslosen ist das allenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein. Ein weiteres Programm richtet sich an 10.000 Personen.« Und übrigens nicht pro Jahr.

Und richtig ernüchternd wird es, wenn man sich mit der Realität der Umsetzung des – geplanten – Programms beschäftigt. So berichtet die Initiative Pro Arbeit:

»Jobcenter sind nicht begeistert über hohen Verwaltungsaufwand bei dem neuen Bundes-ESF-Programm zur Eingliederung von Hartz IV-Empfängern in den allgemeinen Arbeitsmarkt, hört man aus allen Ecken des Landes. Am 9. Januar hat das Bundesverwaltungsamt interessierte Jobcenter eingeladen und die Rahmenbedingungen für dieses Programm vorgestellt. Wie bei ESF üblich, sind die Dokumentations- und Nachweispflichten sehr hoch. Jährlich müssen Zwischennachweise erstellt werden. Auch die Arbeitgeber unterliegen dieser Dokumentations- und Nachweispflicht. Es wird die Arbeitgeber freuen und unter diesen Rahmenbedingungen werden sie in Massen zu gewinnen sein, langzeitarbeitslose Menschen einzustellen. Die Mittel für dieses Programm haben mit einer sogenannten Vorwegnahme den Gesamttopf der Eingliederungsmittel der Jobcenter reduziert. Man kann es auch anderes sagen, erst wird den Jobcentern das Geld weggenommen und dann dürfen sie es mit einem hohen Verwaltungsaufwand wieder beantragen und bekommen es evtl. zurück, wenn sie einen Zuwendungsbescheid erhalten.«

Ach, so wird das nichts, das kann man schon jetzt sicher prognostizieren. Wie sind an dieser Stelle und mit Blick auf die sich verfestigende Langzeitarbeitslosigkeit, die mittlerweile mehr als eine Million Menschen umfasst und weiter zunimmt, konfrontiert mit einem manifesten Systemversagen innerhalb des Grundsicherungssystem.

Viele wäre schon gewonnen, wenn man endlich in einem ersten Schritt das machen würde, was Arbeitsmarktexperten unisono mit den Praktikern vor Ort, denen es um die Menschen und um die Sache geht, seit langem einfordern: eine radikale Reform des Förderrechts im SGB II, das vom Kopf auf die Füße gestellt werden muss, um die gesamte Bandbreite sinnvoller, abgestufter und vor allem auch länger laufenden Förderinstrumente nutzen zu können je nach individueller Ausgestaltung der Hilfebedürftigkeit. Es geht hier um die notwendige Beseitigung zentraler „Lebenslügen“ der deutschen Arbeitsmarktpolitik (vgl. hierzu bereits 2010 beispielsweise Sell, S.: Die öffentlich geförderte Beschäftigung vom Kopf auf die Füße stellen. Ein Vorschlag für die pragmatische Neuordnung eines wichtigen Teilbereichs der Arbeitsmarktpolitik).

In einem zweiten Schritt muss sich dann endlich die zentrale Erkenntnis Bahn brechen, dass es allemal sinnvoller ist, individuell und auch volkswirtschaftlich gesehen, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren – auch wenn das bedeutet, dass man am Anfang deutlich mehr Geld in die Hand nehmen müsste, um beispielsweise eine ordentliche öffentlich geförderte Beschäftigung aufzubauen und ans Laufen zu bringen für die, die das wollen (und das sind viele der Betroffenen entgegen weit verbreiteter Annahmen). Denn eines muss doch endlich auch in Berlin und an anderen Orten erkannt werden – unter den gegebenen Bedingungen werden Hunderttausende Menschen auf Dauer exkludiert von jeglicher Form der Erwerbstätigkeit. Und das bedeutet eben, auch wenn man es nur fiskalisch betrachtet und nicht von den Menschen her: Sie werden ihr Leben lang auf der Payroll des Staates bleiben. Es gibt – auch nur ökonomisch gesehen – keine Alternative zu ganz neuen Wegen der Förderung. Sozialpolitisch und menschlich gesehen sowieso nicht.

Psychische Erkrankungen: Von den Höhen des Streits um die großen Zahlen in die Tiefen der Realität für die Betroffenen

Im Umfeld der Veröffentlichung des „Depressionsatlas“ der Techniker-Krankenkasse wurde wieder einmal sehr kontrovers gestritten über die Frage, ob wir in Zeiten leben, in denen die Zahl der Menschen mit einer psychischen Erkrankung kontinuierlich ansteigt, was ein erster Blick auf die Daten aus den vielen Gesundheitsberichten der Krankenkassen nahezulegen scheint – oder ob das nicht vielmehr aufgebauscht ist, eine „Modewelle“, Folge einer gesellschaftlichen Entstigmatisierung des Themas, einer veränderten Etikettierung der Ärzte, die früher anders „offiziell“ diagnostiziert haben und heute eher bereit sind, psychische Krankheiten auszuweisen bis hin zu den Effekten einer angebotsinduzierten Nachfrage. Gesellschaftspolitisch – und damit zwangsläufigerweise mehr oder weniger ideologisch – aufgeladen wird das Thema durch eine Verknüpfung mit den Veränderungen und Entwicklungen in der modernen Arbeitswelt und der implizit mitlaufenden oder auch explizit vorgetragenen These, dass die modernen Arbeitsbedingungen verantwortlich seien für den tatsächlichen bzw. behaupteten Anstieg der Zahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen. Das wurde in dem Blog-Beitrag Der Kapitalismus macht depressiv! Aber ist das wirklich so? Oder liegt die Wahrheit vielleicht in der Mitte? durchaus kritisch bis ablehnend diskutiert. Allerdings gibt es ein unauflösbares Dilemma zwischen der Diskussion allgemeiner Entwicklungen im Kollektiv beispielsweise auf der Ebene epidemiologischer Studien, die dann zu dem Ergebnis kommen (können), dass es keinen erkennbaren Anstieg der Zahl der von psychischen Erkrankungen betroffenen Menschen gegeben hat und der Realität des einzelnen Falls, also der Menschen, die von einer solchen Erkrankung betroffen sind und die sehr handfest erfahren (müssen), was mit ihnen passieren kann. Sozialpolitisch relevant auf dieser Ebene sind dann reale Versorgungsdefizite, weiter bestehende Stigmatisierungen oder eben auch gute Ansätze eines veränderten Umgangs mit ihnen. Um diese Ebene soll es nun – gleichsam in Ergänzung zum Beitrag über die großen Zahlen – gehen.

Christina Hucklenbroich greift mit Blick auf den Umgang mit Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, in ihrem Beitrag Und dann haben Sie eine F-Nummer ein auch von den Kritikern immer wieder vorgetragenes Argument auf: »Den Freunden offen von der Psychotherapie erzählen, den Kollegen vom Burnout – das scheint inzwischen Normalität. Sind psychische Krankheiten völlig „entstigmatisiert“? Stigmaforscher sagen: im Gegenteil.«

Die Mitarbeiterin einer Beratungsstelle für Eltern verhaltensauffälliger Kinder wird mit den folgenden Worten zitiert: »Neulich sagte ein Mann, dem man ansah, dass er Medikamente nahm: ,Ich habe F20.0‘. Da ich keine Ärztin bin, musste ich sogar nachfragen, was der Diagnoseschlüssel bedeutet.“ Die Antwort kam prompt: „Paranoide Schizophrenie.“ Frauen sprächen heute offen über depressive Phasen in ihrem Leben … Aber auch Männer gäben immer häufiger von sich aus zu Protokoll, Depressionen erlebt zu haben. „Dass Männer Depressionen einräumten, gab es früher gar nicht. Und noch vor zwanzig Jahren hätte ich niemals gewagt, danach zu fragen.“ Für die Pädagogin ist klar, welche gesellschaftliche Entwicklung ihren Arbeitsalltag so verändert hat: „Die Entstigmatisierung psychischer Krankheiten ist in vollem Gange“, bilanziert sie.«

Da ist es also wieder, das Stichwort „Entstigmatisierung“. Hucklenbroich berichtet von ihren Recherchen bei der Deutschen Rentenversicherung – die Zahl der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit etwa, die aufgrund psychischer Störungen bewilligt werden, stieg von 41.000 im Jahr 1993 auf 74.000 im Jahr 2012, also muss man sich dort mit dem Thema befasst haben – und landet nach etlichen Schleifen bei einem Mitarbeiter, der mit diesen Worten zitiert wird:

„Die Gewerkschaften sagen ja, es liege an der Arbeitsverdichtung, dass immer mehr Menschen sich zu einer psychiatrischen Diagnose bekennen. Aber seien wir ehrlich: Das hat alles mit der Entstigmatisierung zu tun.“

Die Autorin wendet sich an eine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Frage, ob es eine Entstigmatisierung gegeben hat, professionell beschäftigt: die psychiatrische Stigmaforschung. Und aus diesen Reihen wird ein auf den ersten Blick verblüffender Befund zitiert: Zwar glauben die Deutschen, dass die Gesellschaft psychische Störungen weniger stigmatisiere als früher. »Der Einzelne aber, nach seinen eigenen Gefühlen befragt, will mehr Distanz zu psychisch Kranken als noch 1990, er will sie nicht als Nachbarn und nicht als Kollegen, er will sie niemandem als Mitarbeiter empfehlen und sie nicht zum Freundeskreis zählen.« Und hinzu kommt: »Diese ablehnenden Gefühle sind zwischen 1990 und 2011 deutlich stärker geworden, zeigt ein ganzes Bündel von Studien, das eine Gruppe deutscher Stigmaforscher um den emeritierten Leipziger Sozialpsychiater Matthias Angermeyer und Georg Schomerus von der Universität Greifswald in den Jahren 2013 und 2014 vorgelegt hat«, so Hucklenbroich. Auch interessant: Die Psychiatrie scheint von diesen Entwicklungen profitiert zu haben, denn das Stigma, das auf ihr lag, habe abgenommen – allerdings: Die Menschen erhoffen sich von ihr Schutz, also eher eine selbstbezüglich-funktionale Sichtweise, die sich ausgebreitet hat.

Dass – vor allem die strukturelle – Stigmatisierung des Einzelnen keinesfalls verschwunden ist, kann man an zwei sozialpolitisch relevanten Beispielen illustrieren, man muss gar nicht zu den ganz harten Fällen wie dem dauerhaften Wegschließen bestimmter Menschen in den Psychiatrien des Landes greifen, die hin und wieder thematisiert werden: »Eine psychiatrische Diagnose kann es unmöglich machen, bestimmte private Versicherungen abzuschließen. Und sie kann die Verbeamtung gefährden.«

Psychische Krankheiten gelten wegen der Datenlücken hinsichtlich der Verläufe bei den Versicherungsunternehmen als schwer kalkulierbares Risiko. Verschweigt der Kunde entsprechende Diagnosen, muss der Versicherer später nicht zahlen. Das führt auf der Seite der Betroffenen zu verständlichen, aber nicht unproblematischen Ausweichreaktionen:

»Manche Patienten zahlen ihre Therapie privat und schieben einen stationären Aufenthalt auf. Wer nicht privat zahlen kann oder will, weicht bisweilen auf kirchliche Beratungsstellen aus, statt eine Therapie zu machen, die von der Krankenkasse registriert wird. Das bedeutet wiederum, dass manche Erkrankten auch keine durchgeplante Therapie auf dem Stand der Wissenschaft bekommen können.«

In dem Artikel kommt auch Michael Linden, Leiter der Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation der Charité, zu Wort, der seine Kollegen zu Vorsicht beim Umgang mit Diagnosen mahnt: »Eine Diagnose geht nicht mehr weg. Das heißt: Diagnosen sind nichts Gutes. Deswegen müssen wir die Patienten auch mal bremsen. Manche Patienten wollen einfach nur eine Kur machen. Und wenn sie da wieder rauskommen, haben sie eine F-Nummer.« 2013 hatte Linden in dem Beitrag Psychische Gesundheit: Gesundes Leiden – die „Z-Diagnosen“ im Deutschen Ärzteblatt dafür plädiert, statt der mit dem Buchstaben F kodierten psychiatrischen Diagnosen aus dem Klassifikationssystem ICD-10 häufiger die weicheren Z-Kodes zu nutzen, die für soziale Schwierigkeiten verwendet werden können.

Neben der offensichtlich weiter fortbestehenden strukturellen Stigmatisierung, mit der dann der einzelne Betroffene an möglicherweise für ihn völlig überraschenden Stellen konfrontiert werden kann, soll abschließend auch der eingangs bereits auf einer grundsätzlichen gesellschaftspolitischen Ebene angesprochene Aspekt der Bedeutung der Arbeit aufgegriffen werden – allerdings weniger bzw. gar nicht mit Blick auf die möglichen krankmachenden Bedingungen der modernen Arbeitswelt, sondern hinsichtlich der positiven Bedeutung, die Arbeit hat bzw. haben kann im Prozess der Bewältigung einer psychischen Erkrankung.

Stefan Mühleisen bringt es schon in der Überschrift seines Artikels auf den Punkt, worum es hier geht: Arbeit als Therapie. Sein Beitrag beginnt mit der Geschichte des David Walm, der eine Koch-Ausbildung begonnen hatte mit der Traumvorstellung, einmal Sternekoch zu werden. Aber er steckte während dieser Zeit in der Zwangsjacke einer schweren Depression mit Suizidgedanken und wurde von den eigenen Eltern in die Psychiatrie zwangseingewiesen. Nach wenigen Wochen bekam er die Kündigung von seinem Ausbildungsbetrieb. So oder ähnlich laufen viele Einzelschicksale ab. Dahinter – da ist es wieder, das S-Wort – stehe ein Stigma: »In der öffentlichen Wahrnehmung und insbesondere in vielen Chefetagen gelten psychisch kranke Menschen als willensschwach und unberechenbar. Wer eine psychiatrische Diagnose hat, ist häufig als gefährlicher Gestörter abgestempelt – obwohl seelische Leiden weit verbreitet sind.« Allerdings, so zumindest die Beobachtung von Mühleisen, beginnt das Stigma nun zaghaft zu bröckeln. Betriebe haben Programme aufgelegt, um psychische Belastungen überhaupt zu erkennen und entsprechende Hilfen anzubieten, wenn auch noch zu wenige. Aber es sind erkennbare Veränderungen. Und eines der zentralen Erkenntnisse ist dabei auch die Einsicht, dass Arbeit eine ganz wichtige Rolle spielt.
Beispiel David Walm: Fünf Jahre nach der Zwangseinweisung steht er wieder am Herd, wenn auch nicht einem Laden der Spitzengastronomie, er hat einen Job als Koch in der Kantine der Postbank-Niederlassung an der Münchner Bayerstraße bekommen. Und an dieser Stelle wird sehr deutlich sichtbar, wie wichtig arbeitsmarktpolitische Angebote für die Betroffenen – konkret: Integrationsunternehmen – sind, denn:

»Walm ist einer von 170 Mitarbeitern der Regenbogen Arbeit GmbH, 60 Prozent von ihnen sind psychisch krank. Der gemeinnütziger Betrieb verschafft Menschen mit seelischen Leiden eine Festanstellung, sie bekommen faire Jobs mit therapeutischer Begleitung. Die Firma schließt eine Lücke in der psychiatrischen Versorgungslandschaft. Denn längst wissen Fachleute um das Problem der „Drehtürpsychiatrie“: Wenn Menschen wie Walm nach einer schweren psychiatrischen Krise die Klinik verlassen, stehen sie oft vor den Trümmern ihres Lebens: ohne Freunde, ohne Wohnung – und ohne Arbeit. So fallen sie in die nächste Krise – und landen wieder in der Klinik.«

Der Integrationsbetrieb hat sich auf Catering-Service spezialisiert. »Menschen mit Psychose, Depression oder Schizophrenie verarbeiten Frischkost, fahren sie kistenweise in fünf Großkantinen in München – etwa bei Postbank, Allianz, Infineon – und arbeiten dort im Service, als Küchenhilfe oder Koch. Arbeitstherapie und Broterwerb zugleich.«

Und David Walm, um ihm das Schlusswort zu überlassen, betont einen ganz eigenen Aspekt:
Depressive Menschen sind enorm leistungsfähig. „Denn sie müssen große Stärke aufbringen, sich nicht umzubringen.“