Die Armut älterer Menschen und die Wohnungsfrage. Eine Studie und viele offene Fragen

In der neueren Armutsdiskussion – beispielsweise rund um den im Februar 2016 veröffentlichten Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und anderer Sozialverbände (vgl.  Zeit zu handeln. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2016) – spielt das Thema Altersarmut eine wichtige Rolle. Bislang konnte man sagen, dass die Altersarmut – wenn man sie denn misst an den Einkommensarmutsgefährdungsquoten – noch nie so niedrig war wie in den zurückliegenden Jahren. Das ist durchaus auch und gerade als ein Erfolg der „alten“, umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung als wichtigster Säule des Alterssicherungssystems zu verstehen. Aber offensichtlich verändert sich mit Blick auf diese Personengruppe einiges zu deren Ungunsten. So schreiben die Herausgeber des neuen Armutsberichts: »Hauptrisikogruppen seien Alleinerziehende und Erwerbslose sowie Rentnerinnen und Rentner, deren Armutsquote rasant gestiegen sei und erstmals über dem Durchschnitt liege.«

Auf einen ganz besonders wichtigen, in der bisherigen Diskussion über Altersarmut immer noch aber vernachlässigten Aspekt weist eine neue Studie hin, die vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) veröffentlicht worden ist: Lebenslagen und Einkommenssituation älterer Menschen. Implikationen für Wohnungsversorgung und Wohnungsmärkte, so ist sie überschrieben. Erstellt wurde sie von Analyse & Konzepte. Beratungsgesellschaft für Wohnen, Immobilien, Stadtentwicklung aus Hamburg und dem Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) aus Köln. 

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Großbritannien: Möglicherweise vor dem „Brexit“. Auf alle Fälle am Beginn einer deutlichen Mindestlohn-Anhebung

Am 23. Juni wird in Großbritannien über den (Nicht-)Verbleib in der EU abgestimmt. Möglicherweise wird die Mehrheit für einen „Brexit“ stimmen und damit die EU noch weiter in die Krise treiben, die sich bereits mehreren Zerreißproben ausgesetzt sieht. Die meisten Umfragen sehen die Europa-Freunde vorne, aber nur knapp – und was man von der Genauigkeit von Umfragen zu halten hat, haben die letzten Parlamentswahlen ernüchternd gezeigt. Wirtschaftliche Argumente spielen in den Kampagnen der Befürworter und der Gegner eines EU-Austritts eine große Rolle. Als Beispiel sei hier eine Argumentation von Nigel Farage, dem Chef der EU-feindlichen Partei Ukip, zitiert, die man in dem Essay Brexit? Dann geht doch! von Björn Finke finden kann: »Die britische Stahlindustrie steckt in der Krise, Tausende Jobs sind bedroht. Doch die Regierung kann der Branche nicht einfach Subventionen gewähren oder billigen chinesischen Stahl mit Zöllen verteuern. Solche Rettungsaktionen müsste London mit Brüssel absprechen. Für Nigel Farage, den Chef der EU-feindlichen Partei Ukip, ist das ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr die Mitgliedschaft in der Union dem Land schade: „Es ist zum Verzweifeln traurig, dass wir als Mitglied der EU keine Kontrolle über unsere Industrie mehr haben“, sagt er.«

Aber bei einer anderen Angelegenheit sieht das ganz anders aus. Wenn es um die Festlegung der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns geht, dann haben die Briten das in der eigenen Hand, so wie wir auch bei der hier seit 2015 geltenden gesetzlichen Lohnuntergrenze. 1999 hat die Labour-Regierung unter Premierminister Tony Blair einen gesetzlichen Mindestlohn (National Minimum Wage) eingeführt (bzw. korrekter: mehrere, denn für Personen unter 25 Jahre sowie für Auszubildende gibt es abgesenkte Mindestlöhne). Einen bedeutsamen Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung der Höhe des Mindestlohns hat die Low Pay Commission; sie ist unabhängig und besteht aus je drei Vertretern der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Gewerkschaften. Sie gibt jährlich, in der Regel  im März, einen Bericht heraus, in dem umfassend die Wirkungen des Mindestlohns auf die Gesamtwirtschaft und den Niedriglohnsektor untersucht und Empfehlungen für die künftige Höhe des Mindestlohnes gegeben werden (vgl. zum aktuellen Report National Minimum Wage: Low Pay Commission report Spring 2016), auf Grundlage derer dann die Regierung zum Oktober eines jeden Jahres eine Anpassung vornimmt.

Im Oktober 2015 wurde der Mindestlohnsatz für die Arbeitnehmer ab 25 Jahre auf 6,70 Pfund pro Stunde erhöht. Zum 1. April 2016 hat die Regierung einen „National Living Wage“ in Höhe von 7,20 Pfund eingeführt und sich mit dieser Neuerung auf eine Entwicklungslinie gesetzt, die noch genauer zu diskutieren sein wird.

Eingeführt wurde der National Minimum Wage in Großbritannien 1999 von der damaligen Labour-Regierung – auf einem recht niedrigen Niveau. Man startete damals mit einem Einstiegssatz von umgerechnet 5 Euro pro Stunde, wohlgemerkt erst für die Arbeitnehmer ab 25 Jahren in dieser Höhe.
Denn auch in Großbritannien gab es eine intensive und polarisierte Debatte über die (möglichen bzw. in Aussicht gestellten) Beschäftigungsverlustes eines „zu hohen“ Mindestlohns. Vor diesem Hintergrund hat man in Großbritannien eine Doppelstrategie gefahren: Auf einem niedrigen Niveau einsteigen in den flächendeckenden Mindestlohn und zugleich eine unabhängige Mindestlohnkommission ins Leben rufen, die den Einführungsprozess und darüber hinaus die Beschäftigungs- und Arbeitsmarktauswirkungen des Mindestlohns in der Praxis kontinuierlich und engmaschig mit entsprechenden Analysen begleitet (vgl. beispielsweise die Publikationsseite der Low Pay Commission. Dadurch konnte man auch gut begründet die jährlichen Empfehlungen zur Anpassung des Mindestlohns erarbeiten und der Politik zur Entscheidung vorlegen.

Insgesamt wird der Mindestlohn in Großbritannien als Erfolgsmodell eingeschätzt. Wegen der moderaten Erhöhungen hat er seit seiner Einführung durch Tony Blair im Jahre 1999 nach den meisten vorliegenden Studien so gut wie keine Jobs gekostet.

Die Abbildung verdeutlicht die Entwicklung der Höhe des Mindestlohns in Großbritannien, gemessen an der Landeswährung und umgerechnet in Euro. Man kann erkennen, dass sich der National Minimum Wage mittlerweile am aktuellen Rand im oberen Bereich dessen befindet, was man in Europa an Mindestlöhnen vorfindet.

Aber damit nicht genug. Vergleicht man das mit der sehr zaghaften Erhöhungsdiskussion, die derzeit in Deutschland mit Blick auf Januar 2017 (!) stattfindet (vgl. dazu meinen Blog-Beitrag Der gesetzliche Mindestlohn: Wie viel darf, soll oder muss es sein? Und wer schaut eigentlich genau hin, ob er überhaupt gezahlt wird? vom 27.02.2016), dann wird Unerhörtes in Großbritannien geplant.

Das britische Mindestlohn-Experiment, so hat Marcus Theurer seinen Artikel zu den neuen Entwicklungen in Großbritannien überschrieben:

Am 1. April 2016 begann »in Großbritannien ein kühnes Experiment: Die Regierung in London erhöht den gesetzlichen Mindestlohn in den kommenden Jahren schrittweise um mehr als ein Drittel. Bis 2020 wird er auf voraussichtlich rund 9 Pfund in der Stunde steigen, umgerechnet rund 11,50 Euro.«

„Das ist eine der größten Mindestlohn-Erhöhungen in der westlichen Welt seit einer Generation“, wird der für den Arbeitsmarkt zuständige Staatssekretär Nick Boles zitiert. Der erste Schritt bestand aus der Anhebung des Mindestlohns für alle ab 25 Jahre um 50 Pence auf 7,20 Pfund pro Stunde. Von einigen Unternehmen wurde diese neue Messlatte nicht nur, aber auch aus Marketinggründen bereits nach oben übersprungen, beispielsweise von den beiden auf der Insel derzeit sehr erfolgreich expandierenden deutschen Unternehmen Aldi und Lidl: »Die deutschen Supermarktketten bezahlen allen Mitarbeitern in ihren britischen Filialen neuerdings mindestens 8,20 Pfund in der Stunde.«

Diese Maßnahme betrifft nicht nur einige wenige. Von der Mindestlohnerhöhung könnten rund 4,5 Millionen Briten und damit etwa jeder sechste Beschäftigte davon profitieren, erwarten die Arbeitsmarktfachleute der Denkfabrik Resolution Foundation.

Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen? Man kann das auf den Sommer des vergangenen Jahres, also 2015, natürlich vor den damaligen Wahlen in Großbritannien terminieren. Zu dieser Seite verkündete der konservative Schatzkanzler George Osborne: „Großbritannien verdient eine Lohnerhöhung“. Natürlich gab und gibt es auch handfeste ökonomische Ursachen für diese Entwicklung:

»(In) den vergangenen fünf Jahren wurden mehr als 2 Millionen neue Stellen geschaffen. Doch viele dieser Stellen sind schlecht bezahlt. Im britischen Einzelhandel etwa arbeiten sechs von zehn Beschäftigten im Niedriglohnbereich, doppelt so viele wie vor 25 Jahren.
Die Verblüffung über den Mindestlohn-Coup der Regierung war groß, denn die Konservativen überholen damit die oppositionelle Labour Party quasi von links: Die britischen Sozialdemokraten hatten zuvor zwar die Hungerlöhne im Niedriglohnsektor gegeißelt, selbst aber eine deutlich moderatere Aufstockung der Lohnuntergrenze propagiert als nun verwirklicht.«

Haben die Konservativen also die Labour-Leute wirklich links überholt?

Der Schatzkanzler hatte neben der möglichen Blamage für den politischen Gegner eine weitere Begründung für diesen Schritt – und die ist aus seiner spezifischen Perspektive mehr als nachvollziehbar:

»Viele britische Geringverdiener erhalten von der Regierung Lohnzusatzleistungen („tax credits“). Doch es sei nicht Aufgabe des Staates, mit solchen Einkommensaufstockungen die Billiglöhne privater Arbeitgeber zu subventionieren.«

Auf alle Fälle erkennt man bereits an dieser Stelle: Der Mindestlohn ist – ob man das mag oder nicht – immer auch ein politischer Lohn. Und damit Gegenstand der politischen Auseinandersetzung.

Auch Alexander Hagelüken befasst sich in seinem Artikel Soziale Politik von Konservativen mit den überraschenden Entwicklungen in Großbritannien. Dort wird auf die Skeptiker und Kritiker des scheinbar arbeitnehmerfreundlichen Mindestlohnschwenks der Konservativen verwiesen,

die »beklagen, dass die Lohnuntergrenze nur für Beschäftigte im Alter von 25 Jahren aufwärts gilt. Sie sehen das ganze zudem als Ausweichmanöver. Der britische Finanzminister George Osborne will das ewige Haushaltsdefizit bis 2019 in einen Überschuss verwandeln – und dazu im Sozialen fast 20 Milliarden Euro einsparen. Der höhere Mindestlohn gleicht das auf Kosten der Kunden und Arbeitgeber etwas aus. Die Regierung könnte sich nun einen Teil der staatlichen Zuschüsse sparen, die traditionell den Lohn von Geringverdienern aufstocken.«

Wie dem auch sei – es ist eine im Vergleich zu Deutschland ansehnliche Erhöhung. Natürlich bleiben Reaktionen nicht aus, die man auch in Deutschland erwarten muss, selbst wenn der Mindestlohn nicht erhöht werden würde:

»Warnungen kommen nun aus typischen Schlechtzahlerbranchen wie der Gastronomie. Liberale Ökonomen prophezeien, der Anstieg werde die Zahl der unsicheren Jobs erhöhen, bei denen Unternehmen den Mitarbeitern keine feste Stundenzahl in der Woche anbieten. Im Extremfall haben sie dann auch mal null Stunden die Woche Arbeit. Es gibt auch offizielle Schätzungen. Demnach wird der Mindestlohn bis 2020 etwa 60 000 Jobs von Geringverdienern kosten. In einem Land mit mehr als 60 Millionen Einwohnern scheint dieser Verlust überschaubar.«

Das hatten wir bei uns auch. Übrig geblieben ist davon nichts, ganz im Gegenteil, die Zahl der Beschäftigten im Hotel- und Gaststättenbereich ist gestiegen.

Mindestlohn: Von leckeren Erdbeeren und Spargelstangen bis hin zu rechnerisch nicht geschaffenen Niedriglohnjobs, die zu einem tatsächlichen Verlust deklariert werden

Es gibt sicher viele Menschen, die sich bereits ordentlich freuen auf den ersten deutschen Spargel in dieser Saison und auch auf die leckere Erdbeeren von heimischen Feldern. Selbst bei so einer kulinarischen Angelegenheit bekommt man die gute Laune vermiest, wenn man so was lesen muss: Bis zu 20 Prozent mehr: Mindestlohn verteuert Spargel und Erdbeeren deutlich. Und wer ist schuld? Das noch gar nicht bekannte schlechte Wetter? Ein Anstieg der Körbchenpreise? Nein, „natürlich“ der Mindestlohn:

»Bei Erdbeeren drohe ein Preisanstieg von bis zu 20 Prozent, teilte ein Sprecher des Verbands Süddeutscher Spargel- und Erdbeerbauern gegenüber der Zeitung mit. Grund sei der Anstieg des Mindestlohns.«

Wir können aus diesem Sachverhalt mehreres lernen. In Deutschland gibt es für alles und jeden einen Verband. Den Verband Süddeutscher Spargel- und Erdbeeranbauern (VSSE) – so heißt der korrekt – gibt es wirklich, da haben sich die Produzenten zweier durchaus attraktiver Lebensmittel gefunden und zusammen getan. Und an dieser Stelle weitaus bedeutsamer: Es gibt auch noch Medien, die das nicht einfach nur per copy and paste unter die Leute verteilen, sondern einen kritischen Blick auf die Behauptung werfen und das erst einmal nicht glauben. Dementsprechend hat Florian Schmidt seinen Artikel dazu kurz und bündig so überschrieben: Der dreiste Mindestlohn-Schwindel der Erdbeerbauern. Das hört sich nun schon anders an. »Ein Bauernverband stimmt die Deutschen auf 20 Prozent höhere Erdbeerpreise ein. Als Grund nennt er den gestiegenen Mindestlohn. Doch diese Rechnung geht nicht auf«, behauptet der Verfasser des Artikels. Schauen wir einmal genauer bei ihm nach – und merken wir uns an dieser Stelle, dass wir im Bereich der Landwirtschaft von einem Mindestlohn reden, der aufgrund der Ausnahmeregelung noch unter den 8,50 Euro pro Stunde liegt, die man ansonsten vor Augen hat.


Nachdem der Kilopreis für Erdbeeren im vergangenen Jahr bei rund 3,50 Euro lag, könnte er in diesem Jahr um 20 Prozent steigen. Als Grund nannte Verbandspräsident Simon Schumacher den höheren Mindestlohn für Feldarbeiter. Tatsächlich ist der erhöht worden, in der westdeutschen Landwirtschaft liegt er jetzt bei 8 Euro, in Ostdeutschland bekommen Erdbeerpflücker seit diesem Jahr 7,90 Euro pro Stunde. »Doch ist dieser Umstand wirklich ein Argument für einen derartig hohen Preisanstieg?«, fragt Florian Schmidt skeptisch. Zu Recht. Nur rudimentäre Grundkenntnisse in Mathematik können hier hilfreich wirken:

»Es bedarf nur wenig Recherche, um zu erkennen, dass dies nicht zutrifft. Prozentual nämlich ist der Mindestlohn in Westdeutschland lediglich um 8,1 Prozent gestiegen (2014: 7,40 Euro), im Osten der Republik um 9,7 Prozent (2014: 7,20 Euro) – weniger als die Hälfte der von Schumacher angesprochenen 20 Prozent. Zudem fließen in den Verkaufspreis natürlich auch noch andere Kosten als der Lohn ein – selbst ein um 20 Prozent gestiegener Mindestlohn würde daher keinen 20 Prozent höheren Verkaufspreis rechtfertigen.«

Die Begründung des Erdbeerbauern-Verbandsfunktionärs ist deshalb schlichtweg als „dreist“ zu bezeichnen, wie es die Verbraucherschützer auch machen.
In dem Artikel wird Thorsten Schulten vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung mit diesen Hinweisen zitiert:

»Lediglich im Taxigewerbe habe er feststellen können, dass der Mindestlohn eine drastische Auswirkung auf den Verbraucherpreis gehabt habe. „Sonst kann man nirgends klare Zusammenhänge sehen. Auch nicht in der Landwirtschaft.“«

Der Mechanismus, der hier wirkt, ist natürlich einfach zu durchschauen: Der Mindestlohn als solcher ist bei vielen Menschen akzeptiert und die Produzenten wollen höhere Preise, die wenn überhaupt nur zu einem geringen Teil mindestlohnbedingt sind, in seinem legitimatorischen Windschatten durchsetzen.

Leider aber spielen viele Medien auf der vorbereiteten Klaviatur. So wird der Leser der FAZ in der Print-Ausgabe vom 02.04.2016 mit einem Artikel konfrontiert, der die – falsche – Aussage zur Überschrift macht (die bekanntlich oftmals hängen bleibt): „Der Spargel wird wegen des Mindestlohns teurer“. Dort erfahren wir:

»Angewiesen sind die Spargelbauern auf die rund 300.000 Saisonkräfte, die jedes Jahr vor allem aus Polen und Rumänien nach Deutschland kommen, um zunächst die weißen Stangen und später Erdbeeren, Obst und Gurken zu ernten. Rund 1.500 Arbeitsstunden brauche es, um den Spargel auf einem Hektar Land zu ernten und für den Verkauf aufzubereiten, berichtet Hans-Dieter Stallknecht vom Deutschen Bauernverband (DBV). Bei einem Durchschnittsertrag von 5.000 Kilogramm je Hektar komme man schnell auf Personalkosten von 2,50 Euro je Kilogramm.«

Aus dem vorher zitierten Beitrag wissen wir, dass die Lohnsteigerung in Westdeutschland durch die Anhebung des Mindestlohns bei 8,1 Prozent liegt, wohlgemerkt bezogen auf die Löhne, nicht auf die Gesamtkosten.

Dem FAZ-Artikel kann man entnehmen, dass der Bauernverband für das laufende Jahr davon ausgeht, dass der Verbraucher »wegen der gestiegenen Lohnkosten 30 bis 50 Cent mehr je Kilogramm zahlen« muss. Fragt sich immer bezogen auf was. Der Verbraucher zahlt über die Saison gerechnet und in Abhängigkeit von der Qualität Beträge in einem rechnerischen Spektrum von 8 bis 11 Euro. Geht man von diesen Beträgen aus, dann würden sich die durch den Mindestlohnanstieg bedingten höheren Preise in einem Spektrum zwischen knapp 3 bis 6 Prozent mehr bewegen. Sicher werden das die meisten Verbraucher akzeptieren und viele werden auch bereit sein, eine solche Preisanhebung, wenn sie denn eine Weitergabe des durch einen höheren Mindestlohn bedingten Kostenniveaus der Produzenten verursacht wird, ohne Protest hinzunehmen.

Schon bei diesen Beispiel könnte der eine oder andere auf den Gedanken kommen, dass hier der Mindestlohn mal wieder aufgeblasen wird, wenn es um seine – angeblichen – negativen Auswirkungen geht. Das hängt sicher auch mit dem großen Missmut zusammen, der viele Mainstream-Ökonomen befallen hat, sind doch die teilweise apokalyptisch daherkommenden „Prognosen“ über massive Jobverluste nicht eingetreten. Da verwenden dann einige offensichtlich einen Teil ihrer Lebenszeit, um doch noch irgendwas nachzuweisen, was man dem Mindestlohn an Schlechtigkeit anhängen kann.

Einen fast schon putzig zu nennenden Versuch konnte man diese Tage aus den Federn zweier Arbeitsmarktforscher lesen, deren Rechenergebnisse sogleich von der Presse aufgegriffen und mit den berühmten „lenkenden“ Überschriften versehen wurden. Als Beispiel muss an dieser Stelle erneut die FAZ als Quelle zitiert werden: Wegen Mindestlohns 60 000 Jobs weniger geschaffen. Das sitzt erst einmal. Also doch. Schlimme Sache. Schauen wir auch hier genauer hin.

Es geht um diese Studie:

Mario Bossler und Hans-Dieter Gerner: Employment effects of the new German minimum wage Evidence from establishment-level micro data. IAB-Discussion Paper 10/2016, Nürnberg, 2016

Was schreiben die beiden Autoren selbst zu dem, was sie da gerechnet und herausgefunden haben?

»Am 1. Januar 2015 wurde in Deutschland der allgemeine gesetzliche Mindestlohn eingeführt. Wir identifizieren Beschäftigungseffekte des Mindestlohns durch Variation in der Betroffenheit von Betrieben. Das IAB-Betriebspanel ermöglicht uns dabei, antizipierende Lohnanpassungen und Spill-Over-Effekte zu analysieren. Schätzungen mit der Differenzen-in-Differenzen-Methode zeigen bei betroffenen Betrieben einen Anstieg der durchschnittlichen Löhne um 4,8 Prozent und einen Beschäftigungsrückgang um 1,9 Prozent. Auf die Gesamtbeschäftigung bezogen entspricht das 0,18 Prozent. Der Beschäftigungseffekt ist hauptsächlich auf eine Zurückhaltung in den Einstellungen zurückzuführen. Hochgerechnet hätten ohne den Mindestlohn 60.000 zusätzliche Jobs entstehen können (darin enthalten sind Minijobs und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung). Zusätzliche Analysen zeigen einen Rückgang in der beschäftigungsneutralen Beschäftigtenfluktuation. Die Betrachtung weiterer betrieblicher Anpassungsdimensionen zeigt einen leichten Rückgang in den typischen vertraglichen Vollzeitarbeitsstunden, jedoch keinen Anstieg im Einsatz freiberuflicher Beschäftigung.«

Alles klar? Man kann das natürlich auch anders ausdrücken. Die FAZ hatte das in der von ihr veröffentlichten Meldung so formuliert: »Der gesetzliche Mindestlohn hat nach Erkenntnissen von Arbeitsmarktforschern in Deutschland etwa 60 000 Stellen gekostet. Zwar seien nur wenige Arbeitsplätze wegen der Lohnuntergrenze von 8,50 Euro die Stunde gestrichen worden; manche Betriebe hätten aber wegen der Regelung auf die Schaffung neuer Jobs verzichtet.«

Aber stimmt das so?

Dankenswerterweise hat sich bereits Markus Krüsemann in seinem Blog-Beitrag Ein Nicht-Plus als Minus? Dann schadet auch der Mindestlohn irgendwie der Sache kritisch angenommen, daraus sei hier zitiert:

»Zwei Forscher des IAB haben die Wirkungen des Mindestlohns in den von ihm betroffenen Betrieben ausführlicher unter die Lupe genommen … Als von der Mindestlohneinführung betroffen gilt ihnen dabei jeder Betrieb, der im Jahr 2014 noch mindestens einem Beschäftigten einen Bruttostundenlohn von weniger als dem allgemeinen Mindestlohn von 8,50 Euro gezahlt hatte. Unter Nutzung von Daten aus dem IAB-Betriebspanel der Jahre 2014 und 2015 errechneten sie in ihrer ökonometrischen Analyse für die vom Mindestlohn betroffenen Betriebe (denen sie als Kontrollgruppe die nicht betroffenen Betriebe gegenüberstellten) einen leicht negativen Beschäftigungseffekt. Laut der Schätzung soll es in der Gruppe der betroffenen Betriebe einen Beschäftigungsrückgang um 1,9 Prozent gegeben haben. Auf die Gesamtbeschäftigung in Deutschland bezogen würde dies Jobverluste in Höhe von 0,18 Prozent bedeuten.«

Krüsemann weist darauf hin, dass Jobverluste in Höhe von 0,18 Prozent nun wirklich mehr als überschaubar, also äußerst klein und vernachlässigbar seien. Er legt dann aber den Finger auf die nächste Wunde und fährt fort:

»Faktisch sind so gut wie gar keine Arbeitsplätze abgebaut worden, denn der negative Beschäftigungseffekt, die „employment reduction“, von der Bossler/Gerner ausdrücklich sprechen, beruht hauptsächlich auf einer Zurückhaltung bei Neueinstellungen.«
Alles klar? Es geht nicht um Jobs, die wegen des Mindestlohns verloren gegangen sind, denn die vom Mindestlohn betroffenen Betriebe haben ihr Personal weitgehend konstant gehalten, sondern um mögliche Jobs, die ohne Mindestlohn möglicherweise entstanden wären, wenn die ökonometrischen Gleichungen (denen ja ganz bestimmte Annahmen zugrunde liegen, wie sich die Unternehmen hinsichtlich Jobaufbau und –abbau verhalten werden), stimmen. Eine Menge „wenn’s“.

Krüsemann fasst das kompakt zusammen: » Ein Nicht-Plus also, das zum Minus wird.« Und weiter: »Das Minus muss am Ende noch eine griffige Zahl bekommen: Rechnerisch hätten 60.000 zusätzliche Stellen (sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und Minijobs) entstehen können, wenn der Mindestlohn nicht gekommen wäre, so die Autoren … (die Autoren bewerten) ihre Schätzung als „meaningful job loss“, den der Mindestlohn da ausgelöst habe.«

Na ja. Erstens ist es wie gesagt ein hypothetischer „Jobverlust“ und zweitens wird von den Autoren überhaupt nicht erörtert, wie es dann die »empirisch beobachteten Zunahme der Beschäftigung in ausgewiesenen Niedriglohnbranchen wie etwa dem Gastgewerbe« hat geben können. Man hat sich halt nur an die Daten aus dem IAB-Betriebspanel gehalten und nicht links und rechts geschaut.

Und man muss die Kritik gerade aus einer explizit volkswirtschaftlichen Sicht weitertreiben: Die Autoren der Studie selbst weisen auf einen überaus positiven Effekt der Mindestlohneinführung für die real existierenden Beschäftigten in den betroffenen Betrieben hin: Bei denen führte der Mindestlohn zu einem Anstieg der durchschnittlichen Löhne um 4,8 Prozent. Angesichts der nun wirklich niedrigen Löhne, über die wir hier sprechen, ist davon auszugehen, dass es sich um Haushalte mit einer marginalen Konsumquote von 100 Prozent handelt, was bedeutet, dass jeder zusätzliche Euro in den Konsum fließen und somit nachfragewirksam wird. Dadurch wurde eine ordentliche Kaufkraft genriert und diese zusätzliche Kaufkraft ist sicher eine der Quellen dafür, dass wir im vergangenen Jahr einen Beschäftigungsaufbau in der Größenordnung von mehreren hunderttausend neuen Stellen bilanzieren durften. Genau solche Zusammenhänge muss man von Volkswirten erwarten, nicht nur eine Reduktion auf einige Gleichungen mit „wenn, dann“-Modellen, also ohne Berücksichtigung der Effekte an anderer Stelle.

Um welche Größenordnung es hierbei durch den Mindestlohn bedingt in etwa geht, verdeutlichen die folgenden Daten aus der Verdienststrukturerhebung des Statistischen Bundesamtes, das sich mit dieser Mitteilung zu Wort gemeldet hat: 4 Millionen Jobs vom Mindestlohn betroffen. In einem ersten Schritt quantifizieren die Statistiker die Größenordnung der vom Mindestlohn betroffenen Beschäftigten, also wie sie auf die 4 Millionen kommen:

»Im April 2014, relativ kurz vor Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes, gab es in Deutschland 5,5 Millionen Jobs, die geringer bezahlt wurden als der neue Mindestlohn von brutto 8,50 Euro je Arbeitsstunde. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, kamen davon 4,0 Millionen Jobs, das sind 10,7 % aller Jobs, zum 1. Januar 2015 unter den Schutz des Mindestlohngesetzes. Für die restlichen 1,5 Millionen sieht das Gesetz Ausnahmen vor (vor allem Auszubildende, Praktikanten und Personen jünger als 18 Jahre).«

Und was viel zu selten gesehen bzw. erwähnt wird – der gesetzliche Mindestlohn hat tatsächlich die erreicht, die keine andere, z.B. tarifvertragliche Absicherung hatten und haben:

»Der gesetzliche Mindestlohn soll vor allem dort Beschäftigten Schutz bieten, wo keine Tarifverträge gelten. 82,3 % beziehungsweise 3,3 Millionen der nun geschützten gering bezahlten Jobs bestanden in Betrieben, die nicht tarifgebunden sind. Die meisten davon waren im Einzelhandel und in der Gastronomie mit jeweils rund 0,5 Millionen.«

In einem zweiten Schritt liefern uns die Statistiker aber auch Hinweise auf die Größenordnung der zusätzlichen Kaufkraft, die ich in meiner Argumentation angesprochen habe:

»Frauen machten einen Anteil von 61,7 % (2,5 Millionen) an den vom Mindestlohngesetz geschützten gering bezahlten Jobs aus, Männer einen Anteil von 38,3 % (1,5 Millionen). Die betroffenen Frauen verdienten im April 2014 im Durchschnitt brutto 7,21 Euro je Stunde, die Männer 7,18 Euro. Erhielten sie künftig den Mindestlohn, würde das durchschnittlich eine Lohnerhöhung von circa 18 % bedeuten. Insgesamt würden dann – unveränderte Arbeitszeiten vorausgesetzt – monatlich deutschlandweit schätzungsweise 431 Millionen Euro mehr Bruttolohn ausgezahlt, 39 % davon in Ostdeutschland und 58 % an Frauen.«

431 Millionen Euro mehr Bruttolohn. Es geht hier nicht um die exakte Zahl, sondern um die Größenordnung. Dann wird vielleicht auch klarer, warum der Mindestlohn am Ende zu mehr Beschäftigung geführt hat, auch in Bereichen, in denen wie in der Gastronomie oder anderen mindestlohnsensiblen Branchen eigentlich nach den Vorhersagen und Ableitungen der „Wenn, dann“-Gleichungsökonomen schwere Beschäftigungsverluste hätten eintreten müssen. Sind sie aber nicht. Mit einer umfassenden volkswirtschaftlichen Analyse kann man das erklären, also vor allem, wenn man nicht die vorherrschende angebotsorientierte Perspektive auch noch verengt auf eine nur betriebswirtschaftliche Wahrnehmung der Löhne (die aus betrieblicher Sicht immer nur als Kosten wahrgenommen werden), sondern eben auch die Nachfrageeffekte der Löhne, vor allem im unteren und mittleren Einkommensbereich berücksichtigt. Genau dazu sollte die volkswirtschaftliche Perspektive eigentlich da sein.