Die private Krankenversicherung ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Immer mehr müssen vor steigenden Prämien kapitulieren und Kritikaster sehen die PKV als Auslaufmodell

Früher war nicht alles, aber vieles einfacher. Auch in der Welt der Absicherung gegen das Risiko Krankheit. Die meisten Menschen waren automatisch in der Gesetzlichen Krankenversicherung, der GKV, versichert. Lange Zeit sogar getrennt nach Arbeitern und Angestellten, seit den 1990er Jahren gibt es auch zwischen den Krankenkassen zunehmend Wettbewerb um die Versicherten. Wenn man Arbeitnehmer war – und das waren und sind die meisten – dann hat der Arbeitgeber die eine Hälfte des Beitrags überwiesen und die andere Hälfte wurde einem vom Lohnzettel gleich abgezogen und ebenfalls vom Arbeitgeber an die Kasse weitergereicht. Irgendwie einfach und geräuschlos.

Und dann gab es noch die anderen, die sich die „Premium-Klasse“ der Absicherung gegönnt haben, also die Selbständigen, denen man die eigene Absicherung überlassen hatte, weil der Regelfall ja auch der war, dass man als Selbständiger über genügend Mittel verfügte, um selbst für den Ruhestand und gegen das Krankheitskostenrisiko vorzusorgen. Die gingen dann in die Private Krankenversicherung (PKV), wo sie anders als in der GKV zwar keine einkommensabhängigen Beiträge zahlen müssen (was ja eine sozialpolitisch gewollte Umverteilung zugunsten der unteren Einkommen bedeutet), sondern einkommensunabhängige Prämien, die von den Versicherungen auf für die Betroffenen zumeist geheimnisvollen Wegen kalkuliert wurde. Die aber gerade in dem Moment, wo man sich für einen Eintritt in die schöne Welt der PKV entscheiden sollte, zumeist unschlagbar günstig daherkamen, vor allem, wenn man berücksichtigt, dass gleichzeitig ein Leistungsversprechen gegeben werden konnte, das weit schöner aussah als das, was die „Holzklasse“ der GKV anzubieten in der Lage war: Chefarztbehandlung, Ein- oder Zweibettzimmer usw. Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle angemerkt, dass neben denen zumeist Selbstständigen, die eine Vollversicherung abgeschlossen haben, auch die Beamten in der PKV ergänzend zu ihrer Beihilfe versichert sind.

Nun wird schon seit längerem davon berichtet, dass die Zahl derjenigen Menschen kontinuierlich ansteigt, die aus ökonomischen Gründen nicht in der Lage sind, die notwendigen und eben einkommensunabhängigen Prämien für die PKV bezahlen zu können. Rainer Woratschka berichtet in seinem Artikel „Wege aus der Beitragsfalle“ über ein ganz neues Geschäftsmodell, das sich in dem fruchtbaren Boden der „PKV-Überforderten“ entwickelt hat und nun aus dem Boden sprießt. Es bildet sich ein neuer Typus des Versicherungsberater heraus, der „Wechselhelfer“: Gegen eine Gebühr helfen Honorar- und Versicherungsberater betroffenen Privatversicherten, in günstigere Tarife mit vergleichbarem Leistungsangebot zu wechseln. Dass es solche Alternativen fast immer gibt, wird den Kunden seitens vieler Versicherungsunternehmen nämlich gern verschwiegen. Was rein rechtlich nicht in Ordnung ist, gibt es doch den § 204 des Versicherungsvertragsgesetzes, der jedem das Recht zum Wechsel in andere Tarife mit gleichartigem Schutz garantiert. Unter Mitnahme aller bisher erworbenen Rechte. Aber grau ist alle Theorie und wer kennt sich schon aus in den Tiefen des Versicherungsrechts. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass sich eine eigene Helferbranche zu etablieren beginnt: »Tatsächlich schießen solche Wechsel-Agenturen wie Pilze aus dem Boden. Die Nachfrage belegt die Not der Kunden.«

Diese Not macht Woratschka an einem Beispiel deutlich:

»Monika Schmidt (Name geändert) aus Leipzig, 61 Jahre alt, bis 1990 Bauingenieurin in einem DDR-Betrieb, nach der Wende arbeitslos. Bis heute schlägt sie sich als Kleinselbstständige durch. Was sie verdient, reicht gerade so zum Leben. Ihr Rentenanspruch: 300 Euro. Von zusätzlichem Altersvermögen keine Spur. Dafür ist Frau Schmidt privat krankenversichert. Das kostet sie im Monat 575,10 Euro. Plus 1250 Euro Selbstbeteiligung im Jahr. Das ist schon jetzt fast doppelt so viel wie ihre zu erwartende Rente. Ein Rückkehr in die gesetzliche Krankenversicherung ist nicht möglich.«

Der PKV-Verband warnt sogleich vor diesen Helferstrukturen: Da die kommerziellen Wechselhelfern allein an der Beitragsersparnis verdienten, manövrierten sie ihre Kunden oft in Billigtarife mit erheblicher Leistungsverschlechterung, so der Vorwurf des Verbandes der Versicherungsunternehmen. Aber da gibt es auch eine andere Realität auf der Anbieterseite: So gibt es Unternehmen, die von den Beratenen im Erfolgsfall zwar auch eine Jahresersparnis als Gebühr nehmen. Doch sie offerieren nur günstigere Tarife mit vergleichbarem Leistungsspektrum.
Wie dem auch sei. Aus der Sicht eines Wechselhelfers stecken viel zu viele bei den Privatversicherern, obwohl sie dort gar nicht hingehören, weil sie finanziell nicht unabhängig sind. Anders als in der gesetzlichen Krankenversicherung werde die individuelle Leistungsfähigkeit bei den Privaten nun mal nicht berücksichtigt. Und gerade im Alter wird das für viele, die aus welchen Gründen auch immer nicht über das erforderliche Gesamteinkommen verfügen, zu einem existenziellen Problem. Das auch die „guten“ Wechselhelfer nur abmildern, nicht aber lösen können. Zu dem Beispielfall der Monika Schmidt schreibt Woratschka in seinem Artikel:

»Frau Schmidt immerhin konnte geholfen werden. Durch einen Tarifwechsel zahlt sie nun nur noch 308,94 Euro plus 960 Selbstbehalt. Das ist fast die Hälfte weniger als bisher. Aber es ist immer noch deutlich mehr als ihre erwartete Rente.«

In diesen Kontext passen die zunehmend kritischer werdenden Anfragen an das Geschäftsmodell der PKV insgesamt. Eine interessante und differenzierte Zahlenanalyse hierzu findet man in dem lesenswerten Beitrag „Der Lockruf der Krankenkassen wirkt“ von Thomas Schmitt, der auf Handelsblatt Online veröffentlicht wurde. Seine Beobachtung: »Die private Krankenversicherung (PKV) kämpft verzweifelt um neue Kunden. Um hohe Abgänge auszugleichen, steckt die kleine Branche immer mehr Geld in die Anwerbung von Angestellten und Selbstständigen. Trotzdem gingen im vergangenen Jahr erstmals mehr Privatpatienten zurück zu den Krankenkassen als umgekehrt neue angelockt wurden. Die Folge: Die Kosten für einen neuen Kunden schossen hoch – auf einen Rekordwert.« Die Leidtragenden dieser Entwicklung sind die neuen Kunden, denn sie zahlen die enormen Abschlusskosten über ihre Prämien. Betrachtet man die Entwicklung über die letzten 15 Jahre, dann kann man die folgenden Befunde erkennen, die Schmitt herausarbeitet: Die Abschlusskosten in der Branche haben sich – bezogen auf neue PKV-Versicherte – verdoppelt. Etwa die Hälfte der Kosten für Vermittler und Vertrieb entfallen auf den brancheninternen Wettbewerb. Die Abschlusskosten in konkreten Zahlen: »Innerhalb der vergangenen 15 Jahre stiegen sie von knapp 3.000 Euro je Neukunde auf aktuell mehr als 6.000 Euro. Ein großer Teil dieser Kosten entfällt auf Provisionen für Vertreter und Vertriebe.« Das heißt, diese Kosten für die Eiwerbung eines neuen Vertrages müssen erst einmal über die Beitragszahlungen des Neukunden refinanziert werden, bevor überhaupt ein Cent für die eigentliche Versicherungsleistung zur Verfügung steht.

Und Schmitt spricht eine zweite Problemdimension für die PKV an: Jedes Jahr wechseln rund 150.000 Privatpatienten zurück zu den Krankenkassen – obwohl die Rückkehr doch eine Ausnahme sein soll und sehr schwierig ist. Die Zahl der neuen Privatpatienten, die aus der GKV kommen, ist seit 1998 um ein Drittel gesunken. » In den vergangenen 15 Jahren wendeten sich mehr als 2,2 Millionen Privatpatienten ab und versicherten sich wieder bei einer gesetzlichen Kasse«, kann man den Rechenschaftsberichten des PKV-Verbandes entnehmen (vgl. hierzu die tabellarische Aufarbeitung „Wie viele wechseln und was das kostet„). Die Größenordnung der Rückwanderung ist deshalb so irritierend, weil die Rückkehr in die GKV nur eine Ausnahme von der Regel sein soll.
Den Abflüssen an Versicherten aus der PKV stehen aber auch die Wechsel aus der GKV in die PKV gegenüber: »Im gleichen Zeitraum kamen etwa 4,3 Millionen Menschen aus der GKV in die PKV. Im Saldo sieht sich die PKV also auf der Erfolgsseite.« Einen Teil der Abwanderungen aus der PKV kann man für die Branche sogar als „Geschäft“ zu ihren Gunsten interpretieren, vor allem, wenn es sich um ältere Versicherte handelt, die ja auch höhere Kosten verursachen, denn oft lassen sie mit dem Wechsel in die GKV wertvolle Ansprüche zurück, etwa wenn über die Jahre bereits beträchtliche Altersrückstellungen aufgebaut worden sind. Dieses Geld legen die Krankenversicherer zurück, um den Beitragsanstieg im Alter zu dämpfen, so Schmitt. Nur wenn sie innerhalb der PKV wechseln, können sie die Altersrückstellungen mitnehmen.

Das eigentliche Problem für de PKV zeigt sich erst in einer langfristigen Betrachtung der Daten: »Vor 15 Jahren verzeichnete die Branche noch neue Verträge in einer Anzahl von mehr als 600.000 pro Jahr. Bis 2009 hielt sich der Neuzugang immerhin über der Marke von 500.000. Doch in den vergangenen drei Jahren fiel er darunter und erreichte mit 413.000 im vergangenen Jahr sein Tief. Die langfristige Entwicklung belegt: Gegenüber 1998 ist ein Rückgang um ein Drittel zu verzeichnen.«

Und ein weiteres Strukturproblem wird in dem hier zitierten Beitrag gar nicht thematisiert: Die Kostensteigerungsfalle, in der die PKV steckt: Zum einen wird die Luft im Vollversicherungsbereich für die PKV immer dünner (und damit die Grundgesamtheit für die Finanzierung der Ausgaben), gleichzeitig steigen die Ausgaben stark an, dies auch, weil die PKV über so gut wie keine Steuerungsinstrumente auf der Ausgabenseite verfügt. Und auch im politischen Bereich wird das Klima PKV-feindlicher, damit ist hier nicht nur die immer wieder auftauchende Forderung nach einer „Bürgerversicherung“ gemeint. Absehbar ist eine Tendenz des Umbaus des dualen Krankenversicherungssystems hin zu einem System, in dem die Privaten auf den Bereich der Zusatzversicherungen verwiesen werden. Aber auch wenn sich dieser Umbau durchsetzen sollte – schwierig wird es für die „Altfälle“ im bestehenden System der PKV, denn ein Wesenselement der Funktionsfähigkeit des PKV-Modells war und ist die permanente Nachlieferung neuer Kunden. Sollte diese Zufuhr aus welchen Gründen auch immer richtig stocken, dann bricht das Kartenhaus schnell in sich zusammen.

Wundersame Geldvermehrung? Von 6 auf 24 Milliarden Euro in einer Woche, um was gegen Jugendarbeitslosigkeit zu tun. Und in Deutschland hofft man auf den Import junger Menschen aus Südeuropa und findet dann nicht selten einsame Azubis im gelobten Land

Die Europäische Union ist ein riesiger Tanker mit vielen Kapitänen und anderen Möchtegern-Führungskräften auf zahlreichen Kommandobrücken, so dass es viel Zeit braucht, das Schiff in eine bestimmte Richtung zu bewegen, wenn es denn überhaupt klappt. Das haben wir bei der Art und Weise des Umgangs mit der „Euro-Krise“ gesehen und wir müssen das erneut zur Kenntnis nehmen bei der Frage, wie man mit den massiven sozialen Verwerfungen in den Krisenländern des Euro-Raumes umgehen soll. Dazu gehört natürlich auch die grassierende Jugendarbeitslosigkeit – wobei man diese Tage zuweilen den Eindruck vermittelt bekommt, die Krisenfolgen im Süden von Euro-Land bestehen ausschließlich aus arbeitslosen jungen Menschen. Diese Fokussierung der Berichterstattung und die Antwortversuche der europäischen Staatengemeinschaft in Form von Geld, das in Aussicht gestellt, zuweilen auch wirklich ausgeschüttet wird – medienwirksam inszeniert auf „Blitzlichtveranstaltungen“ wie dem Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs sowie deren Arbeitsminister in Berlin, also bei der Bundeskanzlerin zu Hause -, rufen naturgemäß auch Kritik und zuweilen heftige Ablehnung hervor. Da meldet sich dann Daniel Gros zu Wort, der Direktor des Centre for European Policy Studies (CEPS) mit Sitz in Brüssel und wird zitiert mit: „Jeder Euro für Junge fehlt den Älteren„. Er identifiziert Verteilungskonflikte, wenn er postuliert: »Ein Jugendlicher ohne Job ist flexibler und kann vielleicht länger in der Ausbildung bleiben. Für denjenigen, der eine Familie ernähren muss, ist Arbeitslosigkeit eine echte Katastrophe … Auch in der Politik gibt es einen Modezyklus. Niemand kann dagegen sein, Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen, also müssen die Politiker so tun als könnten sie das Problem lösen … Jeder Euro, der jetzt für junge Menschen ausgegeben wird, steht für die älteren nicht mehr zur Verfügung.«

Zu den Abwehrreaktionen gehört auch eine Infragestellung der immer wieder zitierten dramatischen Werte über das Ausmaß der Jugendarbeitslosigkeit in den Krisenstaaten, wobei dann meistens zugkräftige Titel wie „verlorene Generation“ mit Arbeitslosenquoten von 50% der jungen Menschen hinterlegt werden. Eine solche Infragestellung findet man beispielsweise bei Sven Astheimer in der FAZ: »Mehr als 50 Prozent beträgt die Arbeitslosenquote junger Männer und Frauen in Griechenland und Spanien. Jeder Zweite also, denkt man, aber das ist nicht ganz richtig«, schreibt er in seinem Beitrag „Was Arbeitslosenquoten aussagen„. Er weist darauf hin, dass die Aussage, jeder zweite Jugendliche in Spanien oder Griechenland sei arbeitslos, korrekterweise so formuliert werden muss: »Jeder zweite, der dem Arbeitsmarkt auch zur Verfügung steht, ist ohne Arbeit. Denn Arbeitslosenquoten beziehen sich immer auf die Grundgesamtheit all der Personen, die arbeiten wollen und auch können.« Bei Menschen unter 25 Jahren ist die Gruppe derjenigen, die dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung stehen, naturgemäß besonders groß, weil sie noch sehr stark im Bildungssystem präsent sind, so Astheimer.

»Aus den jeweils mehr als 50 Prozent Arbeitslosenquote werden in dieser Betrachtung etwa im Falle Spaniens im Durchschnitt des Jahres 2012 rund 20 Prozent, für Griechenland bleiben 16 Prozent und für Kroatien 18 Prozent.«

Nun könnte man dem Autor den Vorwurf machen, dass er das gravierende Problem der Jugendarbeitslosigkeit mit solchen „Zahlenspielereien“ nur klein reden will, aber er vertritt eine differenzierte Position, die eine solche Wertung nicht angemessen erscheinen lässt: Auch bei Anwendung dieser reduzierten Grundgesamtheit für die Arbeitslosenquote der jungen Menschen zeigt sich in den Ländern Griechenland, Spanien und Kroatien eine Verdoppelung der Quote und in Irland sogar eine Verdreifachung gegenüber dem Stand vor der Finanz- und Wirtschaftskrise. Und Astheimer weist ebenfalls darauf hin: »… die miserablen Aussichten auf vielen Arbeitsmärkten (führen) zu Ausweichbewegungen der Jugendlichen, die eine Form von verdeckter Arbeitslosigkeit darstellen: Das heißt, viele junge Menschen bleiben aus der Not heraus länger an Schulen und Universitäten. Viele würden lieber arbeiten gehen, wenn es passende offene Stellen gäbe.«

Das Problem ist also – man kann es drehen und wenden wie man will – da und groß. Und das besondere Augenmerk auf die jungen Menschen kommt ja auch nicht von ungefähr, wenn man die Befunde aus der Arbeitsmarktforschung beachtet, die aufzeigen können, welche Verwerfungen in der weiteren Erwerbsbiografien der jungen Menschen angerichtet werden, wenn sie beim Eintritt in das Berufsleben mit längeren Phasen der Arbeitslosigkeit konfrontiert werden. Und das Problem wird noch fassbarer, wenn man die Ebene der allgemeinen Erörterungen und der Zahlen verlässt und sich mit den einzelnen Menschen befasst. Eine solche Perspektive versucht der Beitrag „Deprimiert, nutzlos, entwürdigt„, der in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde. Wie fühlt es sich an, wenn selbst eine hohe berufliche Qualifikation nichts ändert? Der britische „Guardian“ hat in Zusammenarbeit mit der SZ und anderen europäischen Zeitungen junge Frauen und Männer gefragt. »Etwa 150 junge Frauen und Männer schilderten ihre – oft desolate – Lage. Besonders viele Stimmen kamen aus Großbritannien (59), dem Krisenland Spanien (40) und Italien (14), aber auch aus Deutschland (10). Sie machen deutlich, was junge Arbeitslose bewegt.«

Neben den eindrucksvollen Beschreibungen der Betroffenen finden sich auch Hinweise auf strukturelle Problemdimensionen, denen sich die jungen Menschen ausgesetzt sehen und die ihre Arbeitssuche erschweren: Mangelnde Arbeitserfahrung („Ich habe nicht viel Arbeitserfahrung und keine Firma gibt mir die Möglichkeit zu lernen und diese Erfahrungen zu bekommen. Sogar für unbezahlte Jobs muss man ein bis zwei Jahre Arbeitserfahrung ausweisen“), prekäre Beschäftigung („Ich ‚arbeite‘ im Moment als Übersetzerin/Journalistin bei einer Zeitung in Griechenland, aber ich wurde sechs Monate lang nicht bezahlt, auch einen Arbeitsvertrag habe ich nicht“), hohe Qualifikation ist keine Jobgarantie mehr („Ich habe getan, was die Gesellschaft mir gesagt hat: (…) Ich habe studiert, ich war der Beste, aber jetzt? Nichts“) und auch für Deutschland besonders relevant die Entkoppelung von Wirtschaftslage und Arbeitsmarkt („Die Jobsuche ist in Deutschland besonders frustrierend, weil die Nachrichten immer hervorheben, wie hervorragend es der Wirtschaft geht, während zugleich keiner meiner Freunde (alle mit mindestens einem Universitätsabschluss) einen angemessen bezahlten Job oder überhaupt einen Job finden konnte“).

Aber Hilfe scheint doch unterwegs zu sein, folgt man den aktuellen Medienberichten über das Treffen der hochrangigen Regierungsvertreter in Berlin.  Bereits vergangene Woche hatte die EU sechs Milliarden Euro für den Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit zugesagt. Und scheinbar werden wir Zeugen einer wundersamen Geldvermehrung, denn nun können wir beispielsweise im Handelsblatt lesen: „24 Milliarden Euro gegen Jugendarbeitslosigkeit„. Von 6 auf 24 Milliarden Euro, das muss man erst einmal hinbekommen – hier werden offensichtlich die ganz großen Geschütze aufgefahren, so die Botschaft. Ganz offensichtlich stimmt die Aussage der Bundeskanzlerin heute bei dem Treffen der Staats- und Regierungschefs: Das Geld für Förderprogramme sei nicht das Problem, so Merkel.
»Auf EU-Ebene sollen nach Angaben aus dem Bundesarbeitsministerium ab sofort 18 Milliarden Euro abrufbar sein, die aus bisherigen Strukturfonds nicht abgeflossen sind. Bisher war von 16 Milliarden Euro die Rede, von denen laut der Minister-Erklärung bis zum Jahr 2015 780.000 junge Menschen und 55.000 Firmen profitieren sollten. Vom kommenden Jahr an sollen weitere sechs Milliarden Euro bereitstehen, auf die sich frühere EU-Gipfel im Rahmen der neuen Finanzplanung 2014 bis 2020 verständigt hatten. Das Geld soll Regionen zugute kommen, in denen die Jugendarbeitslosigkeit mehr als 25 Prozent beträgt.«

Also im Klartext: Hier werden nicht 24 Milliarden Euro neues, zusätzliches Geld mobilisiert, sondern man nimmt das Geld, was bislang in Brüssel liegen geblieben ist. Kann man ja machen, ist aber was anderes, als wenn man neue und zusätzliche Mittel zur Verfügung stellen würde.
Für den Eingeweihten nicht überraschend und eher als Drohung zu verstehen ist dann die folgende Formulierung: Die zu beglückenden Mitgliedsstaaten sollen »bis zum Jahresende einen Plan verabschieden«.

Aber natürlich gibt es wieder welche, die Wasser in den Wein schütten müssen, diesmal aber nicht die Gewerkschaften oder die anderen üblichen Kritikaster (die natürlich auch, wenn beispielsweise der DGB von einer „Mogelpackung“ spricht), sondern hier seien die Chefs der nationalen Arbeitsagenturen zitiert, die verlautbaren ließen: Arbeitsmarktpolitik könne „in Zeiten einer Wirtschaftskrise mit schwacher Arbeitskräftenachfrage nur einen kleinen Beitrag“ leisten.

Was bleibt dann? Die betroffenen jungen Menschen können doch in das aus arbeitsmarktlicher Sicht – folgt man der weit verbreiteten Berichterstattung – „gelobte Land“ kommen, also nach Deutschland, wo zahlreiche Arbeitgeber fieberhaft auf junge Menschen zu warten scheinen, um die nicht besetzbaren Ausbildungsplätze mit Leben zu füllen. Da passt es doch ganz gut, dass Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen in großem Stil junge Südeuropäer auf deutsche Lehrstellen lotsen will. Helfen soll der Azubi-Import gegen deutschen Fachkräftemangel wie auch Europas Jugendarbeitslosigkeit. Doch auch hier spuckt die Realität und vor allem der Alltag den hehren Absichten in die Suppe, wie Christian Füller in seinem Beitrag „Einsame Azubis im gelobten Land“ berichtet.

»… von der Leyen (hält) den Staubsauger bereit, um die besten und ehrgeizigsten Jugendlichen nach Deutschland zu holen. Zwei Problemzonen des deutschen Ausbildungsmarktes sollen versorgt werden: Hightech, also hochqualifizierte Ausbildungen – alles, was mit Mechatronik und Technik zu tun hat. Und Hightouch, nämlich niedrigbezahlte und harte Berufszweige, in denen Deutsche kaum mehr anfangen: Hotels und Gaststätten, Nahrungsmittelindustrie, Friseursalons.«

Wer aber nun glaubt, dass die jungen Menschen aus den europäischen Krisenstaaten in Scharen einfallen, um sich eine Ausbildung im „gelobten Land“ zu verschaffen, der hat sich derzeit jedenfalls gründlich getäuscht. Es tröpfelt, so müsste man es ausdrücken, wenn man einen noch messbaren Bereich angeben muss. Als Beispiel zitiert Füller die  Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit in Bonn: »2.100 Anträge verzeichnet die ZAV – dahinter dürften sich lediglich 400 bis 600 Bewerber verbergen. Denn es gibt zwölf Einzel-Fördertöpfe, vom Deutschkurs über Anreisepauschalen und Lebensunterhalt-Hilfen bis zur sozialpädagogischen Betreuung. Jeder Lehrlingswanderer muss also mehrere Anträge stellen.«

Die neuen „Mobilitätsberater“, die beiden Kammern angesiedelt worden sind, berichten aus der Praxis von zwei zentralen Hinderungsgründen, die nur auf den ersten Blick profan daherkommen: Heimweh und Einsamkeit. Die jungen Leute müssen, so die Praktiker, massiv betreut werden, was aber gerade an den Wochenenden nicht passiert. Andere berichten bei den wenigen, die hierher gekommen sind, um eine Berufsausbildung zu machen, von einem deutlichen Schwund in der Größenordnung von 30 bis 50 Prozent. Und dabei müsse man berücksichtigen: »Alle deutschsprechenden Bewerber sind bereits abgegrast«. Die „harten Fälle“ kommen jetzt erst.
Eine realistische Einschätzung zum gegenwärtigen Zeitpunkt muss davon geleitet sein, dass es keine große Ausbildungseinwanderung nach Deutschland geben wird. Man darf die Sprachprobleme nicht unterschätzen und auch nicht die Unkenntnis über das Berufsausbildungssystem in Deutschland vor dem Hintergrund der überall präsenten Überbewertung eines Hochschulstudiums und der bewusst-unbewussten Abwertung einer betrieblichen Ausbildung.

Eine ganz reale Gefahr resultiert aber aus der Fokussierung auch und gerade der Berichterstattung auf die – eben nur scheinbare – „Lösung“, wir holen uns ganz viele und „fertige“ junge Menschen nach Deutschland, dann wird der drohende oder bereits vorhandene Fachkräftemangel schon beherrschbar werden. Denn durch die Hoffnungen, die dadurch bei vielen Unternehmen geweckt werden, wendet man den Blick schon wieder ab von den jungen Menschen, die früher nie und jetzt teilweise schon Berücksichtigung finden aufgrund der sich fundamental verändernden Angebots-Nachfrage-Relationen auf dem Ausbildungsstellenmarkt. Und es geht hier um keine kleine Gruppe unter den weniger werdenden Jugendlichen: „267.000 Jugendliche in der Warteschleife für einen Ausbildungsplatz„. Und die sind schon alle da, nicht selten aber nicht an dem Ort, wo man sie braucht, sondern eben woanders. Teilweise haben diese jungen Leute auch erhebliche Einschränkungen, z.B. im Verhaltensbereich, die eine Einstellung seitens der Unternehmen erschweren bzw. am Anfang verhindern. Trotz solcher Restriktionen muss man diesen jungen Menschen eine oder mehrere Chancen geben, eine Ausbildung realisieren zu können.

Beide Themenfelder, also die Anwerbung hochmotivierter junger Menschen aus den Krisenländern des Euro-Raumes wie auch Angebote für die zurückgebliebenen jungen Menschen, müssen zusammenhängend und gleichzeitig bearbeitet und praktiziert werden – man muss sich aber bewusst sein, dass der Wirkungsgrad in beiden Fällen bescheiden ausfallen wird. Was nichts daran ändert, dass jede einzelne Erfolgsgeschichte einen Wert an sich darstellt.

Mit den Millionen kann man schon mal durcheinander kommen: Von Leistungsberechtigten, An-sich-Leistungsberechtigten und der Restgruppe der Arbeitslosen. Und was das alles mit dem Regelsatz für Hartz IV-Empfänger zu tun hat

Es ist ja auch ein Kreuz mit den Zahlen. Man kann das jeden Monat beobachten, wenn seit gefühlt 200 Jahren die Zahl der Arbeitslosen in Nürnberg der versammelten Presse bekannt gegeben wird, so wie vor kurzem für den Monat Juni des Jahres 2013. Und man kann sicher sein, dass dann überall darüber berichtet wird, dass die Zahl der Arbeitslosen – oder sagen wir es lieber an dieser Stelle bereits richtig – die Zahl der registrierten Arbeitslosen im Juni bei 2,865 Mio. Menschen und damit weiter unter der 3-Millionen-Schwelle liegt. Nun weist die Bundesagentur für Arbeit selbst in ihren monatlichen Arbeitsmarktberichten eine etwas andere Zahl aus, die weitaus sinnvoller für eine Zitation in den Medien wäre: 3,843 Millionen Menschen, die so genannten „Unterbeschäftigten“. Die sind auch alle arbeitslos, aber die fast genau eine Million Menschen, die bei der Zahl fehlt, die es dann auf die Titelseiten der Zeitungen und in die Schlagzeilen der Nachrichten in Funk und Fernsehen schafft, sind derzeit beispielsweise in „Aktivierungsmaßnahmen“ oder waren schlichtweg am Tag der Zählung der Arbeitslosen krank geschrieben, aber grundsätzlich natürlich weiterhin arbeitslos waren (weiterführend und regelmäßig die aktuellen Arbeitsmarktzahlen der BA kritisch begleitend die Berichterstattung auf der Website O-Ton Arbeitsmarkt).

Wie dem auch sei – in den Köpfen der meisten Menschen bleibt dann irgendwie immer diese niedrigste Zahl, derzeit also die 2,865 Millionen Arbeitslosen, hängen. Das mag dann auch erklären, warum so viele mehr als irritiert reagieren, wenn man gleichzeitig darauf hinweist, dass wir gegenwärtig 6,168 Millionen Menschen im Grundsicherungssystem (SGB II) haben, die also „Hartz IV“-Empfänger sind. Das bekommen dann viele nicht mehr übereinander, weil zwischen 2,9 Mio. und 6,2 Mio. ist an sich schon eine riesige Diskrepanz und dann kommen doch auch noch die Arbeitslosen dazu, die gerade erst seit kurzem arbeitslos geworden sind und die die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I (Alg I) beziehen und gerade nicht Hartz IV (also Alg II) und die doch auch arbeitslos sind, sonst würden sie ja auch keine Leistungen beziehen können. Die Abbildung zeigt die zahlenmäßigen Zusammenhänge.

Während wir also „nur“ 1,967 Millionen arbeitslos registrierte „Hartz IV“-Empfänger haben, beziehen tatsächlich aber 4,46 Millionen Menschen Arbeitslosengeld II und dann kommen auch noch weitere 1,71 Millionen Menschen dazu, die auch „Hartz IV“-Empfänger, aber nicht erwerbsfähig sind und damit natürlich auch nicht arbeitslos sein können. Diese Gruppe versteht man noch, wenn man die Erläuterung liest, dass es sich zu 95% um Kinder unter 15 Jahren handelt. Die sind natürlich noch nicht erwerbsfähig. Aber die Differenz zwischen den 1,967 Millionen arbeitslosen und den 4,46 Millionen erwerbsfähigen „Hartz IV“-Empfänger? Auch die kann man natürlich erklären, weil der Unterschied besteht aus an sich erwerbsfähigen, aber nicht als arbeitslos registrierbaren Menschen, weil viele von denen haben beispielsweise eine Arbeit, verdienen aber so wenig, dass sie aufstockend SGB II-Leistungen beziehen oder sie sind an sich erwerbsfähig, dürfen aber nicht arbeitslos sein, weil sie Kinder unter drei Jahren zu betreuen haben oder weil sie einen pflegebedürftigen Angehörigen versorgen.

Jetzt wird es aber noch komplizierter, folgt man dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Denn die haben berechnet, dass es viele Menschen gibt, die eigentlich Hartz IV-Leistungen beziehen könnten, es aber aus welchen Gründen auch immer nicht tun. So hat Cordula Eubel ihren Artikel im „Tagesspiegel“ überschrieben mit: „Mehr als jeder Dritte verzichtet auf Hartz IV. Nach Berechnungen für das Arbeitsministerium leben bis zu 4,9 Millionen in verdeckter Armut„. Genauer: »In Deutschland leben 3,1 bis 4,9 Millionen Menschen in verdeckter Armut. Das heißt, dass sie kein Hartz IV beantragen, obwohl sie wegen geringen Einkommens oder Vermögens Anspruch darauf hätten.« Zu diesem Befund ist das IAB auf der Basis von Simulationsrechnungen für das Bundesarbeitsministerium gekommen, die allerdings derzeit noch nicht veröffentlicht worden sind, so dass wir uns an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt auf die zitierte Berichterstattung verlassen müssen, die von einer 247 Seiten umfassenden Studie spricht.
Wenn man das umrechnet unter Berücksichtigung der eingangs zitierten Werte, dann bedeutet das, dass zwischen 34 und 44 Prozent der Berechtigten auf staatliche Unterstützung verzichten, also mehr als jeder dritte Berechtigte.

Natürlich kommt an dieser Stelle sofort die Frage, warum so viele Menschen auf die Inanspruchnahme der ihnen ja zustehenden Leistungen verzichten. Die IAB-Forscher nennen hier „Unwissenheit, Scham oder eine nur sehr geringe zu erwartende Leistungshöhe oder -dauer“ als Erklärungsfaktoren.

Allein die Größenordnung an Menschen, die eine ihnen zustehende Grundsicherungsleistung nicht in Anspruch nehmen, ist natürlich schon sozialpolitisch hoch brisant. Aber darüber hinaus ist diese Information von einer weiteren grundsätzlichen Bedeutung mit höchst pikanten Auswirkungen auf die Praxis der Bemessung der Leistungen im SGB II-System. Hier geht es um die Frage der Berechnung der Höhe der Regelsätze innerhalb des Grundsicherungssystems.

Hierzu hatte es im Jahr 2010 eine wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegeben,  in der die bis dahin praktizierte Art und Weise der Berechnung als verfassungswidrig erkannt wurde – unter anderem, weil dem früheren Betrag nach den Worten der Richter Schätzungen „ins Blaue hinein“ zugrunde lagen. Es handelt sich um die Entscheidung vom 9. Februar 2010: BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010.

In den Leitsätzen der Entscheidung findet man die folgende Formulierung:

»Zur Ermittlung des Anspruchumfangs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen.«

Die Verfassungsrichter hatten u.a. moniert, dass man die Regelsätze ableitet aus den untersten 20% der Haushaltseinkommensverteilung ohne Berücksichtigung der Hartz IV-Empfänger, was als Methode zulässig sei, aber dass man es versäumt habe, die „verdeckt Armen“ aus dieser Gruppe herauszurechnen, also die Menschen, die eigentlich zu der Gruppe der Hartz IV-Empfänger gezählt und damit ausgeschlossen werden müssten, es aber nicht tun, weil sie aus welchen Gründen auf die ihnen eigentlich zustehenden Leistungen verzichten. Der Gesetzgeber solle, so das BVerfG, bei der Auswertung künftiger Einkommens- und Verbrauchsstichproben darauf achten, die verdeckt armen Haushalte zu entfernen, da sie in der Referenzgruppe „die Datenbasis verfälschen“ würden.

Eigentlich müsste man also im Lichte der neuen Daten die dort ermittelten verdeckt armen Haushalte aus der Bezugsgruppe für die Bestimmung des Regelsatzes herausnehmen. »Dann müssten aber auch die Regelsätze steigen. Rechnet man die verdeckt Armen heraus, so steigen die Konsumausgaben bei Alleinstehenden laut IAB im Schnitt um bis zu 2,4 Prozent, bei Paaren mit einem Kind um bis zu 5,5 Prozent«, so Cordula Eubel in ihrem Artikel.

Man muss das auch sehen vor dem Hintergrund einer massiven Kritik vieler Fachleute an der 2011 dann vorgenommenen Neuberechnung des Regelsatzes im SGB II. Die Ministerialbeamten hatten damals gerechnet »und bekamen 2011 einen Eckregelsatz heraus, der den alten um 2,81 Euro übertraf«. Warum der Anstieg nur so marginal ausgefallen ist, untersuchen die beiden Wissenschaftler Irene Becker und Reinhard Schüssler in dem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojekt „Das Grundsicherungsniveau: Ergebnis der Verteilungsentwicklung und normativer Setzungen„, aus dem jetzt erste Zwischenergebnisse bekannt wurden: „Regelsatz-Berechnung weiter fragwürdig„. »Die Regierung hat zwar die verfassungsrechtlich notwendigen Revisionen vorgenommen, das Rechenverfahren aber an anderen Stellen in einer Weise verändert, die den Korrekturen „systematisch entgegengewirkt haben“, so Becker. Nach ihrer Rechnung hätte der Eckregelsatz um etwa 27 Euro steigen müssen – wenn das ursprüngliche Verfahren nur in den vom obersten Gericht beanstandeten Punkten modifiziert und ansonsten unverändert geblieben wäre.« So musste man 2011 beobachten, dass eine Reihe von Einzelbeträgen abgezogen wurden, die der Gesetzgeber für „nicht regelsatzrelevant“ hält, etwa Ausgaben für Tabakwaren, Benzin, Reisen oder Gastronomiebesuche.

»Auch die Bezugsgruppe hat der Gesetzgeber verändert. Bei den Alleinstehenden zählten 2011 nicht mehr die unteren 20 Prozent, sondern nur noch die unteren 15 Prozent der Haushalte dazu. Real liegt die obere Einkommensgrenze der Referenzgruppe nun um neun Prozent oder rund 82 Euro niedriger.«

Zurück zu den neuesten Daten über den Umfang der Gruppe der verdeckt Armen. Das Bundesarbeitsministerium nennt die Größenordnung „beträchtlich“ – und wie gesagt, hier müsste man eigentlich so schnell wie möglich handeln und eine Anpassung vornehmen. Wer jetzt auf ein „aber“ wartet, den kann ich leider nicht enttäuschen, denn das Bundesarbeitsministerium »will … die Berechnung nicht ändern. Würde diese Personengruppe herausgerechnet, „käme es durch die an deren Stelle nachrückenden Haushalte mit höherem Einkommen tendenziell zu einer Verlagerung der Referenzgruppe in den mittleren Einkommensbereich“, heißt es dazu im aktuellen Regelbedarfsbericht«.

Anders ausgedrückt: Alles spricht für eine Korrektur der Regelsätze, aber das zuständige Ministerium verweigert das einfach. Nach dem Motto: Ihr könnt ja (wieder) Klage erheben, aber bis das beim Bundesverfassungsgericht landen wird, kann der Rhein noch eine Menge Wasser transportieren.

„Vermittlungsskandal 2.0“ bei der Bundesagentur für Arbeit? Nein. Es ist viel schlimmer: Hier geht es um die Systemfrage. Oder: Vom eigentlichen Skandal hinter der Zahlenhuberei

Da gab es am Wochenende so einige, die mit Blick auf die Bundesagentur für Arbeit (BA), wie die „gute Tante Arbeitsamt“ mittlerweile heißt, ein Déjà-vu hatten – nur mit dem Unterschied, dass es sich hierbei nicht mehr nur um das Gefühl handelt, eine neue Situation schon einmal erlebt, gesehen oder geträumt zu haben, sondern um das Auftauchen einiger unangenehmer Beweisstücke aus den Tiefen bzw. Untiefen eines umfassenden Systems der zahlengetriebenen Steuerung. Denn so könnte eine sehr kompakte Definition dessen lauten, was die BA heute darzustellen versucht. Viele ältere Semester fühlten sich an den Anfang des Jahres 2002 katapultiert, als der so genannte „Vermittlungsskandal“ über die damalige Bundesanstalt für Arbeit hereinbrach, der neben dem durch eine Welle an kritischer Berichterstattung verursachten Rücktritt des damaligen BA-Präsidenten Jagoda auch zur Einsetzung der „Kommission moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ mit dem damaligen VW-Personalvorstand Peter Hartz an der Spitze geführt hat – mit den bekannten Folgen. Man muss sich bewusst machen, dass das, was die BA heute ist (oder sein möchte) eine unmittelbare Konsequenz aus den Ereignissen des Jahres 2002 ist und nur vor diesem Hintergrund zu verstehen ist.
Irgendwie erschien es im ersten Augenblick wie ein zynischer Treppenwitz der Geschichte, dass die Antwort auf den „Vermittlungsskandal“ des Jahres 2002 im Jahr 2013 an einem neuen „Vermittlungsskandal“ scheitern könnte, denn natürlich wurden nach den Vorwürfen sofort Überlegungen laut, wie es denn mit der personellen Verantwortung an der Spitze der Bundesagentur für Arbeit aussehen sollte und müsste.

Aber der Reihe nach. Ausgelöst wurden die aktuell schweren Fahrwasser, in die die Bundesagentur für Arbeit geraten ist, durch einen längeren Artikel im SPIEGEL: Dahlkamp, J. et al.: Mit allen Mitteln, in: DER SPIEGEL, Heft 26/2013, S. 30-36. Bereits am Sonntag veröffentlichte „Spiegel Online“ unter der Überschrift „Arbeitsagentur manipuliert Vermittlungsstatistik“ eine Kurzfassung des Artikels, der in der Print-Ausgabe des Magazins erschienen ist. Der SPIEGEL bezieht sich auf die Erkenntnisse aus einem seit Monaten unter Verschluss gehaltenen Prüfbericht des Bundesrechnungshofs mit dem staubtrocken daherkommenden Titel: „Mitteilung an die Bundesagentur für Arbeit über die Prüfung der Steuerung der Zielerreichung in den strategischen Geschäftsfeldern I und Va“.

Der Originalbericht trägt das Datum 7. November 2012. Aber der enthält einige Sprengsätze für die Führungsspitze der BA, die vom SPIEGEL freigelegt wurden. Die Kernaussage – die noch vertiefend zu behandeln sein wird – lautet: »Vermittelt wird nur, wer leicht vermittelbar ist: Der Bundesrechnungshof wirft der Agentur für Arbeit … vor, nach diesem Prinzip eine bessere Erfolgsbilanz vorzutäuschen. Besonders Langzeitarbeitslose würden schlecht betreut«. Das ist starker Tobak, wird aber anhand der vom Bundesrechnungshof zusammengestellten Befunde nachvollziehbar.

Der Rechnungshof hatte in einer Stichprobe sieben der 156 Arbeitsagenturen sowie sieben Regionaldirektionen drei Monate lang untersucht. „Die Tatsache, dass wir in allen geprüften Agenturen Fehlsteuerungen festgestellt haben, zeigt, dass es sich um ein grundsätzliches Problem handelt“, heißt es im Fazit des Rechnungshofes.

Welche konkreten Vorwürfe werden vorgetragen? Die folgende Zusammenstellung bezieht sich auf den Artikel „Mit allen Mitteln“ aus der Print-Ausgabe des SPIEGEL. Eines muss an den Anfang gestellt werden: Es geht um das „Herz“ der neuen, „modernen“ BA – um die Zielsteuerung und die Kontrolle der Zielerwartungen innerhalb der großen Maschine. Es geht um Zahlen, alles dreht sich um diese Zahlen: Was die Vermittler tun, wird gezählt, beziffert, und am Ende sind es die Zahlen, nicht die Schicksale dahinter, die über alles entscheiden: Ob die jeweilige Agentur die Zielvorgaben von oben schafft, aus der Regionaldirektion und der Zentrale in Nürnberg. Ob sie damit im Vergleich zu anderen Agenturen vorn oder hinten liegt, so der SPIEGEL-Artikel.
»Nürnberg gibt der Regionaldirektion die Ziele vor, die Direktion der Agentur, die jedem Teamleiter, der Teamleiter jedem Vermittler. Die Ziele … könne man, je nach Temperament, entweder „sehr hoch“ oder aber „Wahnsinn“ nennen, trotzdem: Sie sind die Norm, das Gesetz, die Heilige Schrift, der sich in der Behörde alle unterordnen« (S.34). Um die Zahlen zu erreichen bzw. herzustellen wird in den unteren Etagen mit Druck gearbeitet und bei den Führungskräften ab Teamleiter aufwärts gibt es – bei Planerfüllung – Prämien. Das soll motivieren.

Schauen wir uns die im SPIEGEL-Artikel genannten Beispiele aus dem Rechnungshof-Bericht genauer an:

Eine der Zielgrößen ist die „Arbeitslosigkeit in Tagen“. Eine Agentur bzw. ein Team hat ein Problem, wenn es viele „Langläufer“ gibt, denn die versauen den Schnitt. Gott sei Dank gibt es hier einen Ansatzpunkt zur „Korrektur“ dieses Problems, z.B. IFLAS, ein »Sonderprogramm, eigentlich gedacht, um Arbeitslose wieder fit für den Berufseinstieg zu machen. Aber worauf es jetzt ankommt: Wer an IFLAS teilnimmt, zählt nicht für den Schnitt.« Also „motiviert“ man Arbeitslose, an einem der Qualifizierungskurse teilzunehmen, z.B. einen PC-Kurs, auch wenn der betroffene Arbeitslose kurz vor der Rente steht und es keine Arbeit mehr für ihn geben wird. Insofern kann man – zynisch gesprochen – nicht von „sinnlosen Maßnahmen“ sprechen, diese Kurse machen in der Welt der BA-Zahlen schon Sinn, denn die Teilnehmer zählen nicht mit bei der Messung der Arbeitslosigkeitsdauer.
Bei dem ausgefeilten System der Zielsteuerung in der BA geht es um Punkte, die man sich unten, an der Front, erarbeiten muss – und unterschiedliche Erfolge werden unterschiedlich bepunktet. Da gibt es mal viele und mal wenige Punkte. Darüber setzt man Anreize, sich auf die hoch bepunkteten Maßnahmen auszurichten und darüber steuert man dann das Verhalten der eigenen Mitarbeiter.

Zwei Wege werden in dem Bericht des Rechnungshofes identifiziert und kritisiert:

1.) »Die Agenturen kümmern sich, so der Rechnungshof, vor allem um die gefragten Kunden, die vermutlich auch ohne ihre Hilfe eine Stelle bekämen, und um die gefragten Stellen, für die man nicht lange nach Bewerbern suchen muss. Konzentration aufs leichte Geschäft und die Problemfälle links liegen lassen – für den Rechnungshof eine Missachtung des gesetzlichen Auftrags (S. 31). Hier geht es um Rosinenpickerei oder „Creaming“-Effekte. Verdeutlich wird das an den „Job-to-Job“-Kunden. Dabei handelt es sich um Personen, die sich in einem gekündigten, befristeten oder von „Arbeitslosigkeit bedroht“ Arbeitsverhältnis befinden – und nach den Rechtsvorschriften des SGB III müssen sie sich nach der Kündigung bzw. drei Monate vor dem Auslaufen des Arbeitsvertrags bei der Arbeitsagentur melden, die sie zumeist als „arbeitsuchend“ führt. Der Grundgedanke dieser Regelung war wie so oft in diesem Bereich ein guter: Wenn die Arbeitsvermittlung schon vor dem faktischen Eintritt der Arbeitslosigkeit die Möglichkeit bekommt, nach einer anderen Beschäftigung zu suchen, dann kann die Arbeitslosigkeit  durch dieses Suchfenster vielleicht sogar vermieden werden. Eigentlich eine sinnvolle Sache. Und da es sich bei diesen „Job-to-Job“-Kunden nicht selten um „gute Risiken“ handelt, die sich gut wieder unterbringen lassen, hat man eine Vermittlung dieser Menschen mit einem hohen Punktwert bei der Messung des Zielerreichungsgrades – von dem u.a. die Leistungsprämie abhängig ist – ausgestattet. Nur wie so oft im Leben gibt es solche und solche unter dieser „Kundengruppe“ – sozusagen „Sahnekunden“ und „Kaffeesatzkunden“. Und an dieser Differenzierung setzt die Rosinenpickerei bzw. das „Creaming“ ein: »Die einen erhalten noch am selben Tag ein Gespräch mit ihrem Vermittler, die anderen erst in sechs Wochen. Die einen danach jede Woche, die anderen nie mehr … fast alle untersuchten Agenturen (hatten) einen Sofortzugang für diese Superkunden eingerichtet: Sie gingen gleich am ersten Tag direkt vom Empfangstresen zur Vermittlungskraft, von dort zum Arbeitgeber-Service, der die offenen Stellen verwaltet … Doch das galt eben nur für die Top- Kunden. Umgekehrt „schlossen die meisten Agenturen bestimmte Kundengruppen vom Sofortzugang aus“, beobachteten die Rechnungsprüfer. Und zählten die Unbeliebten auf: Ungelernte ohne Führerschein, Bewerber mit angeschlagener Gesundheit und Ältere, je nach Agentur mal ab 50 Jahren, mal ab 55, 58 oder 60. Die bekamen erst später einen Termin und danach manchmal keinen zweiten mehr, bis sie zu Hartz-IV-Empfängern wurden« (S. 33)

»Das ist die Kehrseite des Creaming: Wer nicht Sahne ist, wer mehr Arbeit macht, wer nicht schnelle Punkte bringt oder nur das Pech hat, in der falschen Zielkategorie zu hängen, der hat von der Agentur nicht mehr viel zu erwarten.« In dem Bericht der Rechnungsprüfer findet sich der Hinweis, dass für mehr als die Hälfte aller Langzeitarbeitslosen in den untersuchten drei Monaten kein einziger Stellensuchlauf durchgeführt worden ist. Und zu 47% von dieser Gruppe wurde nicht mal ein ernstzunehmender Kontakt aufgenommen.

Der hier entscheidende Punkt: Das beklagte Creaming ist eine systemische Konsequenz aus der Tatsache, dass seitens der BA-Zentrale vorgegeben wurde, dass jede Integration (in irgendeine Arbeit) den gleichen Wert zugewiesen bekommt. Nun muss man keine Studie machen, um zu erkennen, dass dies natürlich Unsinn ist, denn die eine Vermittlung geht schnell von der Hand, während man bei einem anderen große Mühen auf sich nehmen muss, um ihn in neuer Beschäftigung zu platzieren. Die Gleichwertigkeitsvorgabe führt nun aber dazu, dass sich die Vermittlungskräfte auf die „leichteren“, also marktgängigen Kunden fokussiert und die „schwereren Fälle“ außen vor lässt. Insofern handelt die BA betriebswirtschaftlich gesehen effizient, aber sozialpolitisch gesehen treibt sie die Polarisierung zwischen den „guten“ und „schlechten“ Risiken voran.

2.) Der SPIEGEL spricht mit Blick auf den zweiten Weg gar von „Betrug, Täuschung“. Auch heute werden wieder „in großem Stil Vermittlungen simuliert“, so der Artikel (S. 31). Da gibt es unterschiedliche Ausformungen. Da wäre das Beispiel Leiharbeit: »Liebste Arbeitgeber deutscher Job-Vermittler sind Zeitarbeitsfirmen. Von den knapp 510 000 besetzten Stellen im Jahr 2011 entfielen gut 190 000 auf die Rein-und-Raus-Branche, also mehr als ein Drittel. Zum Vergleich: In der deutschen Wirtschaft sind nur drei Prozent der Beschäftigen Zeitarbeiter.« Der Aufwand für eine „Integration“ in Leiharbeit ist sehr überschaubar, aber die Einstellung als Leiharbeitnehmer zählt als Integration in Erwerbsarbeit (auch wenn diese nach zwei Monaten wieder mit einer Entlassung beendet wird, weil es ausreicht, dass eine Beschäftigung von sieben Tagen vorliegt, damit man eine „Integration“ buchen kann) genau so wie eine höchst aufwendige Integration z.B. eines älteren Arbeitslosen mit einer gesundheitlichen Einschränkung in ein Handwerksunternehmen.
Als „knallharten Statistikbetrug“ wertet der SPIEGEL-Artikel die Strategie, die Nenner-Größe bei der Berechnung der Erfolgsquoten zu verkleinern nach dem Motto: »Wie werde ich Kunden los? Vor allem die Sorte, die sich nicht gut vermitteln lässt.« Dafür gibt es dann beispielsweise die Masseninformationsveranstaltungen. »Dafür werden die 37-jährige Hausfrau oder der 50-Jährige mit angegriffener Gesundheit regelmäßig mit 100 anderen zum selben Termin eingeladen. Bis sie so genervt sind, dass sie einmal nicht kommen, und schon meldet die Agentur sie aus dem Bestand ab« (S. 34). Ein anderes Beispiel – und wieder an die „Job-to-Job“-Vermittlung ansetzend – bezieht sich auf Auszubildende am Ende der Lehre: »… ob die jungen Leute hinterher im Betrieb übernommen werden oder in einen anderen wechseln, beides gilt als erfolgreiche „Job to Job“-Vermittlung“. Einzige Bedingung: Die Damen und Herren von der Agentur müssen die Jugendlichen irgendwie dazu bringen, sich vorher arbeitsuchend zu melden.« In dem Artikel wird auch berichtet von Agenturen, »die Fragebögen in den Berufsschulen austeilen: Wer ankreuzt, dass er von seiner Firma übernommen wird oder woanders eine feste Zusage hat, landet demnach im Behördencomputer, unter „arbeitsuchend“. Bis zu dem Tag, an dem er Geselle wird und der Vermittler das als Erfolg der Behörde im Computer erfasst. Und die anderen Fragebögen? Die von denen, die nichts in Aussicht hatten? „Die werden gleich weggeschmissen.“«

In der Gesamtschau muss man natürlich den Eindruck gewinnen, hier läuft vor unseren Augen ein neuer, veritabler Skandal ab, hier werden offensichtlich Erfolgsindikatoren „produziert“ bzw. „aufgehübscht“, aber bei allem Kopfschütteln angesichts der Information darüber, womit sich erwachsenen Menschen offensichtlich den lieben langen Tag beschäftigen können bzw. müssen – fairerweise sollte die Bewertung lauten: Nein, das ist kein Skandal, erst recht kein neuer, sondern eine zwangsläufige Folge, eine nicht vermeidbare Auswirkung einer sich über das eigentliche Kerngeschäft legenden zahlengetriebenen Steuerung, die sich abzuschließen versucht von den Irritationen, die aus der Außenwelt in die Agentur kommen könnten und die durchaus effizient versucht, die eigenen Maßstäbe immer besser zu erreichen, koste es, was es wolle. Hierin unterscheidet sich die BA in keiner Weise von vielen anderen, gerade börsennotierten Unternehmen mit ihrer dort ebenfalls wirkenden Kombination aus Controlling-Dominanz und Fokussierung auf die Realisierung kurzfristiger (scheinbarer) Erfolge, die man zahlenmäßig abbilden kann.

Niklas Luhmann, der große Systemtheoretiker der Soziologe, hätte heute seine Freude an der BA, er würde sie sicher in einem seiner Werke verewigen. Mit Luhmann assoziiert man seine Beschreibung „selbstreferentieller Systeme“. Selbstbezügliche Systeme stabilisieren sich durch die Bezugnahme auf sich selbst und schließen sich darin von ihrer Umwelt ab. Dadurch gewinnen sie Beständigkeit und ermöglichen Systembildung und Identität. Selbstreferenzielle Systeme sind „operational geschlossen“. Auch der SPIEGEL-Artikel kommt zu dem Ergebnis, dass die von den Rechnungsprüfern und Insidern berichteten Strategien und Maßnahmen »Merkmale eines in sich geschlossenen Systems (aufweisen), auf Höchstleistung gedrillt, überzüchtet.«

Und was sagt Nürnberg?
„Ich muss fordern, dass man die Erfolge fortsetzt. Wir haben bewiesen, dass wir in unseren Zahlen fast jedes Jahr ein bisschen besser geworden sind …“ (F.-J. Weise)

Die Reaktion der Führungsspitze der Bundesagentur für Arbeit kann Hinweise geben auf den Grad der „operationalen Schließung“ dieser Institution.

Direkt nach der Veröffentlichung der Vorwürfe bekam der Chef der BA, Frank-Jürgen Weise, die Möglichkeit, in einem Interview mit Spiegel Online Stellung zu nehmen. Das Interview wurde bezeichnenderweise betitelt mit „BA-Chef Weise räumt „Fehlsteuerungen“ ein„. Hier einige Auszüge aus seiner Argumentation bzw. besser: aus seiner Sicht der Welt:

»Die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit in der Statistik, in den Finanzen und die Controlling-Zahlen zeigen eine kontinuierliche Verbesserung gegenüber dem Vorjahr.» Und zu den Vorwürfen des Bundesrechnungshofs führt er aus: »Diese Fälle sind punktuell, aber wir nehmen sie sehr ernst. Es gibt Agenturen, die durch die Vorgaben überfordert sind.«

Und das folgende Zitat von Weise zeigt in aller Deutlichkeit seine Sichtweise, dass es die einzelnen Mitarbeiter vor Ort sind, die schuld seien an dem, was jetzt mal wieder an die Öffentlichkeit gespült worden ist: »Es gibt Menschen, die kommen mit diesem System der Forderung, der Transparenz nicht klar.« Da zieht sich der Chef zurück und macht die da unten verantwortlich. Schlechter Stil, mindestens. Und auch sachlich falsch, wenn man begreift, dass es sich hier um die Folgen eines Systems handelt, das man gut oder schlecht finden kann, das aber nicht reduziert werden darf auf Einzelfälle, wenn es unangenehme Anfragen an das System gibt.

Jetzt sind wir schon am Kern seiner Abwehrstrategie angekommen:
1. ) Wenn, dann handelt sich um Einzelfälle und 2.) Wenn es partiell so etwas gegeben hat, dann waren die Mitarbeiter vor Ort „überfordert“.

Auf die Frage nach dem im Prüfbericht beschriebenen und dokumentierten Fällen einer Differenzierung der „Kunden“ in „Sahne“- und „Kaffeesatz“-Kunden antwortet Weise – und das sollten wir uns merken: »Es kann doch nicht darum gehen, dass wir Menschen unterschiedlich behandeln.« Genau das wurde gerade aufgedeckt.

Auf die Frage, wie es denn jetzt weiter geht, offenbart sich der eigentliche Skandal hinter der Zahlenhuberei:

»… wir bearbeiten die Themen hier bei uns im Haus … Indem wir immer wieder an der Feinjustierung eines Zielsystems arbeiten«.

Genau das ist das Problem: Die BA ist kein Logistik- oder sonstiges Unternehmen, Herr Weise, dass man mit Hilfe externer Unternehmensberater von Roland Berger oder von wem auch immer führen kann, abgeschottet von der Umwelt, sondern eine Sozialbehörde, auch wenn das sicher für manche in der BA von heute wie ein Terminus von Untoten klingen mag. Die BA hat sich dem öffentlichen Diskurs zu stellen und muss endlich zulassen, dass auch von außen mitdiskutiert wird an der Frage, was denn der Auftrag der BA ist und wie man dann, nachdem man das fixiert hat, die Auftragserfüllung messen kann, wenn man es denn überhaupt kann. Und sie muss sich kritischen Anfragen stellen, die sich in einem zentralen Punkt verdichten lassen: Wozu braucht man diese Behörde, wenn sie sich fokussiert auf die „marktnahen“ Kunden, die es auch ohne ihre Hilfe schaffen, sich auf dem Arbeitsmarkt zu platzieren – und wie kann man sicherstellen, dass der sozialpolitische Auftrag der BA wieder mit Leben gefüllt wird.

Immerhin liegt der Bericht des Bundesrechnungshofes schon seit dem vergangenen Jahr in Nürnberg. Man habe seitdem eifrig an den Konsequenzen, die daraus zu ziehen seien, gearbeitet, bis jetzt, im Juni des Jahres 2013 der Bericht an die Öffentlichkeit gekommen ist. Und wie sehen diese aus? Dazu gibt es erste Hinweise in dem Beitrag „Wir sind kein Betrügerladen„:

»Im Kern geht es bei der BA-Reform darum, dass die Vermittlung von schwierigen Fällen ab 2014 höher bewertet wird. Die Nürnberger Behörde hat dabei drei Gruppen und Merkmale definiert, für deren Vermittlung es ein Extra-Plus geben soll.
• Wenn ein ehemaliger Arbeitsloser auch nach mehr als sechs Monaten noch einen Job hat.
• Wenn die Vermittlung in einen kleinen oder mittelständischen Betrieb erfolgt.
• Wenn ein Arbeitsloser mit Hauptschulabschluss eine Stelle bekommt.«

Ein Schritt vor, aber elegant der eigentlichen Grundsatzfrage ausgewichen. Soll man eine Sozialbehörde so steuern? Macht das Sinn? Welchen Sinn machen Prämien für die Erreichung irgendwelcher quantitativer Zielquoten? Keine Antwort aus Nürnberg.

Welche Auswirkungen – um noch auf einen weiteren Aspekt hinzuweisen – haben die Diskussionen hinsichtlich der Zielsteuerung der Arbeitsagenturen auf die der Jobcenter, zumindest auf die, wo die BA in den „Gemeinsamen Einrichtungen“ mit den Kommunen agiert? Denn man muss es an dieser Stelle wieder in Erinnerung rufen: Die 156 Arbeitsagenturen sind keine Jobcenter und die 410 Jobcenter sind keine Arbeitsagenturen, so merkt es das BIAJ richtigerweise an. Wie gehen wir dort, in der Hartz IV-Welt, mit der Frage nach dem sozialpolitischen Auftrag um? Und wären die Ereignisse nicht Grund genug, wieder einmal die unangenehme Grundsatzfrage aufzuwerfen, wie wir mit der „Achillesferse“ der deutschen Arbeitsmarktpolitik – also der Trennung der Rechtskreise SGB III und II und ihre Abbildung in getrennten Institutionen – umgehen wollen? Macht das alles noch Sinn? Werden hier nicht Verschiebe- bzw. Abschiebebahnhöfe produziert, gegen die die alte Welt aus Arbeits- und Sozialämtern als eine heile Welt daherkommt?

Fragen, notwendige Fragen – aber offensichtlich interessiert sich auch die Medienberichterstattung kaum noch für das Thema. Man ist bereits nach wenigen Tagen zum nächsten Ort des Geschehens aufgebrochen, wo die nächste Sau durchs (sozialpolitische) Dorf getrieben wird. Zurück und allein bleibt eine Institution, die nicht mehr die „gute Tante Arbeitsamt“ ist und dies auch heute nicht mehr sein sollte, die man aber auch nicht alleine lassen darf in den Händen controllingverliebter Unternehmensberater, die etwas gestalten und verändern, was ein öffentliches Gut darstellt – und dabei noch nicht einmal Rechenschaft ablegen müssen, was aus ihrer Welt der Powerpoint-Folien in die freie Wildbahn entlassen wird.

Droht ein sozialer „Wohn-Abstieg“ für viele Rentner?

(Zunehmende) Altersarmut ist ein großes Thema – die einen spielen das heute schon vorhandene Ausmaß an Altersarmut herunter und argumentieren, noch nie sei es einer Rentnergeneration so gut gegangen wie der von heute, was im Durchschnitt auch stimmt. Aber es gibt eben auch gegenwärtig schon viele, die unter dem Durchschnitt leben (müssen). Und alle seriösen Prognosen zeigen, dass es angesichts der erheblichen Eingriffe des Gesetzgebers in die Mechanik der Rentenformel zu einem erheblichen Anstieg der Altersarmut unter einem Teil der älteren Menschen in den vor uns liegenden Jahren kommen muss, wenn man nicht fundamentale Veränderungen im Rentensystem vornimmt.
Vor diesem Hintergrund sind die alarmierenden Meldungen über einen drohenden sozialen „Wohn-Abstieg“ für viele Rentner zu lesen, denn der »Wohnungsmarkt ist auf die steigende Zahl älterer Menschen nicht vorbereitet. Es fehlt an barrierearmen Wohnungen. Ebenso an kleinen Wohnflächen«, so der Deutsche Mieterbund in der Pressemitteilung „2,5 Mio. Senioren-Wohnungen fehlen – Pflegekosten-Explosion droht„. Ausgelöst wurde die Berichterstattung über dieses Thema – das es  sogar auf die Titelseite der BILD-Zeitung geschafft hat, die in der ihr eigenen Art ihre Leser mit der Ansage konfrontiert: „So rutschen Rentner in die Wohnungsarmut. Jeder Vierte ist 2035 auf Grundsicherung angewiesen“ – durch die Veröffentlichung einer Studie des Pestel-Instituts in Hannover.

Die Studie, das muss man wissen, wurde in Auftrag gegeben vom Bündnis „Wohnen65plus“, einem Zusammenschluss unterschiedlicher Verbände. Dazu gehören: der Deutsche Mieterbund (DMB), der Sozialverband VdK Deutschland, der Bund Deutscher Baumeister, Architekten und Ingenieure (BDB), die IG Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU), die Deutsche Gesellschaft für Mauerwerks- und Wohnungsbau (DGfM) und der Bundesverband Deutscher Baustoff-Fachhandel (BDB). Es handelt sich hierbei also um Verbände, die alle aus ihrer jeweiligen Perspektive ein Interesse haben, dass mehr Wohnungen gebaut oder umgebaut werden.

Jonas Rest berichtet in seinem Artikel „Die graue Wohnungsnot“ über die wichtigsten Erkenntnisse, die man aus der Studie ziehen kann: »Es fehle massenhaft an altersgerechten Wohnungen und kleinen Wohnflächen, die sich auch noch Menschen in Altersarmut leisten können, heißt es in der Untersuchung.« Pestel-Studienleiter Matthias Günther wird mit den Worten zitiert: „Es gibt eine graue Wohnungsnot“. Die Zahl der Rentner werde »bis zum Jahr 2035 um 40 Prozent gegenüber heute zunehmen. Es ist die Babyboomer-Generation, die dann in Rente geht – und viele von ihr werden auf den Staat angewiesen sein, um zu überleben. Niedriglöhne, prekäre Selbstständigkeit und Arbeitslosigkeit führen dem Institut zufolge dazu, dass in den kommenden zwanzig Jahren mehr als jeder vierte Rentner von Altersarmut betroffen sein wird. Gegenwärtig sind es rund drei Prozent.«
In der bisherigen Wohnung zu bleiben wird für viele Rentner zum Luxus werden, den sich immer weniger leisten werden können. Aber wenn sie dann umziehen müssen, werden sie erhebliche Schwierigkeiten bekommen, eine altersgerechte Wohnung zu finden.

Das Pestel-Institut hat in seiner Studie berechnet, »dass in Deutschland in den nächsten acht Jahren 2,5 Millionen zusätzliche barrierefreien Wohnungen eingerichtet werden müssten – allein in Berlin fehlen 100.000 solcher altersgerechter Wohnungen. Kritisch ist oft der Zugang zur Wohnung oder das Bad, in dem die Badewanne durch eine bodengleiche Dusche ersetzt werden müsste.«
Der Umbau zu einer barrierearmen Wohnung kostet durchschnittlich 15.600 Euro – eine Investition, die sich bereits nach zwei Jahren auszahlen würde. Nach zwei Jahren, wenn man berücksichtigt, dass ansonsten höhere Pflegekosten durch die oftmals notwendig werdende stationärer Betreuung und Pflege anfallen würden.

Um den erforderlichen altersgerechten Wohnraum verfügbar zu machen, sind natürlich erhebliche Investitionen erforderlich. Für die fehlenden 2,5 Millionen Wohnungen, eine Größenordnung übrigens, die auch vom Bundesbauministerium in einer anderen Studie bestätigt wird, müssten Gesamtinvestitionen in Höhe von 39 Milliarden Euro getätigt werden. Der Deutsche Mieterbund weist in seiner Pressemitteilung darauf hin, dass das Pestel-Institut auch das Fördervolumen beziffert hat, um diese Gesamtinvestitionen realisieren zu können:

»540 Millionen Euro jährlich in den kommenden acht Jahren. Studienleiter Matthias Günther erläutert: „Ein Förder-Euro zieht etwa acht Euro an privaten Investitionsmitteln nach sich. Für eine 39-Milliarden-Euro-Investition muss der Staat also eine 4,33-Milliarden-Euro-Förderung schaffen – in diesem Fall verteilt auf acht Jahre.“«

Die bisherige Bundesregierung hat in den vergangenen vier Jahren zwar semantisch dem Bedarf an altersgerechten Wohnraum zugestimmt, sich aber faktisch anders verhalten, zumindest, wenn es um das liebe Geld geht: Die jetzige Bundesregierung hat sich gewissermaßen vom altersgerechten Bauen und Sanieren verabschiedet und den KfW-Fördertopf für das Programm „Altersgerecht umbauen“ von ursprünglich 100 Millionen Euro jährlich auf Null gesetzt.

Wenn man die eigentlich notwendigen Investitionen in den altersgerechten Umbau von Wohnungen verbindet mit dem Eindampfen des sozialen Wohnungsbaus – dann wird immer deutlicher erkennbar, dass wir eine gewaltige „Wohnungsfrage“ bekommen werden.