„Die Antwort ist simpel: Ungleichheit bringt uns um“. Und warum Gewerkschaften und ein ausgebauter Sozialstaat von der anderen Seite gelobt werden

Wir kennen sie alle, diese großen Debatten über die Zunahme der Ungleichheit in den „modernen“ Gesellschaften. Nicht ohne Grund ist das im wahrsten Sinne des Wortes furztrockene Werk „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ des französischen Ökonomen Thomas Pikten in den vergangenen Monaten landauf landab diskutiert, man muss sogar sagen: gehypt worden. Und immer wieder wurde und wird von Sozial- und anderen Wissenschaftlern darauf hingewiesen, dass die Zunahme der Ungleichheit, die damit einhergehenden gesellschaftlichen Polarisierungsprozesse in einen kritischen Bereich eingetreten sind. Und dann wird man in einer der reichsten und in vielen Bereichen immer noch erstaunlich gut funktionierenden Volkswirtschaft der Welt, also in Deutschland, mit Debatten konfrontiert, ob der Untergang des arbeitsmarktlichen Abendlandes bevorsteht, weil man zu Beginn dieses Jahres eine gesetzliche Lohnuntergrenze von 8,50 Euro – nun ja – für fast alle eingeführt hat. Und wenn denn bei uns noch über Gerechtigkeit diskutiert wird, dann versucht der Mainstream darauf hinzuweisen, dass wir längst die „unfruchtbare“ Fokussierung auf Verteilungsgerechtigkeit, die immer auch und unvermeidbar verbunden ist mit einer Debatte über Umverteilung, dadurch zu entsorgen, dass wir mittlerweile doch schon längst auf einer anderen Ebene angekommen sind, auf der es um die Chancengerechtigkeit geht. Oder gehen sollte, wenn es sie denn geben würde. Daran kann man gut begründet zweifeln (vgl. als aktuelles Beispiel dazu die Befunde und die Diskussion einer neuen Studie zum Thema Kinderarmut, die von der Bertelsmann-Stiftung vorgelegt worden ist: Kinderarmut. Leider nichts Neues. Ein weiteres Update zu den auseinanderlaufenden Lebenslinien der Kinder. Und zugleich eine ernüchternde Relation: 2 zu 1).
Vor diesem Hintergrund wird man gleichsam vor den Kopf gestoßen, wenn man als Vorbemerkung zu einem Interview mit einem international ausgewiesenen Epidemiologen zu lesen bekommt: »Zu den größten Einflussfaktoren für unsere Gesundheit zählt Verteilungsgerechtigkeit«, so der Epidemiologe Richard Wilkinson in dem Artikel „Die Antwort ist simpel: Ungleichheit bringt uns um“. Und er steigt gleich richtig ein in die notwendige Debatte über die desaströsen, eben zerstörerischen Auswirkungen von zu großer sozialer Ungleichheit.

»Je ungleicher eine Gesellschaft ist, desto größer sind die sozialen Probleme. Ungleiche Gesellschaften schneiden bei der Lebenserwartung schlechter ab, es gibt mehr Drogensüchtige, mehr psychische Erkrankungen wie Depression, mehr Kriminalität. Wie stark der Einfluss ist, sieht man in den Vereinigten Staaten: Die USA waren in den 1950er-Jahren eines der Länder mit der höchsten Lebenserwartung. Heute sind sie in der Statistik irgendwo zwischen Platz 25 und 30. Warum? Die Ungleichheit ist in den USA seit den 50er-Jahren explodiert.« Und so geht das in dem Interview weiter. Auf die schon etwas verzagte Frage nach den Ärzten und dem Niveau des Gesundheitssystems in den einzelnen Ländern richtet Wilkinson erneut den Blick auf den eigentlichen Punkt, wenn er sagt: »Es ist so wie im Krieg: Lazarette sind wichtig. Für die Zahl der Opfer in einer Schlacht sind sie aber nicht entscheidend.«

Nun kann man natürlich sofort argumentieren, dass das sicher bedauerlich ist für diejenigen Menschen, die abgekoppelt werden von der Entwicklung, aber die, denen es materiell gut geht, die vielleicht sogar in Reichtum leben, kann das herzlich egal sein. Individuell gibt es natürlich diese Konfiguration, aber soziologisch sieht es schon anders aus, wie Wilkinson erläutert – wohlgemerkt für Länder, die sich bereits auf einem bestimmten Wohlstandsniveau befinden:

»Es gibt in den USA und Großbritannien arme Regionen, in denen die Lebenserwartung um 20 Jahre niedriger ist als in wohlhabenden Gegenden. Das dürfte noch niemanden überraschen. Unzählige Studien zeigen aber, dass solche Ungleichheiten die Lebenserwartung in allen sozialen Schichten negativ beeinflussen. Es sieht also so aus, dass etwa 95 Prozent einer Gesellschaft gesünder leben, wenn mehr Gleichheit herrscht. In Gesellschaften mit großen materiellen Unterschieden ist die Angst der Menschen vor einem sozialen Absturz und damit auch der erwähnte soziale Stress größer: Also Reiche wie Arme fürchten sich mehr …  In ungleicheren Gesellschaften haben Menschen mehr Angst davor, wie andere sie beurteilen. Deshalb sind Depression und Schizophrenie verbreiteter. Gleichzeitig zeigen Studien, dass Menschen in so einem Umfeld auch eher dazu neigen, sich besser darzustellen, als sie sind, um bestehen zu können. In ungleicheren Gesellschaften ist also auch Narzissmus verbreiteter. Vielleicht sollten wir uns bewusster werden, wie stark Dinge jenseits unserer individuellen Sphäre unser Wohlbefinden beeinflussen.«

Nun wird der eine oder die andere sicher sofort mäkelnd einwerfen: Auch wenn das richtig ist, was hier wieder einmal postuliert wird (wenn auch auf einer wirklich beeindruckenden empirischen Basis, die man beispielsweise in dem von Richard Wilkinson gemeinsam mit Kate Pickett verfassten Buch „Gleichheit ist Glück“ nachlesen kann. Vgl. hierzu auch die 2010 erschienene Zusammenfassung des Buches Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, verfasst von Liana Fix), stellt sich doch die Grundsatzfrage, was und eigentlich ob überhaupt man etwas tun kann gegen diese Entwicklung. Oder ist die nicht vielmehr „alternativlos“?

Da trifft es sich gut, wenn diejenigen, die zumindest auf partielle Gegengewichte verweisen, Unterstützung bekommen von Seiten, die ansonsten eher unverdächtig sind, den Ungleichheitsbekämpfungsansätzen bedingungslos folgen zu wollen. Zwei dieser Schützenhelfer sollen hier zitiert werden.

A Big Safety Net and Strong Job Market Can Coexist. Just Ask Scandinavia – so ist ein Artikel in der New York Times überschrieben. Der Beitrag arbeitet sich ab an der bekannten These: Wenn Sozialleistungen generös und die Steuern hoch sind, dann macht sich das negativ bemerkbar bei der Erwerbsbeteiligung, also weniger Menschen werden arbeiten gehen. Zugespitzt formuliert kann man diese bei vielen Ökonomen (und anderen) weit verbreitete Haltung auch als Ausfluss einer Philosophie der „Schwarzen Pädagogik“ umschreiben, nach der die Menschen im Grunde faul sind und gezwungen werden müssen, sich auf den Arbeitsmarkt zu bewegen. Neil Irwin hat in seinem Artikel dann aber einer Irritation dieses Glaubensgebäudes parat:

»Some of the highest employment rates in the advanced world are in places with the highest taxes and most generous welfare systems, namely Scandinavian countries. The United States and many other nations with relatively low taxes and a smaller social safety net actually have substantially lower rates of employment … In short, more people may work when countries offer public services that directly make working easier, such as subsidized care for children and the old; generous sick leave policies; and cheap and accessible transportation … There is a solid correlation … between what countries spend on employment subsidies — like child care, preschool and care for older adults — and what percentage of their working-age population is in the labor force.«

Und nicht nur das, um zum zweiten Beispiel zu kommen – auch der Lebensstandard der breiten Massen wird entscheidend davon beeinflusst, wie stark die sind, die auch für viele Ökonomen aus dem Mainstream ein rotes Tuch darstellen: die Gewerkschaften.

So muss man dann so eine Überschrift zur Kenntnis nehmen: IWF-Studie stärkt die Gewerkschaften: »Der sinkenden Einfluss der Gewerkschaften in den Industrieländern verschärft nach Einschätzung des Internationalen Währungsfonds (IWF) die soziale Ungleichheit. Die Kluft zwischen Normal- und Topverdienern sei dadurch gewachsen, heißt es in einer aktuellen Studie des IWF.«
Ist denn jetzt nicht einmal mehr auf einer der zentralen Agenturen des Neoliberalismus Verlass, wird sich der eine oder die andere konsterniert fragen.

Die Gesellschaft eines Landes teilt sich unter diesen Bedingungen auf in eine zunehmend dünner werdende Oberschicht, in der sich der Wohlstand anhäuft, während weite Teile der Bevölkerung mit sehr viel weniger Mitteln auskommen müssen, wenn der Einfluss der Gewerkschaften schwindet, so die beiden Wirtschaftswissenschaftlerinnen Florence Jaumotte und Carolina Osorio Buitron in ihrem Beitrag Power from the People, der in der Zeitschrift Finance & Development veröffentlicht wurde.

Und das hat alles auch was mit Deutschland zu tun. Nicht nur angesichts der Tatsache, dass auch bei uns in den zurückliegenden Jahren die Ordnungsfunktion der Gewerkschaften (wie auch der immer dazu gehörenden Arbeitgeberverbände) deutlich abgenommen hat und in vielen sogenannten Niedriglohnbereichen schlichtweg und nicht überraschend so gut wir gar nicht mehr vorhanden ist. Sondern auch, weil in einer Dienstleistungsgesellschaft die Arbeitgeber angesichts der vielen betriebswirtschaftlichen Besonderheiten immer bestrebt sein werden, die Kosten des Faktors Arbeit zu drücken, weil auch die Konkurrenz das tut. Außer, man zwingt die Unternehmen in das Korsett eines für alle Unternehmen geltenden Tarifvertrages. Beispielsweise über die Allgemeinverbindlichkeit dieses Regelwerks.

Dazu nur ein – allerdings höchst aktuelles – Beispiel. Der vor kurzem wiedergewählte grüne Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, hat einen Gastbeitrag verfasst für die Online-Ausgabe der Wochenzeitung DIE ZEIT. Unter der Überschrift: Die Tür macht auf! Geschäfte sollten an Sonntagen öffnen dürfen. Seine Argumentation erscheint auf den ersten Blick nicht unplausibel: »An keinem anderen Tag der Woche kaufen die Deutschen mehr ein als am Sonntag. Nicht in der Stadt, da hält das Gesetz die Türen der Händler geschlossen, aber im Internet. Dort wird ein Fünftel des Umsatzes an Sonntagen gemacht. Das Verbot der Sonntagsöffnung kostet den stationären Einzelhandel Kunden und Marktanteile.« Und nach einigen Ausführungen kommt er dann zu seinem Punkt: »Den Kommunen sollte das Recht gegeben werden, in ihren Innenstädten durch Satzung Gebiete festzulegen, in denen an Sonntagen die Geschäfte nach Ende der Gottesdienste öffnen dürfen … Zugleich sollte diese Möglichkeit im Gesetz auf die Innenstädte begrenzt werden. Das würde den Einzelhandel in den Zentren nicht nur gegen das Internet stärken, sondern auch gegen die Konkurrenz an den Rändern und Autobahnen.« Immerhin will er den Gottesdienst der Kirchen, den allerdings tendenziell eher weniger konsumfixierte Personen- und Altersgruppen (noch) besuchen, von der Ausweitung der Konsumzone bewahren, aber dann soll es eben losgehen können.

Es soll an dieser Stelle gar keine Diskussion geführt werden über das Pro und Contra zu diesem Vorschlag und es soll auch nicht hervorgehoben werden, dass es gerade in den gewerkschafttlichen Reihen erhebliche Widerstände gegen eine solche Ausweitung der Ladenöffnungszeiten geben würde und wird. Völlig unabhängig von der individuellen Positionierung dazu – hier geht es nur um einen Aspekt: Wenn man einen solchen Schritt machen würde, dann muss klar sein, dass das dazu führen muss, dass die Unternehmen in den Innenstädten noch mehr als bislang schon darauf schauen müssen, wie man die Personalkosten nach unten drücken kann, denn die Öffnungszeiten der Geschäfte werden ja nicht an anderer Stelle unter der Woche reduziert werden, so dass sich die Arbeitszeitbedarfe vergrößern. In diesem Kontext würde die Öffnung, die seitens der Wirtschaft sicher heftigst begrüßt werden würde, nur dann verantwortbar sein, wenn man gleichzeitig den Tarifvertrag für den Einzelhandel – der weit über einen Mindestlohn hinausgeht – für allgemeinverbindlich erklären würde, so dass sich alle, auch die nicht-tarifgebundenen Unternehmen an diesen halten müssten. Bis zum Jahr 2000 übrigens war das der Fall, bis dahin war der Tarifvertrag für alle Unternehmen im Einzelhandel allgemeinverbindlich – und seit der Aufhebung häufen sich die Fälle von Lohndumping in dieser Branche, denn jetzt macht es betriebswirtschaftlich durchaus Sinn, über das Drücken der Arbeitskosten zu versuchen, Vorteile gegenüber den Konkurrenzunternehmen zu realisieren.

Warum nur wundert man sich nicht, dass davon in dem Artikel des grünen Oberbürgermeisters nichts zu finden ist? Aber eigentlich wundert man sich nicht mehr.

Gewinner und Verlierer gibt es immer, vor allem, wenn es um Geld geht. Und Geldpolitik ist auch ein sozialpolitisches Thema. Und da genau so umstritten wie generell der ganze Ansatz der EZB unter den Ökonomen

Mehr als eine Billion Euro wird die EZB bis September nächsten Jahres in die Märkte spülen. Monat für Monat sollen es 60 Mrd. Euro sein. Es muss an dieser Stelle nicht darüber sinniert werden, was man mit so viel Geld Gutes tun könnte – für die Menschen, die Hilfe brauchen, aber auch für die Volkswirtschaften durch echten Konsum und Investitionen in Menschen. Darum geht es der EZB nicht. Welche Effekte die „Geldschwemme“ auf die Realwirtschaft, auf die Kreditvergabe und auf die Inflationsrate haben wird, lässt sich nur schwer vorhersagen und darüber streiten sich die Ökonomen derzeit heftig – allein die begriffliche Einordnung als „Geldschwemme“ wird von manchen Volkswirten abgelehnt, stellvertretend hierzu Heiner Flassbeck in seinem Beitrag Die EZB hat entschieden, aber entschieden ist nichts.

Unabhängig davon kann man beispielsweise zwei ganz handfeste Auswirkungen der Geldpolitik der EZB beobachten: Die Zinsen für europäische Staatsanleihen, auch für die der Krisenländer des Euro-Raumes, verzeichneten neue Renditetiefstände, was von der EZB ja auch so gewollt ist. Gleichzeitig kann man an den Aktienmärkten ein wahres Kursfeuerwerk beobachten, der DAX stieg in diesen Januartagen bis auf über 10.700 Punkte und damit auf ein neues Allzeithoch. Natürlich hat eine dermaßen starke Medikation, wie sie von der EZB dem Euro-Patienten verordnet wird, auch Nebenwirkungen. Auf eine davon hat bereits vor einiger Zeit Yves Mersch, Mitglied im Direktorium der EZB, in einer Rede offen hingewiesen: Eine ultralockere Geldpolitik mit massenhaften Wertpapierankäufen scheine die Einkommensungleichheit in der Gesellschaft zu vergrößern, so seine Aussage, über die Philip Plickert in seinem Artikel Die EZB-Geldpolitik macht Reiche noch reicher berichtet. Offensichtlich bezieht sich Plickert dabei auf diese Rede von Mersch: Monetary policy and economic inequality vom 17.10.2014.

Unterstützung bekommt diese Kritiklinie sogar von einer Seite, die man auf den ersten Blick vielleicht am wenigsten hier erwartet hätte: »Sahra Wagenknecht von der Linkspartei wetterte, Draghi liefere ein „Dopingmittel für die Finanzmärkte“, das die Reichen noch reicher mache.«
Und die Linke Wagenknecht reiht sich offenbar ein in eine illustre Runde an Kritikern aus ganz unterschiedlichen (partei)politischen Schützengräben:

»Der CSU-Generalsekretär bezeichnete Draghi als „Gehilfen der Spekulanten“. Und die AfD-Europaabgeordnete Beatrix von Storch wetterte, Draghi betreibe eine „asoziale“ Politik: „Vermögende werden noch vermögender. Arme werden ärmer.“ Die Flutung der Märkte mit 1 Billion Euro bewirke eine „Umverteilung von unten nach oben wie noch nie in der Geschichte“. Auch der Spekulant George Soros, der auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos Draghis Anleihekaufprogramm als „überwältigend“ lobte, macht sich Sorgen über eine Zunahme der Ungleichheit deswegen: „Das dürfte ernsthafte politische Folgen haben.“«

Wie aber soll das funktionieren mit der steigenden Einkommens- und Vermögensungleichheit durch die lockere Geldpolitik? Plickert berichtet über mehrere Wirkungskanäle, die in diesem Zusammenhang diskutiert werden:

1.) Während einfache Haushalte hauptsächlich Arbeitseinkommen beziehen, haben die reicheren meist Kapitaleinkünfte. Steigen die Kurse, weil die Geldpolitik locker ist oder die Zentralbank sogar direkt Wertpapiere kauft, erhöht das die Ungleichheit.
2.) Zweitens profitieren jene mehr als andere von der Geldpolitik, die näher an den Finanzmärkten sitzen und schneller reagieren, also professionelle Finanzmarktakteure eher als kleinere, passive Anleger mit weniger Informationen. Auch hier haben die Vermögenden die Nase vorn.
3.) Und drittens bewirkt die lockere Geldpolitik eine Umverteilung weg von den Geldbesitzern hin zu den Wertpapierbesitzern. Während sie die Kurse in die Höhe treibt, leiden die einfacheren Bürger mit kleinem Vermögen darunter, dass sie für ihre Ersparnisse kaum noch Zinsen erhalten.
4.) Als weiteren Effekt kann man den Anstieg der Immobilienpreise hinzuzählen, der auch von der Flut billigen Geldes getrieben ist. Ärmere Haushalte, die zur Miete wohnen, sind gegenüber Häuser- und Wohnungseigentümern im Hintertreffen.

Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, sprach von einem „riesigen Vermögenseffekt“ durch die Börsengewinne im Zuge der extrem lockeren Geldpolitik, so Plickert in seinem Artikel. Das EZB-Programm habe einen „sehr starken umverteilenden Effekt“ – es bewirke eine Umverteilung nach oben. Und der umverteilende Effekt zugunsten der Reicheren sei in Europa besonders stark ausgeprägt, weil die Quote der Aktionäre und Wertpapierbesitzer in der breiten Bevölkerung geringer ist als in den USA.

Plickert weist allerdings auch darauf hin, dass es andere Studien gibt, »die günstige Effekte eines Anleihekaufs der Zentralbank für die Geringverdiener erkennen. Wenn es mit der lockeren Geldpolitik gelingt, die Konjunktur zu stimulieren und mehr Arbeitsplätze zu schaffen, profitieren davon gerade die unteren Schichten … Ärmere Menschen seien auch häufiger Schuldner und profitierten von billigeren Kreditzinsen.«

Mit der hier referierten These von der ungleichheitssteigernden Wirkung der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank hat sich Tilman Weigel in seinem Blog-Beitrag Lässt die EZB die Ungleichheit steigen? auseinandergesetzt und das von ihm gesetzte Fragezeichen ist nicht nur rhetorisch gemeint, sondern es drückt die grundsätzlichen Zweifel aus, die er hat. Seine anfragend daherkommende Argumentation geht so:

»Dass sinkende Zinsen die Aktienmärkte beflügeln, ist eine weitgehend akzeptierte Annahme. Denn weil die EZB Anleihen kauft, schichten Investoren ihr Kapital in Aktien und Immobilien um. Das, so die Argumentation der Kritiker, erhöht die Ungleichheit. Denn Arme besitzen keine Aktien und selbst die Mittelschicht verliert eher Geld als sie gewinnt, denn ihre Ersparnisse stecken oft in verzinslichen Anlagen.
Allerdings erscheint mir der Effekt fast paradox. Umgekehrt würde das ja bedeuten, bei einer stärkeren Nachfrage nach Kapital und damit steigenden Zinsen, müsste die Ungleichheit abnehmen. Eigentlich sollten ja eher die von einer Entwicklung profitieren, die ein Gut anbieten, das knapp ist.
Zumal die höheren Aktienkurse ja vorrübergehend sein dürften. Durch sie sinkt die Rendite der Aktien, gemessen beispielsweise im Kurs-Gewinn-Verhältnis.«

Und noch einen weiteren kritischen Aspekt sieht er:

»Vor allem aber erstaunt mich, dass niemand davon spricht, dass niedrige Zinsen ja zwei Seiten haben. Während die Gläubiger darunter leiden, profitieren die Schuldner. Wer arm ist, zieht also keinen Nutzen aus dem Anstieg der Aktienkurse, wohl aber aus der geringeren Belastung durch Schulden. Und Schulden hat in den unteren Einkommensschichten letztendlich jeder, den die Staatsschulden lasten auf allen, während die Gläubiger eher den mittleren und oberen Einkommensgruppen angehören.«

Seine Vermutung geht dahin, dass zwischen temporären und dauerhaften Effekten unterschieden werden muss, um zu einer genaueren Einschätzung kommen zu können. Hypothesen über Hypothesen. Wie so oft bei sozialwissenschaftlichen Themen mehr Fragezeichen als gesichertes Wissen, was nicht wirklich überraschend ist, vor allem bei derart komplexen Systemen.

Deshalb abschließend – scheinbar – etwas Konkretes hinsichtlich der sozialpolitischen Implikationen der Geldpolitik. Zu Wort gemeldet hat sich Maximilian Zimmerer, Vorstandsmitglied des Versicherungskonzerns Allianz und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat seine Ausführungen unter die kompakte Überschrift gestellt: „Was die EZB tut, schadet der Altersvorsorge“. Da schlägt angesichts der faktischen Bedeutung der privaten Altersvorsorge für das Alterssicherungssystem und der bereits heute in diesem Teilbereich vielfach kritisierten Sicherungslücken das sozialpolitische Herz schneller. Zimmerers Diagnose: „Langfristiges Sparen lohnt kaum noch, und damit entsteht eine große Gefahr für künftige Rentner.“

Das hört sich bedrohlich an – aber vielleicht dient es der Wahrheitsfindung, dass man korrigierend anmerken sollte, dass eine große Gefahr vor allem und erst einmal für das Geschäftsmodell der Versicherer droht bzw. sich diese schon längst an die Oberfläche gearbeitet hat, denn die mit konventionellen Anlagestrategien immer kleiner werdenden Renditen, die sich noch erwirtschaften lassen, fließen ja nun nicht eins zu eins an die sparenden Altersvorsorger, sondern der finanzindustrielle Komplex gibt was davon ab und behält den Rest. Dieses Modell nun wird tatsächlich angesichts des weltweiten Niedrigzinsumfeldes, das schon seit Jahren zu beobachten ist, wie auch aufgrund der gewaltigen Menge an renditesuchende Kapitals immer schwieriger bzw. immer unattraktiver. Also Gefahr droht zuallererst einmal Allianz & Co., dann in einem zweiten Schritt den auf Kapitaldeckung setzenden bzw. auf diese verwiesenen Sparern – und über kurz oder lang dem ganzen System, dessen Legitimationsbasis sich in Auflösung befindet. Allerdings ist aus dieser Perspektive die aktuelle Geldpolitik der EZB nur eine weiterer, verstärkender Impuls in Richtung Abgrund, keineswegs der Auslöser.

Diesseits und jenseits der verständlichen Empörung: Gesetzliche Regelung der Kinderarbeit in Bolivien

Kinderarbeit geht gar nicht. So der völlig richtige Standpunkt aus unserer Sicht. Vor diesem Hintergrund müssen einen solche Schlagzeilen nicht nur irritieren, sondern empören: „Sie schuften für die Reichen. Kinderarbeit in Bolivien“ oder „Legal jobben ab 10“. Boliviens Parlament erlaubt Kinderarbeit ab zehn Jahren. Das klingt bizarr, skandalös – und gleichzeitig muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Regelung nicht zuletzt auf Forderungen von Kindern und Jugendlichen selbst zurückgeht. Was ist da genau los?

»Kinderarbeit ist eine bedrückende soziale Realität in den meisten Ländern dieser Erde, die von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der Vereinten Nationen so redlich wie erfolglos bekämpft wird. Weltweit gibt es nach Schätzungen der ILO etwa 215 Millionen Kinderarbeiter«, so Sebastian Schoepp in seinem Artikel Sie schuften für die Reichen. In Bolivien hat nun das umstrittene Gesetz zur Kinderarbeit die parlamentarischen Hürden genommen, das vorsieht, dass ab August 2015 Jugendliche mit einem Mindestalter von 14 Jahren regulär arbeiten gehen dürfen und die gleichen Rechte wie Erwachsene genießen. »Umstritten sind jedoch die Ausnahmen«, so Jürgen Vogt in seinem Artikel Legal jobben ab 10. Denn:

»Auf Antrag dürfen Kinder zwischen 10 und 14 Jahren, jedoch nur zu ihrem eigenen Nutzen, und Kinder zwischen 12 und 14 Jahren auch zugunsten anderer arbeiten. Die entsprechende Genehmigung muss die zuständige Kinder- und Jugendschutzbehörde erteilen. Dabei soll streng auf die schulische Erziehung geachtet werden.«

Im Vorfeld der Gesetzgebung hat man sich vor allem über die Frage gestritten, ob mit der gesetzlichen Regelung der Kinderarbeit Tür und Tor geöffnet werde oder ob lediglich die bestehenden Verhältnisse auf eine gesetzliche Basis gestellt werden.
In der Region ist Bolivien mit dieser Gesetzgebung Vorreiter – auf dem Papier, denn die Realität sieht nach Angaben von JürgenVogt so aus:

»Nach Angaben der Internationale Arbeitsorganisation ILO arbeiten in Lateinamerika und der Karibik rund 13 Millionen Kinder. 1973 hatte die ILO zwar die Kinderarbeit unter 14 Jahren geächtet, die Wirklichkeit in zahlreichen Mitgliedstaaten sieht jedoch anders aus. Eine Erhebung des bolivianischen Statistikamts im Jahr 2008 ergab, dass bereits knapp 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter von 5 bis 17 Jahren arbeiten. In absoluten Zahlen schätzte die Behörde 850.000 Fälle. Knapp 90 Prozent arbeiten unter prekären Bedingungen im Bergbau und bei Zuckerrohranbau und -ernte. Knapp 80 Prozent bekommen keinen Lohn, sondern gelten lediglich als Mithelfer ihrer Familien.«

Diese Hintergründe muss man kennen, denn mit dem bei uns viel gescholtenen Gesetz – das in weiten Teilen der Berichterstattung reduziert wird auf die zu Recht erst einmal Empörung hervorrufende Aussage „Bolivien erlaubt Kinderarbeit ab 10“ – » wäre Kinderarbeit unter anderem im Bergbau und beim Zuckerrohr, bei der Backsteinherstellung und bei Sammeln von gefährlichen Abfällen ab August 2015 verboten«, wie Vogt ausführt. Jedenfalls auch wieder auf dem Papier.
Unterstützung bekommt die bolivianische Gesetzgebung von den in der Union der arbeitenden Kinder und Jugendlichen Boliviens Unatsbo zusammengeschlossenen Betroffenen. Kinder und Jugendliche haben sie sich in vielen Ländern Lateinamerikas zu gewerkschaftsähnlichen Gruppen zusammengeschlossen, es gibt sogar einen länderübergreifenden Dachverband der Niños, Niñas y Adolescentes Trabajadores (NAT), der „Arbeitenden Jungen, Mädchen und Jugendlichen“. Von denen gibt es eine professionell gestaltete Website. Dort wird die Forderung erhoben, die „Diskriminierung“ der arbeitenden Kinder und Jugendlichen zu beenden »und sie in ihrer Funktion als arbeitende Mitglieder der Gesellschaft zu respektieren, die nicht nur gezwungenermaßen zum Lebensunterhalt der Familie beitragen, sondern sogar Selbstbewusstsein aus ihrer Rolle als Miternährer ziehen«, wie Schoepp anmerkt.

»Das eigentlich Skandalöse ist … nicht das bolivianische Gesetz, sondern die Tatsache, dass Kinderarbeit in Ländern wie Bolivien so alltäglich ist, dass man ihr schon die Gesetze anpasst«, so Schoepp, der zugleich zu wissen meint, wie man das Problem wirklich lösen könnte: »Wer gegen Kinderarbeit ist, muss durch sein Konsumverhalten mithelfen, dass Erwachsene in armen Ländern genug verdienen. Wer gegen Kinderarbeit ist, darf keine Fünf-Euro-T-Shirts kaufen, obwohl er sich faire Preise leisten könnte. Wer gegen Kinderarbeit ist, darf keine Rohstoffe verbrauchen, die von Kindersklaven aus gefährlichen Minen gekratzt werden. Wer gegen Kinderarbeit ist, kann kein Weltwirtschaftssystem gutheißen, das die Länder in einen Wettlauf darum zwingt, wer am billigsten produziert.«

Das nun wieder lässt sich wesentlich einfacher schreiben als in die Tat umsetzen. Mit einer vergleichbaren Problematik haben wir es zu tun, wenn man an die Debatten über die unmenschlichen Arbeitsbedingungen der Näherinnen in Ländern wie beispielsweise Bangladesch denkt. So wurde und wird auch hier argumentiert, die Billigstpreise für die Konsumenten hier bei uns seien nur möglich, weil die Menschen in den produzierenden Ländern ausgebeutet werden zu den immer wieder skandalisierten Bedingungen – man nehme nur die aktuelle Debatte rund um die Billigmodekette „Primark“ als Beispiel: Arbeiter nähen Hilferufe in Kleidung ein, so berichteten Medien, wobei bis heute die Echtheit nicht bestätigt wurde, das betroffene Unternehmen selbst meldete: Primark bezeichnet Hilferufe nach Untersuchung als Fälschung. Es könnte sich auch um eine gelungene Informationsguerilla-Strategie handeln. Aber man kann es drehen und wenden wie man will: Wenn man ein T-Shirt für vier Euro hier bei uns im Laden kauft, dann kann das nur deshalb erfolgen, weil wir es mit extremen Ausbeutungsverhältnissen im globalen Wirtschaftssystem zu tun haben (vgl. dazu den Beitrag von Sascha Klemz „Das System Primark und die globale Ausbeutung“ auf Jungle World). Bei den Protesten gegen Primark und die „Billigmode“ allgemein wird viel auf ethische Aspekte verwiesen, wie auch in dem zitierten Kommentar von Schoepp. Allerdings postuliert Peter Nowak in seinem Beitrag „Ethischer Konsum reicht nicht“ (ebenfalls auf Jungle World), dass bei dieser Debatte die Rolle und die Bedeutung gewerkschaftlicher Organisierung in den Fabriken des globalen Südens ausgeblendet wird, denn nur dort, vor Ort, lassen sich nachhaltige Veränderungen durchsetzen.

Und noch ein zweiter kritischer Punkt der bisherigen Debatte über die „Billigmode“. Die berechtigte Kritik an den Billigstpreisen bei uns und den Voraussetzungen in den Produktionsländern, um diese Preise möglich werden zu lassen, darf nicht zu dem Fehlschluss führen, dass „teurer = besser = ethisch korrekter“ bedeutet. Die aktuelle Berichterstattung über das Gebahren von Premium-Marken spricht hier Bände: Hugo Boss soll in der Türkei und in Kroatien Armutslöhne zahlen, um nur ein Beispiel zu nennen.

Man muss eine Mehrebenendiskussion führen, so schwer das auch ist. Neben der Frage, wie man durch rechtliche Fortschritte und gewerkschaftliche Gegenmacht in den betroffenen Ländern für eine Verbesserung der Bedingungen sorgen kann, sollte auch der Blick gerichtet werden auf die Frage, ob wir nicht wieder einen Teil der globalisierten Textilproduktion zurückholen können – und das auch noch zu ordentlichen Bedingungen. Dass das nicht völlig illusionär ist, mag die Geschihcte der Sina Trinkwalder mit ihrem Unternehmen Manomama verdeutlichen (vgl. dazu Schreck der Wirtschaftsbosse: »Sina Trinkwalder belegt mit ihrer Firma Manomama, dass Stundenlöhne für Näherinnen von mindestens 10 Euro wirtschaftlich tragbar sind.« Und zwar in Augsburg, Deutschland.

Die OECD kritisiert die „unsoziale Wirtschaftspolitik“ in Deutschland und ermutigt zu „Reformen für nachhaltiges Wachstum mit mehr sozialer Teilhabe“

Alle zwei Jahre unternimmt die OECD eine umfassende Analyse der Volkswirtschaften ihrer Mitgliedsländer und veröffentlicht die dann als OECD Wirtschaftsberichte. Jetzt ist die neueste Version für Deutschland veröffentlicht worden (vgl. OECD-Wirtschaftsberichte: Deutschland 2014). Aber die Organisation bleibt nicht nur bei einer Bestandsaufnahme des volkswirtschaftlichen Zustandes, sondern gibt auch Empfehlungen, manche werden von ungebetenen Ratschlägen sprechen: OECD-Wirtschaftsbericht ermutigt Deutschland zu Reformen für nachhaltiges Wachstum mit mehr sozialer Teilhabe, so überschreibt die OECD ihre eigene Pressemitteilung. Aus einer sozialpolitischen Perspektive interessant sind die medialen Reaktionen, was sich bereits in den Headlines bemerkbar macht: OECD kritisiert unsoziale Wirtschaftspolitik in Deutschland oder Zu arm für den Aufschwung – um nur zwei Beispiele aus der Presselandschaft herauszugreifen – das verweist auf sozialpolitisch hoch relevante Aussagen.

David Böcking bringt in seinem Artikel die kritische Dimension der OECD-Analyse für Deutschland auf den Punkt: »Riskante Rentengeschenke, wachsender Niedriglohnsektor, Energiewende auf Kosten der Verbraucher: Im neuen Wirtschaftsbericht der Industrieländerorganisation OECD für Deutschland steckt jede Menge Kritik. Vom Wachstum in der Bundesrepublik müssten mehr Bürger profitieren.«

Und auch hier steht der Arbeitsmarkt im Mittelpunkt der Problemdiagnosen: „Deutschlands Wirtschaft boomt. Doch der Arbeitsmarkt spaltet sich in Privilegierte und Prekäre“, kann man einem Artikel entnehmen, der in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde und der über den neuen OECD-Bericht informiert.

Damit wird explizit ein Problemfeld angesprochen, was seit Jahren beachtet und diskutiert wird – die zunehmende Polarisierung auf dem deutschen Arbeitsmarkt und der immer stärker werdenden, für nicht wenige Menschen lebenslängliche Ausgrenzung von halbwegs normaler Erwerbstätigkeit. Und vor dem Hintergrund der behaupteten Polarisierung ist es dann auch kein Widerspruch, dass wir mit der eben nur scheinbar widersprüchlichen Gleichzeitigkeit einer erheblichen „Verhärtung“ bzw. „Verfestigung“ der Langzeitarbeitslosigkeit sowie eines teilweise eklatanten Fachkräftemangels in ganz bestimmten Berufen bzw. Regionen konfrontiert werden.

Die OECD verschweigt keineswegs die im internationalen Vergleich niedrige Arbeitslosenquote (gemessen an der registrierten Arbeitslosigkeit) und den erfolgreichen Abbau eines Teils der Erwerbslosigkeit in den vergangenen Jahren. Aber dann werden zahlreiche Problemstellen identifiziert:
»Problematisch seien … der stark angewachsene Niedriglohnsektor und der hohe Anteil von Menschen in befristeten Beschäftigungsverhältnissen. Auch habe sich die stark gesunkene Arbeitslosigkeit nicht positiv auf das Armutsrisiko im Lande ausgewirkt. Insgesamt habe die Aufwärtsmobilität von Geringverdienern sogar abgenommen.«

Quelle der Abbildung: OECD (2014)

Die Abbildung verdeutlicht die Besonderheiten der Geringverdiener in Deutschland im Vergleich zum Durchschnitt aller EU 27-Staaten (gemessen an dem jeweiligen Anteil der Geringverdiener an den abhängig Beschäftigten). In Deutschland gibt es in den betrachteten Bereichen immer einen größeren Niedrigverdiener-Anteil an der jeweiligen Gruppe – außer bei den Hochqualifizierten, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt auch in der Hinsicht gut fahren. Aber für die gering Qualifizierten resultiert eine deutlich größere Betroffenheit von Niedriglöhnen als in anderen EU-Staaten.
Die OECD lobt zum einen die vorgesehene Einführung eines Mindestlohns, zum anderen gibt sie einen wichtigen Hinweis für die arbeitsmarktpolitische Debatte bei uns, denn der Bericht fordert Deutschland auf, »die noch immer relativ weit verbreitete Langzeitarbeitslosigkeit zu bekämpfen, indem die Beschäftigungschancen für Betroffene durch gezielte Zuschüsse und Weiterbildungsanreize verbessert werden.«

Auf der Empfehlungsseite der OECD stehen weitere Vorschläge:

»Eine Möglichkeit, das Wachstumspotenzial zu steigern, sieht der Bericht darin, den Faktor Arbeit weniger zu besteuern und die Sozialabgaben, vor allem für Geringverdiener, zu senken. Zum Ausgleich schlägt er vor, die Grundsteuern auf Immobilienbesitz nach aktualisierten Wertansätzen zu erheben und Gewinne aus dem Verkauf fremdgenutzer Immobilien nicht mehr von der Steuer zu befreien. Desweiteren plädiert er dafür, Umverteilungsausgaben für Rentner aus dem allgemeinen Steueraufkommen und nicht über Sozialversicherungsbeiträge zu finanzieren. Diese Maßnahme sei beschäftigungs- und wachstumsfreundlich und könne die Last gleichmäßiger auf alle Steuerzahler verteilen.«

Damit werden wichtige Kontrapunkte zur gegenwärtigen Regierungspolitik gesetzt.

Aber die OECD bleibt einem Teil ihres wirtschaftspolitischen Erbguts treu: Der Forderung nach mehr „Liberalisierung“ bzw. Deregulierung: »Auch Reformen im Dienstleistungssektor können helfen, das Wachstum zu stärken. Schon heute leistet der Sektor in Deutschland den größten Beitrag zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung. Anders als im Verarbeitenden Gewerbe erhöhte sich die Produktivität bei Unternehmensdienstleistungen in den vergangenen zehn Jahren vergleichsweise wenig. Der Bericht regt daher an, die Regulierung in den Netzindustrien, in freien Berufen und in einigen Branchen des Handwerks weiter zu lockern und so zu mehr Wettbewerb beizutragen.«

Jenseits der sozialpolitischen Baustellen in Deutschland, aber inmitten der Frage nach unserer Mit-Verantwortung: Bangladesch, Katar und Indien

Screenshot-Collage Süddeutsche Zeitung, Spiegel Online und Guardian

Immer wieder ist es angebracht, über den nationalen Tellerrand der sozialpolitischen Baustellen hinauszuschauen und den Blick zu weiten. Schauen wir also nach Bangladesch, nach Katar und nach Indien.

Viele werden sich erinnern: Es war die (bisher) größte Katastrophe in der Geschichte der Textilindustrie: 1.130 Menschen starben im April 2013 beim Einsturz einer Fabrik in Bangladesch, 332 Menschen gelten immer noch als vermisst. Es gab mindestens 1.800 Verletzte. Eine kurze Zeit lang wurden die Arbeitsbedingungen der vielen Näherinnen in Bangladesh thematisiert und eine im Ansatz kritische Diskussion über unsere Mit-Verantwortung schaffte es gar auf die Talkshow-Ebene, beispielhaft sei hier erinnert an die Sendung „Billigkleidung aus Bangladesch – sind wir schuld am Tod der Näherinnen?“ von Günther Jauch im ARD-Fernsehen am 26.05.2013 – um dann schnell wieder abgelöst zu werden von anderen Themen und Ereignissen. Immerhin hieß es dann, die betroffenen Menschen und Familien vor Ort in der Textilhölle werden entschädigt und einige Textilkonzerne übten sich nach außen in Nachdenklichkeit. Vor diesem Hintergrund muss dann diese Meldung wieder einmal enttäuschen: »Fast ein Jahr danach warten die Näherinnen immer noch auf Hilfe der Firmen, für die sie geschuftet haben. Doch die schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu«, so kann man es dem Artikel mit der zutreffenden Überschrift „Im Stich gelassen“ entnehmen.

In dem Artikel von Hans Leyendecker und Anne Ruprecht wird beispielhaft die Geschichte der Näherin Jasmin Akther erzählt. Sie »arbeitete in der achtstöckigen Textilfabrik Rana Plaza in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch. Sie nähte Blusen für Deutschland, T-Shirts für England und was sonst noch so alles im Dauer-Akkord produziert werden musste. Immer war „Deadline“. Ihr Monatslohn lag weit unter 50 Dollar, trotz der vielen Überstunden.« Dann kam der Einsturz der Fabrik, in der sie gearbeitet hat. »Jasemin Akther überlebte. Aber sie wurde schwer verletzt, kann kaum noch gehen, nicht mehr arbeiten. Ihre Familie kommt nur schwer über die Runden. Sie hat einen Kredit aufnehmen müssen und muss für diesen Kredit 40 Prozent Zinsen zahlen. Die Näherin wartet auf Hilfe der Unternehmen, für die sie geschuftet hat. Sie wartet auch auf Hilfe deutscher Firmen.«

Was wurde den Menschen nicht alles versprochen, so lange die Journalisten aus aller Welt ihr Blitzlicht auf die Szenerie gerichtet hatten. Das ist nun aber schon lange vorbei.
Großzügige Entschädigungen für die Hinterbliebenen der Toten, volle Bezahlung der medizinischen Kosten, Weiterzahlung von Löhnen und, wenn irgend möglich, sichere Renten wurde den Menschen wie eine nicht erreichbare Wurst vor die Augen gehängt.

Und wie sieht die Bilanz aus?

»Nur die irische Firma Primark hat eine Million Dollar für Soforthilfe auf den Weg gebracht und sich um medizinische Versorgung gekümmert.« Und die anderen? Schätzungsweise 29 Modeunternehmen aus aller Welt haben aus Rana Plaza Waren bezogen. Billigketten wie Walmart (USA) waren darunter. Auch Marken des mittleren Segments wie etwa Benetton (Italien). Auch die drei deutschen Unternehmen, KiK, Adler Mode und NKD waren darunter. Auf Initiative von Gewerkschaften und der Kampagne für saubere Kleidung (CCC) wurden alle Unternehmen Mitte September vergangenen Jahres nach Genf zu Entschädigungsverhandlungen bei der ILO, der Internationalen Arbeitsorganisation der UN, eingeladen. Ganze neun Unternehmen schickten Leute nach Genf. Aus Deutschland kam nur Kik. Die allermeisten Unternehmen blieben den Verhandlungen fern.
Die Unternehmen warten ab, verweisen auf dunkle Sub-Lieferanten.

Der Artikel endet nicht ermutigend: »Die Näherin Jasemin Akther erkennt die KiK-Bluse aus der „Verona Pooth Kollektion 2013“, die in den Trümmern lag, sofort wieder. Sie drückt sie an sich – eine Erinnerung an diesen schrecklichen Tag, den viele da draußen längst vergessen haben.«

Dass internationale Aufmerksamkeit und Protest schnell wieder verpufft und man so weiter machen kann wie vorher – diese Erfahrungen machen nicht nur Näherinnen in Bangladesch, sondern auch die Sklavenarbeiter aus dem Nepal und anderen asiatischen Ländern, die auf den Baustellen für die Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar schuften müssen. So kann man dem Artikel „Erneut Dutzende Tote auf WM-Baustellen“ entnehmen: »Die internationalen Proteste gegen die menschenunwürdigen Bedingungen auf den WM-Baustellen in dem Wüstenland haben nichts bewirkt – es sterben nach wie vor Dutzende ausländischer Arbeiter.« Bereits im September des vergangenen Jahres wurde weltweit über skandalöse Zustände auf den Baustellen in Katar berichtet und man hätte erwarten können, dass sich wenigstens etwas ändert. Nun aber neue Schreckensmeldungen, deren Quelle ein Artikel ist, der im „Guardian“ veröffentlicht wurde: „Qatar World Cup: 185 Nepalese died in 2013 – official records„. Eine erschreckende Bilanz tut sich hier auf:

»According to the documents the total number of verified deaths among workers from Nepal – just one of several countries that supply hundreds of thousands of migrant workers to the gas-rich state – is now at least 382 in two years alone. At least 36 of those deaths were registered in the weeks following the global outcry after the Guardian’s original revelations in September.«

Wie in dem Zitat bereits angedeutet – es war ebenfalls der „Guardian“, der im verhangenen Jahr die öffentliche Wahrnehmung für die unhaltbaren Zustände in Katar überhaupt erst hergestellt hat, vgl. hierzu den Artikel Revealed: Qatar’s World Cup ’slaves‘ vom 25. September 2013.
»Die Gesamtzahl der Opfer, die das umstrittene Großereignis inzwischen gefordert hat, dürfte wesentlich höher liegen. Denn die Regierungsdokumente, die dem „Guardian“ vorliegen, stammen nur aus Nepal. Die Nepalesen stellen aber lediglich ein Sechstel der insgesamt rund zwei Millionen Mann starken Gastarbeiterarmee in Katar – Tote aus weiteren Nationen sind also sehr wahrscheinlich«, so Spiegel Online.

Die Bestandsaufnahme ist ernüchternd: Die katarischen Scheichs »beuten die Gastarbeiter weiterhin systematisch aus, pferchen sie in armselige Unterkünfte und scheren sich nicht um die Sicherheit auf den WM-Baustellen. Und die Fußballfunktionäre setzen ihnen kaum etwas entgegen.« Und genau da liegt der Link zu unserer Mit-Verantwortung, denn natürlich könnten und müssten die nationalen Fußballverbände und unter ihnen besonders die großen und einflussreichen Druck ausüben auf die Funktionäre der Fifa, damit die sich endlich bewegen.

Statt dessen lernen wir eine weitere Lektion, die vor allem für die Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) eine ganz wichtige darstellt: Die Scheidegrenze zwischen konkreter Verbesserung der Lebenslage der Menschen, für die man sich einsetzt, und der Instrumentalisierung durch die, die sich an den Menschen bereichern, ist eine ganz schmale. Das muss CCC gerade von den Textilkonzernen in Bangladesch erfahren und im Fall von Katar erfahren wir:

»Der Chef des WM-Organisationskomitees, Hassan al-Thawadi, verkündete in der vergangenen Woche via „Bild“-Zeitung erste Erfolge. So sei eine Charta für den Arbeitsschutz entwickelt worden, die mit Human Rights Watch und Amnesty International besprochen worden sei. Bei den Organisationen ist das Papier allerdings bislang nicht angekommen. In der „Süddeutschen Zeitung“ dementierten Sprecher beider Organisationen, ein entsprechendes Papier gesehen zu haben.«

Abschließend soll noch über Indien berichtet werden – ein weiteres Beispiel für das, worum es sowohl in Bangladesch wie auch in Qatar letztendlich geht: Sklavenarbeit in „modernen Zeiten“. Und wieder hat das wie in Katar mit einer boomenden Bauwirtschaft zu tun, nur in diesem Fall nicht, um für einige wenige Wochen gigantische Fußball-Arenen in die Wüste zu setzen, damit sich die Weltfußballgemeinde für ein paar Spiele daran ergötzen kann, sondern in Indien geht es um einen generellen Bauboom, der mit dem wirtschaftlichen Wachstum dieses riesigen Schwellenlandes verbunden ist und von diesem vorangetrieben wird.  Ein Bestandteil dieses Baubooms ist eine stetig steigende Nachfrage nach Ziegeln, für deren Produktion Menschen, darunter sogar Kinder, unter sklavenähnlichen Bedingungen eingesetzt werden. So jedenfalls die Erkenntnisse, die man einem Artikel des „Guardian“ entnehmen kann: „Blood bricks: how India’s urban boom is built on slave labour„.  Es handelt sich um einen wirklich beeindruckenden Artikel, den man unbedingt gelesen haben sollte. Man schätzt, dass es landesweit mehr als 150.000 Ziegeleien gibt, in denen etwa 10 Millionen Menschen beschäftigt sind.

Andrew Brady von Union Solidarity International (USI), einer NGO aus Großbritannien, die sich für die Verbesserung der Arbeite- und Lebensbedingungen der in der indischen Ziegelindustrie beschäftigten Menschen engagiert, wird mit einer harten Bewertung zitiert: “It’s modern-day slavery“. Und weiter wird er zitiert mit den Worten: »Entire families of men, women and children are working for a pittance, up to 16 hours a day, in terrible conditions. There are horrific abuses of minimum wage rates and health and safety regulations, and it’s often bonded labour, so they can’t escape.« Ein BBC-Bericht hat Anfang des neuen Jahres sogar vierjährige Kinder entdeckt, die zur Arbeit eingesetzt worden sind.

Und auch hier werden wir – wie so oft – Zeuge der enormen Kluft zwischen Theorie und Praxis:

»New guidelines for multinationals, introduced in 2011 by the United Nations and the Organisation of Economic Cooperation and Development, specify that such companies should have direct responsibility for human rights abuses anywhere in their supply chains. But little is being done to enforce these regulations.«

Zumindest gibt es jetzt eine „Blood Bricks Campaign„, die versucht, ein Stück weit Öffentlichkeit herzustellen. Man sollte das nicht geringschätzen:
»In partnership with Indian human rights group, Prayas, they have been working to organise brick kiln workers into unions, an initiative that has already seen 70% wage rises in some areas.«

Aber die Akteuere sind sich bewusst, dass es mehr internationalen Druck geben muss, damit sich was ändert:

»The campaign comes after the Observer’s recent revelations of horrific labour abuses on Abu Dhabi’s new pleasure island of Saadiyat, where new outposts of the Louvre and Guggenheim museums are under construction. The investigation discovered thousands of workers living in squalid conditions, passports confiscated and trapped until they paid back hefty recruitment fees.«

Und so schließt sich wieder der Kreis zu den anderen Beispielen: „It’s a world-wide issue“, so wird Andrew Brady von Union Solidarity International (USI) zitiert. Und er soll hier auch das Schlusswort bekommen:

“We’re merely using India as the example, but we’ve seen the same abuses with projects in Qatar and Brazil for the World Cup and Olympics – iconic projects built on the back of the blood and sweat of bonded labour. It’s time to put an end to this trade in blood bricks.”