Kinderarbeit geht gar nicht. So der völlig richtige Standpunkt aus unserer Sicht. Vor diesem Hintergrund müssen einen solche Schlagzeilen nicht nur irritieren, sondern empören: „Sie schuften für die Reichen. Kinderarbeit in Bolivien“ oder „Legal jobben ab 10“. Boliviens Parlament erlaubt Kinderarbeit ab zehn Jahren. Das klingt bizarr, skandalös – und gleichzeitig muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Regelung nicht zuletzt auf Forderungen von Kindern und Jugendlichen selbst zurückgeht. Was ist da genau los?
»Kinderarbeit ist eine bedrückende soziale Realität in den meisten Ländern dieser Erde, die von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der Vereinten Nationen so redlich wie erfolglos bekämpft wird. Weltweit gibt es nach Schätzungen der ILO etwa 215 Millionen Kinderarbeiter«, so Sebastian Schoepp in seinem Artikel Sie schuften für die Reichen. In Bolivien hat nun das umstrittene Gesetz zur Kinderarbeit die parlamentarischen Hürden genommen, das vorsieht, dass ab August 2015 Jugendliche mit einem Mindestalter von 14 Jahren regulär arbeiten gehen dürfen und die gleichen Rechte wie Erwachsene genießen. »Umstritten sind jedoch die Ausnahmen«, so Jürgen Vogt in seinem Artikel Legal jobben ab 10. Denn:
»Auf Antrag dürfen Kinder zwischen 10 und 14 Jahren, jedoch nur zu ihrem eigenen Nutzen, und Kinder zwischen 12 und 14 Jahren auch zugunsten anderer arbeiten. Die entsprechende Genehmigung muss die zuständige Kinder- und Jugendschutzbehörde erteilen. Dabei soll streng auf die schulische Erziehung geachtet werden.«
Im Vorfeld der Gesetzgebung hat man sich vor allem über die Frage gestritten, ob mit der gesetzlichen Regelung der Kinderarbeit Tür und Tor geöffnet werde oder ob lediglich die bestehenden Verhältnisse auf eine gesetzliche Basis gestellt werden.
In der Region ist Bolivien mit dieser Gesetzgebung Vorreiter – auf dem Papier, denn die Realität sieht nach Angaben von JürgenVogt so aus:
»Nach Angaben der Internationale Arbeitsorganisation ILO arbeiten in Lateinamerika und der Karibik rund 13 Millionen Kinder. 1973 hatte die ILO zwar die Kinderarbeit unter 14 Jahren geächtet, die Wirklichkeit in zahlreichen Mitgliedstaaten sieht jedoch anders aus. Eine Erhebung des bolivianischen Statistikamts im Jahr 2008 ergab, dass bereits knapp 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter von 5 bis 17 Jahren arbeiten. In absoluten Zahlen schätzte die Behörde 850.000 Fälle. Knapp 90 Prozent arbeiten unter prekären Bedingungen im Bergbau und bei Zuckerrohranbau und -ernte. Knapp 80 Prozent bekommen keinen Lohn, sondern gelten lediglich als Mithelfer ihrer Familien.«
Diese Hintergründe muss man kennen, denn mit dem bei uns viel gescholtenen Gesetz – das in weiten Teilen der Berichterstattung reduziert wird auf die zu Recht erst einmal Empörung hervorrufende Aussage „Bolivien erlaubt Kinderarbeit ab 10“ – » wäre Kinderarbeit unter anderem im Bergbau und beim Zuckerrohr, bei der Backsteinherstellung und bei Sammeln von gefährlichen Abfällen ab August 2015 verboten«, wie Vogt ausführt. Jedenfalls auch wieder auf dem Papier.
Unterstützung bekommt die bolivianische Gesetzgebung von den in der Union der arbeitenden Kinder und Jugendlichen Boliviens Unatsbo zusammengeschlossenen Betroffenen. Kinder und Jugendliche haben sie sich in vielen Ländern Lateinamerikas zu gewerkschaftsähnlichen Gruppen zusammengeschlossen, es gibt sogar einen länderübergreifenden Dachverband der Niños, Niñas y Adolescentes Trabajadores (NAT), der „Arbeitenden Jungen, Mädchen und Jugendlichen“. Von denen gibt es eine professionell gestaltete Website. Dort wird die Forderung erhoben, die „Diskriminierung“ der arbeitenden Kinder und Jugendlichen zu beenden »und sie in ihrer Funktion als arbeitende Mitglieder der Gesellschaft zu respektieren, die nicht nur gezwungenermaßen zum Lebensunterhalt der Familie beitragen, sondern sogar Selbstbewusstsein aus ihrer Rolle als Miternährer ziehen«, wie Schoepp anmerkt.
»Das eigentlich Skandalöse ist … nicht das bolivianische Gesetz, sondern die Tatsache, dass Kinderarbeit in Ländern wie Bolivien so alltäglich ist, dass man ihr schon die Gesetze anpasst«, so Schoepp, der zugleich zu wissen meint, wie man das Problem wirklich lösen könnte: »Wer gegen Kinderarbeit ist, muss durch sein Konsumverhalten mithelfen, dass Erwachsene in armen Ländern genug verdienen. Wer gegen Kinderarbeit ist, darf keine Fünf-Euro-T-Shirts kaufen, obwohl er sich faire Preise leisten könnte. Wer gegen Kinderarbeit ist, darf keine Rohstoffe verbrauchen, die von Kindersklaven aus gefährlichen Minen gekratzt werden. Wer gegen Kinderarbeit ist, kann kein Weltwirtschaftssystem gutheißen, das die Länder in einen Wettlauf darum zwingt, wer am billigsten produziert.«
Das nun wieder lässt sich wesentlich einfacher schreiben als in die Tat umsetzen. Mit einer vergleichbaren Problematik haben wir es zu tun, wenn man an die Debatten über die unmenschlichen Arbeitsbedingungen der Näherinnen in Ländern wie beispielsweise Bangladesch denkt. So wurde und wird auch hier argumentiert, die Billigstpreise für die Konsumenten hier bei uns seien nur möglich, weil die Menschen in den produzierenden Ländern ausgebeutet werden zu den immer wieder skandalisierten Bedingungen – man nehme nur die aktuelle Debatte rund um die Billigmodekette „Primark“ als Beispiel: Arbeiter nähen Hilferufe in Kleidung ein, so berichteten Medien, wobei bis heute die Echtheit nicht bestätigt wurde, das betroffene Unternehmen selbst meldete: Primark bezeichnet Hilferufe nach Untersuchung als Fälschung. Es könnte sich auch um eine gelungene Informationsguerilla-Strategie handeln. Aber man kann es drehen und wenden wie man will: Wenn man ein T-Shirt für vier Euro hier bei uns im Laden kauft, dann kann das nur deshalb erfolgen, weil wir es mit extremen Ausbeutungsverhältnissen im globalen Wirtschaftssystem zu tun haben (vgl. dazu den Beitrag von Sascha Klemz Das System Primark und die globale Ausbeutung). Bei den Protesten gegen Primark und die „Billigmode“ allgemein wird viel auf ethische Aspekte verwiesen, wie auch in dem zitierten Kommentar von Schoepp. Allerdings postuliert Peter Nowak in seinem Beitrag Ethischer Konsum reicht nicht, dass bei dieser Debatte die Rolle und die Bedeutung gewerkschaftlicher Organisierung in den Fabriken des globalen Südens ausgeblendet wird, denn nur dort, vor Ort, lassen sich nachhaltige Veränderungen durchsetzen.
Und noch ein zweiter kritischer Punkt der bisherigen Debatte über die „Billigmode“. Die berechtigte Kritik an den Billigstpreisen bei uns und den Voraussetzungen in den Produktionsländern, um diese Preise möglich werden zu lassen, darf nicht zu dem Fehlschluss führen, dass „teurer = besser = ethisch korrekter“ bedeutet. Die aktuelle Berichterstattung über das Gebahren von Premium-Marken spricht hier Bände: Hugo Boss soll in der Türkei und in Kroatien Armutslöhne zahlen, um nur ein Beispiel zu nennen.
Man muss eine Mehrebenendiskussion führen, so schwer das auch ist. Neben der Frage, wie man durch rechtliche Fortschritte und gewerkschaftliche Gegenmacht in den betroffenen Ländern für eine Verbesserung der Bedingungen sorgen kann, sollte auch der Blick gerichtet werden auf die Frage, ob wir nicht wieder einen Teil der globalisierten Textilproduktion zurückholen können – und das auch noch zu ordentlichen Bedingungen. Dass das nicht völlig illusionär ist, mag die Geschihcte der Sina Trinkwalder mit ihrem Unternehmen Manomama verdeutlichen (vgl. dazu Schreck der Wirtschaftsbosse: »Sina Trinkwalder belegt mit ihrer Firma Manomama, dass Stundenlöhne für Näherinnen von mindestens 10 Euro wirtschaftlich tragbar sind.« Und zwar in Augsburg, Deutschland.