Neuer alter Tarifvertrag für die Leiharbeit – über sozialpartnerschaftlichen Pragmatismus und Mindest-Mindestlohnrhetorik

Nach mehrmonatigen Verhandlungen zwischen den Gewerkschaften und den Verbänden der Leiharbeitsbranche ist die Katze aus dem Sack: „Leiharbeit: Löhne steigen, Abstand zwischen West und Ost sinkt„, so der DGB in seiner Pressemitteilung. Das hört sich ordentlich an. Und von Holger Piening, der stellvertretende Verhandlungsführer auf der Gegenseite, wird der Ausspruch berichtet: „Ich freue mich, dass es gelungen ist, noch vor der Bundestagswahl ein tragfähiges Verhandlungsergebnis zu erzielen“. Die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) verfällt gar in eine wahre Jubelarie, wenn sie von einem „überragenden“ Schritt in der Mindestlohndebatte spricht. Was ist denn hier passiert? Welchen Durchbruch können und dürfen wir feiern für eine Personengruppe, die seit einigen Jahren im Mittelpunkt einer intensiven Debatte über die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt steht und die zuletzt fast schon einen Symbol-Status für fragwürdige Ausformungen des deutschen „Jobwunders“ angenommen hat? Ist jetzt etwa endlich die alte Forderung nach „Equal Pay“, also gleicher Lohn für gleiche Arbeit, in die Wirklichkeit gehoben worden?

Die Tabelle fasst die wichtigsten Ergebnisse des neuen Tarifabschlusses zusammen. Ab dem kommenden Jahr bekommen die Leiharbeiter in drei Schritten mehr Geld, die prozentualen Steigerungsraten liegen in Westdeutschland bei 3,8%, 3,5% und 2,3%. Die Euro-Beträge für die niedrigste Entgeltgruppe in der Leiharbeit markieren zugleich den Mindestlohn für Leiharbeiter – bzw. korrekter formuliert für den einen West- und den anderen Ost-Mindestlohn, wenn denn diese Beträge seitens des Bundesarbeitsministeriums für allgemeinverbindlich erklärt wird, woran aber kein großer Zweifel bestehen kann. Dazu hat sich die amtierende Ministerin sogleich zu Wort gemeldet und das Ergebnis der Tarifparteien auch noch gegen die Oppositionsparteien eingebaut in den gerade auslaufenden Wahlkampf:

»Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) kündigte an, sie wolle die neuen Mindestlöhne umgehend für allgemeinverbindlich erklären, „damit alle Beschäftigten der Branche ab 1. Januar 2014 von dem Aufschlag profitieren können“. Die Einigung habe „eine überragende Bedeutung für die Mindestlohndebatte in Deutschland“. Das Ergebnis zeige auch, dass die Tarifparteien keine Vorgaben der Politik brauchten, um auf vernünftige Lohnhöhen zu kommen, sagte von der Leyen. Sie verwies damit auf Forderungen von SPD, Linken und Grünen nach einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn zwischen 8,50 und 10 Euro.«

„Von Anfang an war es für die DGB-Tarifgemeinschaft Leiharbeit klar, dass keinem Ergebnis zugestimmt wird, das nicht die 8,50 Euro als unterste Entgeltgruppe festschreibt. Damit haben wir zugleich die Lohnuntergrenze für den Branchenmindestlohn in der Leiharbeit festgelegt.“, sagte DGB-Vorstandsmitglied Claus Matecki. Das ist eine durchaus mutige Interpretation des nun vorliegenden Tarifergebnisses, denn schaut man sich die Werte für Ostdeutschland an, dann ist festzuhalten, dass dort  der auf der Forderungsebene für jetzt seitens der Gewerkschaften gleichsam in Stein gemeißelte Betrag von 8,50 Euro tatsächlich erreicht wird – allerdings erst im Juni 2016!
Zugleich ist die mit dem Tarifabschluss auf Jahre festgeschriebene Zementierung einer ungleichen Bezahlung der Leiharbeiter in West und Ost zumindest begründungsbedürftig.

Das wird Ärger geben innerhalb der Gewerkschaften, worüber gleich noch zu sprechen sein wird. Hinter diesem Punkt werden dann auch die anderen erzielten Verbesserungen im Regelwerk verblassen und verschwinden. So weist der DGB darauf hin: Mit dem Abschluss sei es auch gelungen, den Einsatz von Leiharbeitsbeschäftigten als Streikbrecher zu unterbinden. Und weiter: »Geändert wurden die missbrauchsanfälligen Entgeltgruppenbeschreibungen in den untersten Entgeltgruppen EG 1-4. Leiharbeitsbeschäftigte, die z.B. als VerkäuferInnen im Einzelhandel eingesetzt sind, können nun nicht mehr grundsätzlich in EG 1 eingruppiert werden. FacharbeiterInnen haben durch die neuen Beschreibungen die Möglichkeit, höher gruppiert zu werden.«

Aber zurück zu den Hinweisen auf den drohenden Ärger innerhalb des gewerkschaftlichen Lagers. Die Kritiker haben sich bereits zu Wort gemeldet: Der Gewerkschaftsbund würde durch die Verlängerung der Tarifverträge für Leiharbeiter weiter den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ unterlaufen, so der Vorwurf von Daniel Behruzi in seinem Artikel „Dumping dank DGB„. Das ist starker Tobak. Wie begründet er seinen Vorwurf mit Blick auf den aktuellen Tarifabschluss?

»Den Unternehmern bleibt damit … auf Jahre hinaus die Möglichkeit, reguläre Tarifverträge zu unterlaufen. Ohne eine Neuauflage des DGB-Vertrags wäre das laut Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) nicht mehr möglich gewesen … Die Schlechterstellung von Leiharbeitern gegenüber den Stammbeschäftigten wird mit dem DGB-Kontrakt zementiert. Dabei sieht das AÜG eigentlich gleiche Bezahlung (Equal Pay) vor – wenn dem kein Tarifvertrag entgegensteht. Da die Vereinbarungen der »christlichen Gewerkschaften« von den Gerichten längst für illegal erklärt wurden, ist es nun allein der DGB-Tarif, der Equal Pay verhindert.«

Hier wird eine offene Wunde innerhalb des Gewerkschaftslagers angesprochen – denn in den vergangenen Monaten hatten sich nicht wenige Gewerkschaftsmitglieder und -funktionäre für einen Ausstieg aus dem Tarifvertrag ausgesprochen, um den „Equal Pay“-Mechanismus des Gesetzes auszulösen. So wurde im Mai dieses Jahres unter der Überschrift „Gewerkschafter gegen Leiharbeitstarifvertrag“ berichtet: »In einem Offenen Brief fordern Sekretäre, Basisaktivisten und ganze Betriebsratsgremien, die Vorstände des DGB und seiner Einzelgewerkschaften auf, den Tarifvertrag für die Leiharbeitsbranche einfach auslaufen zu lassen.« Der hier angesprochene Offene Brief „Equal Pay durchsetzen statt Lohndumping tarifieren – Nein zum DGB Tarifvertrag in der Zeitarbeit!“ datiert vom 11. April 2013. Darin findet man u.a. die folgenden Ausführungen:

»Wir sind gemeinsam mit zahlreichen Arbeitsrechtler/innen der Überzeugung, dass die Vorteile einer ersatzlosen Kündigung angesichts des Equal-Pay-Grundsatzes im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz gegenüber möglichen und angeblichen Risiken deutlich überwiegen. Eine ersatzlose Kündigung des Tarifvertrags ermöglicht die Durchsetzung einer gleichen Bezahlung von Leiharbeiter/innen. Eine Neuauflage des Tarifvertrags hingegen zementiert Lohndumping durch die Leiharbeit und beschädigt unsere gewerkschaftliche Glaubwürdigkeit nachhaltig.«

Das hört sich im Lichte der nun bekannt gewordenen tarifvertraglichen Fortführung nach einer großen verlorenen Gelegenheit an. Das Hauptargument der Kritiker lautet ja, dass die Gewerkschaften nur einen tarifvertragslosen Zustand herbeiführen müssten, damit die im AÜG normierte Regelung des „Equal Pay“ greifen kann und muss. An dieser Stelle darf die Erinnerung erlaubt sein, dass die DGB-Gewerkschaften bei der umfassenden Deregulierung der Leiharbeit im Gefolge der rot-grünen Agenda 2010-Politik ihren Tarifabschluss zur Leiharbeit damit gerechtfertigt haben, dass sie damals vor dem Problem standen, »dass ihnen die Arbeitgeber der Branche immer drohen konnten (und teilweise haben sie es auch praktiziert), statt mit ihnen mit den so genannten „christlichen Gewerkschaften“, einer wundersamen Truppe „gelber“ Nicht-Gewerkschaften, abzuschließen, die bereit waren, auch unterirdische Vergütungsbedingungen zu akzeptieren«, wie ich erst vor kurzem in einem Blog-Beitrag auf dieser Seite angemerkt habe. Nachdem das Bundesarbeitsgericht diese ominösen „Tarife“ 2010 wegen der fehlenden Tariffähigkeit für unwirksam erklärte, haben die „christlichen Gewerkschaften“ das Tarifgeschäft aufgegeben.

Was kann gegen die kritische Argumentation, dass mit einer Fortführung der tarifvertraglichen Regelung eine einmalige Chance vertan wird, zu einer „Equal Pay“-Regelung zu kommen, ins Feld geführt werden? Unter der Überschrift „Tarifverträge Leiharbeit – überflüssig oder notwendig?“ findet man auf der Seite der IG Metall die folgenden drei Haupt-Argumente für einen Tarifvertrag:

»Tarifverträge schaffen Klarheit: Das Gesetz beschreibt nicht, wie Equal Pay im Betrieb funktionieren soll. Für Beschäftigte wäre nicht transparent, welche Ansprüche sie haben. Das können Arbeitgeber ausnutzen. Leiharbeitnehmer müssten unter Umständen bei jedem Einsatz ihre Ansprüche selbst ermitteln, geltend machen und notfalls vor Gericht einklagen. Im Tarifvertrag ist alles klar geregelt. Er schafft Rechtssicherheit.«

»Im Gesetz gilt das Equal-Pay-Gebot nicht für Zeiten, in denen Leihbeschäftigte nicht in Einsatzbetriebe entliehen sind. Anders als im Tarifvertrag ist dazu im Gesetz nichts geregelt.»

»Der Mindestlohn in der Leiharbeit basiert auf Tarifverträgen. Der Gesetzgeber hat den Tariflohn als Lohnuntergrenze in der Branche anerkannt. Daran müssen sich auch Verleihfirmen etwa mit Sitz in Polen halten. Ohne Tarifverträge könnten sie ihre Arbeitskräfte zu den niedrigeren polnischen Löhnen nach Deutschland schicken.«

An anderer Stelle hört man dann immer wieder auch noch den Hinweis, dass ja bei abgelaufenen Tarifverträgen eine Nachwirkung der Tarifverträge gelten würde und die betroffenen Arbeitnehmer dann unter den bestehenden schlechten Bedingungen weiter arbeiten müssen. Diese Nachwirkungsthese wird allerdings von den Kritikern mit Blick auf die gesetzliche Normierung des „Equal Pay“ bei fehlendem Tarifvertrag bestritten – eine Frage, deren letztendliche Beantwortung in den Händen von Arbeitsrechtlern liegen muss.

Auch wenn man ein Befürworter einer pragmatischen Vorgehensweise ist, dann muss zumindest die lange Laufzeit, die nun vereinbart wurde, verwundern. Hier wird tatsächlich auf Jahre hinweg ein tarifliche Eigenwelt für die Leiharbeit zementiert.

Eine der größten Gefahren für die Gewerkschaften wird sein, dass sie am Beispiel dieses neuen Tarifabschlusses vorgeführt werden hinsichtlich ihrer „Mindest-Mindestlohnrhetorik“, die seit längerem immer auf die 8,50 Euro fokussiert war und ist und nachdem dieser Betrag immerhin Beschlusslage der Gewerkschaften darstellt, auch gut abgesichert im Binnengefüge der Gewerkschaften. In der Praxis geht es aber offensichtlich sehr wohl, hiervon zumindest für einen langen Übergangszeitraum abzuweichen.

Dem einen oder der anderen könnte hier die These in den Kopf kommen, da waren ja sogar die Friseure, von denen nun wirklich nicht wenige Betriebe Probleme mit einem halbwegs akzeptablen Mindestlohn haben, schneller und mutiger. Allerdings kann man die auch in der Tabelle ausgewiesenen Beträge natürlich nicht eins zu eins vergleichen mit den angestrebten Mindestlohnsätzen bei den Friseuren, denn bei denen kommen dann zwar auch noch die Arbeitgeberkosten dazu, aber bei der Leiharbeit tritt als weitere Kostenkomponente der Betrag dazu, der an die Leiharbeitsfirma fließt. Deshalb muss der entleihende Betrieb ja auch kostenseitig einen Betrag kalkulieren, der im Schnitt mindestens das Doppelte dessen beträgt, was dem einzelnen Leiharbeiter am Ende der Nahrungskette zugestanden wird. Und nicht nur das: In einigen Branchen, allen voran der Metall- und Elektroindustrie, wurden ja auch tarifvertraglich „Branchenzuschläge“ vereinbart, die den Leiharbeiter nach längerer Beschäftigungsdauer in die Nähe der Vergütung der Stammbelegschaft in seinem bzw. ihren Tätigkeitsfeld führt („natürlich“ ohne die sonstigen Zusatzleistungen, die die Stammbelegschaft oftmals noch beziehen kann). Eine deutlich stärkere Anhebung der Vergütungssätze für die Leiharbeit hätte diese Beschäftigungsform kostenseitig dann sicher in einer zunehmenden Zahl von Fällen den betriebswirtschaftlichen Relevanzboden entzogen (was zugleich ein explizites Ziel ist eines Teils der Kritiker an der Leiharbeit generell). Und schon wären wir mittendrin in einer notwendigerweise höchst komplexen Tiefenanalyse der unterschiedlichen Aufgaben der Leiharbeit und der Beschäftigung von Leiharbeitern, auch und gerade mit Blick auf die Stammbelegschaften und deren Eigeninteressen. Das würde den Rahmen dieses Blog-Beitrags sprengen, aber darauf hinweisen sollte man schon.

Sozialpolitische (Nicht-)Themen eingeklemmt „zwischen Plätscherparty und brodelnder Unruhe“ im bedrohten Paradies. Anmerkungen zum Bundestagswahlkampf

Die neue Ausgabe des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL macht auf mit einer heftigen Breitseite gegen die (vermutete) Rekordzahl an Nichtwählern, die man am kommenden Sonntag bei der Bundestagswahl erwartet: „Die Schamlosen“, so ist die Titelgeschichte der Hamburger Meinungsmacher überschrieben und darunter finden wir die knackige Summary: „Nichtwählen ist salonfähig geworden. Schuld daran sind Intellektuelle und Prominente, die ihre teils politikverachtende Haltung über alle Kanäle verbreiten. Sie schaden damit der Demokratie“. Die Vorwürfe werden ohne Zurückhaltung ausgebreitet: »Die neuen Nichtwähler kennen keine Scham, sie tragen ihr Nichtwählertum wie eine Monstranz vor sich her … So ist die Politik- und Parteienverachtung bis in die höheren Etagen der deutschen Gesellschaft vorgedrungen, ventiliert und absolutiert von ein paar Fernsehintellektuellen, aber auch von einer wachsenden Zahl an weniger prominenten Aktivisten. Die neuen Nichtwähler trifft man inzwischen überall, in Zahnarztpraxen, an Stammtischen, in der Berliner Künstlerszene oder im Internet« (S. 22/23). Als Kronzeugen zitiert der SPIEGEL den Philosophen Peter Sloterdijk („Bisher hieß, politisch vernünftig sein, das geringere Übel zu wählen. Doch was tun, wenn ich nicht mehr weiß, wo das geringere Übel liegt?“) und seinen Fernseh-Kollegen Richard David Precht (es handele sich „um die vermutlich belangloseste Wahl in der Geschichte der Bundesrepublik“ sowie: „Zum Bekenntnis zu einer Partei fehlt mir nicht der Mut, sondern die Möglichkeit der Identifikation“). Bei der Vorführung der Angeklagten darf natürlich auch Gabor Steingart, der Herausgeber des Handelsblatts, nicht fehlen, der sich schon 2009 mit dem Buch „Die Machtfrage: Ansichten eines Nichtwählers“ auf dem Markt der Meinungen positioniert hat und der das Nicht-Wählen als eine Art „Notwehrmaßnahme“ stilisiert. Sloterdijk nennt die Bundesrepublik eine „Lethargokratie“, der Wirtschaftswissenschaftler Max Otte sieht den Staat in Richtung „Plutokratie“ driften, also eine Herrschaft der Reichen.

Ob das nun alles wirklich so unverantwortliche und zu verurteilende Positionen sind oder nicht – an dieser Stelle soll es um einen anderen Aspekt gehen, der ebenfalls in der neuen SPIEGEL-Titelgeschichte angesprochen wird: Zum einen um die Frage nach den sozialpolitischen Themen des Bundestagswahlkampfs sowie der Frage nach hier erkennbaren Unterschieden zwischen den Parteien und zum anderen der Hinweis darauf, dass Arbeitslose, Arme und andere Abgehängte in einem doppelten Sinne ausgeschlossen werden, zum einen, weil sie sich nur sehr unterdurchschnittlich als Wähler einbringen (was die Parteien wissen) und zum anderen, weil es in der wahlentscheidenden „Mitte“ eine zunehmende Distanzierung von Aspekten des sozialen Ausgleichs, geschweige denn des Versuchs der Herstellung von sozialer „Gerechtigkeit“ gibt, so zumindest die These, mit der man immer wieder auch aus der Wahlforschung konfrontiert wird.

Doch zuerst der Blick auf die Unterschiede zwischen den Parteien, denn eine der zentralen Behauptungen der Apologeten der bewussten Nichtwählerschaft ist die von der zunehmenden Nicht-Unterscheidbarkeit der Parteien. Precht spricht vom „Kinderkrempel-Wahlkampf“ und beklagt, es gebe nur noch eine „Mega-Partei“. Hier hält der SPIEGEL dagegen – interessanterweise vor allem mit Beispielen aus dem Formenkreis der sozialpolitischen Themenrelevanz:

»Hätten Precht, Sloterdijk und Kollegen zwischen ihren Auftritten auch nur kurz durch die Wahlprogramme geblättert, sie hätten die Unterschiede nicht übersehen können. Dann wüssten sie, dass SPD und Grüne eine völlig andere Steuerpolitik vertreten als Union und FDP. Dass es einen Unterschied macht, ob die bisherige Krankenversicherung in eine Bürgerversicherung umgewandelt wird oder nicht. Dass die Positionen zum Ehegattensplitting, zum Adoptionsrecht für homosexuelle Paare oder zur Kinderbetreuung weit auseinandergehen. Dass auch die Frage, wer für die Schulden der Länder Südeuropas aufkommen soll, sehr unterschiedlich beantwortet wird. Doch all dies übersehen die Propagandisten des Nichtwählens. Es würde die These zerstören, wonach ohnehin alles eins ist« (S. 24).

So richtig das sein mag – dennoch beschleicht gerade den sozialpolitisch interessierten Beobachter der Eindruck, dass die Themen, mit denen die Oppositionsparteien SPD, Grüne und die Linken derzeit im Bundestagswahlkampf antreten, beispielsweise Mindestlohn, Bürgerversicherung, Pflege oder auch Arbeitsmarktfragen generell, wie an einer Teflonwand abprallen – und das nicht nur an der Bundeskanzlerin Merkel, sondern auch an vielen Wählern.

Nils Minkmar hat die hier angedeutete Grundsatzfrage in einem lesenswerten Beitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ zum Thema gemacht: „Auf Doktor Merkels Couch„, so hat er seinen Artikel überschrieben und er fragt sich: »Sind wir Wähler wirklich so schwach, so ausgebrannt, so depressiv, dass man uns eine Therapie verordnet? Statt uns mit den wahren Problemen zu belästigen? Ein Plädoyer für mehr Streit, mehr Ernst, mehr Politik«.

Er legt den Finger auf einige offene Wunden: »Der Werbespot der CDU zum Bundestagswahlkampf 2013 wird in die Museen eingehen als das Leitfossil unserer Tage … noch brisanter ist, was nicht gezeigt wird. Wir sehen das Land nicht, über dessen Zukunft am 22. September entschieden wird. Wir erfahren nichts davon, wie es in vier Jahren aussehen soll, wie die Menschen sich entwickeln könnten, wie man dann hier lebt. Kein unnützes Wissen, keine beschwerenden Fakten, nur der gemeinsame Moment zählt.« Und überaus passend zur heutigen Landtagswahl in Bayern (während dieser Blog-Beitrag entsteht, laufen die ersten Hochrechnungen über die Ticker, die der CSU die absolute Mehrheit der Mandate in Aussicht stellen): »Dasselbe Muster auch bei dem Film, mit dem Horst Seehofer für die CSU wirbt: Beruhigende Worte, Nähe, eine heimelige Kulisse. Bilder, Musik, alles vom Feinsten. Das größte politische Irrlicht des Landes wird wie ein Leuchtturm inszeniert, ein reflektierter und reflektierender Landesvater. Die wahre Botschaft transportiert sich über das vegetative Nervensystem: Nicht mal mit einer Daunenfeder werdet ihr belastet. Wir schultern eure Last.«

Nun könnte man – durchaus naheliegend – auf den Gedanken kommen, dass das vor allem was damit zu tun hat, dass es zwar einer kleinen Gruppe schlecht oder gar noch schlechter geht, dass aber die große Mehrheit, vor allem die, die an die Wahlurnen marschieren, gut oder gar besser geht, dass man die tolle Lage, in der sich unser Land befindet, genießen möchte. Dann wäre das Setzen der Opposition auf soziale Fragen nicht nur ein Fehlgriff, sondern in dieser Logik würde es sich gegen sie wenden, bekommen sie dann doch den Status einer „Spaßbremse“ oder eines „Quälgeistes“ zugeschrieben – und wer wählt die schon gerne.

Interessanterweise vertritt Nils Minkmar in seinem Beitrag eine ganz andere These. Sein Schlüsselsatz lautet: »Dass das Land sich derart ruhebedürftig fühlt, weist darauf hin, dass große Unruhe herrscht.« Das ist eine begründungsbedürftige These und er erläutert sie uns:

»Es verhält sich immer so: In stabilen Verhältnissen wächst der Mut, etwas zu verändern, in instabilen klammern sich alle an das, was ist. In Zeiten mit echtem Wachstum, einer voll und gut beschäftigten Bevölkerung mit geregelten Arbeitszeiten, etwa den frühen siebziger Jahren, war der Wunsch nach Veränderung verbreitet. Fortschritt war damals ein gängiger Begriff, Kritik war zugleich eine Tugend und eine Praxis: Kritik am Arbeitsplatz, an den bestehenden Verhältnissen, an den gesellschaftlichen Rollenverteilungen, am Geschlechterverhältnis. Heute ist das nicht mehr so. Die komplette Umwälzung aller Branchen durch die Digitalisierung, das Aufblühen von privaten Internetfirmen und staatlichen Überwachungsdiensten, das Wachstum der anderen, außereuropäischen Gesellschaften, das alles inspiriert nicht zu großen Veränderungen, es schüchtert ein. Kritik ist völlig aus der Mode, Nostalgie nach dem eben vergangenen Augenblick ist die nationale Grundstimmung. Heute gilt als clever, wer jene gut findet, die schon ganz oben sind.«

Minkmar bezieht sich im weiteren Gang seiner Argumentation auf Befunde aus der Wahl- bzw. besser Wählerforschung des von Stephan Grünewald geleiteten Kölner Rheingold-Instituts. Dieses Institut arbeitet mit einem besonders interessanten Ansatz: Das Institut legte für eine neue Studie 52 Wähler in zweistündigen psychologischen Tiefeninterviews und Gruppendiskussionen sinnbildlich auf die Couch. Auf dieser qualitativen Basis erfolgte anschließend eine quantifizierende Befragung von 1.019 Wählern, um zu repräsentativen Ergebnissen zu kommen.

Herausgekommen ist die spannende Studie „Bundestagswahl 2013: Das bedrohte Paradies. Deutschland zwischen Plätscher-Party und brodelnder Unruhe“. Die Meinungsforscher stützen die These von Minkmar bzw. er hat seine von diesen Befunden leiten lassen: »Was tut sich unter der scheinbar so ruhiggestellten Oberfläche? rheingold hat die Wähler auf die Couch gelegt und die Stimmung im Lande ausgelotet. Das Ergebnis ist überraschend und alles andere als beruhigend: Denn draußen im Land ist längst nicht alles „heile Welt“, ruht der See nicht still. Unter der Decke brodelt es, das Paradies Deutschland scheint nach Ansicht vieler Bürger bedroht, das Schreckgespenst Krise führt zu erstaunlichen Bannungsformen und besorgniserregenden Ressentiments.«

Das muss man sich genauer anschauen. In ihrer Pressemitteilung zur neuen Studie finden wir die Haupterkenntnisse der Meinungsforscher in sechs prägnanten Thesen aufbereitet, die hier – auch aufgrund der prägnanten Ausformulierung – ausführlicher zitiert und kommentiert werden sollen:

1. Der politische Aufbruch findet nicht statt: Die Sehnsucht nach der permanenten Gegenwart
»Der Wahlkampf wird wie ein See erlebt, der still in sich ruht und in dem man allenfalls ein leises Plätschern vernimmt. Zukunftsvisionen, politische Positionen oder streitbare Themen werden von den meisten Wählern nicht artikuliert. Der Wunsch nach Stabilität und Besitzstandswahrung ist übergreifend und eint derzeit die politischen „Lager“: „Am besten alles so lassen, wie es ist“, lautet die Losung.« Insofern könnte man formulieren, dass die vielkritisierte Inhaltslosigkeit des Wahlkampfs eigentlich nur der konsequente Ausdruck des mehrheitlichen Wählerwillens darstellt. Die Risiken, die mit einem wirklichen Wandel und Aufbruch verbunden sind, werden durchweg von den Wählern gescheut, so eine der Schlussfolgerungen der Meinungsforscher. Der Blick auf die Zustände in den benachbarten Ländern, denen es wesentlich schlechter geht, lähmt die Wähler hier. »Die Stimmung im Lande lässt sich als Plätscher-Party beschreiben: die Versorgung soll gewährleistet sein, die kleinen Freuden des Alltags sollen genossen werden. Auf die große Sause wird jedoch verzichtet: Man schaltet im Alltag auf Autopilot: alles soll seinen gewohnten Gang gehen.«

Das heißt aber nicht, dass es keine Probleme geben würde. »… jenseits der deutschen Plätscher-Party-Meile lauert ein Minenfeld. Es haben sich so viele ungelöste und unfassbare Probleme angestaut, dass jeder, der sich in dieses Terrain wagt, zum Scheitern verurteilt ist. Und so trauen viele Wähler der großen Politik und den großen Parteien auch nicht mehr die großen Lösungen zu. Stuttgart 21, der Berliner Flughafen, aber auch die vielen gekippten Doktorarbeiten gelten als Beleg, dass die großen Projekte nicht mehr umgesetzt werden können. So „doktert“ man nur an den kleinen Problemen rum oder richtet sich darin ein, besser gar nichts zu tun.«

Dann kommt eine auf den ersten Blick irritierende These der Meinungsforscher:

2. Viele SPD-Wähler hoffen insgeheim auf einen Fortbestand der Regierung Merkel
»Viele Wähler immunisieren sich gegen die Krisengefahr, indem sie sich mehr und mehr in ihren Alltag zurückziehen, ihre privaten Interessen pflegen und sich von der undurchschaubar gewordenen Welt der Politik abkapseln.« Das scheint mir generell ein wichtiger Befund zu sein, denn dieses Verhalten trifft besonders zu auf die Angehörigen der Baby-Bommer-Generation, also derjenigen, die heute an vielen Schaltstellen unserer Gesellschaft sitzen und die das besonders konturieren, was als „Mitte“ im Fokus der Parteien steht. Das, was generell gilt, wächst sich nach Auffassung der Meinungsforscher zu einem besonderen Problem für die SPD aus: »Diese Teilnahmslosigkeit in Sachen Politik scheint bei vielen SPD-Wählern noch stärker ausgeprägt zu sein. Sie glauben nicht an den Wechsel. Da der Ausgang der Wahl für sie schon klar zu sein scheint, erscheint der Gang zur Urne als rein formaler Akt.« es wird darauf hingewiesen, dass es auffällig sei, wie oft Frau Merkel auch von den SPD-Wählern in den Tiefeninterviews verteidigt wird. Und dann kommt eine Schlussfolgerung über das Verhalten der SPD-Wähler, die der Sozialdemokratie gar nicht gefallen kann und wird: »Ihr seelischer Konflikt, einerseits treu zur SPD zu stehen, aber andererseits weiter die Merkelsche Konstanz zu wollen, werden sie lösen, indem sie letztlich nicht zur Wahl gehen.«

Die dann folgende These schließt an die vorangehende nahtlos an und verstärkt diese:

3. Der wehrhafte Schutzengel Angela Merkel garantiert besser als der Wackelkandidat Peer Steinbrück den stabilen Versorgungsrahmen
Merkel steht gerade nicht für hektischen Aktivismus oder mutige Reformen, sondern für Ruhe und Gelassenheit, sie wird wahrgenommen als „Fels in der Brandung“. Sie ist hineingewachsen in die Rolle einer „versorgenden Übermutter“, ihr wird „Überparteilichkeit“ zugeschrieben. Die gleichsam präsidiale Rolle wird im Wahlkampf durch die eindimensionale Personalisierung auf die Kanzlerin konsequent abgebildet. Peer Steinbrück hingegen »wirkt … wie ein Schatten seiner selbst: Unberechenbar, von parteitaktischen Zwängen gegängelt, täppisch und egoistisch«, so die Befunde der Meinungsforscher. Er steht für »riskante Alleingänge mit ungewissem Ausgang«. Dadurch bedroht er die deutsche Plätscher-Party-Stimmung und ihm fehlt die der Kanzlerin zugeschriebene „Mütterlichkeit“.

Soweit, so bekannt, könnte man an dieser Stelle notieren, wobei sich die hier nicht weiter zu verfolgende Frage aufdrängt, was davon Produkt einer bewusst-unbewussten Steuerung durch die mehrheitliche Medienberichterstattung ist und weniger auf Tatsachen basiert. Hierzu nur ein Hinweis auf eine neue Studie, die von der Otto-Brenner-Stiftung der IG Metall veröffentlicht wurde: „Bei BILD im Angebot: Eine starke Kanzlerin und ihr schwacher Partner SPD. Springers Boulevardmedien im Bundestagswahlkampf 2013 – Eine Zwischenbilanz„. Gegen einen Lagerwahlkampf, für eine Große Koalition und gegen eine rot- grüne Regierung haben sich die Boulevardblätter BILD und BamS im Bundestagswahlkampf 2013 positioniert, so heißt es in der Zwischenbilanz der Medienstudie der Otto Brenner Stiftung, die von Wolfgang Storz und Hans-Jürgen Arlt erarbeitet wird. Die Befunde in dieser Studie stützen die Ableitungen der Meinungsforscher von Rheingold: »Merkel werde als große Führungsfigur gehegt und gepflegt, unterbrochen von gelegentlichen freundlichen Ermahnungen an ihre Adresse. Diese dauerhafte Aufwartung und die konsequente Personalisierung aller politischen Ereignisse mache Merkel für das BILD- und BamS-Publikum allgegenwärtig. Steinbrück komme nur auf den ersten Blick quantitativ und inhaltlich ordentlich weg: Er werde oft in Zusammenhang mit peinlichen und nebensächlichen Themen gebracht und stets schwinge die Botschaft mit, der Kandidat sei in erster Linie ein ebenso aussichtslos wie verzweifelt kämpfendes Opfer seiner Partei und seiner selbst.«

Zurück zur Rheingold-Studie – und jetzt betreten wir sozialpolitisch hoch relevantes Terrain:

4. Der Wunsch nach einem „gerechten Deutschland“ – wachsende Ressentiments unter der Oberfläche 
Parteiübergreifend geben 81 % der Wähler an, dass soziale Gerechtigkeit das primäre Ziel der Bundesregierung sein sollte. Das ist doch eigentlich ein vielversprechender Wert. Doch allgemein für „soziale Gerechtigkeit“ zu sein, ist das eine. Das andere ist der folgende Befund, der hier besonders herausgestellt werden muss:

»Es gibt aber auch eine wachsende Gruppierung, die bereit ist, das Paradies Deutschland aktiv zu schützen. Der Status quo soll gegen all die verteidigt werden, die die eigene Moral nicht teilen. In den Interviews oder Gruppendiskussionen wehren sie sich gegen die vermeintlichen „Denkverbote und Tabus in der offiziellen Politik“. Mit Leidenschaft und Vehemenz zeigen sie auf, durch welche Menschen und Machenschaften sie „das kränkelnde System Deutschland“ von innen und außen bedroht sehen. In einer Aggressivität, die in den letzten 25 Jahren in rheingold-Studien noch nicht beobachtet wurde, wird angeprangert, dass „das eigene Geld im Süden versickert“, dass „Zuwanderer“ und „soziale Randgruppen“ „Geld von Vater Staat geschenkt bekommen“. Man grenzt sich pauschal von den „Harzern oder Sozialschmarotzern im eigenen Land“ ab, die nicht bereit sind, selber zu arbeiten.«

Und auch die nächste These hat zu tun mit Sozialpolitik, die ja auch immer Verteilungspolitik ist:

5. Die FDP wird über 5 % kommen, weil sie im Windschatten der CDU den Verteilungskampf und das Leistungsprinzip legitimert
Die FDP wollen insgeheim auch viele CDU-Sympathisanten an der Seite Merkels sehen. Denn die FDP artikuliert die CDU-nahen Forderungen nach einem individuellen Leistungsprinzip oder Steuererleichterungen, die von Angela Merkel nicht offen vertreten werden, so die Erkenntnisse der Meinungsforscher. Von daher werden sich schon genügend „Funktional-Wähler“ finden, um die FDP über die 5%-Hürde zu hieven, zumindest bundesweit.

Und wie sieht es aus mit den Grünen, die mal eine Zeit lang bei über 20% in den Umfragen lagen?

6. Die Grünen – zwischen Nachhaltigkeitsverfechtern und moralisierender Spaßbremse

Die Grünen greifen die Konsolidierungswünsche vieler Wähler auf, weil sie ein bewahrendes und die Natur konservierendes Versprechen haben. Bei der Stammwählerschaft gibt es Entwarnung für die Grünen, denn: »Vor allem in ihrer Kernklientel genießen sie eine Art Wahlabo, weil sie versprechen, trotz eigenem Wohlstand und eigenem Konsum ein gutes (Umwelt-)Gewissen haben zu können. Sogar die vorgeschlagenen Steuerhöhungen werden von vielen Grünwählern akzeptiert, weil sie einen Art Ablasshandel im Hinblick auf die eigenen Konsumsünden darstellen: durch das persönliche Steueropfer wird den Ansprüchen der Gemeinschaft Genüge getan.«

Es gibt allerdings eine gefährliche Entwicklung, die auch den gegenwärtig beobachtbaren Einbruch in den Meinungsumfragen mit erklären kann (sicher neben der Tatsache, dass ein Teil der Grünen-Wähler (wieder) zur SPD wechselt): »In ihrer sattsamen Etabliertheit mutieren sie in den Augen vieler Wähler mehr und mehr zu einer Spaßbremse in zweifacher Hinsicht. Einerseits verderben sie die Stimmung auf der deutschen Plätscher-Party durch ihre Forderungen nach einer Steuererhöhung … Andererseits wandelt sich ihr fröhliches Maßhalten zu einem verbissenen Maßregeln. Mit Rauch- und Genussverboten, mit Tempolimits und Gemüsegeboten beleben sie deutsche Kontrollzwänge, die der menschlichen Natur zuwiderlaufen.« Insgesamt wird den Grünen zunehmend ein „moralinsaurer Beigeschmack“ zugeschrieben, das kann sich noch mal bitter rächen.
Kommen wir abschließend wieder zurück zur neuen SPIEGEL-Titelgeschichte über die Nicht-Wähler. Ergänzend dazu findet sich in dem Heft 38/2013 ein weiterer Artikel, der aus einer weiteren Perspektive unterstreicht, warum es immer schwieriger wird, soziale Themen und hierunter vor allem Armut und Arbeitslosigkeit an die Oberfläche zu bringen, geschweige denn in den Fokus der Parteien: „Die Abgehängten“, so lautet der Titel des Beitrags von Christina Elmer et al. (S. 28-29): »In sozialen Brennpunkten gehen oft nur halb so viele Menschen zur Wahl wie in bürgerlichen Vierteln. Die Armen werden dadurch unterrepräsentiert.« Man könnte an dieser Stelle natürlich auch formulieren: Die Armen repräsentieren sich so selbst herunter.

»Beharrliche Nichtwähler stammen vor allem aus den unteren sozialen Schichten. „Es gilt ohne Ausnahme: Je ärmer ein Stadtteil, desto geringer fällt die Wahlbeteiligung aus“, sagt Armin Schäfer vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Er hat die Ergebnisse der Bundestagswahl von 1500 Stadtteilen in 34 Großstädten analysiert. Die Bürger der unteren Schichten sind enttäuscht und gleichgültig, koppeln sich vom politischen Prozess ab. Sie haben wenig gemein mit den Elite-Nichtwählern, die in diesem Jahr weder Merkel noch Steinbrück etwas abgewinnen können.«

Als ein besonders krasses Beispiel wird in dem SPIEGEL-Artikel der Stadtteil Halle-Neustadt zitiert:
»Bei der letzten Bundestagswahl gingen hier nur 28,1 Prozent der Stimmberechtigten an die Urne. Im Stadtteil liegt die Arbeitslosenquote bei 15 Prozent, 22 Prozent leben von Hartz IV, mehr als 30 Prozent sind 65 Jahre oder älter … Auch im Westen sind die Städte nach Wohlstand und Teilnahme am Urnengang gespalten. In der Ruhrgebietsmetropole Essen liegen zwischen Wahlbezirken im ehemaligen Arbeiterviertel Altenessen-Süd und im bürgerlichen Haarzopf bei der Wahlbeteiligung bis zu 35 Prozentpunkte.«

Das wissen die Parteien und deren Strategen natürlich auch, insofern liegt die folgende Schlussfolgerung auf der Hand: »Die Wahlverweigerung der Unterschicht hat Folgen: Sie führe zu einer „Schieflage in der politischen Repräsentanz“, weil die Politik „in immer stärkerem Maße die Interessen der eher privilegierten Schichten der Bevölkerung“ berücksichtige, heißt es in einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung.« Weitere Informationen zum Thema „Nichtwähler in Deutschland“ gibt es in der gleichnamigen Studie von Manfred Güllner, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht wurde.

Da kann die vielbeschäftigte Kanzlerin auch schon mal durcheinander kommen: Zu den Untiefen der Leiharbeit und der anscheinend nicht eindeutigen Bedeutung des Wörtchens „vorübergehend“. Aber sie will sich ja „kümmern“

Der Wahlkampf verlangt den Politikern so einiges ab. Zu allem und jeden sollen sie was sagen (können). Das geht natürlich eigentlich nicht, aber die meisten tun es trotzdem. Dann kann es zuweilen peinlich werden oder zumindest erhellend. Vor allem, wenn die Regierung ihre eigenen Gesetze nicht kennt – wobei das im Grundatz schon mathematisch nicht möglich ist.

Die Bundeskanzlerin hat dies eindrucksvoll unter Beweis gestellt. So berichten Matthias Loke und Daniela Vates in ihrem Artikel „Krasser Fall“ von Leiharbeit über das nicht gerade unbedeutende Thema Leiharbeit:

»Da war die Bundeskanzlerin aber besorgt und beeindruckt: Das sei doch „ein sehr krasser Fall“, stellte sie in der ARD-Sendung „Wahl-Arena“ am Montagabend fest, nachdem ein Leiharbeiter seine Erfahrungen geschildert hatte. Zehn Jahre Leiharbeit hintereinander in einem Betrieb seien ja quasi eine Beschäftigung wie ein Stammarbeiter, sagte sie. Zeitarbeit sei „so nicht gedacht gewesen“, das sei doch eine „sehr weitgehende Auslegung“.«

Also ob das nicht so gedacht war – darüber müssen wir noch sprechen. Vorher aber kurz zu dem Sachverhalt, der das Erstaunen der Kanzlerin ausgelöst hat: Leiharbeiter und Betriebsrat Christian Graupner hatte erzählt, dass er seit 2003, also schon zehn Jahre lang, als Leiharbeiter ununterbrochen im gleichen Unternehmen beschäftigt sei. In dem Betrieb nahe Leipzig, der Achsen für die Autobauer Porsche und BMW liefere, seien 30 bis 40 Stammbeschäftigte tätig, aber zugleich rund 500 Leiharbeiter, berichten uns Loke und Vates.

Die IG Metall konnte das Erstaunen der Kanzlerin nicht nachvollziehen. Eine solche lange Einsatzzeit eines Leiharbeiters bei einem Unternehmen sei zwar nicht die Regel, „aber auch kein Einzelfall“. Die Gewerkschaft nannte explizit den europäischen Flugzeughersteller Airbus, bei dem ähnlich lange Einsätze von Leiharbeitern vorkommen.

Bevor man sich in den Untiefen der Details verliert, hilft ein Blick auf das zugrundeliegende Gesetz, in diesem Fall das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz und vor allem auf die bisherige Entwicklungsgeschichte dieses Gesetze:
Begonnen hat alles mit einem Urteil des Bundesverfassungsgericht: Das Bundesverfassungsgericht hatte im April 1967 die Erstreckung des staatlichen Arbeitsvermittlungsmonopol auf die gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung für verfassungswidrig erklärt und ermöglichte damit die legale Arbeitnehmerüberlassung durch Private (vgl. hierzu BVerfG, Urteil vom 4. April 1967, Az. 1 BvR 84/65, BVerfGE 21, 261). 1972 wurde dann das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) ins Leben gerufen. Die nun folgende Entwicklungsgeschichte ist eine der schrittweisen Deregulierung bis hin zum „big bang“ im Kontext der so genannten „Hartz-Reformen“. Nachzeichnen kann man das an der Regelung der hier besonders interessierenden Überlassungsdauer:

Als das AÜG geschaffen wurde, begrenzte man die maximal zulässige Überlassungdauer der Leiharbeitnehmer auf 3 Monate. Dahinter stand die sicher nicht ganz unberechtigte Vorstellung, dass Leiharbeit Sinn machen kann, wenn es um die Deckung eines zeitlich eng begrenzten Arbeitsanfalls geht, beispielsweise die Vertretung einer Sekretärin oder ein zusätzlicher Auftrag, der aber absehbar nur einen punktuellen Mehraufwand generiert. Betrachtet man die weiteren Eingriffe des Gesetzgebers hinsichtlich der zulässigen Überlassungsdauer in der Leiharbeit, dann zeigt sich ganz praktisch das, was hier bereits als sukzessive Deregulierung bezeichnet worden ist.

1985 wurde eine Verlängerung der maximal erlaubten Überlassungsdauer von 3 auf 6 Monate vorgenommen, 1994 von 6 auf 9 Monate, 1997 von 9 auf 12 Monate (bei dieser Gesetzesänderung wurden außerdem weitreichende Deregulierungen vorgenommen: Zulassung der erstmaligen Synchronisation von Ersteinsatz und Arbeitsvertrag, Zulassung der Wiedereinstellung nach Ablauf von 3 Monaten, Lockerung des Befristungsverbotes), im Jahr 2002 wurde dann die maximale Überlassungsdauer von 12 auf 24 Monate ausgeweitet. Und dann der „big bang“ am 1. Januar 2003 im Zuge der „Hartz-Gesetze“: Wegfall der zeitlichen Beschränkung der Überlassungsdauer. Angereichert wurde diese vollständige Freigabe mit dem Wegfall des besonderen Befristungsverbotes, des Wiedereinstellungsverbotes und des Synchronisationsverbotes sowie einer Lockerung des Überlassungsverbotes im Baugewerbe bei Überlassung zwischen Betrieben des Baugewerbes. Der damalige sozialdemokratische „Superminister“ für Wirtschaft und Arbeit der rot-grünen Koalition, Wolfgang Clement, hatte für eine totale Deregulierung der Leiharbeit gesorgt. Nur der Vollständigkeit halber: Ebenfalls Bestandteil der Deregulierung war die Aufnahme des Grundsatzes des Equal Pay in das AÜG mit einer Öffnungsklausel für Tarifverträge, die davon zuungunsten des Arbeitnehmers abweichen. Anders ausgedrückt: Aufgrund der Anforderungen einer EU-Richtlinie müssten die Leiharbeitnehmer eigentlich die gleichen Arbeitsbedingungen und damit auch die gleiche Entlohnung bekommen wie die Stammbeschäftigten des entleihenden Unternehmens – es sei denn, für die Leiharbeitnehmer gilt ein eigenständiger Tarifvertrag, der nach unten abweichende Löhne vorsieht. Genau das ist dann bei der Umsetzung der gesetzlichen Neuregelung passiert. Die Arbeitgeber der Leiharbeitsbranche haben Tarifverträge abgeschlossen, wobei damals die DGB-Gewerkschaften vor dem Problem standen, dass ihnen die Arbeitgeber der Branche immer drohen konnten (und teilweise haben sie es auch praktiziert), statt mit ihnen mit den so genannten „christlichen Gewerkschaften“, einer wundersamen Truppe „gelber“ Nicht-Gewerkschaften, abzuschließen, die bereit waren, auch unterirdische Vergütungsbedingungen zu akzeptieren. Bezeichnenderweise wurde bereits im Februar 2003 der erste Tarifabschluss zwischen der Interessengemeinschaft Nordbayerischer Zeitarbeitsunternehmen (INZ) und der Tarifgemeinschaft der Christlichen Gewerkschaften Zeitarbeit und PSA (CGZP) gemacht. Es hat dann Jahre gedauert, bis die Rechtsprechung richtigerweise die Nicht-Tariffähigkeit dieser Nicht-Gewerkschaften und damit die Unwirksamkeit der mit ihnen vereinbarten „Tarifverträge“ festzustellen. Bis dahin aber war erst einmal ein umfassender Niedriglohnsektor über die gesamt Leiharbeit implementiert.

Im Zuge der umfassenden Deregulierung der Leiharbeit durch die damalige rot-grüne Bundesregierung gab es dann eine massive Expansion der Leiharbeit in Deutschland, wie man der Abbbildung mit der Zahl der Leiharbeiter entnehmen kann. Dabei wurde schnell klar, dass ein nicht kleiner Teil der die Leiharbeit nutzenden Unternehmen die Beschäftigung von Leiharbeitern nicht als Überbrückung einmaliger Arbeitsanfälle oder als verlängerte Probezeit vor der Übernahme in Anspruch genommen hat – was den Hoffnungen eines Teils der Befürworter einer Deregulierung der Leiharbeit, über den „Klebeeffekt“ Arbeitslosigkeit abbauen zu können, bestätigt hätte -, sondern die Leiharbeiter wurden als „zweite Belegschaftsschicht“ zur Tarifflucht und zum Lohndumping innerhalb der Betriebe instrumentalisiert.

Zurück zum Thema Überlassungsdauer bzw. dem seit 2003 implementierten Wegfall irgendeiner maximalen Überlassungsdauer im AÜG: Damit wurde legal die Option eröffnet, dass ein Entleihunternehmen faktisch einen Leiharbeiter lebenslang in seinem Betrieb beschäftigen kann, ohne diesen fest einstellen zu müssen. Das ist bzw. war die Rechtslage – auch unter der von Angela Merkel angeführten und derzeit regierenden schwarz-gelben Koalition.

Nun gibt es neben dem zum 1. Januar 2011erfolgten Inkrafttreten eines Mindestlohnes in Höhe von damals 7,89 € im Westen und 7,01 € im Osten auf der Basis einer Rechtsverordnung des BMAS weitere Re-Regulierungen, die zu einer „Verteuerung“ des Instruments Leiharbeit geführt haben, so beispielsweise die tarifvertraglich seitens einiger Gewerkschaften durchgesetzten „Branchenzuschläge“. Stichtag ist hier der 1. November 2012 gewesen: Erstmals sind an Leiharbeitnehmer aufgrund eines Tarifvertrags Branchenzuschläge zu zahlen, wenn sie in die Metall-, Elektro- und Chemieindustrie überlassen werden. Die Zuschläge betragen in 5 Stufen gestaffelt nach der Überlassungsdauer zwischen 15 % nach 6 Wochen und 50 % nach 9 Monaten. Eine Folge dieser Verteuerung ist u.a. die beobachtbare Ausweichreaktion eines Teils der Unternehmen in den Bereich der Werkverträge.

Aber auch bei der hier im Mittelpunkt stehenden Überlassungsdauer gibt es Bewegung: Seit dem 01.12.2011 sieht § 1 Abs. 1 S. 2 AÜG vor, dass die Überlassung von Arbeitnehmern „vorübergehend“ zu erfolgen hat. Leider hat der Gesetzgeber nicht näher definiert, was er unter „vorübergehend“ versteht – weswegen man sich auch prima darüber streiten kann, so die Kommentierung in dem Beitrag „Rechtsprechungs-Kuddelmuddel zur Leiharbeit: Was bedeutet eigentlich „vorübergehend“?“ auf „Betriebsrat Blog“. Hier wurde über  zwei Entscheidungen ein un desselben Gerichts (allerdings zweier Kammern) berichtet, die vor allem die Unklarheit verdeutlichen, die bei der Frage, was das Wörtchen „vorübergehend“ bedeuten mag, auftauchen können:

»Die 7. Kammer des LAG Berlin-Brandenburg hatte sich in einem Urteil vom 16.10.2012 (Az.: 7 Sa 1182/12 …) mit den individualarbeitsrechtlichen Konsequenzen des dauerhaften Einsatzes von Leiharbeitnehmern beschäftigt. Im vorliegenden Fall hatte die Klägerin geltend gemacht, dass zwischen Ihr und dem Entleiher ein Arbeitsverhältnis zustande gekommen sei, da ihre Überlassung nicht mehr vorübergehend gewesen sei.Das LAG Berlin-Brandenburg wies die Klage ab. Die Richter vertraten die Ansicht, dass selbst bei einer nicht vorübergehenden Überlassung kein Arbeitsverhältnis mit dem Entleiher zustande kommt. Das LAG ließ dabei offen, ob es sich hierbei um eine nicht nur vorübergehende Arbeitnehmerüberlassung handelte. Die von der Klägerin geltend gemachte Rechtsfolge des Zustandekommens eines Arbeitsverhältnisses sei jedenfalls vom Gesetzgeber für diesen Fall nicht vorgesehen worden.«

Und abweichend davon eine andere Entscheidung:

»Interessanterweise sind die Richter der 15. Kammer des LAG Berlin-Brandenburg genau gegensätzlicher Ansicht. In einem Parallelverfahren (Urteil vom 09.01.2013 – Az.: 15 Sa 1635/12) urteilten sie, dass eine auf Dauer angelegte Arbeitnehmerüberlassung von der erteilten Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung nicht gedeckt sei. Es komme daher ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Entleiher und dem Leiharbeitnehmer zustande. Es stelle einen „institutionellen Rechtsmissbrauch“ dar, wenn das konzerneigene Verleihunternehmen nicht am Markt werbend tätig sei und seine Beauftragung nur dazu diene, Lohnkosten zu senken oder kündigungsschutzrechtliche Wertungen ins Leere laufen zu lassen.«

Das Bundesarbeitsgericht hat zwischenzeitlich ebenfalls eine hier relevante Entscheidung verkündet. Es geht um den Beschluss vom 10. Juli 2013 – 7 ABR 91/11, die sich auf die besondere Frage des Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates bezieht. Hierzu aus der Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts „Einsatz von Leiharbeitnehmern – Zustimmungsverweigerung des Betriebsrats“:

»Der Betriebsrat des Entleiherbetriebs kann seine Zustimmung zum Einsatz von Leiharbeitnehmern verweigern, wenn diese dort nicht nur vorübergehend eingesetzt werden sollen.«

Und hier der entscheidende Passus:

»Danach erfolgt die Überlassung von Arbeitnehmern an Entleiher „vorübergehend“. Die Bestimmung enthält nicht lediglich einen unverbindlichen Programmsatz, sondern untersagt die nicht nur vorübergehende Arbeitnehmerüberlassung. Sie dient zum einen dem Schutz der Leiharbeitnehmer. Zum andern soll sie auch die dauerhafte Aufspaltung der Belegschaft des Entleiherbetriebs in eine Stammbelegschaft und eine entliehene Belegschaft verhindern. Der Betriebsrat des Entleiherbetriebs kann daher seine Zustimmung zur Einstellung von Leiharbeitnehmern verweigern, wenn diese im Entleiherbetrieb nicht nur vorübergehend beschäftigt werden sollen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob und ggf. welche Rechtsfolgen sich aus einem Verstoß gegen § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG für das Rechtsverhältnis des einzelnen Leiharbeitnehmers zum Entleiher ergeben.«

Wie so oft bei solchen wegweisenden, weil grundsätzlichen Entscheidungen liegt der Teufel im Detail, denn das Bundesarbeitsgericht hat sich der naheliegenden Aufgabe, das Wörtchen „vorübergehend“ zu definieren, elegant entzogen:

»Der Streitfall verlangte keine genaue Abgrenzung des Begriffs „vorübergehend“. Der Arbeitgeber beabsichtigte, die Leiharbeitnehmerin ohne jegliche zeitliche Begrenzung statt einer Stammkraft einzusetzen. Das ist jedenfalls nicht mehr „vorübergehend“.«

So wird derzeit weiter gerätselt und diskutiert, was genau denn nun „vorübergehend“ bedeuten kann und muss. Wichtig allerdings ist das klare Signal des Bundesarbeitsgerichts, dass die bislang vorhandene Option einer gleichsam „lebenslangen“ Leiharbeiterexistenz in einem Entleihunternehmen keine mehr sein wird, wenngleich die Entscheidung erst einmal nur die Varianten betrifft, in denen es einen Betriebsrat gibt, der sich dieser Ausgestaltung verweigert. Auf der anderen Seite kann man die Richter aber auch verstehen, denn warum sollen sie wieder den Job machen, der gefälligst vom Gesetzgber zu erledigen ist. Hierzu wieder ein Zitat aus dem Beitrag von Loke und Vates: »Einsilbig blieb hingegen das Bundesarbeitsministerium: Ob Handlungsbedarf bestehe, müsse die nächste Bundesregierung klären.«

Da wird uns dann Hoffnung gemacht, denn wir können in dem Artikel der beiden auch lesen: »Immerhin versprach die Kanzlerin in der Fernsehsendung, sich den Fall von Christian Graupner noch einmal genauer anzusehen.« Mutti wird sich kümmern wollen. Gut, wenn man das auf die Wiedervorlageliste setzt.

Fazit: Die Option (sicher nicht der Regelfall) einer lebenslangen Beschäftigung im Niemandsland der Leiharbeit bei ein und demselben Unternehmen war ein Bestandteil der umfassenden De-Regulierung der Leiharbeit. Folgt man der Entwicklungsachse der beobachtbaren Re-Regulierung der Leiharbeit in den vergangenen drei, vier Jahren – auch und gerade vorangetrieben durch die oftmals anklagende Berichterstattung in den Medien -, dann erscheint diese Forderung nur konsequent: »Die IG Metall fordert eine gesetzliche Begrenzung der Überlassungsdauer für Leiharbeiter und beruft sich dabei unter anderem auf ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom Juli. Darin war festgestellt worden, dass ein Leihbeschäftigter nicht dauerhaft in einem Unternehmen beschäftigt werden, sondern nur vorübergehend eingesetzt werden darf. Allerdings hatte das Gericht nicht festgelegt, was „vorübergehend“ zeitlich genau bedeutet. Deshalb, so die IG Metall, müsse der Gesetzgeber eine Festlegung treffen«, so Loke und Vates in ihrem Artikel.

Darüber hinaus würde natürlich die echte Umsetzung von „equal pay“ helfen, die Leiharbeit wieder auf ihre eigentliche Funktion zu reduzieren, vorübergehende Arbeitsausfälle mit flexiblen – und das muss heißen teureren – Personal zu überbrücken. Dass die Lohndumper unter den Unternehmen dann wieder andere Ausweichstrategien suchen und probieren werden, ist gewiss wie das Amen in der Kirche, aber kein Argument gegen die notwendige Regulierung dieser Form des modernen „Menschenhandels“.

Jenseits der punktuellen Wahlkampf-Themen und hin zu den „sozialen Innovationen“. Kann man ja mal vorschlagen

Derzeit wird im Wahlkampf über einige wenige, zumeist nicht wirklich weit ausgreifende Themen diskutiert, über Mindestlohn ja oder nein und wenn ja, dann im Spektrum zwischen 8,50 oder 10 Euro, über eine Steuersatzanhebung von einigen wenigen Prozentpunkten hier oder fünf statt drei Pflegestufen da. Alles im einzelnen sicher diskussionswürdig, aber nicht wenige Menschen beschleicht der Verdacht, dass irgendwie die großen gesellschaftspolitischen Entwicklungslinien umschifft werden, kann man sich doch daran nur verbrennen, so die Wahrnehmung vieler Politiker. Dabei liegen gerade in diesem Bereich die notwendigerweise zu schlagenden Schneisen auf der Hand – man denke an Gesundheit, Pflege, Integration, aber auch der Nicht-Arbeitsmarkt oder die Nicht-Bildung für nicht gerade kleine Bevölkerungsgruppen könnten hier angeführt werden.

Für die Bewältigung dieser Aufgaben benötige man „soziale Innovationen“, deren Potenzial die Politik noch nicht ausreichend oder teilweise gar nicht erkannt habe, so der Vorwurf von Helmut K. Anheier und Volker Then in ihrem Beitrag „Wie die Parteien soziale Innovationen verschlafen„.
Als Beispiele für erfolgreiche soziale Innovationen der Vergangenheit führen die Autoren, die beide an der Hertie School of Governance in Berlin lehren, die Einführung der Sozialversicherung (1880), das Aufkommen des Fairen Handels (seit den 1940ern, tatsächlich schon zu diesem Zeitpunkt: Die ersten Fair-Trade-Organisationen waren die im Jahr 1946 von nordamerikanischen Mennoniten und Brethren in Christ gegründeten Ten Thousand Villages (früher Self Help Crafts) und das 1949 von der Church of the Brethren gegründete Projekt SERRV International; beide Organisationen entstanden im kirchlichen Umfeld und sind noch heute aktiv), die Einrichtung von Hospizen (Ende der 1960er; das erste stationäre Hospiz wurde 1967 Großbritannien eröffnet, in Deutschland 1986) sowie in jüngerer Zeit die Vergabe von Mikrokrediten an Kleinstunternehmer oder die Einrichtung von Mehrgenerationenhäusern.

Soziale Innovationen werden durch kreative Personen, Organisationen oder Unternehmen hervorgebracht, die nicht vom Himmel fallen. Die Politik könne die aber unterstützen und die Autoren verweisen auf den US-Präsidenten Obama, der 2009 ein „Office of Social Innovation and Civil Participation“ eingerichtet habe (vgl. zu den konzeptionellen Hintergründen das Buch von Stephen Goldsmith, Gigi Georges, Tim Glynn Burke: The Power of Social Innovation: How Civic Entrepreneurs Ignite Community Networks for Good, 2011). Auch die EU versucht, hier mitzuspielen: »Die EU plant für die neue Förderperiode von 2014 bis 2020 ein Programm für „Beschäftigung und soziale Innovation“ mit einem Volumen von 815 Mio. Euro. Teil des Programms sind Mikrokredite und die Förderung von Sozialunternehmen.« Das Bundesfamilienministerium hat in Kooperation mit der KfW-Bank 2012 ein zweijähriges Förderprogramm für Sozialunternehmen ins Leben gerufen.

Bei den Parteien tauchen, so die Autoren, „soziale Innovationen“ zwar auf, aber doch nur sehr punktuell und eher am Rande.

Die Autoren plädieren für weitergehende Konzepte, um Veränderungsprozesse im Sozialen zu fördern. Dafür sehen sie drei Ansatzpunkte:

  1. »Im Wohlfahrtsbereich stammen über 80 Prozent der Ressourcen aus öffentlichen Quellen, beispielsweise aus der der Sozialversicherung, der Sozialhilfe oder der Kinder- und Jugendhilfe. Es handelt sich um gesetzlich geregelte Quasi-Märkte, in denen nicht der Kunde oder Patient die Leistung bezahlt, sondern der Staat. Im Bereich der Sozialversicherung beliefen sich die Ausgaben im Jahr 2010 auf rund 506 Mrd. Euro. Fördermaßnahmen in diesen Quasi-Märkten sollten durch innovationsfördernde strukturelle Anreize ergänzt werden. Angesichts der Summe dürfte dies deutlich wirksamer sein als die gesonderte Förderung von sozialen Innovationen.« Sie plädieren für die Einführung einer „Innovationsklausel“ in das SGB I, die nicht auf „Sozialunternehmen“ beschränkt seien, so dass auch die Wohlfahrtsverbände durch eine solche Klausel einen Innovationsanreiz hätten.
  2. Innovative Organisationen würden häufig unterschiedliche Sektorlogiken miteinander kombinieren. Anheier und Then plädieren für bessere bzw. andere rechtliche Rahmenbedingungen für die „hybriden Organisationen zwischen sozialen Zielen und unternehmerischer Logik: »Ein Beitrag hierzu kann die Einführung einer „low-profit limited liability company“ (L3C) nach amerikanischem Vorbild sein. Diese Rechtsform kombiniert die Flexibilität traditioneller Unternehmen mit dem Streben nach gemeinwohlfördernden Zwecken als eigentlichem Organisationsziel. Dies verringert die Gegensätze zwischen Gewinn- und Gemeinwohlorientierung. Zudem würde es Stiftungen erleichtert, soziale Innovationen zu unterstützen – und zwar nicht durch Fördergelder, sondern durch die Investition ihres Vermögens. Aufgrund der flexibleren Eigentümerstruktur von L3C können Stiftungen einen Teil ihres Vermögens dort vergleichsweise einfach investieren, sofern es mit ihrem Stiftungszweck übereinstimmt. Auf diese Weise könnten innovative Unternehmen in der Rechtsform einer L3C nicht nur an dringend benötigtes Startkapital gelangen, sondern Stiftungen einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten, der über konventionelle Förderung kaum zu erreichen ist.«
  3. »Ein weiterer Ansatz liegt in der Einführung von „Social Impact Bonds“. Grundidee dieses Instruments ist es, innovative Organisationen auf Basis der von ihnen erzielten Einsparungen zu finanzieren. So kann eine Organisation beispielsweise durch die Reintegration von straffällig gewordenen Jugendlichen in die Gesellschaft Kosten für die Gerichte, die Polizei und Gefängnisse sparen. Dabei erfolgt die Vorfinanzierung durch private Investoren, die ihr Investment im Erfolgsfall zuzüglich einer geringen Verzinsung vom Staat zurückbekommen. Hier werden Mittel auf Basis von Wirkungen statt von Kosten vergeben und der Staat trägt kein Risiko.« Zum Thema „Social Impact Bonds“ vgl. beispielsweise den Beitrag „Edle Gewinne. Soziale Bonds sollen Gutes bewirken und zudem Rendite abwerfen. Geht das zusammen?“ von Christina Kyriasoglou sowie die Informationen dazu aus Kanada, den USA oder aus Großbritannien. Vgl. auch aktuelle den Beitrag „Social Impact Bonds“ von Ashley Pettus im Haravard Magazine). Man muss bei aller Leuchtkraft der Idee hinsichtlich der „Social Impact Bonds“ allerdings auch anmerken, dass gegen diesen Ansatz erhebliche Zweifel vorgebracht werden (vgl. aus der Berichterstattung z.B. den Ende 2012 veröffentlichten Artikel „Wetten auf Resozialisierung im Knast: Geld oder neues Leben“ von Marc Winkelmann: Die Investmentbanker von Goldman Sachs spekulieren mit einem neuen Finanzprodukt auf die Resozialisierungsquote von US-Sträflingen). 

Die Vorschläge der beiden Autoren passen sich ein in eine anschwellende Debatte über „Sozialunternehmen“ oder moderner daherkommend „Social Entrepreneurship“, die auch Deutschland erreicht hat (vgl. beispielsweise die Beiträge in dem Sammelband „Social Entrepreneurship – Social Business: Für die Gesellschaft unternehmen„, herausgegeben von Helga Hackenberg und Stefan Empter, 2011).

Was sind Sozialunternehmer? Was ist eine gute Idee? Wie stehen die staatlich finanzierten, freien Wohlfahrtsverbände zu einer Konkurrenz, die unternehmerisch denkt? Mit diesen Fragen beschäftigt sich ein Feature von Deutschlandradio Kultur, das unter dem Titel „Effektiv und effizient – Sozialunternehmer in Deutschland“ am 09.09.2013 ausgestrahlt wurde. Darin eine ganz gute Einführung in die Debatte hier in Deutschland.

Die einen negieren ihn, die anderen spüren ihn: Ärztemangel in Deutschland zwischen Realität, Propaganda und notwendigen Fragen an die Bundesländer

Da kommt eine Menge zusammen bei der Frage „Ärztemangel“ ja oder nein – die demografische Entwicklung, die Angebotsrelationen aufgrund der Ausbildungskapazitäten an den Hochschulen, die Abwerbung ausländischer Mediziner aufgrund des Wohlstandsgefälles zwischen deren Heimatländern und Deutschland, die Abwanderung deutscher Ärzte ins Ausland, aber auch höchst diffizile Fragen der Proportionen zwischen den einzelnen Ärztegruppen (z.B. Haus- und Fachärzte), regionale Ungleichverteilungen oder die Versäulung der Tätigkeitsfelder in ambulant und stationär.

Hinzu kommt eine massive interessengeleitete Aufladung des Themenfeldes – denn der angebliche oder behauptete Ärztemangel eignet sich auf der einen Seite natürlich hervorragend, um bessere Verhandlungspositionen beispielsweise gegenüber den Krankenkassen als Kostenträger zu bekommen, so dass diese wiederum ein Interesse haben, in der öffentlichen Debatte den Eindruck zu vermeiden, es würden Mediziner in einer spürbaren Größenordnung fehlen, was sich zu einer möglichen Gefährdung der gesundheitlichen Versorgung auswachsen könnte. Denn – das wissen beide Seiten – das Thema ist in der Bevölkerung emotional stark aufgeladen mit vielen Ängsten und Bedrohungsgefühlen.

Dass die Nachfrage nach Ärzten offensichtlich größer ist als das vorhandene Angebot, scheint sich nach einem ersten Blick auf die Zahlen aufzudrängen: Die Zahl der in Deutschland berufstätigen ausländischen Ärzte ist 2012 nach Angaben der Bundesärztekammer um 15,1 Prozent auf 28.310 gestiegen. 2002 waren es noch 13.180 Ärzte. Die meisten dieser Mediziner arbeiten in Krankenhäusern.

„Es gibt inzwischen Krankenhäuser, in denen kaum noch ein Arzt richtig deutsch spricht“ – mit diesen Worten wird Samir Rabbata von der Bundesärztekammer zitiert in dem Artikel „Vermittlung von ausländischen Ärzten boomt„. Übrigens – die meisten ausländischen Ärzte kommen aus Rumänien. Ein einheitlicher Sprachtest soll bald in ganz Deutschland gelten.

Nach Angaben der Bundesärztekammer fehlt es in vielen Regionen an niedergelassenen Haus- und Fachärzten, aber auch in den Krankenhäusern sind bundesweit mehr als 6.000 Arztstellen unbesetzt. In dem Artikel wird als Beispiel Bremerhaven zitiert, wo nach Angaben eines dort ansässigen Gynäkologen  in den nächsten fünf bis zehn Jahren die Hälfte der Frauenärzte aus Altersgründen aufhören werden. Viele der von ihnen abzugebenden Praxen werden keine Nachfolger bekommen (können).

Dies verweist – neben den vielen anderen angedeuteten Ursachen für die Misere – auf einen Aspekt, auf den hier ein besonders Augenmerk geworfen werden soll: Der Nachwuchs an Mediziner/innen, der aus den Universitäten in die ärztliche Weiterbildung gelangt bzw. gelangen kann und der dann die ausscheidenden Mediziner ersetzen könnte, wenn die fachärztliche Weiterbildung erfolgreich absolviert wurde. Die Altersstruktur der praktizierenden Ärzte ist ja seit langem bekannt und man darf schon die Frage aufwerfen, ob man im Lichte dieses Wissens genügend eigenen Nachwuchs auf den Weg gebracht hat. Offensichtlich – wenn die Zahlen stimmen – nicht. Als Nadelöhr erweist sich bei der Frage nach dem „Warum“ für dieses Auseinanderfallen das Studium und die sich anschließende Weiterbildung. Die erste Abbildung zeigt die Entwicklung der Zahl der Studierenden im Studienfach Medizin an deutschen Universitäten in einer langen Zeitreihenbetrachtung seit 1975.

Man erkennt, dass es nach einer kräftigen Expansionspahse in der zweiten Hälfte der 1970er und langsam auslaufend  in den 1980er Jahre Anfang der 1990er Jahre sogar einen Rückgang gegeben hat und seit Mitte der 1990er Jahre oszilliert die Zahl der Medizinstudierenden immer um die 80.000 herum, am aktuelle Rand mit einer kleinen Steigerung. Eigentlich müssten die Studierenden-Zahlen seit einigen Jahren nach oben gehen, weiß man doch allein um die Ersatzbedarfe aufgrund der Altersstruktur der in Deutschland praktizierenden Ärzteschaft.

  • Und noch einen anderen interessanten Befund liefert uns die Abbildung, wenn man sich die Entwicklung des Geschlechterverhältnisses bei den Medizin-Studierenden anschaut. Bereits vor dem Ende der 1990er Jahre hat die Zahl der weiblichen Medizin-Studierenden die der männlichen übertroffen und seitdem geht die Schere immer weiter zugunsten der Frauen auseinander. Die erkennbare „Feminisierung“ des Arztberufs hat gewichtige Auswirkungen auf die hier relevante Bedarfsfrage, denn – ohne jede negative oder positive Bewertung – kann man sagen: Ein Arzt heute bringt aufgrund veränderter Vorstellungen beispielsweise hinsichtlich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht mehr das gleiche Arbeitsvolumen wie ein Arzt vor zehn oder zwanzig Jahren. Das kann und wird zu dem Phänomen führen, dass es bei einer gleichbleibenden oder gar steigenden Zahl an Ärzten (gemessen pro Kopf) weniger Ärztevolumen gibt.

Wer jetzt annimmt, dass aufgrund der ja bereits seit Jahren geführten Debatte über einen zumindest partiellen Ärztemangel seitens der Politik die Zahl der Studienplätze in Medizin erhöht wird, der muss grosso modo enttäuscht werden. Die Systeme reagieren nicht oder nur sehr langsam. Die zweite Abbildung zeigt die Entwicklung der Studienanfängerzahlen für Humanmedizin und der Block auf die ebenfalls dargestellten prozentualen Veränderungen gegenüber den jeweiligen Vorjahreswerten verdeutlicht zugleich, dass man tendenziell am aktuellen Rand sogar eine abnehmende Dynamik sehen muss.

Die Erklärung dafür ist relativ simpel und lässt sich zusammenfassend bilanzieren mit: „Am (fehlenden) Gelde hängt’s“. Soll heißen: Für die Hochschulsysteme sind (eigentlich) die Bundesländer alleine zuständig, damit auch für deren Finanzierung. Es ist allgemein bekannt und auch nur logisch, dass die Kosten eines Studienplatzes für Medizin ein Vielfaches der Kosten für einen anderen Studienplatz beispielsweise in den Wirtschafts- oder Geisteswissenschaften betragen. Wenn die Bundesländer sparen wollen/müssen, dann werden sie keine besonderen Anreize haben, gerade die teuren Studienplätze auch noch auszubauen. Und auch die milliardenschweren Hilfestellungen des Bundes für den Ausbau neuer Studienplätze in den Bundesländern – die so genannten „Hochschulpakte“ – setzen aufgrund ihrer Konstruktion bei der prioritären Zielsetzung, möglichst viele neue Studienplätze zu schaffen, eher einen Anreiz, diese neuen Studienangebote in den „billigen“ Studienfächern zu schaffen.

Fazit: Angesichts der jahrelangen und auch aktuell weiterhin zu beobachtenden Zurückhaltung beim Ausbau der Kapazitäten für den Mediziner-Nachwuchs wird sich das Angebotsproblem im Zusammenspiel mit den eingangs erwähnten Faktoren weiter verschärfen und das Angewiesensein auf einen Import ausländischer Mediziner perpetuieren und potenzieren – übrigens mit teilweise katastrophalen Folgen für die „Export-Länder“, denn man muss keine Studien machen, um sich vorzustellen, dass der Wegzug der Ärzte aus Osteuropa dort erhebliche Versorgungsprobleme in den dortigen Gesundheitssystemen auslöst.

Abschließend bleibt natürlich die Frage: Was tun? Hier können nur einige erste Stichworte mit Blick auf die notwendigen Weichenstellungen formuliert werden:

  • Die Kapazitäten für die Medizinerausbildung an den Hochschulen müssen erhöht werden – und das nicht nur rein quantitativ, sondern anzustreben wäre zugleich eine qualitative Weiterentwicklung der Ärzteausbildung im Zusammenspiel mit dem offensichtlichen Qualifizierungsbedarf in anderen, wichtiger werdenden Gesundheitsberufen wie der Pflege, den Physio- und Ergotherapeuten und Logopäden, um nur einige Beispiele zu nennen. Hier würde sich der konsequente Umbau in Richtung auf ein „Medical School“-Modell empfehlen, wo alle Gesundheitsberufe gemeinsam ausgebildet und für eine zusammenarbeitsorientierte Zukunft der Gesundheitsversorgung vorbereitet werden. Ganz offensichtlich damit im Zusammenhang steht die Infragestellung des bestehenden Systems der Hochschulfinanzierung und -steuerung. Die Bundesländer allein werden mit Blick auf ihre Haushaltslage und deren weitere Verengung im Kontext der „Schuldenbremse“ definitiv nicht in der Lage sein, nur den quantitativen Ausbau zu stemmen, geschweige denn den eigentlich notwendigen Umbau in Richtung auf „Medical School“-Modelle. Auch hier zeigt sich erneut die beklagenswerte Unlogik des „Kooperationsverbots zwischen Bund und Ländern, das dringend beseitigt werden muss. Allerdings sollte eine regelhafte Bundesbeteiligung an der Hochschulfinanzierung auch qualitativ mit Leben gefüllt werden, beispielsweise durch die angedeutete Ausrichtung auf neue Ausbildungskonzepte.
  • Das insgesamt immer noch erheblich pyramidal ausgerichtete Versorgungssystem mit der Fokussierung auf den Arzt muss aufgeweicht und umgebaut werden durch eine Stärkung anderer Gesundheitsberufe – das ergibt sich allein schon aufgrund der Sicherstellunsgprobleme im Gefolge des demografischen Wandels.
  • Die seit gefühlt Jahrhunderten beklagte Versäulung in ambulant und stationär muss endlich konsequent aufgebrochen werden, die Grenzen zwischen ambulanter und stationärer ärztlicher Tätigkeit müssen aufgebrochen werden. Dafür muss auch darüber nachgedacht werden, das Finanzierungssystem für die Krankenhäuser nicht nur singulär weiterzuentwickeln, sondern ein sektorübergreifendes Finanzierungssystem in den Fokus zu nehmen.

Kurzum: Es gibt viel zu tun in der neuen Legislaturperiode.