Die Würde des Menschen ist unantastbar – „es sei denn, er ist altersdement oder sonst sehr pflegebedürftig“. Und in Berlin? „Parturient montes, nascetur ridiculus mus“ *

Das Thema Pflege – vor allem die Pflege alter Menschen – ist ein Dauerbrenner für Skandalisierungen und Quelle vieler Ängste. Zugleich ist es aufgrund der demografischen Entwicklung klar, dass die Pflege, die bereits heute in ihren Fundamenten bröckelt, zu dem sozialpolitischen Megathema der vor uns liegenden Jahre werden wird. Und auch bei den Koalitionsverhandlungen derzeit in Berlin wird das Thema hin und her gewendet. Was aber auch leider klar sein muss: Pflege ist aus politischer Sicht ein „Verliererthema“, wie das mal ein Politiker unter vier Augen auf den Punkt gebracht hat. Er meinte damit, dass das auf der einen Seite zwar Millionen Menschen angeht, als (potenziell) Betroffene wie auch als Angehörige, und damit eigentlich alle Voraussetzungen mit sich bringt, dass sich Politiker hier zu profilieren versuchen. Dass das aber kaum einer macht liegt schlichtweg darin begründet, dass man nicht nur über sehr viel (mehr) Geld sprechen müsste, sondern eine Vielzahl oftmals sehr kleinteiliger Maßnahmen erforderlich wären, um der großen Pflegeherausforderung gerecht werden zu können. Das aber lässt sich nicht auf marketinggängige Einfachsprüche eindampfen und mithin schlecht oder gar nicht verkaufen.

Insofern ist die gegenwärtige Situation dadurch gekennzeichnet, dass zwar das Thema an sich bei allen Sonntagsreden irgendwie Erwähnung findet (und hier ähnelt es der öffentlichen Thematisierung am Anfang der menschlichen Lebensspanne, also dem Bereich der frühkindlichen Bildung und Betreuung), aber diese Erwähnungsintensität transportiert sich nicht annähernd vergleichbar in eine energische Weiterentwicklung und Umbau der Pflegestrukturen. Geschweige denn von mutigen Schritten im Sinne einer deutlich erkennbaren Verbesserung der desaströsen Rahmen- und Arbeitsbedingungen in diesem wichtigen Feld der Sorge-Arbeit.

Vor diesem Hintergrund ist es interessant und erwähnenswert, dass Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift „Pflegenotstand verletzt systematisch das Grundgesetz“ auf eine neue rechtswissenschaftliche Dissertation zum Thema Pflegenotstand hinweist. Verfasserin dieser von Prantl herausgestellten Arbeit ist die Juristin Susanne Moritz.

Susanne Moritz: Staatliche Schutzpflichten gegenüber pflegebedürftigen Menschen, Dissertation (= „Schriften zum Sozialrecht“, Band 29), Nomos, Baden-Baden 2013.

Prantl argumentiert in seinem Artikel, dass die Beschreibung der Zustände, die sich hinter dem Begriff „Pflegenotstand“ verbergen, »laufen, wenn man es verfassungsrechtlich formuliert, auf eine makabere Ergänzung des Artikels 1 Grundgesetz hinaus: Die Würde des Menschen ist unantastbar – „es sei denn, er ist altersdement oder sonst sehr pflegebedürftig“. Von diesem Ausgangspunkt stellt Prantl heraus, dass die junge Wissenschaftlerin wie ein „juristischer Schutzengel“ daherkommt für die vielen Menschen, für die der Terminus „Pflegenotstand“ kein Abstraktum bleibt: »Sie zieht spektakuläre rechtliche Konsequenzen aus der desaströsen Situation, der unzureichenden Reaktion der Politik darauf und der gesetzgeberischen Untätigkeit: Der Staat verletzte mit seiner Untätigkeit seine Schutzpflichten gegenüber Pflegebedürftigen so massiv, dass der Weg zum Verfassungsgericht eröffnet sei. „Angesichts der hohen Wertigkeit der betroffenen Grundrechte und der bereits eingetretenen Verletzung derselben“ hält die Wissenschaftlerin Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe für Erfolg versprechend.«

Schaut man in das Thesenpapier von Susanne Moritz zu ihrer Dissertation, das auf der Website ihrer Hochschule veröffentlicht ist, dann findet man dort die folgenden Ausführungen – die wie so oft bei den Juristen, wie aufeinanderfolgende Hammerschläge wirken:

»Die Lebensbedingungen vieler Menschen in Pflegeheimen sind lebensunwert; der Pflegezustand sowie die Pflegequalität sind zu einem erheblichen Teil mangelhaft. Darüber hinaus lässt sich eine regelmäßige Gewaltanwendung gegenüber den Pflegebedürftigen nachweisen … Die Ursachen hierfür liegen in erster Linie in den gesetzlichen Rahmenbedingungen der Pflege. Die Finanznot der Pflegekassen steuert in weitem Ausmaß unmittelbar und mittelbar Qualität und Umfang der Pflegeleistungen. Folge ist die geringe Vergütung der Pflegeheime, deren defizitäre Personalausstattung und schlechte Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal … Die Behebung dieser systemischen Ursachen ist zuvörderst Sache des Gesetzgebers … Die belegbaren Missstände in den Pflegeheimen verletzen die Grundrechte der stationär untergebrachten Pflegebedürftigen. Zwar erfolgt die Pflege der Menschen in den Pflegeeinrichtungen durch Dritte; eine Zurechenbarkeit dieser Grundrechtsverletzungen an den Staat ergibt sich aber aus dessen Schutzpflichten, die ihm gegenüber den Pflegebedürftigen obliegen und die er durch seine Untätigkeit verletzt.«

So weit die Diagnose und Verantwortungszuordnung in der prägnanten Kürze des Thesenpapiers. Und weiter? Was resultiert daraus? Auf den nun folgenden Passus aus dem Thesenpapier von Moritz stützt sich Prantl und wir alle sollten genau zuhören bzw. hinschauen:

»Sofern die Regierung weiterhin untätig bleibt, ist eine Verbesserung der Zustände in den Pflegeheimen nicht zu erwarten. Eine aussichtsreiche Möglichkeit, den Pflegemissständen Abhilfe zu schaffen, stellt ein Vorgehen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das gesetzgeberische Unterlassen dar. Angesichts der hohen Wertigkeit der betroffenen Grundrechte und der bereits eingetretenen Verletzung derselben scheint ein Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts auch unter funktionell-rechtlichen Aspekten legitim. Dabei erweist sich ein Vorgehen mittels Verfassungsbeschwerde als erfolgversprechend. Eine Beschwerdebefugnis ist dabei nicht nur für die aktuell betroffenen Heimbewohner anzunehmen, sondern besteht für alle potentiell künftig Betroffenen.«

Der entscheidende Punkt in der Wahrnehmung von Prantl ist der Gedankengang, »beschwerdebefugt seien alle potenziell später pflegebedürftigen Menschen – also jeder«. Hier öffnet sich die Perspektive auf »eine gewaltige Massen-Verfassungsbeschwerde«.
Darüber wäre doch mal zu diskutieren.

Aber ist die Rettung nicht längst in Sicht? Das Thema Pflege ist doch angekommen in den Koalitionsverhandlungen in Berlin und die kennen doch auch die Probleme der Pflege, sollte man meinen. Aber die bislang vorliegenden Signale aus der Verhandlungsrunde zu diesem Themenfeld lassen einen nicht nur ernüchtert, sondern teilweise auch wütend zurück.

Die WELT berichtet beispielsweise über die Pflege-Vorschläge der Union für die nächste Verhandlungsrunde mit der SPD in dem Artikel „Union will den Kassen die Pflegekontrolle entziehen„. So soll der für die Pflegeheimkontrollen sowie für die Prüfung der Pflegebedürftigkeit von Patienten bislang zuständige Medizinische Dienst der Krankenversicherung aus der Verantwortung der gesetzlichen Krankenkassen herausgelöst und in ein unabhängiges Institut umgewandelt werden. Mit dieser Forderung will man den Betroffenen entgegenkommen, denn immer wieder entzündet sich heftige Kritik an der Begutachtungspraxis des Medizinischen Dienstes, dem vorgeworfen wird, dass die Entscheidungen auch beeinflusst seien von der Berücksichtigung der Kostendämpfungsinteressen der Pflegekassen.

Aber richtig spannend wird es bei den nächsten Punkten: »Klar ist bereits, dass Union und SPD in der geplanten großen Koalition den Pflegebeitrag in den nächsten Jahren um 0,5 Prozentpunkte anheben wollen. Die Union will dabei Kinderlose stärker belasten.« Hier wird zumindest offen zugegeben, dass man mehr Geld braucht, um zum einen die Umsetzung eines seit langem überfälligen Pflegebedürftigkeitsbegriffs wie zum anderen auch für mehr Pflegekräfte finanzieren zu können. Wobei man schon die Frage aufwerfen darf und muss, warum das alles über Beitragsmittel der Versicherten in der Sozialen Pflegeversicherung finanziert werden soll. Dann aber gibt es Grund, mehr als nur die Stirn zu runzeln: Die Union will »einen neuen Vorsorgefonds einrichten und diesen ab 2015 jährlich mit einer Milliarde Euro aus Beitragsgeldern speisen.« Ziel sei es, frühzeitig eine Rücklage in der Pflege aufzubauen – mit Beitragsmitteln aus einem Umlagesystem? Eine Milliarde Euro pro Jahr (zusätzlich zu den laufenden Ausgaben für die Pflegebedürftigen)? Aber bevor man sich „Sorgen“ machen muss, dass es zu größeren Veränderungen kommen wird, sei an dieser Stelle der Vorsitzende der zuständigen Koalitionsarbeitsgruppe, der CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn, zitiert, der prophylaktisch darauf hinweist: »… wir (müssen) ganz genau schauen, wo Verbesserungen dringend notwendig sind, und das Geld nicht nach dem Gießkannenprinzip verteilen«. Zur Not hilft am Ende der berühmte Finanzierungsvorbehalt. Bislang hingegen kein Wort beispielsweise über so substanzielle Fragen wie verbindliche Personalschlüssel in den Pflegeheimen, über die Verpflichtung der Pflegekassen, höhere Vergütungen für das Pflegepersonal auch mitzufinanzieren, kein Konzept für den dringend notwendigen auch finanziellen Ausbau der kommunalen Altenhilfe, um die Versorgungsbedarfe strukturiert zu bearbeiten. Keine Ankündigung einer wirklich konzertierten Aktion zur Gewinnung von zukünftigen Pflegefachkräften. Um nur einige Einwände vorzubringen. Wie am Anfang postuliert: „Parturient montes, nascetur ridiculus mus“ *

* „Es kreißen die Berge, zur Welt kommt nur ein lächerliches Mäuschen“. Redensart aus der „Ars poetica“ des römischen Dichters Horaz (65 bis 8 v. Chr.), Vers 139

Bei den einen wird gekürzt, für die anderen ist angeblich nichts da, den Beitragszahlern greift man in die Tasche und noch anderen lässt man eine Menge. Reden wir über Geld

In der gegenwärtigen Medienberichterstattung wird viel darüber geschrieben, geredet und hyperventiliert, dass die Demnächst-Großen-Koalitionäre in ihrer Berliner Findungsphase zahlreiche Geschenke übers Land verteilen wollen, die gewaltige Milliardensummen verschlingen werden. Abgesehen davon, dass das am Ende weitgehend wieder eingefangen werden wird – es bleibt ein fahler Beigeschmack, wenn es um die finanzielle Seite geht. Denn – zumindest in dem hier relevanten sozialpolitischen Bereich, aber auch darüber hinaus beispielsweise bei der „harten“ Infrastruktur wie Straßen, Brücken, öffentliche Gebäude  – kann man an mehreren Stellen mit guten Gründen einen teilweise erheblichen Investitionsbedarf konstatieren, dessen Realisierung Geld kosten würde.

Damit nicht genug – gleichzeitig erleben wir, dass immer wieder im Sozial- und Bildungsbereich von Kürzungen berichtet wird, die man nur noch kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen kann. Über ein aktuelles Fallbeispiel wurde auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ berichtet: Die Mittel für niederschwellige Integrationskurse für Migratinnen sollen um 60% gekürzt werden. Das bedeutet das Aus für viele der bundesweit rund 2.000 Frauenkurse, mit denen etwa 20.000 Migrantinnen erreicht werden. Und richtig perfide ist die Gleichzeitigkeit der Aufforderung an die Träger dieser Kurse, mehr Angebote für Armutsflüchtlinge aus Bulgarien und Rumänien zu machen. Da wird unten gegen ganz unten ausgespielt.

Bei anderen hingegen, für die mehr Gelder aufgewendet werden müsste, sind diese angeblich nicht da. Um nur eines von vielen hier zitierbaren Beispielen anzuführen: Angesichts der Verpflichtung, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen, wird unter dem Oberbegriff „Inklusion“ derzeit vielerorts versucht, behinderte Kinder und Jugendliche in die Regelschulen zu „inkludieren“, wobei die Anführungszeichen darauf hindeuten sollen, dass das nach Vorstellung mancher Bundesländer „aufkommensneutral“ realisiert werden könne. Da muss man wirklich keine Studie machen, um zu erkennen, dass dies nur in einer deutlichen Verschlechterung enden kann.

Und wieder anderen will man, weil es nicht mehr anders geht, irgendwie was zukommen lassen, beispielsweise den Pflegebedürftigen. Dort geht es drunter und drüber – bei den Betroffenen selbst, aber auch bei den Pflegekräften. Und auf eine Beitragserhöhung in der Sozialen Pflegeversicherung konnten sich die Demnächst-Großen-Koalitionäre ganz schnell verständigen, um das zu finanzieren, was jetzt ausgehandelt wird. Aber warum eigentlich „nur“ eine Beitragserhöhung in der Pflegeversicherung? Und damit letztendlich nur für die Arbeitnehmer? Müsste nicht ein gewichtiger Teil der anstehenden Investitionen in die Pflegeinfrastruktur, gerade in die kommunale Altenhilfe, nicht aus Steuermittel finanziert werden, handelt es sich doch ganz offensichtlich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe? Und was ist eigentlich mit denen, die in der privaten Pflegeversicherung sind? Fragen über Fragen – die Antwort hier liegt allerdings nahe: Der Griff in die Beitragskassen ist eben für die Politiker leichter als eine Mittelmobilisierung über Steuergelder, möglicherweise dann auch noch verbunden mit einer – ja, jetzt muss es fallen, das Unwort: über eine Steuererhöhung. Das nun geht gar nicht, denn auf eine solche haben die Sozialdemokraten bereits im vorwegnehmenden Gehorsam gegenüber der Union zügig verzichtet.

Diesen großkoalitionären Konsens wird man schwer durchbrechen können, auch wenn viele, die sich vor der Bundestagswahl für eine andere Steuerpolitik engagiert haben – man denke hier beispielsweise an die Initiative „umFAIRteilen“ – bitter enttäuscht sind von der frühzeitigen Kapitulation der SPD in dieser Frage.

Aber vielleicht ist es gar nicht notwendig, sofort an irgendwelche Steuererhöhungen zu denken. Man könnte ja auch auf den Gedanken kommen, dass schon viel gewonnen wäre, wenn die alle, die müssten, auch ihre Steuern zahlen. Auf die damit verbundenen – theoretischen – Einnahmepotenziale haben Veronica Frenzel und Ulrich Zawatka-Gerlach in einem lesenswerten Beitrag für den Tagesspiegel hingewiesen: „Nicht zum Angeben„, so ist ihr Artikel überschrieben. Daraus nur zwei Zahlen, die für sich sprechen:

»Die Deutsche Steuergewerkschaft schätzt, dass Bund, Ländern und Gemeinden (durch Steuerhinterziehung) bis zu 50 Milliarden Euro jährlich verloren gehen. Internationale Konzerne, die steuerrechtliche Lücken ausnutzen, so dass der Staat, auch das ist nur eine grobe Schätzung, an weitere 160 Milliarden Euro nicht herankommt. Jedes Jahr. Damit verstoßen sie nicht einmal gegen Gesetze.«

Beschränken wir uns mal auf die bis zu 50 Mrd. Euro. Solche Beträge müssen heutzutage ja immer in Relation gesetzt werden. Nur als ein möglicher Vergleich: Für alle Kindertageseinrichtungen und für die Kindertagespflege in Deutschland, die Millionen Kinder tagtäglich betreuen, bilden und erziehen sowie hunderttausende Menschen beschäftigen, werden jährlich gut 17 Mrd. Euro an öffentlichen Mitteln aufgebracht.

In dem Artikel werden allerdings auch die Ursachen angesprochen, dass dem Staat diese Einnahmen durch die Lappen gehen:

»Den Finanzämtern fehlt an allen Ecken Personal. Nimmt man die amtliche Personalbedarfsrechnung ernst, müssten bundesweit 11.000 Stellen, davon 3.000 Betriebsprüfer und 600 Fahnder, neu geschaffen werden. Möglicherweise ist dieser Mangel politisch gewollt. Anders ist es kaum zu erklären, dass die bundeseinheitlichen Stellenvorgaben von fast allen Ländern seit Jahren deutlich unterschritten werden. Allen voran Bayern und Baden-Württemberg …«

„Vor allem in den reichen Ländern ist die restriktive Personalpolitik zulasten der Finanzämter ein Mittel der Wirtschaftsförderung“, so wird ein Steuerbeamter zitiert. „Und die Bayern sagen intern, dass sie als Geberland im Finanzausgleich nicht die Steuern für arme Länder eintreiben wollen.“
Als Beispiel wird Berlin angeführt: Die dortigen 23 Finanzämter sind, gemessen an der Bedarfsrechnung, seit der Ära des Finanzsenators Thilo Sarrazin um zehn Prozent unterbesetzt. Daran hat sich seither nichts geändert. Es fehlen etwa 700 Stellen. » Zum fehlenden Personal kommt ein Krankenstand von zehn Prozent. Außerdem bleiben viele Stellen unbesetzt, im laufenden Jahr 143, so viele Beamte hat das gesamte Finanzamt Wedding.«

Nur zur Ergänzung sei hier – eigentlich dann auch nicht mehr überraschend – angeführt, wie man unser Land auch bezeichnen kann: „Steueroase Deutschland„, so ein Artikel von Claus Hulverscheidt in der Süddeutschen Zeitung: »Das internationale „Netzwerk Steuergerechtigkeit“ hat die wichtigsten Finanzzentren der Schattenwirtschaft untersucht. Dabei steht ein Staat weit oben auf der schwarzen Liste, der sonst gerne den Saubermann gibt: die Bundesrepublik.« Hintergrund des Artikels ist der alle zwei Jahre erscheinende Bericht über die „Schattenfinanzzentren“ der Welt. Auf dieser schwarzen Liste liegt Deutschland auf Rang acht – und damit teils weit vor klassischen Steuerparadiesen wie Jersey, den Marshall-Inseln oder den Bahamas. Hauptübeltäter ist die Schweiz, gefolgt von Luxemburg, Hongkong und den Kaimaninseln, so Hulverscheidt in seinem Artikel. »Nach groben Schätzungen staatlicher wie nichtstaatlicher Organisationen werden allein in der Bundesrepublik Jahr für Jahr zwischen 29 und 57 Milliarden Euro „gewaschen“, die aus kriminellen Geschäften sowie aus Steuerbetrug und -hinterziehung stammen.«

Diese Zusammenhänge sollten und müssen wir berücksichtigen, wenn es immer wieder heißt: Dafür ist aber leider kein Geld da.

Der Mindestlohn ist schlecht, sagen die Wirtschaftsweisen. Einer von ihnen sagt das Gegenteil. Schauen wir also mal genauer hin

Wie jedes Jahr im November haben die so genannten „fünf Wirtschaftsweisen“ ihr voluminöses Jahresgutachten vorgelegt. Eigentlich sollen die ja eine Prognose geben, wie sich die Wirtschaft in den vor uns liegenden Monaten entwickeln wird. Aber sie haben im Laufe der Jahre ihren Auftrag immer weiter ausgedehnt und so nehmen die „weisen Ökonomen“ alles vor die Flinte, was sie für relevant halten. Da kann und darf es nicht überraschen, dass sie sich in diesem Jahr auch dem Mindestlohn „zuwenden“, wobei man das rein als Richtungs-Begriff verstehen sollte, nicht aber so, wie wir umgangssprachlich Zuwendung verstehen würden. Denn – so wird es morgen in allen Zeitungen stehen und so kann man es heute am Tag der Verkündigung auch schon online lesen – der Mindestlohn ist schlecht. So packt beispielsweise die FAZ den ganzen Geist, den das diesjährige Jahresgutachten atmet, in die Artikelüberschrift „Mit Umverteilen und Ausruhen ist es nicht getan„. Das vernichtende Fazit des Sachverständigenrates zu den bisherigen Koalitionsverhandlungen bezieht sich vor allem auf sozialpolitisch relevante Themen. Die Wirtschaftsweisen »nennen die schwarz-roten Pläne „rückwärtsgewandt“ und kritisieren zentrale Vorhaben wie einen gesetzlichen Mindestlohn, eine Mietpreisbremse, die Rentenpläne oder die angestrebte Reform der Ökostromförderung.« Also eigentlich alles. Aber hier interessiert besonders der Mindestlohn.

Das Gutachten kann man als PDF-Datei auf der Website des Sachverständigenrates abrufen:

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik. Jahresgutachten 2013/14. Wiesbaden, November 2013

In dem neuen Jahresgutachten gibt es ein ganzes Kapitel zum Thema „Arbeitsmarkt: Institutionelle Rahmenbedingungen für mehr Flexibilität“ (S. 248 ff.). Darin wird natürlich auch die Frage nach dem Mindestlohn behandelt.

Die weisen Ökonomen beginnen ihre Argumentation mit einer so typischen Feststellung: Ein Mindestlohn können „wesentliche Einschränkung des Lohnbildungsprozesses“ hervorrufen: »Vor allem in einem schwachen konjunkturellen Umfeld können diese als Sperrklinken wirken, indem sie ein Lohnniveau festschreiben, das über der Arbeitsproduktivität vieler Arbeitsuchender liegt. Leidtragende sind dabei vor allem Geringqualifizierte sowie jüngere und ältere Arbeitsuchende.«

Ach, wenn es denn so einfach wäre wie in dieser Modellwelt der Ökonomen. Das Produktivitätsargument wird einem gerade immer um die Ohren gehauen – und geht doch an der Realität vieler Arbeitsplätze vorbei darunter Millionen Menschen, die im Bereich der personenbezogenen Dienstleistungen arbeiten. Ich habe das in einem anderen Blog-Beitrag bereits mal auseinandergenommen: „Mit Gottes Hilfe gegen den gesetzlichen Mindestlohn? Was bleibt, sind immer wieder solche Behauptungen: Die Gefährdung der Tarifautonomie, die angeblich ganz vielen Ungelernten im Niedriglohnsektor und die Produktivitätsfrage„.

Aber weiter im Text. Die Wirtschaftsweisen stehen nun vor dem Problem, dass sie zur Kenntnis nehmen müssen, dass es eben nicht so ist, wie Wirtschaftslobbyisten wie Prof. Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft einfach mal so behaupten, dass ganz viele Studien zeigen, dass der Mindestlohn Jobs kosten würden. Sehr schön, mit welcher Formulierungskunst im Jahresgutachten versucht wird, das zu ummänteln – hier zu der Frage nach den Beschäftigungswirkungen von Mindestlöhnen:

»Die empirische Evidenz ist … uneinheitlich, was unter anderem daran liegt, dass meist keine geeignete kontrafaktische Situation konstruiert werden kann, die als Kontrast zu der beobachteten Einführung oder Erhöhung von Mindestlöhnen dient. Während beispielsweise Entlassungen nach Einführung oder Anhebung eines Mindestlohns direkt beobachtet werden könnten, ist dies im Hinblick auf unterlassene Einstellungen nicht möglich.«

Alles klar? Also wenn keine Entlassungen beobachtet werden können (was schlecht ist für die Mindestlohngegner), dann könnte es ja sein, das ansonsten getätigte Einstellungen vorgenommen worden wären, wenn kein Mindestlohn …

Aber sie geben sich mühe, dass muss man ihnen lassen. Hier z.B.: »Die von Mindestlöhnen geschaffene Lohnrigidität nach unten dürfte seitens der Unternehmen regelmäßig durch geringere Lohnzuwächse in den höheren Lohngruppen ausgeglichen werden … Während also einige Beschäftigte im unteren Bereich der Lohnverteilung Einkommensgewinne erzielen, verlieren andere ihren Arbeitsplatz oder müssen geringere Lohnzuwächse hinnehmen.« Warum eigentlich? Was ist beispielsweise mit dem angeblich enormen Fachkräftemangel in den Bereichen, die oberhalb des Mindestlohns liegen? Der müsste doch nach allen Gesetzen der Ökonomie zur einer Lohnsteigerung führen. Gilt das dann nicht mehr?

Sie weisen dann kurz darauf hin, dass jüngst die Ergebnisse einer groß angelegten Evaluationsstudie über die Wirkungen branchenspezifischer Lohnuntergrenzen veröffentlicht wurden, die insofern ärgerlich sind, weil sie eben keine Jobverluste nachweisen konnten. Deshalb leitet man schnell über zu einer älteren Sache:

»Eine frühere Studie für die deutsche Bauindustrie ergab signifikant negative Beschäftigungseffekte in Ost- und uneinheitliche Effekte in Westdeutschland … Deutlich wird dabei, wie entscheidend die Höhe und damit die Bindungswirkung eines Mindestlohns ist: In Ostdeutschland waren aufgrund des niedrigeren Lohnniveaus wesentlich mehr Arbeitnehmer von der Einführung des Mindestlohns betroffen als in Westdeutschland, folglich fielen die Beschäftigungsverluste dort höher aus.« Nur mal so als Gedanke: Haben die weisen Wirtschaftsweisen vielleicht mal überprüft, dass der gemessene Abbau der Bauarbeiterjobs im Osten unseres Landes vielleicht etwas damit zu tun haben kann, dass in diesem Zeitraum die vorher übermäßig aufgeblasenen Baukapazitäten im Osten wieder runter gefahren werden mussten, weil schlichtweg die Auftragslage zurück ging? Dass also der Abbau so oder so gekommen wäre, auch ohne einen Branchen-Mindestlohn? Das würde die gewünschten Befunde natürlich „verunreinigen“.

Aber das war nur das Vorspiel, denn die eigentliche Positionierung erfolgt dann unter der glasklaren Überschrift „Gegen einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn“ auf Seite 284 ff. des Jahresgutachtens. Warum sind sie gegen einen Mindestlohn?

»Zum einen ist der für Deutschland in Rede stehende Mindestlohn von 8,50 Euro relativ zum Lohngefüge bedeutsamer als in anderen Volkswirtschaften, etwa dem Vereinigten Königreich … Zum anderen ist es widersinnig, derjenigen Volkswirtschaft, deren Arbeitsmarkt aufgrund seiner höheren internen Flexibilität am erfolgreichsten durch die Krise gekommen ist, ein institutionelles Charakteristikum anzuempfehlen, das strukturelle Anpassungen in zukünftigen Krisen deutlich erschweren würde.« Also das zweite Argument muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Die sind wirklich der Meinung, dass wir deshalb arbeitsmarktlich so gut durch die Krise gekommen, weil wir so viele Niedriglöhner haben. Könnten sich die Wirtschaftsweisen vielleicht vorstellen, dass wir auch und vor allem deshalb so gut durch die Krise gekommen sind, weil wir immer noch und Gott sei Dank über eine starke Industrie und ein starkes Handwerk verfügen, der unmittelbare Kriseneinbruch mit Instrumenten wie der Kurzarbeit (übrigens weitgehend auf Kosten der Beitragszahler und der betroffenen Arbeitnehmer) intelligent überbrückt wurde und die exportlastige deutsche Volkswirtschaft schnell wieder hochgefahren werden konnte, als die Weltkonjunktur bereits 2010 wieder ins Laufen kam, zumindest in den immer wichtiger werdenden Schwellenländern? Und bekanntlich werden in der Industrie und in den größten Bereichen des Handwerks gerade keine Niedrigstlöhne gezahlt.

Die sehr eigene Wahrnehmung der unteren Arbeitsmarktetagen bei den Wirtschaftsweisen wird an dem folgenden Zitat deutlich erkennbar:

»Durch das Sozialversicherungssystem sind in Deutschland angebotsseitig bereits Untergrenzen für die am Markt zu erzielenden Lohneinkommen impliziert. Zudem sind die Arbeitnehmer arbeitsrechtlich bereits in ausreichender Weise vor Lohndumping geschützt.«

Wenn man sich wirklich intensiver beschäftigt mit dem, was da unten los ist, dann bleibt einem das Lachen im Halse stecken angesichts dieser Ignoranz gegen die dort um sich greifenden Wildwest-Methoden.

Kurzum, man lehnt einen Mindestlohn ab. Aber nicht nur den, eigentlich lehnt man alles ab:

»Im deutschen Institutionengeflecht muss ein flächendeckender gesetzlicher Mindest- lohn daher abgelehnt werden, ebenso wie von staatlicher Hand gesetzte sektor- oder regionalspezifische Lohnuntergrenzen. Ebenfalls abzulehnen ist eine Ausweitung von tariflichen Lohnuntergrenzen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf mehr Branchen, wenn dies auf Betreiben der Tarifvertragspartner geschehen würde .« (S. 286)

Das ist mal ein klares Wort.

Aber das war es noch nicht, denn auf der Seite 298 kommt dann die folgende Überschrift daher: „Eine andere Meinung“, von dem Volkswirt Peter Bofinger aus Würzburg. Hier zwei seiner Gegenargumente zur Mehrheitsmeinung des Sachverständigenrates:

  • Die von Bofinger zitierten Berechnungen zeigen: Deutschland würde mit einem Mindestlohn von 8,50 Euro keinesfalls auf einem internationalen Spitzenplatz liegen würde. Die aus der Verdienststrukturerhebung abgeleitete Relation von Mindestlohn zu Medianlohn ergibt für Deutschland vielmehr einen Platz im internationalen Mittelfeld.
  • Das entscheidende Argument für Bofinger: Für die „große Gefahr“ negativer Beschäftigungseffekte eines Mindestlohns wird von der Mehrheit der Ratsmitglieder keine überzeugende empirische Evidenz vorgelegt. »In der Tat lassen sich in der Literatur sehr viele Studien finden, die zu dem eindeutigen Ergebnis kommen, dass von Mindestlöhnen keine signifikanten negativen Auswirkungen auf die Beschäftigung zu erwarten sind«, so Bofinger. Nach Hinweisen auf die Forschungslage kommt er zu dem Befund: Es »gibt also keine uneindeutige, sondern vielmehr eine eindeutige Evidenz, dass von Mindestlöhnen, wenn sie angemessen ausgestaltet sind, keine signifikanten Beschäftigungsverluste ausgehen.«

Genau so sehen das nicht wenige Arbeitsmarktforscher. Aber in den Meldungen wird überwiegend nur zu lesen sein: Die Wirtschaftsweisen üben harte Kritik an Mindestlohn-Plänen. Der Mindestlohn kostet viele Jobs.

Für die wichtige abweichende Meinung wird dann der Platz fehlen. Und außerdem ist das ja auch irgendwie komplizierter als wenn man sagen kann „die“ Wirtschaftsweisen oder „die“ Wirtschaftsforschungsinstitute oder „die“ Experten. Es ist aber wie in der Medizin. Nicht selten sind Zweit- oder Drittmeinungen gehaltvoller.

Wieder einmal gut gemeint, aber nur gehopst statt gesprungen? Der nette Versuch, Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern auf dem Berichtsweg herzustellen

Man kann nur hoffen, dass die Verhandlungsgruppen in Berlin, die (angeblich) um eine große Koalition ringen, sich derzeit nur warmlaufen und die eigentlich zu lösenden Probleme unseres Landes lediglich vorerst auf Halde gelegt sind, damit man diese am Ende ganz konzentriert abarbeiten kann und wir alle ganz doll überrascht sind.

Sollte es allerdings anders sein, dann besteht tatsächlich Anlass, zunehmend unruhig zu werden. Immer öfter bekommt man den Eindruck vermittelt, dass die große Koalition Themen behandelt und sich gar über solche streitet, deren wirkliche Bedeutung in einem umgekehrt proportionalen Umfang zu den Gestaltungsmöglichkeiten des gewaltigen Stimmengewichts steht, was der wahrscheinliche 80%-Stimmen-Gigant GroKo auf die Waagschale werfen könnte. Mega-Mehrheit und kleine Brötchen, die da in Berlin derzeit aus dem Backofen geholt werden.

Auf dieser Seite wurde das schon kommentiert an den Beispielen Wohnungspolitik („Wohnst Du schon oder hoffst Du noch? Wohnen als soziale und ökonomische Frage. Und wie die Große Koalition damit umzugehen beabsichtigt„), Gesundheitspolitik („Placebo-Politik im Gesundheitswesen – dafür braucht man nun wirklich keine Große Koalition„) oder auch Arbeitszeitpolitik („Entsetzte Arbeitgeber(funktionäre), wenn Sonntagsreden Wirklichkeit zu werden drohen, zugleich aber auch betriebliche Realitäten eigener Art und Frauen, die sich selbst schädigen„). Der anfangs sicher interessierte, nunmehr aber zunehmend irritierte Beobachter könnte bei einer nüchternen Analyse des bisher vorgelegten Gedankenguts aus den Koalitionsverhandlungsgruppen zu dem Befund kommen, dass hier überwiegend Placebos unters Volk geworfen werden. Bislang ist kaum eine wirklich fundamentale gemeinsame Idee der beiden Lager bekannt geworden – also beispielsweise eine umfassende Neuordnung der Bildungsfinanzierung, eine mutige und vorauseilende Pflegereform oder ganz zu schweigen von einem Umbau der Finanzierungsarchitektur des Sozialsystems im Sinne des Aufbrechens der einseitig den Faktor sozialversicherungspflichtige Arbeit und die dann auch noch gedeckelt bis zur Beitragsbemessungsgrenze belastenden Beitragsfinanzierung (auf die man sogar ganz im Gegenteil wieder einmal stärker zugreifen will, um Steuererhöhungen zu vermeiden).

Der nächste Akt in diesem irritierenden Spiel betrifft ein wichtiges Anliegen: Die immer wieder beklagte Ungleichheit bei den Löhnen zwischen Männern und Frauen. Hier will die im Geburtskanal befindliche GroKo „Frauen besser bezahlen lassen“, so die Formulierung in dem Artikel „Kommen Lohnlisten ans schwarze Brett?“ von Alfons Frese und Heike Jahberg.

Bevor wir uns nun den angekündigten Maßnahmen zuwenden, müssen einige notwendige Anmerkungen zu den immer wieder in den Raum gestellten Zahlen zu der so genannte „Lohnlücke“ zwischen den Geschlechtern gemacht werden. In dem Artikel von Frese und Jahberg wird ausgeführt: »Jedes Jahr rechnet der Verein „Business and Professional Women“ aus, wie lange Frauen über das Jahresende hinaus arbeiten müssen, um auf das Jahresgehalt ihrer männlichen Kollegen zu kommen. Der „Equal Pay Day“ für das laufende Jahr 2013 wäre der 21. März 2014. Denn weibliche Beschäftigte verdienen hierzulande im Schnitt 22 Prozent weniger als die Männer, hat das Statistische Bundesamt ausgerechnet.« So weit, so oft gelesen. Schauen wir einmal genauer hin. Ein Blick in die Pressemitteilungen des hoch seriösen Statistischen Bundesamtes hilft einem weiter, sogar mit einer genauen Quantifizierung der Lohnlücke zwischen den Geschlechtern – auch „Gender Pay Gap“ genannt, z.B. hier: „Verdienstunter­schie­de von Frau­en und Männern blei­ben wei­ter bestehen„. »Im Jahr 2012 war der durchschnittliche Bruttostundenverdienst von Frauen mit 15,21 Euro um 22 % niedriger als der von Männern (19,60 Euro).« Weiter erfahren wir, dass sich der Verdienstabstand zwischen Männern und Frauen in den vergangenen Jahren nicht verändert habe. Und noch etwas kann man der Pressemitteilung der Statistiker entnehmen – eine große West-Ost-Differenz tut sich auf, folgt man den Daten der Bundesstatistiker: »So betrug 2012 der unbereinigte Gender Pay Gap im früheren Bundesgebiet 24 %, in den neuen Ländern lag er bei 8 %.« Frauen haben es in Ostdeutschland lohnlückenmäßig offensichtlich erheblich besser als im Westen unseres Landes. Aber die Bundesstatistiker sind korrekte Wesen, sie sprechen von einem „ungereinigten“ Gender Pay Gap – also müsste es auch einen „bereinigten“ geben. So ist es natürlich auch. »Dieser sogenannte bereinigte Gender Pay Gap lag 2010 bundesweit bei 7 % (unbereinigter Gender Pay Gap 2010: 22 %).« Da schmilzt die Lohnlücke schon recht stark. Wie kommt diese doch nicht ganz unerhebliche Differenz zustande? Dazu das Statistische Bundesamt: »Demnach lassen sich gut zwei Drittel des unbereinigten Gender Pay Gap auf strukturelle Unterschiede zurückführen: Die wichtigsten Gründe für die Differenzen der durchschnittlichen Bruttostundenverdienste waren Unterschiede in den Branchen und Berufen, in denen Frauen und Männer tätig sind, sowie ungleich verteilte Arbeitsplatzanforderungen hinsichtlich Führung und Qualifikation. Darüber hinaus sind Frauen häufiger als Männer teilzeit- oder geringfügig beschäftigt.«

Wenn man das berücksichtigt, dann stößt man vor in den eigentlichen Kernbereich des Problems: Und weiter: „Das verbleibende Drittel des Verdienstunterschiedes kann nicht durch die arbeitsplatzrelevanten Merkmale erklärt werden … Das heißt, dass Frauen bei vergleichbarer Qualifikation und Tätigkeit pro Stunde durchschnittlich 7 % weniger als Männer verdienten.“
Aber die Bundesstatistiker sind sehr genau, gleichsam exakte Menschen, die korrekterweise einen methodisch interessanten und relevanten Hinweis geben: Es gelte „… jedoch zu berücksichtigen, dass der bereinigte Gender Pay Gap möglicherweise geringer ausgefallen wäre, wenn weitere lohnrelevante Einflussfaktoren für die Analysen zur Verfügung gestanden hätten. So lagen beispielsweise zum individuellen Verhalten in Lohnverhandlungen oder zu familienbedingten Erwerbsunterbrechungen keine Angaben vor.“

Und wenn wir jetzt noch Jutta Allmendinger, die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) in die Debatte einschleusen, dann wird es richtig interessant. Denn die hat bereits im Februar dieses Jahres in einem Artikel in der taz wie folgt argumentiert: »Frauen sind zwar viel häufiger erwerbstätig als früher, aber die Quote der in Vollzeit berufstätigen Frauen ist von 1985 bis 2011 zurückgegangen – von 68 auf 54 Prozent aller erwerbstätigen Frauen. Frauen arbeiten mehr als dreimal so häufig in Teilzeit wie Männer. Und das häufig auch noch in Kleinst-Teilzeit. Diese bringt kaum Geld, verhindert jeden beruflichen Aufstieg und führt selten zurück zu 80 Prozent oder zur Vollzeitarbeit … Frauen arbeiten eher in Berufen, die als Frauenberufe gelten und daher schlechter entlohnt werden: in der Bildung, dem Gesundheitswesen, der Pflege, im Service. Frauen machen real viel längere Pausen als die Männer …«. Und ihre Fazit: »Kleine Teilzeit, geringer entlohnte Berufe, strukturell erzwungene Pausen – all das heißt: weniger Aufstiegschancen, geringere Erwerbszeiten, weniger Lohn im Laufe der Jahrzehnte. Das ist die Welt der realen Frauen.«

Und dann kommt sie zu einer unser Thema hier so richtig anheizenden Schlussfolgerung:

»Auch alle, die sich für eine geschlechtergerechte Entlohnung einsetzen, sollten mal aus dem Trott geraten. Der Gender Pay Gap Day gehört abgeschafft – und neu eingeführt, und zwar als Gender Income Gap Day. Denn die entscheidende Größe ist das Erwerbseinkommen am Ende jeden Monats und im gesamten Lebensverlauf. Wenn man das für die beiden Geschlechter berechnet, liegt das monatliche Einkommen von Frauen im Schnitt weit unter der Hälfte dessen, was Männer im Monat verdienen. Die Differenz ist nicht kleiner, sondern in Wirklichkeit doppelt so hoch wie die oft zitierten 23 Prozent.«

Also so gesehen haben wir es mit einer richtig großen Baustelle zu tun. Und was sind nun die aktuellen Ideen und Planungen der GroKo in Gründung?

Die typischen Frauenberufe sollen nun aufgewertet werden, haben jedenfalls die Verhandlungsführerinnen Manuela Schwesig (SPD) und Annette Widmann-Mauz (CDU) beschlossen. Gemeinsam mit den Tarifpartnern will die Politik an einer Gehaltsaufbesserung für Alten- oder Krankenpfleger, Erzieher oder Betreuer arbeiten. Zudem möchte die Arbeitsgruppe die Tarifpartner verpflichten, Gehaltsunterschiede abzubauen. Da wird man schon wieder unruhig.
Frese und Jahberg berichten uns:

»In Unternehmen ab 500 Beschäftigten sollen darüber hinaus – anonymisierte – Entgeltberichte verfasst werden, um Ungleichgewichte zu finden und dann dagegen vorzugehen. Aber nicht nur in großen Firmen, sondern in allen Betrieben wollen die Koalitionäre jedem einzelnen Arbeitnehmer zudem einen individuellen Auskunftsanspruch verschaffen. Unklar ist aber noch, wie der aussehen soll. Ob künftig jeder Mann und jede Frau ganz konkret das Gehalt des Kollegen oder nur betriebliche Durchschnittswerte erfragen kann, ist genauso so offen wie die Frage, ob die Tarifparteien oder der Gesetzgeber dafür sorgen, dass Erzieherinnen oder Krankenschwestern künftig mehr in der Lohntüte haben.«

Interessant an dieser Stelle sind die Reaktionen der Tarifvertragsparteien, die zwischen Verwunderung und Verärgerung schwanken. Die Arbeitgeber bezeichnen die Vorschläge der Arbeitsgruppe als „Koalitionsvertragsprosa“. Und die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi kommentiert, »die Tarifparteien würden das Problem kaum lösen können, weil zum einen da, wo es Tarifverträge gibt, bereits jetzt überhaupt nicht zwischen Männern und Frauen differenziert werde. Und zum anderen laufe in den Unternehmen, die keine Tarifgehälter zahlen und in denen es auch keine Betriebsräte gibt, der Ansatz über die Tarifparteien ins Leere.«

Simone Schmollack kommentiert dazu in der taz unter der Überschrift „Worte, die sich gut anhören„:
»Wer wirklich etwas gegen Lohnungleichheit machen will, muss die unsäglichen Minijobs abschaffen, Teilzeit reduzieren, das Rückkehrrecht auf eine Vollzeitstelle nach der Familienphase gesetzlich festklopfen. Der muss für genügend Kitaplätze sorgen und in sogenannten Frauenberufen das Lohnniveau anheben. Die vielfach als minderwertig angesehenen Jobs in Pflege und Erziehung sowie die Teilzeitarbeit, die Frauen bis heute häufig sogar freiwillig akzeptieren, sorgt für die größte Lohnlücke. Das zu ändern käme einem Kulturbruch, einem Paradigmenwechsel gleich – der nicht so leicht zu machen ist, wie die Koalitionäre das gerade verkaufen.«

Ups, das hört sich nach deutlich mehr an als das, was uns hier gerade vorgelegt worden ist. Immer mehr deutet sich an, dass wir eine Koalition bekommen könnten, die sich im Wesentlichen auf eine Symbolpolitik reduziert, um den großen Konfliktlinien auszuweichen – und das mit einer unfassbar großen Mehrheit im Parlament gepampert. Damit stellt sich natürlich immer mehr auch die Frage: Dafür eine Große Koalition?

Dafür nicht.

Placebo-Politik im Gesundheitswesen – dafür braucht man nun wirklich keine Große Koalition

Zumindest im Wahlkampf konnte man in Spurenelementen noch so etwas wie die Systemfrage in der Gesundheitspolitik erahnen: Während die mittlerweile atomisierte FDP in Treue fest zum dualen Krankenversicherungssystem stand und auch die Interessen ihrer (vermeintlichen) Stammwähler unter den Ärzten im Blick hatte, hielten die damaligen Oppositionsparteien SPD und Grüne die Fahne der „Bürgerversicherung“ hoch – also wenigstens formal, wenn auch mit dem Gegenteil von Verve und eher nach dem Motto, das haben wir mal gefordert und dann müssen wir das jetzt auch perpetuieren, wenngleich keiner mehr an eine wie auch immer geartete Realisierung zu glauben wagte.

Nun könnte man es auf der anderen Seite durchaus als Ausweis eines realistischen Pragmatismus verstehen, dass man von der Illusion einer Systemreform des Gesundheitswesens Abschied genommen hat. Zugegebenermaßen bewegt man sich im Bereich der Gesundheitspolitik im wahrsten Sinne des Wortes im bekannten Haifischbecken hoch aggressiver Akteure des Systems. Zugleich kann man es drehen und wenden wie man will – der Reformbedarf in vielen Teilbereichen des Gesundheitwesens hat ein erhebliches Ausmaß angenommen und man kann vor den anstehenden strukturellen Korrekturen und Weiterentwicklungen nicht auf Dauer davonlaufen.

Stellvertretend sei an dieser Stelle an die dringend notwendige Reform nicht nur der Krankenhausfinanzierung erinnert, sondern auch an die Beantwortung der Grundsatzfrage, ob die Vergütungssysteme zwischen dem stationären und ambulanten Bereich nicht endlich angeglichen werden müssten. Des Weiteren ist der Innovationsbedarf in Bereichen wie der Pflege sowie der flächendeckenden medizinischen Versorgung auch durch andere Gesundheitsberufe, also eine sukzessive Abkehr von der Dominanz des ärztlichen Berufsbildes im deutschen Gesundheitswesens, mit den Händen zu greifen.

Was nunmehr aber als erste Ergebnisse aus dem gesundheitspolitischen Teil der Koalitionsverhandlungen nach außen gedrungen ist, das lässt einen schon mehr als verzweifelt zurück. „Patienten sollen schneller Facharzttermin bekommen„, so meldete es beispielsweise Spiegel Online. Union und SPD wollen gesetzlich Versicherten einen Termin beim Facharzt garantieren: Innerhalb von vier Wochen soll der Besuch möglich werden. Dies beschlossen die Mitglieder der AG Gesundheit während der Koalitionsverhandlungen. Endlich wird einmal etwas für die benachteiligten Patienten der gesetzlichen Krankenversicherung getan, so kommt diese Botschafter daher und so ist sie auch gemeint. Als Botschaft. Als ein sehr billiges Ergebnis für die politisch Verantwortlichen, denn zum einen handelt es sich hierbei nur um eine Botschaft, zum anderen würde die Umsetzung  Kosten verursachen, die von Dritten zu tragen wären.

»Damit die Terminvergabe gelingt, sollen eigens Servicestellen eingerichtet werden, die die Organisation übernehmen. Wenn innerhalb der vier Wochen kein niedergelassener Facharzt gefunden ist, könne der Versicherte einen Mediziner in einer Klinik aufsuchen, … Eingerichtet werden sollen die Stellen durch die Kassenärztlichen Vereinigungen in den Ländern, gemeinsam mit den Krankenkassen. Auch die Finanzierung soll durch diese beiden Parteien erfolgen.«

Das muss man sich mal einen Moment lang vor dem inneren Auge verdeutlichen: Es gibt zigtausende Praxen von niedergelassenen Ärzten und Psychotherapeuten, die im System der kassenärztlichen Versorgung arbeiten, immer noch überwiegend als Einzelpraxis. In diesen Praxen arbeiten medizinische Fachangestellte, früher als Arzthelferinnen bezeichnet, deren Aufgabe es u.a. ist, Termine zu vereinbaren mit den Patienten, die sich direkt an ihre Praxis wenden. Und normalerweise klappt das auch. Nun müssen – wenn die Eingebung der AG Gesundheit Wirklichkeit werden sollte, was leider angesichts der offensichtlichen Vorteile für die beteiligten Politiker überaus plausibel ist – neue Servicestellen von den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und den Krankenkassen eingerichtet (und von diesen hälftig finanziert) werden, deren Aufgabe darin bestehen wird, bei den Praxen anzurufen und über die Terminvergabe zu verhandeln. Wenn in einem konkreten Fall dann keine Terminrealisierung innerhalb von vier Wochen möglich ist, dann müsste die Servicestelle andere niedergelassene Fachärzte abklappern, um herauszufinden, ob dort ein Termin frei wäre – im schlimmsten Fall ist einer frei, aber der Patient will partout zu diesem Arzt nun nicht. Dann – so der Vorschlag der Bald-Koalitionäre – können die Patienten zu einem Krankenhaus gehen und sich dort fachärztlich behandeln lassen. Wenn sie denn dort einen Termin bekommen.

Auch Peter Mücke hat in seinem Kommentar „Leider nur ein Placebo“ auf ein vergleichbares Szenraion hingewiesen bei grundsätzlicher Sympathie für den Vorstoß:

»Wie soll ein Patient beispielsweise nachweisen, dass er in der Vierwochenfrist keinen Termin bekommen hat? Muss er erst alle Fachärzte im Umkreis abtelefoniert haben? Und wäre es zumutbar, für einen schnellen Termin erst eine längere Reise, etwa in die nächste Kreisstadt, auf sich zu nehmen? Im Übrigen sind auch die Wartezeiten in den Krankenhäusern unter Umständen sehr lang.«

In dem Artikel „Kassenärzte sehen Vier-Wochen-Frist skeptisch“ wird darauf hingewiesen, dass dies auch mit budgetären Folgen für die Kassenärzte verbunden sein soll: »Eingerichtet werden sollen die Stellen durch die Kassenärztlichen Vereinigungen in den Ländern, gemeinsam mit den Krankenkassen. Ermöglicht die jeweilige Kassenärztliche Vereinigung die Terminvergabe nicht, sollen die Betroffenen stattdessen in ein Krankenhaus gehen können. Die Klinikbehandlungen müssten dann aus dem Budget der Praxisärzte bezahlt werden.«

Fazit an dieser Stelle: Wenn das so kommt, wie es hier skizziert wird, dann schafft die Große Koalition neue Arbeitsplätze – allerdings wären das genau solche Arbeitsplätze, die wir gerade nicht brauchen. Eine neue bürokratische Schicht wird aufgetragen und die Finanzierung zulasten Dritter, also aus den gedeckelten Budgets der Kassenärzte und der Krankenkassen bedeutet natürlich, dass diese Mittel abgezogen werden müssen aus dem eigentlichen Versorgungsbereich.

Unabhängig davon werden sich die Krankenhäuser grosso modo für dieses Danaergeschenk bedanken, auch wenn die Funktionäre der Kliniken in ersten Reaktionszuckungen den Vorstoß der zukünftigen Koalitionäre positiv bewerten. Sie tun das aus einer ganz bestimmten verengten Perspektive, weil sie schon immer gegen die starre Trennung der ambulanten und stationären Versorgung waren und sind und sich über diese Hintertür eine weitere Öffnung der Krankenhäuser erhoffen, die über die bereits erfolgten partiellen Durchbrüche beispielsweise bei der hoch spezialisierten ärztlichen Versorgung hinausgehen. Das ist auch grundsätzlich richtig, worauf Kritiker der ausgeprägten Spaltung in ambulant und stationär im deutschen Gesundheitswesen seit gefühlt 50 Jahren immer wieder hinweisen – allerdings, um es in aller Deutlichkeit zu sagen, wird das nur funktionieren und Sinn machen, wenn man ein Projekt herkulischen Ausmaßes anzugehen bereit wäre, nämlich die Angleichung der völlig unterschiedlichen Vergütungssysteme zwischen dem ambulanten und stationären Sektor. Davon hat man bislang aber nichts gehört aus den Verhandlungen der nächsten Bundesregierung.

In praxi würde das also bedeuten, dass die Patienten, die dann fachärztliche Behandlung in den vielerorts völlig überlasteten Krankenhäusern in Anspruch nehmen (wollen), für die Kliniken ein schlechtes Geschäft werden, denn grundsätzlich sollen sie zwar eine Vergütung bekommen, die aber aus dem Pott für die niedergelassenen Fachärzte herausgenommen und umverteilt werden muss. Diese Vergütung (Stichwort: Punktesystem) ist aber gedeckelt und die Punktwerte folglich hinsichtlich der realen Euro-Beträge flexibel. Und seien wir doch an dieser Stelle ehrlich: Bereits heute haben wir zunehmend das Problem, dass viele Patienten direkt, also ohne Umweg die Ambulanzen der Kliniken zu jeder Tages- und Nachtzeit aufsuchen, obgleich nicht wenige keinesfalls in den Klinikbereich gehören, dort aber erhebliche Ressourcen binden.

Und auch die Frage, ob es überhaupt ein nennenswertes Problem in der Versorgung gibt, sei an dieser Stelle mit einem dicken Fragezeichen versehen. So liegen z.B. aktuelle Ergebnisse der „Versichertenbefragung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung 2013. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage April/Mai 2013“ vor, die zumindest den Zweifel fundieren, ob wir es hier mit einem ausgemachten Problem zu tun haben – wenn auch sogleich die Einschränkung gemacht werden muss, dass es sich um die Befunde aus einer Befragung handelt, die die Kassenärzte haben durchführen lassen, also der Akteure, die erst einmal ein Interesse daran haben, alles schön zu malen. Die Kassenärzte weisen deshalb jetzt auf diese Umfrage hin, »wonach rund 80 Prozent der gesetzlich Versicherten keine Probleme mit der Wartezeit haben und Termine entweder sofort oder deutlich unterhalb von vier Wochen bekommen. Laut der im Sommer veröffentlichten Studie muss allerdings rund jeder zehnte Patient mehr als drei Wochen auf einen Termin warten. Besonders lange Wartezeiten gibt es demnach bei Kardiologen, Frauenärzten und Urologen.«

  • Eine genauere Analyse dieser Befunde würde eine differenzierte Sichtweise zwingend zur Folge haben müssen: Bei den Kardiologen haben wir wohl tatsächlich das Problem, dass es Wartezeiten gibt, weil die Nachfrage > Angebot, während bei Urologen sicher die Frage der zur Verfügung stehenden Ärzte eine gewichtige Rolle spielt. Bei den Frauenärzten kann man fast schon lehrbuchhaft nachvollziehen, was auf den Bereich der ambulanten ärztlichen Versorgung zukommen wird insgesamt, wenn das, was wir als „Feminisierung“ des Arztberufs bezeichnen, in die Versorgungsrealität eindringt: Immer mehr Frauen kommen in den niedergelassenen Bereich hinein (bei den Frauenärzten läuft das schon seit langem), sind aber eben nicht mehr bereit, wie ein „klassischer“ niedergelassener einzelkämpfender Arzt zu arbeiten, also 50 Stunden und mehr pro Woche, weil es bei ihnen eben auch um Vereinbarkeit von Beruf und Familie geht, man also nicht mehr zu diesen Arbeitseinsätzen bereit ist. Und wenn man in die Realität vieler moderner Praxen schaut, wo beispielsweise zwei oder drei Ärztinnen eine Gemeinschaftspraxis betreiben, dann haben oftmals zwar alle drei eine kassenärztliche Zulassung („Kassenarztsitz“), aber diese wird in praxi nur zu 70% oder weniger ausgefüllt, weil es anders nicht kompatibel ist mit den Zeitrastern, in denen sich die Medizinerinnen bewegen müssen. Insofern gilt dann eben die einfache Formel: Ein Kassenarzt ist nicht ein Kassenarzt, sondern kann auch ein Kassenarzt alt – x% bedeuten. Natürlich kann und muss das Auswirkungen haben auf die Kapazitäten der Patientenversorgung, wenn gleichzeitig aufgrund des Bedarfsplanungssystems die Kassensitze betreffend keine Anpassungen vorgenommen werden (können), man also unrealistischerweise von den alten Kapazitäten ausgeht.

Aber es bleibt nicht nur bei den hier äußerst kritisch bewerteten „Servicestellen“ als eine weitere zusätzliche bürokratische Schicht im Gesundheitswesen, die den Trend, immer mehr Ressourcen von den eigentlichen Kernaufgaben des Systems abzuziehen, im Ergebnis festigen und ausweiten wird.

Ein weiterer, durchaus ambivalenter Punkt der angeblichen Einigung in der Koalitionsarbeitsgruppe Gesundheit sei hier noch angesprochen:

»Um die Qualität der Gesundheitsversorgung in Zukunft besser kontrollieren zu können, soll ein neues Institut eingerichtet werden. Ähnlich dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) soll es ein unabhängiges Haus sein. Während das IQWiG den Nutzen und neuerdings auch die Kosten von Arzneimitteln im Blick hat, was ihm den Spitznamen „Arzneimittel-Tüv“ einbrachte, soll das neue Institut die Daten aller Krankenhäuser und Krankenkassen zusammenführen und auswerten. Mit diesen Analysen soll zum Beispiel schneller klar werden, wo ein Krankenhaus in Deutschland schlechter arbeitet, wo unnötig viele Operationen durchgeführt werden oder wo in einer Region eine bestimmte medizinische Leistung fehlt,« so der erste Spiegel Online-Artikel.

Fazit: Es wird neue Arbeit geben – vor allem für Betriebswirte und viele „eggheads“. Ob das auch sinnvoll ist, daran kann man durchaus begründet zweifeln.

Aber seien wir doch ehrlich: Das neue „Geschenk“, dass man hier den gesetzliche Versicherten scheinbar vor die Füße wirft, dient wohl eher dazu, dass die Sozialdemokraten – falls sie gefragt werden würden – auf die offensichtliche Abschreibung des Ziels einer „Bürgerversicherung“ reagieren können. Nicht einmal Schritte hin zu einer integrierten Versicherungslandschaft sind bislang an die Öffentlichkeit gedrungen. Dabei läuft gerade auch das System der Privaten Krankenversicherung (PKV) aus innersystematischen Gründen zunehmend heiß. Man wird nicht mehr lange davor weglaufen können, diese Systemfrage zu beantworten. Aber wenn der Preis für die scheinbare Macht ist, dass man weitere vier Jahre „muddling through“ betreiben will, dann wird man den wohl zahlen. Schade und versäumte Lebenszeit wird es dann trotzdem sein.